Mazzariol, Giacomo Mein Bruder, der Superheld

PIPER

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Für meine Schwestern Chiara und Alice

Für Gio, meinen Superhelden

Übersetzung aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt

ISBN 978-3-492-97826-2

September 2017

© Giulio Einaudi Editore, 2016

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Raffaele Crocetta, Ekaterina Garyuk/shutterstock.com, Nicoleta Ionescu/shutterstock.com

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Jeder ist ein Genie! Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, er sei dumm.

Albert Einstein

To see a world in a grain of sand

And a heaven in a wild flower,

hold infinity in the palm of your hand

and eternity in an hour.

William Blake, Auguries of Innocence

Dies ist die Geschichte von Giovanni.

Giovanni kauft sich ein Eis.

»In der Waffel oder im Becher?«

»In der Waffel.«

»Aber du isst die Waffel doch gar nicht!«

»Na und? Den Becher doch auch nicht!«

Giovanni ist dreizehn – und sein Grinsen breiter als seine Brille. Giovanni klaut Obdachlosen den Hut und haut damit ab. Er liebt Dinosaurier und die Farbe Rot. Er geht mit einer Freundin ins Kino und verkündet danach: »Ich habe geheiratet.« Giovanni fängt mitten auf dem Marktplatz an zu tanzen. Mutterseelenallein, zur Musik eines Straßenkünstlers. Und plötzlich taut ein Passant nach dem anderen auf und macht es ihm nach. Giovanni hat die Kraft, ganze Plätze zum Tanzen zu bringen. Für Giovanni dauert alles exakt zwanzig Minuten, nie länger als zwanzig Minuten. Giovanni kann anstrengend und nervtötend sein, aber er geht täglich in den Garten, um seinen Schwestern eine Blume zu pflücken. Und wenn er im Winter keine findet, schenkt er ihnen eben vertrocknetes Laub.

Giovanni ist mein Bruder. Und deshalb handelt dieses Buch nicht nur von ihm, sondern auch von mir. Ich bin neunzehn und heiße Giacomo.

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Z.jpgunächst einmal möchte ich von dem Parkplatz erzählen, denn dort hat alles angefangen – auf einem dieser leeren Firmenparkplätze, wie es sie nur sonntagnachmittags gibt. Ich weiß nicht, woher wir gerade kamen – vielleicht von unserer Oma. Aber ich weiß noch genau, wie ich mich gefühlt habe: satt und zufrieden. Meine Eltern saßen vorn, Alice, Chiara und ich hinten. Die Sonne blitzte zwischen den Baumwipfeln hindurch, und ich sah aus dem Fenster oder, besser gesagt, versuchte es. Unser Auto – ein bordeauxroter, von schlammigen Schuhen, Eis- und Limonadeflecken gezeichneter Passat, der schon Koffer, Kinderwagen und Millionen von Einkaufstüten transportiert hatte – war nämlich so schmutzig, dass man durch die Scheiben kaum noch was erkennen konnte. Ich war also gezwungen, mir die Welt außerhalb des bordeauxroten Passats mehr oder weniger zusammenzureimen: Sie war wie ein Traum – wie einer von diesen Träumen kurz vor dem Aufwachen, und die mochte ich sehr.

Ich war fünf, Chiara sieben und Alice eins.

Wie gesagt, wir kamen gerade von unserer Oma oder so, und alles sah danach aus, dass dieser Sonntag genauso enden würde wie alle anderen auch, nämlich mit einer Dusche und einem Zeichentrickfilm auf dem Sofa, als Papa plötzlich vor einem leeren Firmenparkplatz das Lenkrad herumriss wie in einem Actionfilm, so, als müsste er einer Explosion ausweichen, und ihn ansteuerte. Wir fuhren über ein Schlagloch und wurden heftig durchgerüttelt. Mama klammerte sich am Türgriff fest und sah Papa nur schräg von der Seite an. Ich wartete darauf, dass sie so etwas sagte wie: »Was ist nur in dich gefahren, Davide?« Doch stattdessen lächelte sie nur und murmelte:

»Wir hätten auch damit warten können, bis wir zu Hause sind …«

Papa tat so, als wäre sein Verhalten völlig normal.

»Was ist denn?«, fragte Chiara.

»Was ist?«, fragte ich.

»…?«, machte Alice, ihr Gesicht ein einziges Fragezeichen.

Mama stieß nur einen merkwürdigen Seufzer aus und sagte … nichts. Papa ebenso wenig.

Wir drehten eine Runde nach der anderen über den Parkplatz, als müssten wir nach einem freien Stellplatz suchen, obwohl es bestimmt zweitausendfünfhundert davon gab. Auf der riesigen Asphaltfläche stand nur ein einziger alter Laster, ganz hinten unter den Bäumen, auf dessen Motorhaube sich zwei Katzen sonnten. Papa drehte weiter seine Runden, bis er einen Platz gefunden hatte, der ihm zusagte. Der musste etwas ganz Besonderes sein, denn er bremste und stellte das Auto genau darauf ab. Dann machte er den Motor aus und ließ ein Fenster herunter. Geheimnisvolles Schweigen und Moosgeruch breiteten sich im Wageninnern aus. Eine der Katzen auf dem Laster öffnete ein Auge, gähnte und blieb wachsam.

»Warum halten wir?«, fragte Chiara und sah sich angewidert um. »Und das ausgerechnet hier?«

»Ist das Auto kaputt?«, fragte ich.

»…?«, machte Alice, ihr Gesicht immer noch ein einziges Fragezeichen.

Seufzend warfen sich unsere Eltern einen Blick zu, aus dem ich nicht schlau wurde. Zwischen ihnen herrschte eine seltsam aufgekratzte Atmosphäre, eine Art Energiestrom aus knallbunten Konfetti.

Chiara beugte sich vor, die Augen groß wie Untertassen: »Also?«

Eine Krähe landete auf dem Asphalt. Papa musterte sie, schnallte sich ab und beugte sich zu uns nach hinten, wobei sich das Lenkrad in seine Seite bohrte. Mama verzog schmerzhaft das Gesicht und tat es ihm nach. Ich hielt die Luft an und starrte sie verständnislos an. Insgeheim wurde ich langsam nervös: Wieso verhielten sie sich so seltsam?

»Sag du es ihnen, Katia!«, meinte Papa.

Mama machte den Mund auf, aber es kam kein Wort heraus.

Mein Vater nickte ihr aufmunternd zu.

Seufzend sagte sie: »Es steht jetzt zwei zu zwei.«

Papa sah mir tief in die Augen. »Verstanden?«, bedeutete mir sein vielsagender Blick. »Wir haben es tatsächlich geschafft!«

Ich sah zwischen beiden hin und her. Was zum Teufel sollte das heißen?

Dann legte sich Mama die Hand auf den Bauch und Papa beugte sich vor, um seine daraufzulegen. In diesem Moment schlug Chiara die Hände vor den Mund und stieß einen lauten Schrei aus: »Ich fass es nicht!«

»Was denn?«, sagte ich zunehmend beunruhigt, weil ich nach wie vor nur Bahnhof verstand. »Was?«

»Sind wir schwanger?«, quietschte sie, warf die Arme in die Luft und trommelte begeistert gegen die Wagendecke.

»Na ja«, sagte Papa. »Rein medizinisch gesehen, ist nur eure Mutter schwanger.«

Ich zog die Nase kraus. »Wir sind schwanger?«, dachte ich. Donnerwetter! Doch dann fiel der Groschen – so rasant wie ein Skatebord, das ein steiles Gefälle hinuntersaust, nicht ohne dabei gehörig Blätter und Staub aufzuwirbeln und wild über Steine zu rumpeln: Zwei zu zwei, hatte Mama gesagt. Zwei zu zwei. Schwanger! Sohn! Bruder! Zwei Jungs und zwei Mädchen. Zwei und zwei.

»Zwei zu zwei?«, rief ich. »Zwei zu zwei?« Ich riss die Tür auf, stieg aus, ließ mich auf die Knie fallen und reckte die Faust, als hätte ich soeben rückwärts ein Tor geschossen. Ich sprang wieder auf, wirbelte herum und rannte wie besessen zu meinem Vater, versuchte, ihn zu umarmen, indem ich mich zum Fenster hineinbeugte. Aber ich war einfach zu klein und bekam nur sein Ohrläppchen zu fassen – das aber gründlich, sodass ich schon Angst hatte, ihm wehgetan zu haben. Ich stieg wieder ein und zog die Autotür zu. Ich bekam kaum noch Luft vor Freude. »Ich bekomme einen kleinen Bruder?«, sagte ich atemlos. »Ich bekomme tatsächlich einen kleinen Bruder? Wann genau? Wie soll er heißen? Wo wird er schlafen? Melden wir ihn im Basketballverein an?« Aber niemand hörte mir zu, denn Chiara hatte sich über den Schaltknüppel gebeugt, um Mama zu umarmen, Alice klatschte in die Hände, und Papa machte sich locker, indem seine Schultern einen Tanz aus lauter winzigen Zuckungen aufführten. In diesem Moment herrschte eine solch positive Energie in unserem Auto, dass sie ausgereicht hätte, die ganze Welt zu erleuchten.

»Und es wird wirklich ein Junge?«, schrie ich, um mir Gehör zu verschaffen.

»Ja, ein Junge«, bestätigte Papa.

»Irrtum ausgeschlossen?«

»Irrtum ausgeschlossen.«

Chiara war überglücklich, Alice bestimmt auch, aber ich war eindeutig der Glücklichste, denn ab jetzt würde eine ganz neue Ära anbrechen, eine neue Weltordnung: Papa und ich waren endlich nicht mehr in der Minderheit, und das war einfach … gigantisch. Drei Männer und drei Frauen – endlich Gerechtigkeit! Endlich keine unfairen Abstimmungen mehr, wenn um die Fernbedienung gestritten wurde. Endlich keine endlosen Shoppingtouren und vorhersehbaren Niederlagen mehr, wenn es darum ging, an welchen Strand wir fahren oder was wir essen sollten.

Aber das war noch längst nicht alles: »Damit ist unser Auto endgültig zu klein«, sagte ich. »Wir müssen uns ein neues kaufen.«

Chiara riss die Augen auf. »Deshalb ziehen wir auch um!«

Unsere Eltern hatten vor einiger Zeit begonnen, ein Haus zu renovieren. Jetzt war uns alles klar.

»Ich will ein blaues Auto«, sagte ich.

»Und ich ein rotes«, sagte Chiara.

»Blau!«

»Rot!«

»…!«, machte Alice, ihr Gesicht ein einziges Ausrufezeichen, und klatschte, ohne zu begreifen, was da eigentlich vor sich ging. Sie hatte sich einfach von der allgemeinen Begeisterung anstecken lassen. Die Sonne war ein Eidotter kurz vor dem Auslaufen, die Katze sprang von der Motorhaube und ein ganzer Vogelschwarm erhob sich wie auf Kommando in die Luft, um riesige Muster in den Himmel zu malen.

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»Und, wie soll er heißen?«

Ich war der Erste, der das fragte, und zwar, als Mama mir gerade die Haare föhnte.

»Petronio!«, rief Papa aus dem Wohnzimmer, wo er Nüsschen knabberte.

»Maurilio«, erwiderte ich. Keine Ahnung, warum mich dieser Name immer so zum Lachen brachte. Sollte sich mein Bruder als Unsympath erweisen – was durchaus im Bereich des Möglichen lag, da man so etwas nicht im Vorfeld beeinflussen kann –, würde ich so auf jeden Fall meinen Spaß haben, allein schon, wenn ich seinen Namen rief.

»Kommt gar nicht infrage!«, sagte Chiara. »Wenn es ein Junge wird, heißt er Pietro, und wenn es ein Mädchen wird, Angela.«

»Chiara …« Ich seufzte geduldig.

»Ja?«

»Wir wissen bereits, dass es ein Junge wird.«

Sie schnaubte nur und tat so, als hätte sie mich nicht gehört.

Ich ahnte bereits, dass die Frauen in unserer Familie weniger glücklich mit der Pattsituation waren. Vielleicht hofften sie insgeheim, das Ergebnis noch ändern zu können.

»Dann eben Pietro!«, wiederholte Chiara.

Aber Pietro gefiel niemandem, ebenso wenig wie Marcello, Fabrizio oder Alberto. Ich schlug Remo vor, konnte mich aber nicht damit durchsetzen. Wir versuchten es mit den Namen von Großvätern und Onkeln, allerdings ohne Erfolg. Mit denen von entfernten Verwandten: ebenfalls Fehlanzeige. Dann mit denen von Schauspielern und Sängern – nada! Die Frage wurde also erst mal vertagt. Ich strengte mich ganz besonders an, einen passenden Namen zu finden: Es ging schließlich um meinen Bruder! Außerdem musste er gut zu Mazzariol passen, was im Veneto auch der Name eines Kobolds mit spitzem Hut und rotem Anzug ist. Er ist dafür bekannt, dass er allen Streiche spielt, die keinen Respekt vor der Natur haben, und eine der Sagengestalten, von denen die Alten an langen Winterabenden erzählen.

Aber in meinem kindlichen Eifer war ich mir sicher, dass man nicht nur von seinem Namen geprägt wird. Dass einen noch ganz andere Dinge zu der Persönlichkeit machen, die man ist oder einmal sein wird: Spielsachen zum Beispiel. Deshalb konnte ich meine Begeisterung kaum bremsen und wollte mich sofort nützlich machen. Schon am nächsten Tag bat ich meinen Vater, ein Geschenk für meinen Bruder kaufen zu gehen: Ich hatte beschlossen, ihm ein Stofftier zu schenken, ein Willkommensstofftier. Ich musste meine Eltern gar nicht lang überreden – im Gegenteil! Meine Mutter schien sich dermaßen über meinen Vorschlag zu freuen, dass sie mich im Kreis herumschwenkte. Seit wir eingeweiht worden waren, konnte ich über nichts anderes mehr reden. Wir gingen in meinen Lieblingsladen, ein altes Spielwarengeschäft, das mir allein schon deshalb gefiel, weil es von allen alten Läden der einzige war, der neu roch.

»Ich brauche ein starkes Stofftier!«, dachte ich. »Etwas, mit dem sich mein Bruder identifizieren kann.« Meine Eltern hatten mir beigebracht, auf den Preis zu achten – das Geld liegt schließlich nicht auf der Straße! Aber das war ein besonderer Anlass, und da durfte ich unter Umständen – ja mit Sicherheit! – etwas mehr ausgeben: mehr als zehn Euro, also einen Haufen Geld, wie ich fand. Denn mein Bruder hatte eindeutig ein Stofftier im Wert von über zehn Euro verdient.

Ich näherte mich dem Regal und konzentrierte mich auf die Tiere. Es gab Kaninchen, Katzen und Hunde. »Nein!«, dachte ich. »Das ist keiner, der mit Kaninchen spielt. Wenn, dann gefällt ihm bestimmt ein Löwe, ein Nashorn oder ein Tiger. Vielleicht auch ein …«

Da sah ich ihn.

»Der da!«, sagte ich zu meinem Vater und zeigte darauf.

»Was ist denn das?« Er nahm ihn in die Hand.

Ich schnaubte über so viel Ignoranz und verdrehte die Augen. »Ein Gepard«, sagte ich und dachte: »Wie kann man nur als Erwachsener nicht wissen, wie ein Gepard aussieht?«

»Bist du sicher, dass du den willst?«

»Der ist perfekt«, sagte ich. Und das war er auch – nicht umsonst ist der Gepard das wendigste, schnellste, majestätischste und vornehmste Tier überhaupt. Ich sah ihn schon vor mir: meinen Bruder, den Geparden. Wir würden im Treppenhaus Fangen spielen, uns auf dem Bett balgen, darum kämpfen, wer als Erster ins Bad dürfte. Und – was noch viel wichtiger war: Wir würden uns verbünden: um in den Besitz der DVD-Player-Fernbedienung zu gelangen oder um Schokokekse und einen Basketballkorb zu bekommen. Wir zwei würden die Welt erobern!

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In dieser Nacht malte ich mir aus, was wir alles gemeinsam anstellen würden, der Gepard und ich. Ich stellte mir vor, wie wir das Zimmer mit Postern und die Wände mit Graffiti zupflastern würden. Ich würde stets sechs Jahre älter sein als er, mein Leben lang, und alles sechs Jahre vor ihm machen. Ich würde ihm jede Menge beibringen: Rad fahren, aber auch den Umgang mit Mädchen oder wie man auf Bäume klettert.

Wir Mazzariols sind nämlich begnadete Baumkletterer, und das schon seit vielen Generationen.

Deshalb bat ich Wochen später meinen Vater, ihn auf die Baustelle unseres zukünftigen Hauses begleiten zu dürfen. Ich hatte ein Glas mit Pflanzensamen dabei, die ich den ganzen Frühling über beim Mittag- und Abendessen gesammelt hatte. Irgendjemand hatte mir erzählt, dass man aus Obstkernen und Nüssen Bäume ziehen kann. Und da hatte ich begonnen, sie zu sammeln. An diesem Tag nahm ich sie mit. Es waren wahnsinnig viele.

Während sich Papa mit den Handwerkern unterhielt, ging ich heimlich auf die Rückseite des Hauses, schraubte den Deckel von meinem Einmachglas und streute die Samen aus – dort, wo später der Garten hinkommen sollte. Ich trampelte auf ihnen herum und bedeckte sie mit Erde, tat also alles, was ich für nötig hielt, um sie gut anwachsen zu lassen. Dann zwängte ich mich wieder auf den Rücksitz und wartete.

Doch auf einmal beschlich mich eine furchtbare Angst: Was, wenn ich zu viele zu dicht nebeneinander ausgesät hatte? Was, wenn sich die Bäume eines Tages umeinanderschlingen, ganz nah am Haus, ja sogar darin wachsen würden, sodass wir von Wald eingeschlossen wären?

Nachdem mein Vater alles erledigt hatte und in den Wagen gestiegen war, ließ er den Motor an und musterte mich im Rückspiegel. Meine besorgte Miene entging ihm nicht. »Ist irgendwas?«

Mein Vater hat seit jeher einen sechsten Sinn, wenn ich in Schwierigkeiten stecke.

Aber in diesem Moment wurde das Bild überwucherter Hausmauern von einem anderen überlagert, das zeigte, wie der Gepard und ich im tollsten Dschungelhaus überhaupt wohnen würden. Besser gesagt, in einem Baumhaus.

»Nein, nein«, erwiderte ich. »Alles bestens.«

Ich wischte mir die Hände an den Oberschenkeln ab. Mein Vater legte den ersten Gang ein und ließ den Wagen anrollen. Der Gedanke an das Baumhaus ließ mich nicht mehr los, sodass ich ihn mit ins Bett nahm und er mir bis zum nächsten Morgen Gesellschaft leistete.

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Dann wurde ein Name gefunden. Im Supermarkt. Denn genau so macht man das.

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Wir waren einkaufen, und zwar zu fünft. Wir schoben unsere Wagen durch die Gänge mit Obst, Haferflocken und Putzmitteln. Im Radio lief irgendeine exotische Musik und Chiara und ich führten einen hawaiianischen Tanz auf, den wir im Fernsehen gesehen hatten. Mein Vater versuchte, heimlich Schokoriegel, Nüsschen und Butterplätzchen in den Einkaufswagen zu schmuggeln.

»Warum eigentlich nicht Giacomo junior?« Abrupt hörte ich auf zu tanzen.

»Wie bitte?«, sagte meine Mutter.

»Als Name für meinen Bruder: Giacomo junior. Als ältester Sohn hab ich gewisse Rechte, oder etwa nicht?«

»Nein.«

»Was soll das heißen: ›Nein‹?«

»Ich will keinen ausländischen Namen.«

»Giacomo ist doch nicht ausländisch!«

Mama verdrehte die Augen.

»Dann eben Giacomo der Zweite? Giacomo der Kleine? Giacomo der Jüngere?«

»Hör auf mit dem Quatsch!«

»Wenigstens mit ›G‹ könnte er anfangen. Darf es ein Name sein, der mit ›G‹ anfängt? Die Leute sollen wissen, dass wir Brüder sind. Das ist ein Liebesbeweis. Mein Liebesbeweis.« Ich legte die Hand aufs Herz und setzte einen treuen Hundeblick auf, machte mein flehendstes Gesicht. Chiara tat so, als müsste sie in den Einkaufswagen kotzen.

»Gualtiero? Giancarlo, Gastone, Gilberto, Giuseppe, Girolamo …?«

»Die sind ja furchtbar!«, bemerkte Chiara.

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte meine Mutter.

»Dann eben Gepard! Können wir ihn Gepard nennen?«

Aber da hörten sie mir schon gar nicht mehr zu und überlegten laut, wo Papa geblieben war. Der nutzte unsere Zerstreutheit gerne aus, um zu diesen Leuten zu gehen, die irgendwelche Kostproben anbieten. Dort tat er so, als wollte er etwas kaufen, nur um sich wie ein Verhungernder über ihre Tabletts herzumachen. Wir kamen zur Käsetheke und ich geriet ins Schwitzen. Was, wenn wir uns niemals einig werden würden? Was, wenn wir uns irgendwann geschlagen geben müssten und ihm gar keinen Namen geben würden? Ein namenloses Kind. Er für die Kindergärtnerinnen. Du weißt schon wer für seine Freunde. Der da oder He, Sie! für seinen zukünftigen Arbeitgeber.

»He, ihr zwei, worauf habt ihr mehr Lust?«, fragte Mama. »Auf Mozzarella oder Stracchino?«

»Stracchino!«, entschied Chiara. »Der von Nonno Nanni.«

In diesem Moment hatte ich einen Geistesblitz. »Giovanni!«, rief ich. Mama und Chiara drehten sich um. »Mein Bruder Joe!«

Mama rümpfte die Nase.

»Nein, entschuldige, ich meine natürlich mit ›G‹, nicht Joe. Mein Bruder Giovanni. Na, was sagt ihr dazu?«

»Giovanni gefällt mir«, erwiderte Chiara – meiner Meinung nach allerdings nur, weil sie den Stracchino hatte aussuchen dürfen.

»Hm, mir auch.« Mama nickte und sah aus, als wollte sie sagen: Wieso sind wir da nicht schon viel früher draufgekommen?

Damit war Gepards Name besiegelt – mitten im Käsegang des Supermarkts, umgeben von Provola und Robiola, umsäuselt von Einkaufsmusik –, allerdings ohne unseren Vater, der mal wieder auf Beutezug war.

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Im Grunde war damit für mich das Wichtigste erledigt: Ich hatte einen Plüschgeparden gekauft, der ihm sein wahres Wesen vor Augen führen würde. Und ich hatte ihm einen Namen gegeben. Jetzt hieß es einfach nur abwarten. Mamas Bauch nahm zunehmend Gestalt an, unser Haus ebenfalls – nur der Wald in unserem Garten nicht, aber das hatte ja auch noch Zeit. Die Welt war auch so voller Wunder.

Doch dann, eines Sonntags – wieder an einem Sonntag –, als wir von irgendwoher zurückkamen, vielleicht wieder von unserer Oma, und wie immer am verlassenen Firmenparkplatz vorbeifuhren, riss Papa abrupt das Lenkrad herum und machte sich wie damals auf die Suche nach einem ganz besonderen Stellplatz für unseren bordeauxroten Passat. Aber auch für eine erneute Ankündigung.

»Schon wieder?«, fragte Chiara.

»Schon wieder?«, fragte ich.

»…?«, machte Alice, ihr Gesicht ein einziges Fragezeichen.

Kurz dachte ich: »Vielleicht sind es ja Zwillinge?« Oder aber … Ich riss die Augen auf. Nein, das war einfach ausgeschlossen! Papa fand einen Platz, parkte ein und machte den Motor aus. Dann schnallte er sich ab. Mama tat es ihm gleich. Noch bevor sie auch nur ein Wort sagen konnten, platzte es förmlich aus mir heraus: »Nein, ich flehe euch an! Sagt nicht, dass ihr euch geirrt habt, sagt nicht, dass es ein Mädchen wird!«

»Nein.« Mama setzte ein merkwürdiges Lächeln auf, das mir neuen Mut gab. »Wir haben uns nicht geirrt.«

Ich atmete auf. Alles andere war mir egal.

»Und warum stehen wir dann wieder auf diesem Parkplatz?«, fragte Chiara.

Unsere Eltern sahen sich an wie damals – wenn auch nicht ganz genau wie damals. Und wieder war da dieser Energiestrom aus bunten Konfetti, allerdings in einer etwas anderen Farbe. Es war, als würden wir dieselbe Szene erneut proben. Weil der Regisseur gesagt hatte: »Okay, okay, aber es fehlt mir noch an Pathos, kapiert? Ich will das pralle Leben sehen, mit allem Drum und Dran! Wut und Freude. Vergangenheit und Zukunft. Wärme und Kälte. Versetzt euch da richtig rein und anschließend ins genaue Gegenteil.«

Achtung, Aufnahme!

Und los ging’s.

Der verrostete Laster war weg. Stattdessen stand dort ein blauer Anhänger, der von einer Plane bedeckt war. Keine Katze weit und breit, nur zwei Krähen, die Verstecken spielten. Es war Sommer, die Sonne brach durch eine diesige Wolkenschicht und an den Zweigen der Bäume zitterten die Blätter. Ein Auto fuhr vorbei, das Radio bis zum Anschlag aufgedreht, mit wummernden Bässen. Mama wartete, bis die Musik verstummt war, und verkündete dann: »Wir müssen euch etwas sagen … Es hat was mit eurem Bruder zu tun.« Papa drückte ihre Hand.

»Euer Bruder …« Sie verstummte. »Nun, euer Bruder wird … besonders sein.«

Chiara und ich sahen uns an.

»Besonders?«, sagte sie.

»Besonders? Wie besonders?«, wollte ich wissen.

»Na ja, er wird auf jeden Fall … anders sein«, sagte Papa. »Vor allem liebevoll, unglaublich liebevoll. Er wird viel lächeln, sehr lieb und ruhig sein. Und er wird sein eigenes … Tempo haben.«

Ich runzelte die Stirn. »Tempo?«

»Und andere besondere Eigenschaften, die wir noch nicht kennen«, sagte Mama lächelnd.

»Es ist also eine gute Nachricht?«, fragte Chiara.

»Das auch, aber nicht nur«, sagte Papa ernst und runzelte seltsam die Stirn. Da blähte sich das Auto auf und fiel wieder in sich zusammen, als atmete es mit uns. »Es ist vor allem eine Nachricht, die alles verändert«, sagte er. Dann drehte er sich wieder nach vorn und machte das Radio an.

Ganz genau.

Damals erstaunte mich vor allem die Sache mit dem Radio – zumindest ist mir die von diesem Tag noch am besten im Gedächtnis geblieben. Papa hört eigentlich nicht oft Musik, ist aber ein echter Bruce-Springsteen-Fan: Seiner Meinung nach ist alles, was es über das Leben, den Tod, die Liebe und wichtige Weggabelungen zu sagen gibt, schon in einem Bruce-Springsteen-Song gesagt worden. Er machte also das Radio an und aus den Lautsprechern kam das Quietschen einer Mundharmonika. Sofort füllte sich das Auto mit Wehmut. Springsteen begann zu singen. The River. Und obwohl ich nichts von dem verstand, was er da sang – ich wusste nicht einmal, dass das Lied The River hieß –, also obwohl ich nichts davon verstand, wurde ich von Gefühlen regelrecht überschwemmt. Keine Ahnung, warum, aber ich erinnere mich noch mit einer unglaublichen Intensität daran, und auch, dass ich am liebsten alle umarmt hätte. Vielleicht tat ich das sogar, wenn auch im Stillen: Meinen Vater, weil er mein Vater war. Meine Mutter, weil sie meine Mutter war. Und meine Schwestern … na gut, doch sogar sie hätte ich umarmt. Keine Ahnung, warum.

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Etwas höchst Ungewöhnliches würde geschehen.

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In dieser Nacht träumte ich von einem Gepardenkind mit Superkräften. Wenn er besonders war, hatte er vielleicht Superkräfte. »Wow!«, dachte ich im Traum: Mein Bruder konnte fliegen. Mein Bruder war drei und superschnell, er hatte den Bizeps eines Bodybuilders und das Kreuz eines Rugbyspielers. Ich war von Feuer eingeschlossen, und er brach durch die Flammen, um mich da rauszuholen. Mehrere Terroristen aus der Vierten – aus der 4b, um genau zu sein – hielten mich gefangen, und er kam durch die Wand, um mich zu retten, ohne sich wehzutun, als wäre sein Skelett von Adamantium ummantelt wie das von Wolverine. Ich stand kurz davor, von einem Bären gefressen zu werden, und er hob mich zack! hoch und brachte mich in Sicherheit. Dann kehrte er mit einem Steak zum Bären zurück, um ihm eine Freude zu machen. Mein Bruder war Licht, Atome, Unvorhersehbarkeit. Mein Bruder wich Kugeln aus und Pfeile prallten einfach an ihm ab. Aber das war noch längst nicht alles: Er kam fast zu spät, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu retten, weil er vorher noch schnell eine Katze vom Baum holen musste. Er stürzte sich in einen Fluss, um ein Papierschiff an Land zu ziehen. Und er holte Spielzeugautos zurück, die in Gullys gefallen waren.

Tja.

Er war wirklich sehr speziell mit seinem hautengen Superheldenanzug und dem großen »S« auf der Brust. Er war drei Jahre alt, hatte gegeltes Haar, Bambiaugen und die Bauchmuskeln eines Wrestlingstars. Er redete nicht, er handelte. Und je mehr Zeit verging, desto mehr schmückte ich das Wort »speziell« aus, wenn auch erfüllt von einem riesigen nagenden Zweifel: Warum nur würde er so zur Welt kommen?

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»Mama?«

»Hier bin ich!«

Ich kam mit einem Block in die Küche, auf dem ich mir mehrere Fragen notiert hatte. Oder zumindest hatte ich so getan, als ob, denn ich konnte noch gar nicht schreiben. Wir waren allein – keine Ahnung, wo meine Schwestern damals steckten. Mama schnitt gerade Tomaten und warf sie in eine Glasschüssel. Sie nahm den Brotkorb und stellte ihn auf den Tisch. Aus dem Radio kam eine kindlich-fröhliche Melodie.

»Und?«, fragte sie.

»Ähm … Was hast du gegessen, bevor du erfahren hast, dass du mit Giovanni schwanger bist?«

Meine Mutter, die gerade den Kühlschrank aufmachte, erstarrte, die Hand an der Tür. »Wie bitte?«

Im selben Moment kam Papa herein. »Was ist los?« Er ging zu ihr, umarmte sie von hinten und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Decken wir den Tisch? Was ist das für ein Block, Jack?«

»Da stehen Fragen drauf.«

»Worüber?«

»Über meinen Bruder.«

»Über deinen Bruder?«

»Über seine besonderen Fähigkeiten.«

»Was möchtest du denn wissen?«

»Das Warum.«

»Wie, das Warum?«

»Warum er sie hat.«

Papa brummte etwas, ließ meine Mutter los und streckte die Arme. Es klang wie das Knacken eines Zweigs. »Verstehe«, sagte er. »Und was sind das genau für Fragen?«

»Na ja …« Ich starrte auf meinen Block. »Ich habe Mama gerade gefragt, was sie gegessen hat – am Abend, bevor sie erfahren hat, dass sie mit Giovanni schwanger ist.«

»Aha.« Papa drehte sich zu ihr um. »Was hast du gegessen, bevor du erfahren hast, dass du mit Giovanni schwanger bist?«

Mama kratzte sich am Kopf. »Keine Ahnung. Nudeln vermutlich. Oder Radicchio.«

Ich nickte und tat so, als würde ich es aufschreiben. »Und du …« Ich zeigte auf Papa. »Wie viel wiegst du?«

»Achtzig Kilo.«

»Von wegen!«, murmelte Mama.

»Achtzig Kilo«, wiederholte er ungerührt.

»Und wo warst du, als Mama erfahren hat, dass sie mit Gio schwanger ist?«

»In unserem Zimmer.«

»In eurem Zimmer. Interessant. Und wovon handelt das Buch, das du als letztes gelesen hast, Mama?«

»Es ist die Geschichte eines …«

»Okay, okay – geht es gut aus?«

»Ja.«

»Das hab ich mir bereits gedacht.« Ich nickte eifrig und malte Häkchen hinter meine Fragen.

Mama verteilte den Salat auf den Tellern. »Können wir jetzt essen?«

»Noch eine letzte Frage, denn die ist besonders wichtig: Warst du neulich joggen?«

»Giacomo, was glaubst du wohl? Mit dem Bauch?«

»Spazieren?«

»Ja.«

»Mit wem?«

»Mit Francesca.«

»Mit der Mama von Antonio?«

»Mit der Mama von Antonio.«

Ich riss die Augen auf. »Du warst also mit der Mama von Antonio spazieren?«

»Ja, aber warum willst du das …«

»Die Mama von Antonio hat gerade ein Kind bekommen, stimmt’s?«

»Ja.«

»Ein blondes, blauäugiges, obwohl alle in der Familie dunkle Haare und dunkle Augen haben.«

»Ja.«

»Das kann ich dir erklären …«, sagte Papa mit hochgezogenen Brauen, während sich ein seltsames Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete.