Mami – Jubiläumsbox 6 – E-Book: 1757 - 1762

Mami
– Jubiläumsbox 6–

E-Book: 1757 - 1762

Isabell Rohde
Gitta Holm
Gisela Reutling
Susanne Svanberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-185-8

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Lisa schafft sich ein Elternhaus

Roman von Isabelle Rohde

Es war einer dieser schwülen Sommertage, an denen sich fast alle schlapp und müde fühlten. Und ausgerechnet heute holte Uschi Behrend ihre Tochter Luisa aus dem Heim Tannengrund ab. So kam es, daß sie ihr dumpfes Herzklopfen nicht nur ihrem schlechten Gewissen, sondern auch dem drückenden Wetter zurechnete.

  Aber der Anblick dieser nicht endenwollenden Umklammerung, mit der ihre Tochter den Abschied von der Heimleiterin hinauszögerte, traf sie nun doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Jetzt erst wurde ihr bewußt, wie schwer es Luisa fiel, das Heim Tannengrund für immer zu verlassen. Sekundenlang schwankte sie, ob sie ihren Entschluß nicht rückgängig machen, einfach ins Auto steigen und allein zurück nach München fahren sollte.

  Durfte sie ihrer Elfjährigen einen Schulwechsel zumuten und tatsächlich von ihr verlangen, von nun an mit ihr und der winzigen Sophie allein im Haus in der Münchner Rotbuchenstraße zu leben? War nicht zu befürchten, daß sich Luisa nach der Zeit im herrlichen Voralpenland gar nicht mehr ans Stadtleben und an ein trautes Zusammensein mit ihrer jungen verwitweten Mutter und einem Schwesterchen, von dem sie bis jetzt nichts ahnte, gewöhnen konnte?

  »Komm, Luisa, ich bringe dich zum Wagen«, meinte Frau Dr. Stubbe in diesem Moment. »Dann haben wir noch einige Minuten für uns.« Sie streckte der verblüfften Uschi die Hand entgegen, bis die ihr die Autoschlüssel gereicht hatte. Dann bewegte sie sich Arm in Arm mit dem Mädchen hinüber zum schattigen Parkplatz.

  Die Geste der Heimleiterin verriet genug! Rabenmutter, Ungeheuer, herzlose Bestie! hätte sie sie wohl am liebsten genannt. Sollte sie hinterherlaufen, Frau Dr. Stubbe an den Schultern packen und sie auf ihre Verantwortung als Pädagogin hinweisen? Hatte sie überhaupt ein Recht dazu? Und was brachte das? Die damenhafte Matrone mit dem geduldigen Blick hätte um eine Erklärung für dies vulgäre Verhalten gebeten. Und dann? Was sollte Uschi ihr erkären? Es gab keine Entschuldigung für ihre Vorgehensweise. Keiner verstand, warum sie ihre Tochter so plötzlich, ohne längere Ankündigung von hier fortholte, denn niemand wußte ja, daß sie inzwischen ein zweites Kind bekommen hatte.

  Oder sollte sie sich der Direktorin anvertrauen? Ihr umständlich und verlegen erklären, daß sie, die junge Witwe sich drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes an die Illusion eines neuen Glücks verloren hatte. Daß ihr aber von dieser Illusion nichts geblieben war, außer einem kleinen Kind, der zwei Monate alten Sophie, diesem Wonneproppen, der sie über alle Bitternis hinwegtröstete und in ihr den Wunsch erweckte, auch Luisa wieder um sich zu haben?

  Nun ja, sich jung zu fühlen und dabei mit aller Macht vom Glück zu träumen, das entschuldigte vielleicht den Leichtsinn einer alleinstehenden Frau. Aber einer berufstätigen Witwe, die ihr einziges Kind in ein Internat abgeschoben hatte, verzieh man eine solche Dummheit nie!

  »Ich habe Luisa meine innigsten Wünsche für eine segensreiche und glückliche Zukunft mitgegeben, Frau Behrend.«

  Mit diesen Worten kam die Heimleiterin zu Uschi zurück und reichte ihr den Autoschlüssel. Mit einem Blick, der Uschis jugendliche Aufmachung als völlig unpassend kritisierte, fügte sie dann doch noch mit sanftem Lächeln hinzu: »Sie hat sich beruhigt und wartet im Wagen auf Sie. Ich hoffe, Sie finden bald Gelegenheit, das zwischen Ihnen stehende Mißverständnis aufzuklären.«

  »Ein ausgereifter Entschluß ist kein Mißverständnis«, widersprach Uschi. »Ich danke Ihnen deshalb von Herzen für die Zuneigung, die Sie Luisa immer entgegenbrachten. Ich werde alles tun, damit sie sich bei mir wohl fühlt, die Zeit bei Ihnen aber nie vergißt.«

  »Ohne die Freundschaften, die sie hier geschlossen hat, wird es für Luisa nicht leicht werden, Frau Behrend.«

  »Sie wird neue Freundschaften schließen.« Uschi setzte sich hinters Steuer. Noch ein tränennasser Blick und ein letztes Winken von Luisa, und sie fuhr den Wagen in hohem Tempo aus dem großen Tor hinaus. Sie lenkte ihn gar nicht erst ins Dorf, sondern wählte eine Straße, die direkt zur Autobahn führte. Als Luisa wieder zu schluchzen begann, suchte Uschi krampfhaft nach Worten des Trostes und der Zuversicht. Aber die nützten ja nichts, bevor ihre Große nicht endlich erfuhr, was sie zu Hause erwartete. Uschi hatte sich doch alles schon so gut zurechtgelegt. Aber wie beginnen, ohne Luisa dabei in die Augen zu sehen?

  »Wollen wir zu Mittag ein riesiges Eis schlecken?« schlug sie eine halbe Stunde später vor. »Das ist bei dieser Hitze besser als ein richtiges Essen, wie?«

  »Ja, das ist es«, kam es von hinten. Uschi atmete auf. Luisa saß zwischen Taschen und Kartons eingezwängt, weil der Kofferraum nur ein Drittel ihres Gepäcks faßte. Ihr mußte ja unerträglich heiß werden!

  Auf der Terrasse der nächsten Autobahngaststätte war jeder Platz besetzt. Ungerührt zog Uschi ihre Tochter mit sich in den halbdunklen riesigen Gastraum. Hier war es wenigstens kühl. Und ganz hinten fand sich ein freier Tisch.

  Der Kellner, der die Bestellung für zwei Eisbecher aufnahm, sah die junge Mutter mit dem typischen Blick eines Mannes an, der unverhohlen Flirtbereitschaft signalisiert. Uschi tat so, als bemerke sie es nicht. Daß sie nach Sophies Geburt vor zwei Monaten endlich wieder schlank und rank war und ihr die karierten Bermudas und das lockere T-Shirt hervorragend standen, wußte sie selbst. Sie war gerade Mitte Dreißig, fühlte sich aber so jung wie lange nicht mehr.

  Und wenn Luisa ihr endlich wieder ein vertrautes Lächeln schenkte, war sie sogar dazu umstande, für ihre kleine Familie Bäume ausreißen oder wie eine Löwenmutter um das Wohlergehen ihrer beiden Töchter zu kämpfen.

  Luisa weinte nicht mehr, aber ein Lächeln war nicht zu erwarten.

  »Weihnachten hast du mich zum letzten Mal nach Hause geholt!« brach es auch schon aus ihr heraus. »Und ich hab gedacht, wenn du in den großen Ferien kommst, fahren wir zusammen weg. Nach Italien oder Österreich wie sonst. Aber du holst mich einfach für immer nach Hause! Ohne mich zu fragen, als wäre ich irgendein Ding… und nicht deine Tochter.«

  »Luisa, bitte, mein Schatz, laß dir erklären…«

  »Was denn? Ostern und Pfingsten hast du dich auch nicht blicken lassen. Nur immer Briefe und Päckchen geschickt. Hättest ja gleich schreiben können, daß ich zum nächsten Schuljahr wieder nach München muß.«

  Uschi wußte selbst, was sie falsch gemacht hatte. »Freust du dich denn gar nicht, wieder und für immer bei mir zu sein?« Das klang wie ein Flehen.

  Luisas braune Augen blitzten kurz auf. »Na ja…«

  Dann wurde das Eis gebracht. Sie riß den Papierschirm aus dem Sahnehäubchen, wühlte mit dem Löffel die Früchte unters Eis und warf Uschi zur Abwechslung einen zweifelnden Blick zu.

  »Wenn ich in der Münchner Schule keine neuen Freunde finde und du jeden Tag arbeiten gehst, soll ich dann nur mit Wilma reden oder wie?«

  Wilma Buschholz war Uschis Haushaltshilfe, eine mütterliche Frau mit flottem, bayrischen Mundwerk und dem Herz auf dem rechten Fleck.

  »Dann hätt’ ich auch im Tannengrund bleiben können. Da hab ich viele Freundinnen.«

  »Du findest natürlich neue Freunde!« Uschis Worte klangen sehr bestimmt. Dabei wußte sie, daß sie ihr Geständnis nicht mehr lange aufschieben konnte. »Du weißt, wie ungern ich wieder zu arbeiten begann, damals, als Papi uns für immer verlassen hat?« begann sie mit einer Rückschau in die Vergangenheit.

  »Er hat uns nicht verlassen. Das tun andere Väter. Papi ist gestorben, Mami. Gewollt hat er das nicht!«

  Natürlich, Luisa war jetzt elf und kein Kind mehr, dem man die Welt und den Tod schönreden konnte.

  »Ja, er ist gestorben. Ich meine ja nur, danach waren wir allein. Und ich stand vor der Wahl, aus dem Haus auszuziehen oder wieder zu arbeiten, um es abzahlen zu können. Darum habe ich mich auch entschieden, dich nach Tannengrund zu bringen.«

  »Ich hab’s schon hundertmal gehört. Aber das war okay.«

  »Ja, sicher. Entschuldige.«

  Uschi blickte in den halbdunklen Raum. Das fängt ja gut an, dachte sie. Schon jetzt entschuldige ich mich bei Luisa. Und nur, weil mir längst Bekanntes herausgeschlüpft ist? Wie soll das nur weitergehen?

  »Du hast aber immer gesagt, wieviel Spaß es dir macht, wieder bei Borell zu arbeiten. Stimmt das etwa nicht?«

  Luisa hatte völlig recht. Borell war ein bekanntes Textilunternehmen für Kleidung der oberen Kategorie. Die Firma stellte vier Kollektionen im Jahr her, und Uschi setzte die Entwürfe der Designer in Musterschnitte um. Mit dieser Arbeit hätte sie in zwanzig Jahren die Schulden fürs Haus abzahlen können. Aber dann war es bald darauf und zum Glück ganz anders gekommen.

  »Von nun an, Luisa, werde ich nur noch zu Hause für Borell arbeiten«, rückte sie endlich mit der angenehmen Nachricht heraus. »Du wirst also nicht nur mit Wilma zusammensein, sondern mich tagtäglich um dich haben. Es sei denn, ich muß ab und an für einige Stunden in die Firma.«

  Luisa hielt den gutgehäuften Löffel vor ihrem Mund, bis das Eis herunterträufelte. »Du mußt nicht mehr in die Firma? Nur noch manchmal? Ist das wahr, Mami?«

  »Ja, die Erbschaft von Onkel Gustav ermöglicht es mir.«

  »Onkel Gustav, den du als kleines Mädchen immer Puvogel genannt hast?« Luisa schmunzelte. »Ja, das Geld von dem. Ich weiß. Warum hast du nicht gleich gesagt, daß du deshalb zu Hause bleiben kannst? Dann hätt’ ich nicht so geheult.«

  Uschi streckte die Hand aus, bis sie Luisas nackten Arm berührte.

  »Weil es noch einen Grund gibt, der mich dazu veranlaßt, zu Hause zu arbeiten. Ich denke, das wird eine wundervolle Nachricht für dich.«

  »Hast du mir einen Hund gekauft?«

  Während sie bedauernd den Kopf schüttelte, fragte Uschi sich, woher sie überhaupt den Mut nahm, von einer guten Nachricht zu sprechen.

  »Also kein Hund.« Luisa blickte mit komischer Verzweiflung zur Decke.

  »Onkel Puvogel hatte keine eigenen Kinder. Darum hat er mir ein Haus und eine Eigentumswohnung und dazu noch eine schöne Summe vererbt.«

  Uschi wollte eigentlich gar nicht von Onkel Puvogel sprechen. Ihr lag doch etwas viel Wichtigeres auf dem Herzen.

  »Klar. Jetzt fällt’s mir wieder ein«, fuhr Luisa mit steigender Stimmung fort. »Von dem Geld sind wir letztes Jahr in den Ferien vier Wochen durch Italien gereist, nicht?«

  Uschi nickte. »Ja. Denn als ich begriff, daß ich von nun an bescheiden, aber recht sorglos leben konnte, mußte ich diese Freude mit dir teilen. Das war auch eine Belohnung für dich, weil du den Test fürs Gymnasium so gut bestanden hast.«

  »Es war toll!« versicherte Luisa und löffelte ihr Eis mit großem Appetit aus. »Aber noch toller ist, daß du nun nicht mehr täglich zu Borell mußt.«

  »…und daß uns das Haus endgültig gehört und uns keiner mehr daraus vertreiben kann.«

  Das Haus in der Rotbuchenstraße hatte ihr Mann erworben, als Luisa drei war. Daß es Jahrzehnte dauern würde, bis es abbezahlt war, störte das junge Ehepaar nicht. Klaus Behrend steuerte damals eine höhere Beamtenlaufbahn im Kultusministerium an. Warum sollte er für seine geliebte Frau und sein winziges Töchterchen kein hübsches Haus mit Garten erwerben? Zwei Jahre später wurde er als unheilbarer Kranker in die Klinik eingeliefert. Da wußte er schon, daß ihm für die höhere Beamtenlaufbahn keine Zeit mehr blieb und er seine Uschi und die kleine Luisa in einer hoffnungslosen Situation zurücklassen mußte.

  Uschi hatte ihren Mann mit jeder Faser ihres Herzens geliebt. Sie hatte ihn respektiert und bewundert. Nie wieder, das wußte sie inzwischen, konnte sie sich einem Menschen so vertrauensvoll ausliefern wie Klaus. Und doch war sie ein einziges Mal auf das Werben eines Mannes hereingefallen.

  Dieses einzige Mal, empfand sie immer noch als Verbrechen, für das sie bitter gebüßt hatte und am Ende doch belohnt worden war. Aber daran wollte sie nicht mehr rühren, als fürchte sie, wie ein Fluch könnte die Vergangenheit sie einholen und sich als böser Bann auf ihre Liebe zu Klein-Sophie legen.

  »Papi freut sich oben im Himmel bestimmt auch wahnsinnig darüber, daß wir nun beide allein im Haus wohnen. Das tun wir doch, Mami? Oder haben wir immer noch den Untermieter in der Mansarde?«

  »Wo denkst du hin? Schon seit Anfang dieses Jahres nicht mehr!«

  Luisa juchzte, und Uschis Anspannung ließ ein wenig nach. Jede Frage Luisas schenkte ihr Aufschub.

  »Toll! Du und ich im Haus. Wir werden es uns richtig schön machen. Mutter und Tochter ganz allein. Wetten, daß es super-mega-irre wird?«

  Kein Zweifel! Der Schmerz über den Abschied vom Tannengrund geriet schon in Vergessenheit. Kam er zurück, wenn Uschi ihrer Tochter endlich die ganze Wahrheit sagte?

  Es ist heute zu schwül, versuchte sie sich wieder einzureden. An einem so drückend heißen Tag fällt alles schwer. Warum bleibe ich nicht kühl, oder cool, wie Luisa es nennen würde und rede einfach weiter?

  Das tat Luisa.

  »Wenn du mehr Zeit hast als sonst, dann können wir auch wieder wie früher in die Brombeeren gehen, Mami. Ich werd’ dir beim Marmelademachen helfen. Und Opa Karlchen kriegt dann zwei Gläser. Die ißt er doch so gern. Wie geht’s ihm eigentlich?«

  »Opa Karlchen? Dem geht’s prächtig.«

  Opa Karlchen war Herr Heinlein, ihr Nachbar am Ende der Rotbuchenstraße, mit dem sie sich die Perle Wilma Buschholz teilte.

  »Es wird alles toll, Mami«, sprach Luisa ihrer Mutter jetzt sogar Mut zu. Denn sie hatte bemerkt, daß Uschi ihr Eis schmelzen ließ und den Löffel festhielt, als wollte sie damit Fliegen totschlagen. Nur gab es hier keine Fliegen. Luisa lächelte amüsiert.

  »Das Eis hat viele Kalorien, wie? Du bist ja auch etwas dicker geworden.«

  »So? Meinst du?« fragte Uschi verlegen. Aber sie wußte, Luisa hatte ihr das Stichwort gegeben. Sie konnte daran anknüpfen und ihrer Tochter endlich die gesamte neue Situation zu Hause schildern. Was heißt, sie konnte? Sie mußte es jetzt endlich tun!

  »Du hast damit recht«, gab sie leise zu und umfaßte den Arm ihrer Tochter noch fester, um gleichzeitig den langen Eislöffel aus der Hand zu legen. »Aber ich war noch viel, viel dicker. Seit Juni habe ich acht Pfund abgenommen. Eigentlich bin ich stolz darauf.«

  »Was? Du mußt ja schrecklich dick gewesen sein.« Es klang altklug, aber auch komisch. Nur konnte Uschi nicht lachen.

  »Ja, so ist es. Aber wenn eine Frau ein Kind bekommt, legt sie manchmal gehörig zu.«

  »Klar!« Luisa lachte. »Aber du bekommst doch kein Kind.« Sie sah sich um. »Können wir bitte noch einen Saft oder eine Limo bestellen? Ich krieg jetzt Durst.«

  »Gleich, Luisa. Erst muß ich dir etwas sagen, das dich bestimmt freuen wird.«

  »Noch was?« Lachend steckte Luisa ihre blonden Haare mit dem Kämmchen aus dem Gesicht.

  »Ja.« Uschi machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich habe ein Baby bekommen. Ob du’s glaubst oder nicht. Du hast ein Schwesterchen. Sie heißt Sophie, ist gerade zwei Monate alt und freut sich schon auf dich.«

  Das Blondhaar fiel Luisa ins Gesicht. Durch die Strähnen hindurch traf Uschi ein entgeisterter Blick. Aber dann lachte Luisa auf einmal laut auf.

  »Quatsch! Das geht doch gar nicht, Mami. Unser Papi ist im Himmel.«

  »Es gibt Männer, die sind hier auf der Erde.«

  »Wer…?«

  »Wer Sophies Vater ist?« Totenstille herrschte zwischen ihnen. »Darüber möchte und werde ich nie sprechen, Luisa.«

  Es waren endlose Sekunden, die schweigend verrannen, weil Luisa ihre Mutter voller Entsetzen ansah.

  Und mit einem Schlag wurde Uschi klar, daß ihr Entschluß, Luisa aus Tannengrund fortzuholen, doch nicht so ausgereift war. Sie war der Stimme ihres Mutterherzens gefolgt. Auf ihren Verstand hatte sie nicht gehört. Und den würde sie von nun ordentlich benutzen müssen, wenn sie die Harmonie zwischen Luisa und sich erhalten und dennoch ihr Geheimnis bewahren wollte.

*

  Drei Wochen waren vergangen, und Luisa hatte sich wieder eingelebt. Das neue Schuljahr hatte noch nicht begonnen. In der Rotbuchenstraße gab es kaum Kinder. Und die wenigen, die weiter unten an der Kirche wohnten, waren noch in den Ferien. Darum verging kaum ein Tag, an dem Luisa sich nach Tannengrund zurücksehnte. Ihr fehlten nicht nur die Freunde, die klare Stundeneinteilung und das unverfälschte Weltbild der bewunderten Direktorin, sondern auch die klaren Anordnungen und Verbote, die ihr langes Nachdenken oder Unsicherheiten ersparten.

  Jetzt hatte sie jede Menge Zeit zum Nachdenken, und nun fiel ihr auch auf, wie anstrengend es war, wenn sich die Gedanken nicht aus ihrem ständigen Kreislauf bringen ließen und immer wieder dort landeten, wo sie begonnen hatten. So kam es, daß ihr der Tagesablauf, der sich zu allem Überfluß ganz nach den Bedürfnissen der kleinen Sophie richtete, schon bald langweilig wurde.

  »Denk bloß nicht, du kannst dir alles erlauben!« zischte sie ihr Schwesterchen Sophie eines frühen Nachmittages an. »Du hast ein Bäuerchen gemacht, hörst du! Danach wird nicht mehr gespuckt. Schluß damit! Ist ja ätzend!«

  Sie nahm ein Feuchttuch und wischte die Milchreste mit unwilliger Behutsamkeit aus der Falte zwischen Sophies Hals und Hemdchen fort. »So! Und jetzt wird geschlafen. Mami hat zu tun. Ich will keinen Mucks mehr hören!«

  Sie knüllte das Tuch zusammen und warf es in den kleinen rosaroten Abfalleimer, der am Fenster stand. Dann seufzte sie und sah hinaus. Es war nicht mehr so heiß wie noch vor einigen Tagen, weil einige Gewitter heruntergegangen waren, aber die ruhige Straße gähnte nur noch öder zu ihr hinauf.

  Luisa hätte sich in das große Mansardenzimmer unterm Dach, in dem sie sich jetzt mit all ihren Siebensachen schon wie eine junge Dame ausbreiten durfte, zurückziehen können. Aber da staute sich in diesen Wochen die Hitze wie in einem Backofen. Dann blieb sie lieber hier in Sophies Zimmer. Das war früher ihr Reich gewesen und hatte einem Paradies geglichen, weil eine der Türen direkt ins Schlafzimmer ihrer Eltern führte. Sie schluckte. Dieses Paradies gehörte jetzt einem spuckenden und greinenden Baby, das zu allem Überfluß auch noch mehrmals täglich übel roch.

  Sie seufzte. Unten im kleinen Garten war es ohne Freunde fad, und zu Opa Heinlein durfte sie auch nicht alle Nas’ lang. Wenn ihre Mami so viele Aufträge hatte wie jetzt, mußte sie sich als große Schwester ganze Nachmittage um den Schreihals Sophie kümmern. Waren die Zustände im Tannengrund dagegen nicht wahrhaft himmlisch gewesen?

  Nach einigen Minuten warf sie einen Blick auf die schlafende Sophie, verließ das Zimmer auf Zehenspitzen, schloß die Tür aber recht geräuschvoll, wie immer, wenn sie in schlechter Stimmung war. Sollte Sophie doch ruhig aufwachen und schreien. Dann eilte ihre Mami sofort hoch.

  Aber ausgerechnet jetzt tat Sophie keinen Mucks mehr. Und das mitten am Tag! Warum konnte sie nachts nicht so fest schlafen?

  Kurz darauf erschien Luisa im Arbeitszimmer ihrer Mutter. Das war mal das Eßzimmer gewesen. Uschi hatte die Küche umbauen und vergrößern lassen, so daß der riesige Tisch dort einen neuen Platz gefunden hatte. Das war gemütlich. Aber sonst war gar nichts gemütlich im Haus, wenn ihre Mutter unter Zeitdruck stand. Und das war, wenn es wie jetzt um die nächste Winterkollektion ging, leider täglich der Fall.

  Was war bloß aus den herrlichen Wochenende geworden, an denen sie früher alle zusammen an deinen der Seen oder in die Berge gefahren waren? Jetzt hieß es immer, erst nach der Kollektion, oder Sophie ist dazu noch zu klein. Es war zum Verzweifeln!

  »Was ist denn?« fragte Uschi, als sie Luisa hinter sich bemerkte, und griff gleichzeitig zum Telefon. »Schläft Sophie?«

  Konnte sie nicht wenigstens mal fragen, ob es oben unterm Dach immer noch so warm war? Aber nein!

  »Die hat noch gespuckt.«

  »Hast du’s saubergemacht?«

  »Klar.«

  »Danke, mein Liebling. Übrigens, wenn es oben unterm Dach zu heiß wird, nimm doch einfach deine Siebensachen und zieh in Papis altes Arbeitszimmer. Dort ist es angenehmer.«

  Luisa atmete auf. Also war ihre Mami doch nicht nur für Sophie da.

  »Daraus hast du ein Gästezimmer gemacht, damit Omi da schlafen kann, wenn sie uns besucht.«

  »Omi besucht uns nicht, Luisa.«

  »Überhaupt nicht? Auch nicht Weihnachten?«

  Über Uschi Behrends ebenmäßiges Gesicht huschte ein Schatten. Als könnte sie ihn wegwischen, wählte sie schnell eine Nummer, um dann ein langes Gespräch über Kragenform, Knopfleisten und Raglanärmel zu führen.

  Das kannte sie schon! Wie immer arbeitete oder telefonierte ihre Mami wie ein Weltmeister, damit sie nur keine Frage beantworten mußte! Konnte es nicht auch sein, daß sie sich hier wie in einer Höhle verkroch und sich in die Arbeit stürzte, um Augen und Ohren vor dem Kummer ihrer so ungern heimgekehrten Tochter zu verschließen? Warum hatte sie sie dann nicht gleich im Heim Tannengrund gelassen?

  Während Luisa darüber nachdachte, schweifte ihr Blick durch den Raum. Die Hälfte des Zimmers bestand aus großen Tischen, auf denen sich Pappformen aller Größen befanden. Der Computer zeigte flimmernd Musterzeichnungen und endlose Kurven und Linien, die von Zahlen umgeben waren.

  Die Wände waren ebenfalls mit Schnittmustern, Fotos und Stoffetzen behangen und aus dem Faxgerät glitt ein Papier nach dem anderen mit dicken Buchstaben, die für Luisa überhaupt keinen Sinn ergaben. Endlich legte Uschi den Hörer wieder in den Apparat.

  »Wenn die Schule anfängt, wirst du bald neue Freunde finden«, tröstete sie ihre Tochter.

  »Nie! Ich muß doch immer mit Sophie ’rumtun. Und ’ne neue Omi, die uns zu Weihnachten besucht, find’ ich in der Schule erst recht nicht.«

  Uschi seufzte. »Bis Weihnachten wird Omi Behrend vielleicht wieder zu Vernunft kommen.«

  »Seit wann ist die denn unvernünftig?«

  »Seit Sophie da ist«, erwiderte Uschi leise.

  »Dann weiß Omi wohl auch nicht, ob Sophie einen Papi hat?«

  »Jedes Kind hat einen Vater. Omi kennt seinen Namen nur nicht.«

  »Ich ja auch nicht!« Luisa dachte sich ihr Teil.

  Ihre Mami konzentrierte sich wieder auf die Arbeit, und Luisa stellte fest, daß ihr Gesicht plötzlich strenge Züge angenommen hatte. Das konnte sie sich immerhin erklären. Bestimmt, weil Sophie in der letzten Nacht mal wieder Blähungen gehabt und ihr kaum eine ruhige Minute gegönnt hatte.

  »Ich schlaf nicht in Papis Arbeitszimmer, Mami. Da hör’ ich Sophie nur schreien.« Da keine Antwort kam, fügte sie noch vorwurfsvoller hinzu: »Du hast außerdem gesagt, wir gehen in die Brombeeren. Du nimmst Sophie auf den Rücken, damit sie viel frische Luft kriegt, dann hat sie nachts weniger Blähungen.«

  »Das hat noch Zeit. Ich muß erst die Frühjahrskollektion fertig machen. In einer Woche ist das vorbei, mein Schatz.«

  »Und dann kommt die Sommerkollektion fürs übernächste Jahr.«

  »Nein, die Entwürfe sind noch nicht fertig«, erwiderte Uschi mit berufsmäßiger Nüchternheit. Seufzend lehnte sie sich wieder über den Tisch, legte Pappformen hin und her und setzte sich dann vor den Computer.

  »Warum besuchst du Opa Karlchen nicht? Der freut sich immer, wenn du kommst.«

  Luisa ächzte nur. »Ohne Marmelade? Ich hab ihm doch schon gesagt, daß er welche kriegt. Und nun haben wir noch keine einzige Brombeere im Haus!«

  »Er freut sich auch so, wenn du kommst. Seine Tochter ist wieder nach Amerika zurück. Übrigens –«, fügte Uschi Behrend lächelnd hinzu, »ich teile deine Meinung über sie, sie ist eine Schreckschraube.«

  Ein Gefühl des Glücks durchströmte Luisa plötzlich. Das kam seit ihrer Rückkehr aus dem Heim nicht häufig vor. Sie trat hinter ihre Mutter und umarmte sie stürmisch. »Siehste! Ich hab mal wieder den richtigen Riecher gehabt! Opa Karlchens Tochter Anna ist eine Zicke. Und du bist doch die beste Mami auf der Welt!« rief sie lachend.

  Nur stimmte Uschi nicht in das Gelächter mit ein. Die Linien auf dem Schirm machten sich gerade selbständig und kurvten wie wild darauf herum. Sie tippte hastig auf die Tasten, bis ein anderes Bild erschien.

  »Deine beste Mami muß leider arbeiten, mein Schatz. Bis nachher!«

  »Bis nachher! Bis nachher!« wiederholte Luisa frech.

  Sie verließ das Zimmer und das Haus auf nackten Füßen, hockte eine Zeitlang auf der Gartenmauer, um Opa Karlchens Haus zu beobachten und flocht sich dabei Zöpfchen ins Haar. Als sie fertig waren, rutschte sie von ihrem Aussichtspunkt und rannte hinüber zu Karl Heinlein.

  Sie drückte die alte Klinke hinunter und betrat das große Haus. Hier war es angenehm kühl.

  »Opa Karlchen?« schrie sie.

  »Luisa?« klang es von der hinteren Terrasse zurück. »Komm nur, mein Engel. Ich habe Pflaumenkuchen und Eistee!«

  »Toll, Eistee!«

  Sie flitzte durch die drei Zimmer nach hinten. Unter einem dichten Dach aus dem Laub wilden Weins saß Opa Karlchen über einer Zeitung. Er trug einen Strohhut und ein zerknittertes Leinenjackett aus besseren Zeiten, wie er es nannte.

  Nachdem sie sich ein Glas und einen Teller geholt hatte, um Eistee zu schlürfen und den von Wilma gezauberten Pflaumenkuchen zu schmausen, blickte sie ihn lange an. Seine Brille war auf die Nasenspitze gerutscht, und die Zeitung lag jetzt auf seinen Knien.

  »Bist du traurig, weil deine Tochter Anna wieder nach Amerika zurück ist, Opa Karlchen?«

  »Kaum. Ich hab ja dich. Du bist nicht ganz so autoritär und dominant wie meine Anna.« Er lachte mekkernd. »Paß nur auf, daß du nicht so wirst.«

  »Was ist au-to-ri-tär und do-mi-nant?«

  »Anstrengend.«

  »So… so… wie Wilma?«

  »Um Himmels willen, nein! Wilma ist tüchtig und herzlich. Da stimmt die Mischung.« Er lächelte in ihr verblüfftes Gesicht. »Du spielst dich jetzt manchmal nur als ältere Schwester von Sophie auf. Na ja, das ist ja auch eine sehr bedeutende Rolle, die du übernommen hast. Ich hab schon mal gedacht, vielleicht benimmst du dich deshalb neuerdings wie eine richtige Gouvernante. Oder hast du das etwa im Heim Tannengrund gelernt?«

  »Hm.« Luisa überlegte. »Das ist so was wie ’ne strenge Lehrerin, nicht?«

  »Ja, genau. Noch dazu eine altjungferliche.«

  »So was bin ich nicht. Frau Dr. Stubbe hat gesagt, jeder muß an seinem Platz in der Welt nicht nur das Nötige, sondern auch das Beste bewirken«, verteidigte Luisa sich.

  »Mit elf Jahren? Papperlapapp!«

  Luisa schob die Krümel mit der Kuchengabel zusammen.

  »Ich und Sophie haben keinen Vater, nur noch meine Mami. Und die arbeitet. Einer muß ja für Ordnung sorgen, Opa Karlchen.«

  »Und wer sorgt für gute Stimmung?« forderte er sie heraus. Luisa warf ihm einen schrägen Blick zu. »Sophie bestimmt nicht. Nachts schreit sie, tags spuckt sie.«

  »Sie ist erst drei Monate alt. Das gibt sich mit der Zeit.«

  Da deutete Luisa ein Kopfschütteln an. »Das denkst du! Aber ich glaube, Sophie ist ziemlich sauer, weil sie keinen Vater hat. Die weiß ja nicht mal, ob der schon tot ist oder noch nicht. Ich finde das ist ja auch gemein von Mami. Sie sagt uns den Namen von Sophies Papi nicht. Ich kann doch wenigstens zum Friedhof zu meinem Papi. Aber Sophie?«

  »Die kann doch noch gar nicht laufen, Luisa. Was soll sie denn da?«

  »Du verstehst auch rein gar nichts, Opa Karlchen! Bald kann sie ja gehen. Wohin denn, wenn sie keinen Vater hat? Nicht mal einen Vater, der zu Besuch kommt oder der im Himmel ist und auf dem Friedhof liegt.«

  Opa Karlchen hob seine blaugeäderte Hand, griff sich an die Krempe und zog den Hut tiefer ins Gesicht. Luisa sollte nicht sehen, wie sich sein Ausdruck des Zorns in seinen Augen vertiefte. Das war der Zorn, der ihm mit zunehmendem Alter immer heftiger ergriff, wenn er von all den Scheidungen und mißglückten Beziehungen hörte, unter denen dann die Kinder zu leiden hatten.

  Luisa hatte es da noch gut. Sie wußte, ihr Vater hatte sie und ihre Mutter bis zum letzten Atemzug geliebt. Aber die kleine Sophie?

  »Wenn Sophie laufen kann, nimmst du sie einfach mit auf den Friedhof zum Grab deines Vaters, Luisa!« fiel ihm eine wundervolle Lösung ein.

  »Aber Opa Karlchen! Bist du denn beeiert? Das geht doch nur sechs Jahre lang. Dann kann Sophie Zahlen lesen und sich ausrechnen, daß mein Papi längst tot war, als sie zur Welt kam. Die ist doch bestimmt nicht doof.«

  »Ja, wie soll das gehen?« wiederholte er ratlos, weil er nicht damit gerechnet hatte, wie helle Luisa war.

  »Ein toter Mann kann nur noch in Amerika Vater werden«, fügte sie auch noch hinzu, erhob sich und schob ihm den Hut zurück, so daß er ihr in die Augen sehen mußte. »Da schaffen die Ärzte das. Im Fernsehen haben sie das gezeigt. Oder Mami hat Sophie gekauft. Ich hab’ das auch im Fernsehen gesehen. Es ist schlimm, aber es klappt, wenn man viel Geld hat. Und Mami hat ja von Onkel Puvogel Geld geerbt.«

  Opa Karlchen blies total verdutzt die Backen auf, dann erhob er sich, um einen schweren Holzkasten, der an der Hausmauer stand, zu öffnen. Daraus holte er die Schachtel mit der Spielesammlung.

  »In der Rotbuchenstraße gibt’s so was nicht«, beschloß er. »Da wohnen nur ordentliche Leute.«

  »Ich finde aber nicht, daß meine Mami jetzt noch dazugehört.«

  Opa Karlchens Hand zitterte, als er die Schachtel auf den Tisch legte.

  »Komm her, auf eine Partie Dame, du Neunmalkluge! Aber denk nicht, daß ich dich gewinnen lasse, nur, weil du Unsinn daherredest!« Und dann räusperte er sich, um seine Betroffenheit Luisa nicht spürbar werden zu lassen.

*

  Carsten Storz war als Journalist ein vielbeschäftigter Mann, als alleinerziehender Vater vom achtjährigen Matthias war er im Dauerstreß. An diesem strahlenden Oktobertag hechelte er noch mehr als sonst hinter der Uhrzeit her.

  »So, Mary!« japste er, als er das englische Au-Pair-Mädchen in ein Taxi verstaut hatte. »Schöne Grüße an deine Eltern in London. Hoffentlich kriegst du den Zug noch. Und komm ja pünktlich zurück! Wir brauchen dich. Und… sollte dir im Londoner Trubel mal Zeit bleiben, überleg mal, ob du nicht etwas ordentlicher werden kannst!«

  Mary schaute zu ihm hoch. Er war ein toller Typ mit seinen grauen Schläfen und den blitzenden blauen Augen hinter der schicken Brille.

  »Überlegen Sie auch mal, Herr Storz, ob Sie nicht etwas mehr Ordnung in Ihrem Arbeitszimmer halten können!« konterte sie frech.

  »Carsten unterdrückte ein Grinsen. »Ja, ja, ich such ja schon ’ne größere Wohnung. Wenn das klappt, kriegst du dein eigenes Zimmer!«

  »Davon reden Sie seit drei Monaten.«

  Die Tür fiel zu. Das Taxi fuhr an. »Keine Zeit, Mary!« brüllte er hinterher. »Keine Zeit!«

  Dann setzte er sich in Trab, rannte in die dritte Etage des Wohnhauses und stürmte in die offengelassene Tür. Im engen Flur türmten sich außer den beiden Reisetaschen noch Kartons mit Flaschen für den Altglasbehälter und drei Abfalltüten. Vor der Tür zur Küche lag ein Haufen Schmutzwäsche. Im Bad hingen nasse Oberhemden von ihm, und als er in Matthias’ Zimmer schauen wollte, mußte er über drei Paar Schuhe von Mary steigen. Es waren solche mit ziegelsteindicker Sohle, und er fluchte vor sich her.

  Matthias lag vor seinem Bett und versuchte, einen Ball darunter herauszubekommen.

  »Der Briefträger hat eben die Post gebracht. Sie liegt in deinem Zimmer, Papsi.« Matthias hatte dunkle Haare, wie die von seinem Vater mal waren. Er sah sich nun mit dem abgeklärten Blick eines an Hektik und Streß gewöhnten Kindes um. »Es ist wieder ziemlich viel. Du willst es bestimmt noch durchgucken. Bis dahin hab’ ich auch meinen Ball. Und dann können wir runter ins Auto.« Er seufzte verhalten, weil er immer noch nicht daran glauben konnte, daß er und sein Vater nun eine ganze Woche Herbstferien am Chiemsee verbringen sollten. Bestimmt kam wieder was dazwischen.

  »Ja, mach ich.« Carsten rieb sich den Nacken. »Ich muß nur noch meinen roten Pullover finden. Weißt du, wo der ist?«

  »Schau mal in den Kartons von Mary nach. Sie war gestern mit deinem roten Pullover im Kino.«

  »Na, reizend!« Carsten wandte sich genervt ab. Die Wohnung, die er vor einem halben Jahr nach seiner Scheidung von Christiane bezogen hatte, bestand aus zweieinhalb Zimmer. Er hatte sich damit bescheiden müssen, um seine festen Kosten gering zu halten, war aber überzeugt gewesen, sie biete ihm und Matthias ausreichend Platz.

  Überhaupt hatte er mit seinem kleinen Lausebengel ein neues, wunderbares Leben beginnen wollen. Nur zeigte sich bald, daß er trotz allen guten Willens Vaterfreuden und Berufspflichten nicht so leicht vereinen konnte. Wohin mit Matthias, wenn er für eine Reportage ins Ausland mußte?

  Er hatte sich um ein Au-Pair-Mädchen bemüht und, wie er immer noch glaubte, mit Mary einen guten Griff getan. Mary war immer gutgelaunt, kam prima mit Matthias zurecht und schaffte es, ihn in seinen dunkelsten Stunden aufzumuntern. Daß ihr der winzige Haushalt über den Kopf wuchs, machte Carsten wenig oder gar nichts aus. Übertriebene Ordnung hielt er für überflüssig wie einen Kropf.

  Wenn er über einer komplizierten Arbeit saß, war er dankbar, daß Mary ihm harte Eier, Kekse oder eine Dose Ravioli zum Abendessen bereitstellte. Setzte er sich dann mit Matthias abends zu Tisch, war Mary meist schon ausgeflogen. Sie liebte es eben, in der Disco zu tanzen oder ins Kino zu gehen.

  Was sollte sie auch sonst abends tun? Ihr Bett befand sich in seinem Arbeitszimmer, und dort brannte noch bis spät in die Nacht hinein das Licht. Eine andere Lösung bot diese Wohnung einfach nicht, denn Matthias brauchte sein Zimmer zum Spielen und mehr, als sich in dem kleinsten Raum, der die Ausmaße einer Besenkammer hatte, zum Schlafen zurückzuziehen und sich sein Arbeitszimmer mit Mary zu teilen, konnte Carsten nicht tun.

  Er zog seinen roten Pullover aus einem der Kartons, in dem Mary ihre Garderobe hineingestopft hatte, und schob ihn wieder unter den Küchentisch. Dann ging er ins Arbeitszimmer. Dort breitete sich das Chaos übergangslos von seinem Schreibtisch über das Aktenregal bis auf Marys Bett aus. Sie hatte es vor ihrer Abreise nicht mehr in Ordnung bringen können. Die gerade eingetroffene Post, Umschläge in jeder Größe, mußte Carsten von der Bettdecke und vom Kopfkissen sammeln.

  »Sehr gut!« lachte er, als er den Drei-Jahres-Vertrag einer großen Illustrierten überflog. Der bedeutete für die nächsten Zeiten ein erfreulich hohes und sicheres Einkommen. Die andere Umschläge landeten ungeöffnet auf seinem Tisch. Dann aber hielt er ein schweres Kuvert in den Händen und las den Absender.

  »Christiane Ohlsen, Berlin.« Er schluckte. Seine geschiedene Frau nannte sich jetzt schon wie ihr neuer Freund, der Immobilienhändler Udo Ohlsen. »Na ja, sie ist eben verliebt«, murmelte er mit bemühtem Lächeln.

  Er riß den Umschlag auf und traute seinen Augen nicht. Vier Fotos glitten ihm entgegen. Von jedem strahlte ihm Christiane als Braut in Weiß entgegen. Mal stand Udo neben oder hinter ihr, und dessen selbstzufriedenes Lächeln löste einen so jähen Schmerz in Carsten aus, daß er mit einer unwirschen Bewegung allerlei Papiere von seinem Stuhl wischte und sich setzen mußte.

  Eine gute Viertelstunde verging, bis Carsten Matthias zu sich rief. Der kam sofort mit einem Plastiksegelboot im Arm und einem Blick, der kaum noch zu bremsende Reiselust verriet, angerannt.

  »Hast du deinen roter Pullover gefunden, Papsi?«

  Carsten deutete auf Marys Bett. Matthias ergriff den Pulli, um ihn in die Reisetasche auf dem Flur zu stopfen.

  »Bleib bitte, Matthias.«

  Matthias sah seinen Vater erschrocken an. »Was ist denn? Sag bloß nicht, du hast einen Auftrag und wir fahren wieder nicht! Dann werd’ ich aber wild, Papsi!«

  »Komm zu mir, mein Kleiner.«

  Matthias gehorchte. Segelboot und Pullover landeten auf Marys Bett, und er schmiegte sich in die Arme seines Vaters. Das tat er immer, wenn er mit einer der vielen bitteren Enttäuschungen, die ihm Carsten bereiten mußte, rechnete.

  Carsten küßte ihn auf die Stirn. »Nein, keine Angst, wir fahren gleich. Nur wollte ich dir etwas zeigen.« Er hielt ihm die Fotos vor. Matthias starrte schweigend darauf, dann entrang sich ihm ein tiefer Seufzer.

  »Warum grinst der Udo so? Und warum hat Mutti ein weißes Kleid an? Das schmutzt doch leicht. Sie ist doch so penibel.«

  »Das wird sie diesmal nicht stören, Matthias. Deine Mutti hat Udo Ohlsen geheiratet. Sie ist jetzt seine Frau, und das ist ihr Hochzeitskleid.«

  Es war ganz still in dem unordentlichen Zimmer. Die Sonne stand hoch am Himmel, schien aber schon in die Fenster, so daß Carsten bemerkte, wie schmutzig sie waren.

  »Dann ist sie wohl nicht mehr meine Mutti, wie?« preßte Matthias hervor. Da zog Carsten ihn an sich.

  »Sie bleibt immer deine einzige Mutti, mein Sohn. Und wenn du möchtest, kannst du sie auch besuchen. Das ist so abgemacht.«

  Der Junge preßte die Lippen zusammen. »Will ich aber nicht.«

  Behutsam strich Carsten ihm übers Haar. »Du weißt, was deine Mutti und ich abgesprochen haben. Du gehörst zu mir, aber ihre Liebe zu dir wird sich nicht ändern. Auch, wenn sie jetzt in Berlin lebt. Wir haben uns nur für diese Lösung entschieden, weil du den Wunsch geäußert hast, bei mir zu bleiben.«

  »Und? Ich bleib doch auch bei dir, Papsi?«

  »Sicher. Ohne dich wäre mein Leben kaum was wert«, versicherte Carsten und legte ihm den Arm um die Schultern. Gern hätte er auch einen Scherz gemacht, damit sich der verstörte Ausdruck auf Matthias’ Gesicht verlor.

  Jetzt rann sogar eine kleine Träne unter seinen Wimpern hervor und die Wange hinab. Carsten wischte sie fort.

  »Mary ist ja auch noch da«, flüsterte Matthias, als müßte er sich selbst Trost zusprechen. »Sie ist schrecklich flippig und unordentlich und will immer ausgehen. Aber du hast sie doch auch gern, Papsi?«

  »Es geht. Wenigstens bleibt sie abends bei dir, wenn ich verreisen muß. Deshalb ertrage ich sie mannhaft.« Carsten schob die Fotos in den Umschlag zurück. Er nahm dafür das Schreiben, das Christiane hinzugefügt hatte.

  »Deine Mutti läßt mich wissen, daß sie von nun an kein Geld mehr von mir braucht. Außerdem habe ich heute einen tollen Vertrag bekommen, der mir ’ne Menge Kohle einbringt«, schmunzelte er mit stiller Freude. »Alles hat immer zwei Seiten, Matthias.«

  »Muß Mary dann nach England zurück und wir ziehen in ein Hotel?«

  Carsten lachte. »Nein, um Himmels willen! Das hab’ ich nur mal gesagt, als sie nicht mal etwas fürs Wochenende eingekauft hatte. Mary ist doch so ein Persönchen!« meinte er amüsiert. »Aber wir werden sie behalten, weil sie lieb zu dir ist. Und ich verspreche dir, in der nächsten Zeit sehe ich mich nach einer größeren Wohnung um.«

  Matthias nickte begeistert, meinte dann aber trocken: »Dann kann sie da ja noch mehr Unordnung machen! Was ist, fahren wir jetzt?«

  »Ja, Matthias! Jetzt fahren wir.«

*

  Wilma Buschholz hatte es eilig. Wenn in fünf Minuten der Kuchen aus dem Ofen mußte, wollte sie mit Staubsaugen fertig sein. Immer mittwochs und freitags, wenn sie im Haushalt von Uschi Behrend für Sauberheit, Ordnung und den obligaten Kuchen gesorgt hatte, ging’s danach ans Reinemachen bei Herrn Heinlein. Und Opa Karlchen, wie auch Wilma den alten Herrn für sich nannte, sah auf Pünktlichkeit.

  Sie zog den Staubsauger durch das Wohnzimmer und öffnete dann die Tür zur Terrasse. Da lagen täglich mehr heruntergefallene Blätter, wie jedes Jahr im Oktober. Tschschsch! saugte das Gerät das gefallene Laub in sich hinein. Der Rest mußte bis nächsten Mittwoch warten, dann wollte Wilma mal richtig über die Steinfliesen fegen.

  Da spürte sie einen harten Griff an ihrem Arm und fuhr herum.

  »Ja, Luisa! Was ist denn?« Sie stellte den Staubsauger aus.

  Luisa funkelte sie wütend an, im Hintergrund schrie Sophie aus Leibeskräften in ihrem Ställchen.

  »Du darfst nicht saugen, Wilma!« Luisas Stimme klang herrisch. »Sophie mag das nicht. Hörst du, schon brüllt sie wieder!«

  »Sie brüllt, weil sie bald Zähne kriegt. Der Staubsauger macht ihr gar nichts aus. Den kennt sie schon.«