image

GRUŠA • WERKAUSGABE BAND 6

JIŘÍ GRUŠA

WERKAUSGABE

DEUTSCHSPRACHIGE AUSGABE

HERAUSGEGEBEN VON HANS DIETER ZIMMERMANN

UND DALIBOR DOBIÁŠ

GESAMMELTE WERKE IN 10 BÄNDEN

Jiří Gruša

Dr. Kokeš –
Meister der Jungfrau

Roman

Aus dem Tschechischen von Joachim Bruss.

Mit einem Vorwort von Hans Dieter Zimmermann
und einem Nachwort von Sylvie Richterová.

image

Die Herausgabe dieses Buches erfolgte

image

image

A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

Copyright © dieser Ausgabe 2016 bei Wieser Verlag GmbH,

Inhalt

Vorwort

Hupen

Der Schwan

Der Schwan und der Komet

Sechshundertsechsundsechzig

Kameradschaftsabend

Nefelim

Das Unterteil der Zentaurin

Euterpe

K. u. K.

Ein Sommernachtstraum

Siamesische Zwillinge

Kuchen

Palimpsest

(Kriegserklärung)

Die Waldeslust

Intrada

Mehlkäferin

Zwergrosen

Spatzen mit Pfefferkuchen

Der Hochzeitsmantel

Nachwort
Die »Augen der Welt« des Jiří Gruša

Kommentar

Editorische Anmerkungen

Vorwort

1981 kam Jiří Gruša aus den USA zurück, wo er ein Stipendium hatte; er unterbrach seine Reise in Bonn, um Freunde zu sehen. Dort ereilte ihn die Ausbürgerung. Als ob er geahnt hätte, dass er nicht mehr nach Prag zurückkehren könnte, hatte er ein Manuskript in der Tasche, »Dr. Kokeš – Meister der Jungfrau«, das er gerne im tschechischen Exil-Verlag von Josef Škvorecky »Sixty-Eight- Publishers« in Toronto veröffentlicht hätte. Es war ein kostbares Manuskript, das er unter großer Mühe fertiggestellt hatte und an dem er auch weiterhin arbeitete. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte er dieses Manuskript geschrieben, in Furcht vor der Polizei.

»Nie wissend, ob nicht Herr Smolik (der Polizei-Offizier) seine Leute schickte, versteckte ich Manuskriptteile in der Sandgrube unseres Bauernhäuschen im Babylonwald bei Rovensko, Nordböhmen bitte, nicht Mesopotamien. Aus dem Knast wusste ich, dass die Kommandos am Freitag faul sind. Es war also – von Montag bis Freitag – eine riskante Zeit für mich und meine Texte. Um zumindest Letztere zu schützen, versteckte ich die fertigen Kapitel in einer blechernen Kiste, mit einem Spaten Sand überschüttet. Mein Gott, das Buch war mir so wertvoll. Den Faden nicht zu verlieren, war alles. Ich schrieb mit der Hand, konnte keine Kopien machen.« So Gruša in seiner Dresdner Poetik-Vorlesung*. Es war nicht einfach, immer wieder neu mit dem Schreiben einzusetzen, ohne genau das Vorangehende noch einmal zu prüfen, und »gewissermaßen kontextlos« zu schreiben, wie er sagt, denn er schrieb nur für sich und ohne Hoffnung, den Text je anderen zeigen zu können. Doch er wusste immer, wohin er wollte: »In meinem besten Text – so ehrgeizig dachte ich über ihn – wurde ich tautologisch, sprach nur mit mir selbst« (S. 40 f.).

Es ist tatsächlich sein bester Text geworden, so jedenfalls meine Überzeugung und die des Literaturwissenschaftlers Vladimir Pistorius, der in seiner 1991 veröffentlichten Untersuchung »Tschechische Literatur von 1969 bis 1989« feststellt, »Dr. Kokeš« von Jiří Gruša sei dessen beste Prosaarbeit und eines der besten tschechischen Bücher der letzten dreißig Jahre: »die unerhörte Dichte des Ausdrucks, die gelegentlich an die Konzentriertheit von Versen erinnert; die diesmal von der Schwarz-Weiß-Optik befreite erzählerische Invention, die Methode unerwartet assoziativer Verbindungen von verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen und jene existentielle Angst vor der Leerheit des Menschen, die für seine ganze Generation charakteristisch ist« (S. 75).

Gerade dies, was die Qualität des Textes ausmacht, brachte Schwierigkeiten bei der ersten deutschen Übersetzung, denn der Lektor des Reich-Verlags in Luzern, bei dem die deutsche Übersetzung zunächst erscheinen sollte, verstand den Text nicht. Er fand keinen Sinn im Unsinn, wie er sagte. Tomaš Kosta, tschechischer Emigrant wie Gruša und Leiter des Bund-Verlags in Köln, unterstützte jedoch Gruša und lobte den Roman als »hervorragend«. Grušas Tagebuch, das im Literaturarchiv in Brünn liegt, ist voll Zweifeln an dem Text, den er unter so großen Risiken geschrieben hatte. Diese Zweifel, die wiederum von der Gewissheit unterbrochen werden, dass es eben doch ein gelungenes Werk sei, ziehen sich durch die beiden Jahre 1982 und 1983. Immerhin publiziert der Exil-Verlag in Toronto das tschechische Original von »Dr. Kokeš« und bei der erneuten Arbeit am Text erkennt Gruša dessen Qualität. Im März 1984 dann folgt endlich der Vertrag mit Tomaš Kosta. Zusammen mit einer Lektorin macht sich Gruša an die Übersetzung: »Sehr anstrengend. Kokeš wird praktisch neu erfunden, ich übersetze ins Deutsche und Frau Julius summiert das alles irgendwie … Das Deutsche … ach!« Mit der Übersetzung, die dann unter dem Titel »Janinka« erschien, ist Gruša nicht zufrieden. Mit der vorzüglichen Übersetzung von Joachim Bruss, die wir hier vorlegen, wäre er zufrieden gewesen, sehr zufrieden.

Es ist ja keineswegs so, dass der Roman schwer lesbar wäre. Wenn man sich auf ihn einlässt, sich in ihn einliest, wird man von der Geschichte gefangen genommen, denn es sind nicht unzusammenhängende Teile, der Zusammenhang wird bald deutlich: es ist eine Familiengeschichte, Großeltern, Eltern, Enkel, die von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reicht, eine böhmische Geschichte, von der k. u. k. Monarchie bis zu den Kommunisten. Jede Episode, in Kapiteln sind sie gegliedert, bringt eine intensive Schilderung von Lebensverhältnissen voll anschaulicher Kraft. Der immer zuverlässige Erzähler verstört uns nicht, er bringt uns voran, wenn wir uns von ihm führen lassen. Die verschiedenen Handlungsstränge sind miteinander verflochten. Auch die Namen, die anfangs irritieren mögen, sind immer dieselben, sodass der Leser rasch mit den Figuren vertraut wird.

Der Offizier, der die Großmutter zu Habsburgs Zeiten verführte, sein Tod in der Schlacht, mit welcher Kraft wird das dargestellt, aber auch die alltäglichen Szenen, die fröhlichen und die traurigen Ereignisse in diesem Familienleben, rühren und bewegen. Der frühe Tod der Freundin Janinka (Verkleinerungsform von Jana) schwebt über dem Ganzen. Hier ist der immerwährende Schmerz des Autors über den Tod dieses Mädchens zu spüren, denn dieser Tod ist keine Fiktion, sondern eine Realität. In seiner Dresdner Vorlesung berichtet Gruša von seiner Rückkehr nach dem Ende des Kommunismus in seine Heimatstadt Pardubice: »Meine Mutter wohnt noch immer an der Ecke in unserem Haus. Hier in den Straßen habe ich Fußball gespielt, wurde zum Messdiener in der Wenzelskapelle, begleitete Begräbnisse zum Stadtfriedhof … und vierhundert Meter von hier, da liegt meine Sippe – mein erstes Mädchen, grausam vor diesem Kloster von einem LKW überfahren. Und auch der Pištora, Jiří wie ich, der, als die Russen kamen, nur litt, dann durchdrehte und Freiheit wählte – durch Gas« (S. 12). So steht hinter diesem Roman die Erfahrung des Autors und die seiner Familie, aber eben nicht als Autobiografie, sondern als Exempel einer Familiengeschichte, wie es viele gab.

In der Ausgabe des Romans, die 1984 in Toronto erschien, stand als Ergänzung des Titels in Klammern: »Ackermann aus Böheim«. Das ist jene alte Geschichte, die am Beginn einer Epoche der deutschen Literatur steht und in ihrem tschechischen Pendant am Beginn einer Epoche der tschechischen Literatur. Der »Ackermann aus Böhmen« von Johannes von Tepl entstand wohl um 1400, eben in Böhmen. Der erste Druck kam 1460 heraus, eines der ersten deutschen Bücher mit Holzschnitten. Das tschechische Pendant »Tkadleček« (Weberlein) entstand zwischen 1436 und 1440. Eine deutsche Übersetzung dieses tschechischen Buches ist 2007 mit einem Vorwort von Jiří Gruša im Wieser Verlag in Klagenfurt erschienen, wo nun auch dieser neue »Ackermann aus Böhmen«, der »Dr. Kokeš« von Gruša selbst erscheint. Denn ein Thema haben die beiden Texte gemeinsam, der Text von Johannes von Tepl und der von Jiří Gruša: die Klage über den Tod einer jungen Frau. Bei Tepl klagt der Bauer den Tod an, der seine Frau geholt hat. Das Buch bringt einen Dialog in 34 Kapiteln, wobei der Bauer die ungeraden Kapitel spricht, der Tod die geraden. Im 33. Kapitel spricht Gott, der dem Ackermann die Ehre, aber dem Tod den Sieg zuteilt. Das letzte Kapitel endet mit dem Lob Gottes.

So mag es auch nicht verwundern, dass Gruša zwei seiner Texte »modlitba« nennt: »Gebet«. Der Roman »Der 16. Fragebogen« trägt den Untertitel »Gebet für eine Stadt und einen Freund«, und auch ein Gedichtband heißt »Gebet für Janinka«. Gruša wiederum in der Dresdner Vorlesung, die einen so guten Zugang zu seiner Poesie bietet: »Gebete und Gedichte hängen eng zusammen. Denn Gedichte ohne Sprachmagie sind keine, und Gebete sind Gespräche – wenn auch mit einer Person mit Namen Gott. Nur weil sich in ihnen das Namengebende auf Wunsch oder Kummer einschränkt, lieben sie das Ausrufezeichen mehr als das Fragezeichen. Ich hatte Kummer und Wünsche, als ich mein letztes tschechisches Bändchen um 1972 verfasste – nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten und schon für die Selbstverlagsreihe. Sie hieß folgerichtig ›Edice petlice‹, also ›Hinter Schloss und Riegel‹. Wer uns liebte, tippte uns ab und las – keine schlechte Sitte. Unter dem Titel ›Gebet für Jana‹, für das Mädchen also, das der LKW in den Tod riß, erschienen Beschwörungen und Zaubersprüche, Bannworte und Bittrufe, die das stoppen sollten, was ich kommen sah« (S. 23).

So bringt auch »Dr. Kokeš« im Grunde ein Rechten mit dem Tod wie »Der Ackermann aus Böhmen«. In beiden Fällen trägt der Tod den Sieg davon. Er hat immer das letzte Wort. Im Roman soll der Student, der ein Verhältnis mit seiner Lehrerin hat, den Ackermann spielen in eben jenem »Ackermann aus Böhmen«. Die Lehrerin spricht von der Todin, denn im Tschechischen ist der Tod eine Frau. Der Student ist verblüfft, dass im Deutschen der Tod ein Mann sein soll. Die Lehrerin: »Im Deutschen ist der Tod ein Er! Der Tod, mein Schatz.« Darauf der Junge: »Unglaublich, dort könnte ich nicht sterben.«

Hans Dieter Zimmermann

* Jiří Gruša: Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall. Dresdner Poetik-Vorlesungen 1999. Thelem, Dresden 2000.

Hupen

Es war am Josefsplatz, in der Stadt Prag, da standen Marian Kokeš und der Vater Karel in einer Autoschlange und hatten Rot. Der Vater weinte gerade, Tränen in den Augen wie von einer Schminke, jedoch feierliche, sie tropften auf die Oberschenkel seiner immer maßgeschneiderten Hose und zerflossen dort in Madeira und den übrigen Essensflecken, mit denen sich Karel K. auch bei weniger bedeutenden Gelegenheiten bekleckerte, als es das heutige Mittagessen zur Feier der Habilitation des Dr. Marian Kokeš und seiner »Scheidungen in den Augen des Richters« war. Manchmal sank dem Papa auch ganz von allein der Unterkiefer herab und der Speichel floss heraus, bis der Sohn sich schämte, dies zu sehen, weil ihm war, als ob der Speichel bei ihm selber flösse. Und er drehte sich zu der Frau um, die mit dem Arm voller Chrysanthemen am Wagen vorbeiging, ganz in Schwarz und hinter ihr ein Pudel, schwarz wie sie. Diese Frau, schöner als ihr Hund, trat mit einem Bein vom Bordstein herab, um so auf ihre Ampel zu warten, der schwarze Samt über dem Gesäß gespannt und mit Lippizanerbeinen, aus deren hohem Schritt Marian erkannte, dass er einst in diesem Körper war. -Dreh dich doch zu mir um, damit ich nicht nur durch mein Erstarren sicher werde, befahl er ihr. Doch nur der Hund drehte sich zu ihm um, Augen wie schwarze Johannisbeeren, in der Schnauze eine der Chrysanthemenblüten seines Frauchens.

Und dann geriet es in Bewegung, dann brachen auch all die Hupen aus hinter dem Rücken von Marian Kokeš, unauslöschlich und schrill, -fahr, zischte er den Vater an, dann aber sah er wieder den Glanz seines Speichels, der vom Mundwinkel rinnt und von dort zu den Madeiraflecken, weg vom Weiß, das seine Augen überschwemmte und sein graugrünes Gesicht so leer machte, dass kein Getöse es übertönen konnte, nicht einmal die Autos, als sie von hinten um den Wagen herumzufahren begannen, nicht einmal das Rufen, mit dem Marian Hilfe herbeirief.

Und so fiel der Vater auf den Sohn. Er schlug mit dem Kopf gegen das Glas, hinter dem Gesichter starrten, Fressen und Schnauzen, verwischt und nutzlos, mein Gott. Und der Sohn fuhr los, blinkte und lärmte mit seiner Hupe bis zu Dr. Štět, der befürchtete, es sei zu spät, der aber trotzdem anordnete, den Körper in den Saal und auf den Tisch zu tragen.

Es war im Krankenhaus am Ufer des Flusses, eine der Schwestern sagte, -das hat keinen Sinn, aber Štět dachte, -wir versuchen das noch mal, und ordnete den Elektroschock an.

Der Körper bewegte sich.

Und auch Marian – zuerst nur zu dem Ort, an dem es geschehen war, zum Josefsplatz. Das Tor des Kapuzinerklosters gähnte ihm entgegen und die Flammen zu Füßen des hl. Judas Thaddäus waren kalt wie Eiszapfen. Kokeš schien es, hierher sei die Frau mit dem Hund gegangen, es stand dort aber nur ein Enzephalitiker, der hier mit Gummiband für Unterhosen bettelte. Er hält sie hin, denn er verkauft sie unter dem Thaddäus, doch wer nimmt etwas aus so einer Hand! Sie bezahlen, um sie nicht berühren zu müssen.

Wie Marian. Ach, er ekelt sich sehr, doch plötzlich hält er ein Kärtchen in der Hand, dreht sich um und weint. Als ob erst jetzt die Angst zuschnappt, dass er sterblich ist und dass er das auch spürt.

Er ist aus der Frucht heraus geschält, in der er es sich bisher wohl sein ließ. Er hatte z. B. X! (Zeichen für diese Sache), ein gewisses Annalinchen, und zwar um 19.45. Und vorher hatte er um 17.19 den Vater in den Zug nach Ch. zu setzen. Und er hatte ebenfalls … nein, er muss Robus empfangen. Im Büro auf dem Viehmarkt. Er bearbeitet hier durchweg viehische Sachen und dieser Genosse beabsichtigt hier seine Nastenka zu lassen, Magda Smotláková, so ist sie geboren. Nastenka nannte er sie, als er russisch-rutschig in ihr war, als sie ihm zwei Falkensöhne ausbrütete. Jetzt nennt er sie aber überhaupt nicht direkt, sondern unterschreibt eine Vollmacht für Dr. Kokeš, dem er vorschreibt, dafür Sorge zu tragen, dass diese Lieblinge in Quarantäne geschickt werden, -nun also, sagt er dem Doktor, als ob er ihn in die örtliche Abdeckerei schickt, der Stuhl unter Robus knarrt, verschluckt vom Fleisch seines Hinterns, der Tisch rumpelt, -Doktorchen, was also, sie denunziert mich, wissen Sie, die eigene Frau schreibt über mich Denunziationen, mit welchem Recht, so fragt dieser Robus auf dem Viehmarkt den Advocatus Diaboli, Dr. Kokeš. Er, Robus, glaubt nicht, dass er zu denen gehören dürfe, die denunziert werdenk ö n n e n, eigentlich hat er in dieser Richtung seine Sicherheit, die einzige, die er hat, und er regt sich bloß auf, weil Nasta es überhaupt gewagt hat, -mach ihr die Hölle heiß, bettelt sein Specknacken, mach Kleinholz aus ihr, und Marian atmet mit seiner schmalen Nase den Duft dieses Wunsches ein, saugt seine Glut ein und mit einem zustimmenden, stillen Lächeln beginnt er den Satz Federhalter auf seinem Schreibtisch zu ordnen, als ob er schon tranchieren wolle.

Aber er macht sich nur eine weitere Notiz, mit spitzem Bleistift streicht er im Kalender »Die Sohnesdankbarkeit im Spiegel des Rechts«, einen für 11.15 geplanten Vortrag mit einer Kokeš-typischen hochtrabenden Einleitung über Eskimos, denen gegen Ende des Winters die Vorräte ausgehen, sodass sie ihre alten Männer und Frauen dem Frost aussetzen müssen, damit er sie zu einem angeblich sehr gemütlichen Tod erwärme, -sehen Sie, eifert Dr. Marianus, -die Beziehung der Kinder zu den Eltern, meine Freunde, das ist der Spiegel unserer Kultur, und es ist ein Jammer, wenn darüber statt des Dichters ein Jurist sprechen muss!

Nur dass Dr. Kokeš auf seinem Plateau vom eigenen Erzeuger dem Frost ausgesetzt, irgendwo zu stottern beginnt; der übersichtliche Lunedi, Montag, Lunes, angestrichen in seinem Lederkalender, stellt sich quer und vom Bahnsteig 3 fährt der Zug Nr. 0048 ohne Karel Kokeš ab, obwohl es wirklich nachweisbar 17.20 ist. Doch Dr. Kokeš – entgegen dem ursprünglichen Plan – weint zu dieser Zeit. Deswegen geht weit nach 20 Uhr Annalinchen oder Anna Linke, Studentin der Hohen Karls-Schule, aber nur so als ob, denn im Hauptberuf ist sie die Zärtlichkeit, ein wenig nervös in dem Appartement umher, das ihr Kokeš irgendwie besorgt hat, und weil sie nicht anders kann, wählt sie eine andere Nummer.

-Linchen, und das mir, gerade jetzt, wo ich traurig bin, weil ich sterblich bin, sagt Marian und nimmt sich vor, von seiner Trauer Aufzeichnungen zu machen, weil er die Manie hat, jedes nur mögliche seiner Gefühle aufzuzeichnen, d. h., er schreibt:

Die schwarze Frau und der Hund

Sie war der Tod, das ist klar, kombiniert wie ein Zentaur, aber ein weiblicher, aus einer Frau die Stute, nämlich Edith Talancová, die mir auf dem Gymnasium Deutschunterricht gab, und aus der zweiten die Frau, nämlich Janinka, die tot ist. Ich ging Janinka entgegen zum Grünen Baum, ich war fünfzehn Jahre alt und ein Zwanzigtonner fuhr in Richtung Hrádek an mir vorbei, auf dieser Straße zwischen Ch. und Hrádek, über die Beton nach Ráječek gefahren wurde, damit dort die Talsperre sei, die da jetzt ist. Janinka stand unter dem Grünen Baum, unter dieser Linde, die mit ihrem Laub noch die Fuhrleute beschattete, zu mir wehte der Dieselgestank des Lasters herüber, dass ich lieber gar nicht Atem holte, damit ich ihn nicht schlucken musste, und derart uneingeatmet sah ich die ausgeleierte Achse des Wagens, von der sich das rechte und riesige Rad löste, und Janinka, die mit dem Rücken zu ihm und zu mir stand, d. h. abgewandt, sie schaute in das Tal des Todes, breit quetschte, bevor ich wieder Luft bekam. Und Cimbál begann zu klagen, Janinkas Pudel, er begann als Erster so menschlich zu klagen, dass ich mir fast ungehörig vorkam. So war ich Witwer, auf den der Betonbrei aus dem gekippten Laster zufloss wie ein großes, graues Exkrement, wie eine große, bleierne Wolke, die vorher am Himmel war und die sich jetzt losgerissen hatte auf die Erde und Janinka lag entzweigebrochen wie die Blumen, die ich für sie, anstatt sie zu pflücken, mit dem Luftgewehr geschossen hatte und die in ihrer Richtung kippten, d. h. sich vor ihr neigten, ich stand bei uns im Garten und brüllte: noch diese Blüte, und die Tulpe neigte sich mit ihrem Hut vor Janinka, erwies ihr die Ehre, und es war noch, als ob sie zärtlich auf den sagenhaft präzisen Schützen hinwies. So also entzweigebrochen liegt sie mit dem Mund voller Blut jetzt vor mir. Auch der Fahrer stürzt aus dem Führerhaus und bringt, worauf wir sie legen sollen, das Rollbrett, auf dem er liegt, wenn er unter den Wagen muss … während ich inzwischen meine Lippen auf Janinkas Mund gepresst habe, und ihr Blut fließt in meinen Mund, jedoch kein Atem, keine Seele, die ich für eine Weile schlucken, dem Körper zurückgeben könnte, damit er wieder lebendig werde, und er war sterblich mit meinem zusammen, o Herr … schieß diese Blume nicht nur, weil ich an ihr gerochen habe, denn sie wird auch tot mein sein.

Ich drücke meinen Mund auf ihren, wie ich mich danach gesehnt hatte, als sie lebte, und wie ich das manchmal auch getan hatte, wenn sie besonders nachgiebig war. Ich bin bis zum Ersticken voll von ihrem Blut, es trocknet vom Hals abwärts und unter dem Hemd, und der Fahrer sagt mir: -Leg sie hierhin!, er meint die Rollbahre, auf der die Körper in den Verbrennungsofen geschoben werden können, wo es schon raucht, -mit ihr ist es aus, spricht er, doch auch er zittert über einer so schönen Leiche und deckt sie mit einer riesigen zerknüllten Plastikfolie zu, die er unter dem Sitz hervorzog.

Das ist das Oberteil meiner Zentaurin, während zum Unterteil mich der Hund führte, der schwarze Cimbál, der vom Grünen Baum ab schon hinter mir her schritt wie hinter einem Witwer, d. h. auch wie hinter seinem Herrn. Das Tor öffnete meine Großmutter Therese-Odette und sie sagte mir, dass ich das Tier nicht hätte nehmen sollen.

-Warum, sagte ich.

-Weil das ein Hund immer in Trauer ist.

-Aber das ist Cimbál, ein fröhlicher Hund.

-Das kann er nicht sein, sagte sie, -in ihm ist etwas besonders Aufmerksames. Gott tröste dich, Marian.

Ich hatte diese Therese-Odette gern. Sie hielt zu mir, weil sie meinte, ich würde überhaupt ein besserer Mensch, was bei ihr Dragonerleutnant bedeutete, der, der sie vor sechzig Jahren Großvater überlassen hatte, obwohl sie Schönheitskönigin war. Jedoch habe ich nicht auf sie gehört, was Cimbál betraf, sondern schlief mit ihm an den Beinen ein (ich schlief nur ganz kurz, wie wenn die Sicherungen herausfliegen, aber dann müssen die Lampen wieder brennen), d. h., wir sind sofort wieder wach, ich und der Hund; und wir weinten um Janinka, er mit heraushängender Zunge, hechelnd und tränend, ich glotzte auf den Fleck von einer grünen Blattlaus, die ich absichtlich breitgequetscht hatte, als sie aus dem Garten hereingeflogen kam. Dann schrieb ich ein Gedicht auf den Tod Janinkas. Eigentlich habe ich es nur zu Ende geschrieben, weil ich die erste Strophe schon vorher hatte.

Janinka, du weist mich nicht mehr ab,

du bist starr geworden …

auch meine Geste ragt,

ist wie des Engels Hand erstorben,

der deinen Marmor begießt

mit Regen voller Ruß,

du aber weißt nichts davon

und stehst wie du musst.

Ein solcher Engel stand über Janinkas Grabstein aus Granit, ein trauernder Engel, die rechte Hand in auf Brusthöhe gehoben in der Haltung: Schweigt! Pst! Aber ich schrieb noch mehr Strophen von hinten in mein deutsches Vokabelheft für die Stunden bei Edith Talancová, die mir dann aufgab, für sie zu übersetzen: Siehst du den schwarzen Hund in Saat und Stoppel streifen, weil mein Cimbál wieder von zu Hause weggelaufen war (es genügte, dass er nur auf den Hof kam, dann sprang er auch über das Tor, obwohl ich alle Löcher sorgfältig mit Draht zugemacht hatte) und er setzte sich vor dem Gymnasium in den gegenüberliegenden Park, in den man von den Klassenräumen aus sehen konnte … Saat und Stoppel wusste ich nicht, und so musste ich mir die Wörter aufschreiben und ich musste der Talancová auch die Aufsätze aus der B tragen. Ich trug sie auf den Armen etwa einen halben Schritt vor ihr, Cimbál wieder voran, und sie sagte: »Der Kreis wird eng, schon ist er nah.«

Und zu Haus in der Küche noch:

»Sie war also deine Freundin.«

Sie meinte Janinka, sie wusste das, weil ich als schwarzer Bräutigam beim Begräbnis war, zum weißen Sarg ein schwarzer Bräutigam.

-Und du bist ein Dichter.

-Ja, sagte ich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich eine Lehrerin belügen könnte.

Meine Stimme war furchtsam, aber auch neugierig.

-Warte, ging sie zum Fenster, dort blühte eine Reseda, sie riss ihre Blüte ab und steckte sie in den Aufschlag meines schwarzen Bräutigamsakkos.

-So steht dir das!

Aufs Neue setzte ich zum Gedicht an, ich spürte, dass etwas geschehen wird, doch wusste ich dessen richtigen Namen nicht.

Auch meine Geste ragt,

ist wie des Engels Hand erstorben,

sagte ich der Küche mit der weißen Kredenz und der Resedablüte, während die Hand Edith Talancovás von meinem Knie zu der Stelle fuhr, die mich von Janinka entfernt hatte und nun beabsichtigte, mich mit einer völlig fremden Frau zu verbinden, aus der Uhr hinter Edith sprang ein Kuckuck heraus, verneigte sich sechsmal genau dahin, wohin ich gern geguckt hätte, wenn ich es bloß gewagt hätte. Aber ich, Tränen. Sie flossen nach innen, damit die Talancová sie nicht sieht, dort drinnen aber angenehme Wärme, ein Geschmeidigwerden, wie wenn das Fieber aufhört und mir wieder wohl ist, auch wenn ich schwach geworden war, dass ich hätte fliegen können. Ich trat aus ihrem Haus auf die Straße, neben der sich ein Graben entlangzog, und erleichtert wie ich war, sprang ich im Zickzack darüber, bis es mit mir einbrach, ich verschwand in einem Loch und über mir wieder der Hund.

Er glotzte und hechelte.

Und das ist das Unterteil der Zentaurin: der Hintern ein wenig eckig, aber hoch angesetzt und sanft. Die V. unzerstörbar, gleichfalls etwas höher, und vornehme Beine.

Aber bevor er die Zentaurin traf, war Kokeš Dr. Unsterblich, ein Englein im Gewande mit Palmzweig und einem Stern auf der Stirn … A. D. 1949 in der Waldeslust, die zwar auf eifriges Treiben des Papas aufgehört hatte, den Kokeš zu gehören, aber noch wurde dort gespielt, noch sang dort auch Marian mit seinem Kindersopran und schwebte angeschnallt über der Grotte von Bethlehem. Der Zuschauerraum war voller Augen, feucht glänzender Augäpfel.

-Ach, ist das ein schönes Kind, sagte eine sanfte Dame neben Marians Mutter, ohne zu wissen, wessen Sohn der Engel ist.

-Wirklich ein schöner Junge, sagte Dr. Medl, ein Homo, von dem das wieder die Mutter nicht wusste. Doch sie weinte über dieses Lob von den Sesseln neun und elf zehn Tränen, die zwischen zwei Zäunen zitterten wie zehn Zicklein, die wie zehn Zicklein zwischen zwei Zäunen zitterten, sicher war das so, denn die Eintrittskarte mit der Sesselnummer hat Frau Božena Kokešová an diesem Haarteil festgesteckt und für ewig in der Biedermeierkommode des Kokeš-Geschlechts aufbewahrt.

Gloria in excelsis Deo, sang dieser Kokeš, weil ihm der Körper nichts meldete vom Schweben und Schwimmen, das ihn nun als Hr. Doktor in sich aufnimmt und verschluckt, sondern »es war« noch Schweben in seiner ganzen reinen Körperlichkeit. Er hatte eine Stimme wie ein Kanarienzeisig, so konnte er singen: cantus firmus, ein fester Gesang auch im Sänger, der nicht auf den heutigen Puddingbeinen stand. Sie klatschten ihm Beifall, die Hände flatterten, Kokeš verbeugte sich vor ihnen in seiner Unsterblichkeit, und der Stern auf seiner Stirn warf einen Glanz in den Saal wie der Spiegel des Ohrenarztes. Nur Sterbliche, wie z. B. ein gewisser Ing. Matolin, waren neidisch, auch wenn sie die Hauptrollen im Märtyrer Laurentius oder im Tröster der Aussätzigen spielten und taten, als ob sie gern sterben, trotzdem schielten sie nach dem Engel, der so leicht und klein mit nichts sich besonders beschäftigte, sondern nur den Ruhm in der Höhe verkündete und in den Saal winkte, auch mit seinen menschlichen Händen, denn er hatte seine Mutter erblickt, wie sie ihm auch zuwinkt und klatscht … sie klatscht und sie klatschen, weil klar ist, dass dieses Flattern der Hände und dieser rauschende Ton doch ihm gelten, -au, was machen Sie da, Herr Matolin, Sie haben durch meine Engelssandalen gestochen.

Der Herr des Schwertes Matolin aber sagt,

-Bürschchen, reiß das Maul nicht so auf, du bist hier nicht im Nationaltheater, aber dann vereinigt sich die herausgetretene Träne mit denen der Mutter, der Saal, beidseitig auseinanderlaufend, wölbt sich und zieht sich in Kristalle auseinander und siehe, es ist schön. Und es ist auch süß, denn Therese-Odette und diese Mama B. Kokešová warten auf den Engel bei den Schauspielergarderoben mit einer Schachtel von Klaban-Pralinen der Marke EGO Brustkaramellen und alle Arten von fein Kandiertem und die Frauen füttern diesen Engel und erzählen ihm von der Schokolade, die sie zu essen pflegten, als es sie noch gab vor dem Krieg, und sie versprechen ihm, mal muss der Tag doch sicher kommen, nämlich der Schokoladentag ohne den Geruch nach Gemüse, Schlacke oder Asche, sie erzählen dem Engel von diesem Tag, sie versüßen sich diesen Engel, sagen zu ihm »Erfolg«, d. h. ein Wort, das er sich merkt in dieser Kombination:

ad a) Herabfliegen ex excelsis

ad b) Schmerz im Fuß, von einem Schwert gestochen

ad c) Klabans fein kandierte Früchte.

-Ja, spricht Therese-Odette, das kenne ich auch, erst ist es süß, dann wird’s im Mund so sauer wie ein Drops. Aber bitte … weil es schön ist, wenn etwas den Leuten gefällt, dass man es selber fühlt und es einem selbst gefällt. Ich hatte ein weißes Kleid an und sagte die Fürbitte am Kreuz auf als das schönste Mädchen, weil die Fürbitte immer von der Schönsten gesprochen wird … Das Kleid hatte ich selbst genäht und ich ging zum Kreuz und dort sagte ich das auf und dann vor der Gastwirtschaft, vor dem Grünen Baum. Dann wurde getanzt.

-Was wurde getanzt?

-Der Zittertanz, der Zittertanz, sagte sie und Marian sah eine Sülze, wie sie zittert. Es kam ihm lächerlich vor. Sehr. Aber es stimmte, dass diese Therese-Odette Schönheitskönigin war und dass ein Dragonerleutnant, genannt Daphnis, an sie herantrat und mit ihr den Walzer »Der Halley’sche Komet« tanzte und sie dabei fragte, ob sie ihn zusammen tanzen könnten im Café YOKOHAMA im fernen Prag, wo ein echter Chinese das Tablett trägt, ob sie ihren werten Namen verrät, denn unmittelbar nach einem solchen Flüstern wird er sie glücklich machen, damit sie nicht irgendwo in einem Büro versauern müsse und ihre lieblichen Lippen nicht irgendwelche trockenen Ziffern murmelten & ihre hübschen Zähnchen nicht irgendwelche Bleistiftstiele kauen müssten … so war es in Thereses Unsterblichkeit, sie erinnert sich daran und wenn sie den Enkel mit Klabans kandierten Früchten füttert, hört sie die Musikanten von damals und ist sich sicher, dass sie den »Halley’schen Kometen« spielen.

Während Dr. Kokeš seinen Neider Matolin als Aussätzigen sieht und ihm das wünscht, in des Doktors Vision jedoch kommt kein Tröster, den Ing. Matolin gesund zu machen, sondern die Plastikfurunkel, die er sich vor der Vorstellung so sorgfältig und so hässlich wie möglich angeklebt hatte, und die Marian ursprünglich eigentlich bewundert hatte, fressen sich ihm nun wirklich ins Gesicht, bis er so hässlich ist, dass man sich auch im Leprosorium von ihm wegsetzt.

-Das ist ein schrecklicher Kerl, Mama, er stützte sich mit seinem Schwert auf meinen Fuß und ich winkte dir gerade zu.

-Das galt mir?, schluchzt B. Kokešová.

-Aber sicher, sagt Dr. Kokeš, -wem denn sonst?

Oder er ist noch unsterblicher (wieder dieser Dr. K.), weil er schweben kann. Er zog das Rochett aus und entschloss sich, in Böhmen Dichter zu sein. Er hörte vom Chor der hl. Barbara, wie drei Begräbniswitwen, heute sogar ohne zu meckern, von einer Laute zu singen anfingen.

Nun kann ich nicht mehr länger schweigen

die Laute nehme ich zur Hand

die Liebe lässt mich nicht mehr länger schweigen

und heftig drängt’s mich zum Gesang

-So eine Laute schnapp ich mir, sagte Dr. Kokeš und erhob sich, zuerst flog er nur ein ganz kleines bisschen, aber direkt hinter der Venhoda’schen Bäckerei, als er sich versichert hatte, dass er sich in der Höhe von etwa dreißig Zentimetern über dem Bordstein fließend bewegt, blieb er schon oben und schob sich an den blühenden Akazien vorbei. Sie dufteten, es wurde Abend. Die Laute waren das Abendgeläut und das Rauschen, das die Blätter mit der matten Seiten nach oben kehrte. Kokeš sah sich um und hörte das C der Glocke, das irdische Gebimmel des Herrn Hemele, dort am Glockenturm aus Trägern, der nach dem Luftangriff anstelle des eichenen steht, den die Luftwelle so heftig auseinanderriss, dass die Splitter die Hühner mordeten, die vor dem Luftangriff davonrasten, und die alte kupferne Glocke schmatzte gleich einem Apfel, der geteilt wird. Diese ist nur mehr aus Gusseisen. Wenn jemand stirbt, ist Gusseisen die Totenglocke und Hemele der Totenglöckner. Er klebt die Todesanzeigen an, bindet das wippende Seil los und droht mit dem Tod. Oder er läutet zum Frühling. Zum Frühlingsfrühfliegen, mit der Prothese an das Gärtchen vor Odettes Kreuz neben dem Glockenturm gestützt, verfolgt er das Schweben Marians und läutet ihm dazu; -wenn er so fliegt, könnte er mir auch mein Bein zurückgeben.

Er meint sein eigentliches, anstelle dessen er einen Huf hat.

-Liebchen, sagt er zu dem Jungen, -verschaff mir ein irgendein anderes.

-Ach, sagt Kokeš und landet, -ich hab keins mehr. Und was ich hatte, war nicht eures.

-Ich hätt es aber besser brauchen können.

-Konnten Sie nicht, es war schon tot.

-Es wäre schon wieder lebendig geworden an mir, wenn du dafür gebetet hättest.

-Vielleicht wenn ich darauf geblasen hätte?

-Vielleicht.

-Hm, sagte Marian, -wo sie doch so viel trinken, Odette hat gesagt …

-Wer hat das gesagt, du Kuttenbruder!

Und Hemele keucht hinkend hinter Kokeš her, der auf einmal sehr Fußgänger ist.

Obwohl er wirklich Besitzer eines menschlichen Beins war. Ein paar Tage nach dem Luftangriff hat er es gefunden, es ragte aus einem Schober, ringsumher wimmelte es von Fliegen. Er atmete dieses Süß-Sterbliche ein, ohne dass es ihm besonders wohlriechend vorkam, brr… dies Odeur wird er lieber nicht vergessen. Er rannte dann zu Frau Tlamsa, denn sicher gehörte das Bein Tlamsa; sie hatten den Hausherrn ohne es beweint.

Eintragungen des sterblichen Dr. Kokeš

(In den Kalender unter der Rubrik Lunedi)

1) Telefon Dr. Štět

2) Treffen mit Robus

3) Annalinchen

Ad 1)

Marian ruft Štět an.

-Wie steht es, Doktor?

-Ich fürchte, dass Ihr … also … Ihr Vater … klinisch ist er schon … verstehen sie?

-Ich verstehe.

-Ja, es isti r r e p a r a b e l, so ist es. Es dauerte ganze vierundzwanzig Minuten, in der Literatur suche ich vergeblich ein längeres Intervall …

Marian steht dann am Bett, wo Karel ruht, als ob sie ihn schon in die Grabplatte eingemeißelt hätten: Die ganze Figur ist langgezogen unter der wie die Draperie der Sarkophage in Falten gelegten Decke, die Augen weit geöffnet im gedämpften Licht der Jalousie und dem Aufblitzen der Apparaturen, wo die kleinen grünen Todesgötzen tätig sind und von wo sich ein unendliches Papier herauswindet, beschrieben mit einer Art konkreter Poesie. Also geöffnete Augen, schauend in das Unschaubare (zitiert Dr. K. aus einem seiner Frühwerke), aber sehend auch durch jeden, der ihm ins Blickfeld träte; in den Augenhöhlen Schatten, aber das Gesicht voll mattem Glanz. Nur von sehr nah ist das auch Atem, während um den Mund etwas still Lustvolles.

Nein! spricht Dr. Kokeš, dann würde ja Sterben bedeuten, dass es ein intensives Leben ist, ja, seine intensivste Form. Also kein Nichtsein, was wir alle fürchten. Also logisch gedacht heißt das, wenn das Sterben die große Lust des Lebenden ist, warum plagt sich der Mensch mit einem möglichst langen Leben ab?

Ad 2)

Nicht einmal Robus?

Welche Lust hält diesen Stoff beim Rackern, also in Bewegung, weil »die Bewegung = die Daseinsweise der Materie« ist, nicht wahr, Talancová? Aber das hast nicht du mir zu übersetzen gegeben, sondern die, die aus mir Br einen Dr machten. Und hatten sie nicht eigentlich recht? Ständig unstet aus prinzipieller Nichtliebe, die sie von innen her motorisiert, jagen sie hinter den Früchten ihrer Taten her. Sie gieren nach ihnen, dass sie sich drehen und wenden, sie fühlen sich jedoch wohl in diesem Hin und Her, auch Erregung ist mit dabei. Vollkommene, du vergisst dich darin, dann darin zu bleiben begeistert auch mich zuweilen, besonders, wenn ich sie mit anderer Materie umgehen sehe, von niedrigerem spezifischem Gewicht; zwischen Körper und Körper gibt es dafür Paragraphen, aber zwischen Nichtseelen … ach, ich weiß nicht, und siehe, Robus gegenüber, hinter dem T-Tisch im Direktionsbüro, schiebt sich von einer Seite auf die andere, nervös, dass ich etwas nicht weiß, das hat er nicht gern, -Sie schleichen immer um den heißen Brei herum, Kokeš, ständig winden Sie sich wie das Fleisch am Spieß, ich fress Sie doch nicht auf, lächeln seine Zähne, ich nasche keine Fliegen, was also wissen Sie nicht (?), ich sage, dass ich nicht weiß, ob in die Scheidung zu gehen unter diesen, sagen wir: Umständen, er sagt, -Sie sagen Umstände, und es sind ein paar anonyme Briefe von der Hand meiner Frau; ich sage, Sie kann Ihnen schaden, und er lacht, bis das Zimmer wie voll davon ist, dass er aufsteht, den Ventilator anschaltet, denn er hat die Manie zu lüften, er trägt immer ein Hemd mit schreienden Streifen, die Ärmel wie ein Schlachter hochgekrempelt und schwitzt trotzdem und kühlt immer, -da verstehst du mich, Doktorchen, schlecht, öffnet er den Getränkeschrank, -ein paar Jahre vor der Pensionierung, dafür, wie ich hier stehe, bin ich schon ganz schön sattelfest … mit der Dame weiß ich mir selber Rat, von dir verlange ich nur, ihre Visage zu ertragen, neigt er sich herüber und gießt die Gläser voll, seine zwei, wie er sagt, stakany.

In meinem Bauch gluckst es beängstigend, ich wispere ihm zu, dass ich mit dem Wagen hier bin, er aber gibt mir eine Visitenkarte (es ist schon die vierte), ich solle ihn anläuten, falls mal irgendetwas, der Wodka riecht, und ich drehe das Glas, mir dreht sich der Magen, obwohl der Wodka mich dann, wie er sich so hinunterschiebt, sozusagen entspannt, ich konzentriere mich auf die Wärme, während Robus hockt und sein Nacken noch violetter ist, auf dem gespaltenen Schädel, in einer Rinne zusammengewachsen, liegt der Reif seines Schweißes, den ich anstarre, und ich muss mich überwinden, ihn nicht zu fragen, wer ihn so verwundet hat, dass sich die Narbe über den ganzen Schädel bis zur Stirn zieht und auch ihre Farbe ändert wie das darunter, was geteilt sein sollte und was jetzt ein magisches Auge ist, eine Ritze des Inneren, die Abstimmung des Robus, wenn man es anfasst, muss man es einstellen wie eine HiFi-Anlage.

Es handelt sich also um eine gewisse Transaktion, sagt er und fragt mich, ob ich ihn höre. Ich höre und gehorche, sollte ich ihm sagen.

-Du weißt, was eine Verfallserklärung ist, fragt er mich, während die Rinne ein bisschen blasser wird, -du machst ihr einen Vorschlag …, er schluckt und knallt die Hand auf die Tischplatte, er hat sie eigentlich zur Faust geballt, sodass der Punkt deutlich ist, -du wirst sie einfach überzeugen, dass sie sich ein Haus kauft.

-Wenn ich Sie recht verstehe, wird das ein Angebot sein, und er sagt, dass er die Gütergemeinschaft der Eheleute Robus in Ordnung zu bringen gedenkt, ich: -das Haus gehört nicht Ihnen, dafür lobt er mich und gießt sich wieder seine 200 Gramm ein und sagt, das Haus gehört Berta Samueli, der vornehmen Jüdin, er nimmt eine vollgestopfte Akte aus der Hängeregistratur in der privaten Schublade und gibt sie mir. Ich muss aufstehen, denn über den Bauch und den T-Winkel des Tisches sich hinüberzulehnen hat er nicht mehr genug Kraft.

Die Akte ist mit folgenden Zahlen überschrieben:

666

und darin befinden sich: ein Archivplan, gestempelt noch vom Magistrat A. D. 1910, auf Zeichenleinwand kalligrafisch beschrieben – selbst ein wenig Kunstwerk, aus der Draufsicht der Fassade läuft sie in eine Loggia aus, die sich wellt, das Gesims steht vor und alle Profile sind von einer gewissen Rundung bestimmt, die senkrechten Stützen der Geschosse ähneln fast Statuen, das Schmiedeeisen darum herum ist tulpig und in Wirklichkeit sicher grün, so wie auch die Glasuren der Fensterverkleidung grün sein müssen – im blaugrünen Jugendstilkolorit des Hauses von Aron Samueli, Industrieller (lt. Beschreibung unten). Und es gibt in dieser Akte noch eine genaue, nicht unterschriebene Schätzung der obengenannten Immobilie auf unwahrscheinliche 74 Tausend lautend, und es gibt dort Auszüge aus der Geodäsie, das Einverständnis des Garten- und Forstamts mit der Entfernung des überalterten Bewuchses (vordatiert erteilt), und auch die Stellungnahme des Hauptarchitekten und Denkmalpflegers, dass das Haus nicht Gegenstand besonderen Interesses ist, und insbesondere (auf einem Oktavblatt ohne Institutskopf) eine Erklärung des behandelnden Arztes über den Gesundheitszustand von Frau Berta, der vornehmen Jüdin, in welchem festgestellt wird, der Zustand sei irreparabel, das hatte Marian heute schon gehört, und ganz unten ist noch das Konzept von Robus, aus dem hervorgeht, dass M. Robus nach Abwägung aller Forderungen und Verpflichtungen im Rahmen des Ausgleichs gerade die vierundsiebzigtausend zuerkannt werden, worauf Dr. Marian, wie es von ihm erwartet wird, zum Vorschlagenden aufblickt, denn der will fragen, ob das großzügig ist, -ja, spricht der Advokat, -sehr, und Robus kleckert ihm ins Glas,

-etwas Soda, fragt er, es wird gebracht und ist kalt wie ein Umschlag.

-die Dame lebt bisher noch, wenn ich nicht irre?

-Nicht nur das, sie wohnt noch dort.

Ichg e b ezu, stottert Kokeš, aber Robus unterbricht ihn mit einem Robus-Witz: -Bloß nichts zugeben, dafür wird einem immer das meiste aufgebrummt, der König schweigt. Halt dich an den Praktiker.

Der Doktor fragt also praktisch, wann Berta stirbt. Und er, -schon bald, spätestens in etwa einem Monat.

Hm, und das ist ein derart tatkräftiges Warten, dass es eigentlich Mord sein könnte – reines Verrecke (notiert sich Marian in seinem Kalender, bevor er zu Annalinchen geht).

Ad 3)

Über Annalinchen notiert er sich nichts in der Ich-Form, sondern schreibt über sie, ohne ihn allerdings zu Ende zu bringen, den Essay über V., in dem Annalinchen sich in V. verwandelt, ein Symbol, ihre dort bezeichnend, aber vielleicht auch seinen, des Dr. Kokeš, gekürzt auf diese Dimension. Als Begriff ist das ein vages Monstrum, aber als V. ist es Verrat, ist es Viertel, ist es Vorratskeller.

-Nicht schwätzen, sagt Annalinchen zu Marian, -das meine ich allgemein, sie denkt auch allgemein, ist gebildet, die Couch hat sie mit »Staat und Revolution« abgestützt.

Aber sie ist auch schön, das hauptsächlich, sie hat gewölbte Augen, ein längliches Gesicht, wie vergoldet, warum ist nicht bekannt, doch glänzt es auch in seinem Duft.

Ihre mentale Hand (= Bezeichnung von Dr. K. für diese Art Hände) mit dünnen Fingern, an den Enden nicht eckig, nur gespitzt und mit Handflächen wie Muscheln, ihr …