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Für Eva

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Richard Sennett:
Über neue Organisationsmodelle im flexiblen Kapitalismus

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Die Arbeit der Zukunft braucht uns alle!
Von Sven Rahner

»Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten. Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst.«

Max Frisch1

Es ist Montag 9 Uhr, als bei dem Zuliefererbetrieb in der süddeutschen Kleinstadt ein Auftrag über 300 Maschinenbauteile eingeht. Der Kunde wünscht eine Anlieferung bis Freitag. Sogleich werden die erforderlichen Rohlinge mit einem Sender ausgestattet, der alle wichtigen Daten enthält und sich über WLAN mit dem Internet verbinden kann. Per Rundmail fragen die Teile im Maschinenpark: »Wer kann uns bearbeiten?« Drei CNC-Maschinen melden sofort zurück, dass sie schon ausgebucht sind. Eine weitere gibt Bescheid, dass sie die 300 Teile übernehmen kann. Da sie dafür umgerüstet werden muss, schickt sie eine Kurzmitteilung auf das Smartphone einer Mitarbeiterin. Während sie sich an die Bearbeitung der Rohlinge macht, vereinbart sie mit einem Versandmitarbeiter per E-Mail parallel einen Verpackungstermin für Donnerstag. Am Freitagmorgen trifft der Spediteur ein, der sich zuvor noch beim Frühstück darüber informiert hat, ob der Produktionsprozess erfolgreich war und er die fertigen Maschinenbauteile pünktlich um 11 Uhr abholen kann.

Willkommen in der Smart Factory! Was wie ein Ausschnitt aus einem Science-Fiction-Roman klingt, ist schon heute in immer mehr Unternehmen Realität. Laut einer Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers unter 100 deutschen Unternehmen steuert bereits mehr als ein Fünftel der Befragten mindestens eine ihrer Produktionsstätten über vernetzte IT-Systeme. Bei rund der Hälfte der Unternehmen ist die Einrichtung einer solchen in Planung.2 Die Arbeitswelt ist im Umbruch. Alte Berufsbilder verschwinden, neue entstehen. Die Lebensverläufe der Menschen sind zunehmend von Brüchen und Wechseln gekennzeichnet. Heute ist es seltener als früher, dass man ein und denselben Beruf ein Leben lang am selben Ort und für dieselbe Firma ausübt. Bei einer Forsa-Umfrage gab kürzlich mehr als die Hälfte der Befragten an, in den letzten Jahren mindestens eine einschneidende Veränderung in ihrem beruflichen Werdegang gehabt zu haben. Viele wechselten ihren Arbeitgeber, andere übernahmen neue Aufgabenbereiche innerhalb ihrer Firma oder änderten gleich ganz den Beruf. Erstaunlich war jedoch, dass bei rund drei Viertel von ihnen diese Veränderung weitgehend selbst gewählt war und überwiegend positiv beurteilt wurde.3 Wissenschaftliche Beobachter sprechen von einer »Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt«4 oder einem »Strukturbruch der Industriemoderne«5, inmitten derer wir uns befinden.

Der technologische Fortschritt und die digitale Beschleunigung sind Triebkräfte dieser Entwicklung. Sie verläuft im Kontext von Globalisierung, Ressourcenknappheiten, des demografischen Wandels sowie weltweiter Migration. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg geht konservativ geschätzt von einem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials in Deutschland trotz anhaltender Zuwanderungsströme von rund acht Millionen bis 2050 aus.6 Der sich bereits heute abzeichnende Fachkräftemangel führt so zu einer neuen Verhandlungssituation für gut ausgebildete Fachkräfte und Hochqualifizierte. Die hohen Erwartungen an sinnvolle Arbeitsinhalte und eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf der ab 1980 Geborenen, die als sogenannte Generation Y derzeit selbstbewusst und fordernd auf den Arbeitsmarkt strömen, sind Ausdruck dieser Entwicklung. Sie dürfte indes zusammen mit dem Trend zur Höherqualifizierung die Spaltung auf dem Arbeitsmarkt zwischen Kern und Rand weiter vertiefen. Mancher langzeitarbeitslose Zuarbeiter in strukturschwachen Regionen, wie beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, oder der Arbeit suchende Architekt und die gerade so über die Runden kommende selbstständige Kunsthistorikerin in den Ballungsgebieten unseres Landes werden sich wohl denken, die jüngeren, im In- und Ausland hervorragend ausgebildeten Nachwuchstalente wirtschaftsnaher Fächer haben gut reden, aber die Realität des gesamten Arbeitsmarktes ist eine andere. In der Tat sind wir als Gesellschaft gut beraten, nicht nur die medienumworbenen, telegenen und onlineaffinen Gruppen und ihre Wünsche wahrzunehmen, sondern auch die Schwierigkeiten derjenigen, die nicht schon seit jeher die wohlige Wärme der Sonnenseite des Lebens genossen haben, nicht aus den Augen zu verlieren.

Für alle Gruppen auf dem Arbeitsmarkt gilt aber immer mehr: Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung werden zum Gebot der Stunde. So waren 2011 unter allen Arbeitslosen in Deutschland 45 Prozent ohne Abschluss, während dies unter den Erwerbstätigen nur bei 14 Prozent der Fall war.7 Dieser Befund hat unlängst gar die mehrheitlich nicht gerade für sozialrevolutionäre Umtriebe verdächtigen fünf Wirtschaftsweisen des Sachverständigenrates auf den Plan gerufen. Sie mahnen in ihrem Gutachten vom Herbst 2013 weiteren Reformbedarf am Arbeitsmarkt an und fordern geschlossen, der Verbesserung des Aus- und Weiterbildungssystems sowie der Chancengleichheit die höchste Priorität zuzumessen.8

Hinzu kommt, dass sich schon jetzt durch die zunehmende Digitalisierung der Wirtschaft, vom Mittelstand bis zu den Großkonzernen und von Freiburg bis Flensburg, eine derart einschneidende Zäsur vollzieht, welche die arbeitsmarktpolitischen Diskussionen der nächsten zehn bis 20 Jahre bestimmen wird. Vor dem Hintergrund der Tiefe und Breite der Auswirkungen ist es zugleich höchst überraschend, dass das Thema noch nicht den Weg in den breiten öffentlichen Diskurs bzw. in die parlamentarischen Kerndebatten der Republik gefunden hat. Gleichwohl sind rund sieben bzw. vier Jahre nach dem Marktdurchbruch der ersten Smartphones und Tabletcomputer in Deutschland die sogenannten »Wearables«, also tragbare Computersysteme wie intelligente Brillen, Hightech-Uhren und digitale Fitness-Armbänder, Vorboten dieser Entwicklung. Die IT-Giganten im US-amerikanischen Silicon Valley forschen und experimentieren derweil weiter an dem »next big thing«. So tüftelt Googles X-Lab z.B. seit Anfang 2014 an einer Kontaktlinse für Diabetiker, die den Blutzuckerspiegel in der Tränenflüssigkeit messen soll.9 Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass die digitale Durchdringung als »stille Revolution«10 alle Lebens- und Arbeitsbereiche erfassen wird. Gerade im Gesundheitssektor könnten sich neue Chancen für eine alternde Gesellschaft eröffnen. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Der Internetvordenker und Technologie-Berater der Bundeskanzlerin, Henning Kagermann, spricht mit Blick auf die voranschreitende Digitalisierung der Wirtschaft von der vierten industriellen Revolution11. Nach dem ersten mechanischen Webstuhl 1784 und dem ersten Fließband in den Schlachthöfen von Cincinnati 1870 sowie der ersten speicherprogrammierbaren Steuerung 1969 sind es gegenwärtig cyber-physische Systeme, die Einzug in die Fabriken halten. Sie sind Ausdruck der allgegenwärtigen rechnergestützten Informationsverarbeitung und der drahtlosen Vernetzung leistungsfähiger Kleinstcomputer untereinander und mit dem Internet. Die reale und die virtuelle Welt, der Cyberspace, verschmelzen miteinander. Ressourcen, Informationen, Objekte und Menschen können sich miteinander vernetzen. Das Internet der Dinge, Daten und Dienste entsteht.

Der wirtschaftliche, technologische und gesellschaftliche Umbruch, in dem wir uns befinden, äußert sich gleichwohl in allerhand Arbeitsmarktparadoxien: Wie in einem Taubenschlag wechseln sich euphorische Meldungen zur Rekordbeschäftigung in der Bundesrepublik mit düsteren Einschätzungen zur unaufhaltsamen Ausbreitung prekärer oder zumindest atypischer Beschäftigungsformen ab. Letzteres ist Folge der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes im vergangenen Jahrzehnt. Dazu zählen Formen der Teilzeit, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit. Wenngleich sie manches Lebens- und Familienmodell sinnvoll ergänzen mögen und für den einen oder anderen den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern können, sind sie im Vergleich zum unbefristeten Vollzeitarbeitsverhältnis, dem sogenannten Normalarbeitsverhältnis, mit höheren Risiken, z.B. des Arbeitsplatzverlusts, Niedriglohns sowie schlechteren Zugangs zu Weiterbildungen, verbunden. Viele Arbeitgeber klagen über einen eklatanten Fachkräftemangel in einzelnen Regionen und Branchen, etwa bei naturwissenschaftlich-technischen Berufen oder im Gesundheits- und Pflegebereich. Die Auswirkungen auf das Lohnniveau in den betreffenden Berufsgruppen bleiben jedoch zugleich sehr verhalten, und die prozentualen Anteile an Langzeitarbeitslosigkeit bewegen sich immer noch auf hohem Niveau. Während bei internationalen IT-Konzernen Freelancer-Portale ohne jegliche soziale Absicherung als »Liquid-Work« an Bedeutung gewinnen, sorgte Mitte 2011 der schwäbische Maschinenbauer Trumpf aus Ditzingen mit einem elaborierten Modell der »lebensphasenorientierten Arbeitszeit« bundesweit für mediale Aufmerksamkeit und breite Anerkennung bis in das Gewerkschaftslager.

Die Grundidee des Arbeitszeitmodells ist es, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möglichst viele Optionen bei der Einteilung ihrer Arbeitszeit zu ermöglichen. So können die Mitarbeiter alle zwei Jahre ihre Wochenarbeitszeit zwischen 15 und 40 Stunden neu festlegen. Außerdem können sie bis zu 1000 Arbeitsstunden auf einem individuellen Familien- und Weiterbildungszeitkonto ansparen. Dieses Guthaben kann für Auszeiten von bis zu sechs Monaten oder für Arbeitszeitreduzierungen verwendet werden.12

Die Reaktionen auf die gewaltigen Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft sind höchst unterschiedlich: So vielfältig die Veränderungen, so vielfältig sind auch die Erwartungen, Ängste und Hoffnungen. Während die einen verschiedene Beschäftigungsformen zu individuellen Arbeits- und Lebensentwürfen kombinieren und sich an den neuen Chancen auf flexible Arbeitsorte und -zeiten erfreuen, rufen andere nach neuen Regeln für Leiharbeit und Werkverträge.

Die Gegensätze und Widersprüchlichkeiten auf dem Arbeitsmarkt wirken sich nicht nur auf die Gesellschaft als Ganzes aus, sondern auch direkt auf die Gedanken- und Gefühlswelt jedes Einzelnen selbst. Viele Menschen sind verunsichert, wünschen sich Orientierung, Leitbilder und Verlässlichkeiten für das Leben und Arbeiten im flexiblen und digitalen Kapitalismus. Aus den übergreifenden technologischen, ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen werden so unweigerlich ganz persönliche Herausforderungen und Entscheidungssituationen. Daher fragen sich viele Menschen: Werde ich im digitalisierten Betrieb überhaupt noch gebraucht? Werden in zehn Jahren Maschinen meine Aufgabe übernehmen? Welche Fähigkeiten werden in der Arbeitswelt von morgen gefragt sein? Wie kann ich meine Qualifikationen erneuern und erweitern? Wie kann ich auf die Verdichtung der Arbeit reagieren und den Druck permanenter Erreichbarkeit abbauen? Werden die neuen Arbeitswelten mehr Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bieten? Werde ich auch mit 40 noch ein Studium beginnen können? Werde ich im Unternehmen der Zukunft mehr Mitspracherechte haben? Gibt es zukunftsweisende Modellprojekte in einzelnen Betrieben und Unternehmen, die bundesweit Schule machen könnten? Welche Gestaltungsentwürfe zum Wandel von Arbeit und Demografie haben die Personalstrategen der Wirtschaft und die Mächtigen, die uns regieren?

Die Leserin und der Leser werden in diesem Buch konkrete Denkanstöße und Antworten auf diese Fragen finden. Auch makroökonomische und gesamtgesellschaftliche Aspekte werden dabei nicht ausgespart. So wurde nach den Zukunftschancen des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells gefragt, und mit den Gesprächspartnern wurden Chancen für eine Erneuerung seiner ökonomischen und sozialen Stützpfeiler ausgelotet. Wie können auch weiterhin innovative Qualitätsprodukte »Made in Germany« für den Erfolg der exportorientierten Kernsektoren der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten sorgen? Wie kann angesichts der »Grenzen des Wachstums«13 vor dem Hintergrund immer knapper werdender natürlicher Ressourcen eine große Transformation hin zu nachhaltigem Arbeiten und Wirtschaften eingeleitet werden? Wie kann auf sozialer Ebene dem »Dauerphänomen der aufklaffenden sozialen Ungleichheit«14 wirksam begegnet werden?

Wider die Alternativlosigkeit!

Bei allem Facettenreichtum der hier abgedruckten Gespräche und trotz der sehr ausgewogenen Mischung der persönlichen Hintergründe der Gesprächspartnerinnen und -partner erhebt dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wenngleich es ein buntes Mosaik an Positionen, Entwürfen und daraus entstehenden Kontroversen darstellt, soll es gerade nicht als abgeschlossenes Projekt verstanden werden. Vielmehr bietet es die persönliche Chance, einzelne Aspekte und Entwürfe für die Zukunft der Arbeit weiterzudenken, eine eigene Position zu entwickeln oder die persönliche Meinung zu hinterfragen. Das Buch ist somit eine Einladung zum Nachdenken und Mitdiskutieren. Es soll helfen, die eigene Wahrnehmung gegenüber den Chancen und Risiken des Wandels in der Arbeitswelt zu schärfen. Das Ende der Fahnenstange an visionären Ideen ist dabei noch lange nicht erreicht. Die Suche nach einer neuen Erkenntnis und dem besseren Argument ist nicht abgeschlossen. Dem flammenden Plädoyer der langjährigen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth ist daher zuzustimmen: »Eine große Fähigkeit von Menschen ist es, Neues entwickeln zu können. Politische Sätze wie ›Es gibt dazu keine Alternative‹ provozieren mich so sehr, dass ich diesen entgegnen möchte: ›Habt ihr denn überhaupt schon gefragt, ob es Alternativen gibt?‹« Genau dieser Punkt ist es, an dem die Gesprächspartnerinnen und -partner in diesem Buch ansetzen. Sie wollen nicht alles so lassen, wie es ist. Sie hinterfragen, vergleichen, fordern heraus und versuchen so, neue Denkmöglichkeiten zu erschließen.

Die Gesprächspartner sind die »Architekten« einer neuen Arbeitswelt, die beobachten, planen und gestalten, wie Arbeit sich in den nächsten Jahrzehnten verändern wird. Methodisch wurden für alle Gespräche dieselben Leitfragen verwendet. In der Vorbereitung der einzelnen Gespräche und im Gesprächsverlauf selbst wurde der Fragebogen auf den jeweiligen Gesprächspartner noch einmal individuell zugeschnitten. Um dennoch eine gute Vergleichbarkeit zu ermöglichen, wurden sowohl zu Beginn als auch zum Abschluss des Gesprächs zwei in allen Interviews ähnliche Fragen gestellt. Es handelte sich dabei zum einen um die Einschätzung der zentralen Trends, Entwicklungen und Zusammenhänge, welche die Zukunft der Arbeit aus Sicht der Gesprächsteilnehmer prägen werden. Zum anderen wurden alle Interviewpartnerinnen und -partner nach ihrer persönlichen Vision für die Zukunft der Arbeit gefragt.

In den Gesprächen sollte eine große Bandbreite an Themen angesprochen werden, deren Diskussion Anregungen oder Antworten auf die Kernfrage versprach, wie wir in Zukunft arbeiten und leben werden. Themen, die ohne den Mut zur Formulierung von Zukunftsvisionen kaum mit Leben zu füllen sind. Ziel war es daher, diejenigen in diesem Buch zusammenzuführen, die entweder in der Vergangenheit als »Architekten der Arbeit« aufgefallen sind oder von denen zu erwarten ist, dass sie es in der Zukunft sein werden. Es sollten zudem möglichst auch Personen zusammengeführt werden, die unter üblichen Umständen kaum zueinandergefunden hätten. Kurzum: Die Vielfalt der Positionen und Entwürfe sollte die selbstreferenzielle Schleife von Disziplinen, Generationen, Teilbereichen der Gesellschaft und politischen Strömungen aufbrechen. Das versprach unterscheidbare Standpunkte und klärende Kontroversen. Dies sollte – wie dieses Buch zeigt – auch zu überraschenden Übereinstimmungen führen. Die Freude am Nach-vorne-Denken und der Wille, die Zukunft der Arbeit aktiv mitzugestalten, verbindet alle Gesprächspartner miteinander.

18 Gespräche = 18 Visionen

Das Buch ist in vier Kapitel untergliedert. Den Auftakt machen die Gespräche mit den nordamerikanischen Wissenschaftlern Richard Sennett (Soziologe und Historiker), Richard B. Freeman (Arbeitsökonom) und Peter A. Hall (Politikwissenschaftler), die dem Wandel der Arbeit in Deutschland, Europa und der Welt nachgehen. Der am weitesten reichende Entwurf kommt dabei von dem Harvard-Professor Freeman, der grundlegende Formen der Mitarbeiterbeteiligung an den Unternehmenswerten als wirkungsvolle Maßnahme gegen die wachsende soziale Ungleichheit vorschlägt. Der interdisziplinäre Reigen an visionären Gestaltungsentwürfen wird durch Einblicke in die Forschungen und Analysen von Matthias Horx (Zukunftsforscher), Tim Hagemann (Arbeitspsychologe) und Mercedes Bunz (Kulturwissenschaftlerin und Netz-Philosophin) fortgesetzt.

Das darauf folgende Kapitel widmet sich Fragen der betrieblichen Tarif- und Personalpolitik. Während die ehemaligen Arbeitsdirektoren der Deutschen Telekom AG und der Siemens AG, Thomas Sattelberger und Brigitte Ederer, Beispiele »Guter Praxis« für Aufstiegschancen und eine ausgewogene Balance von Beruf und Familie geben, erläutert der langjährige Vorstandsvorsitzende der SAP AG Henning Kagermann die innovationspolitischen Herausforderungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Der Journalist Günter Wallraff berichtet anschließend von seinen aktuellen Undercover-Recherchen in der Callcenter- und Paketbranche. Er liefert damit ein schockierendes Protokoll »frühkapitalistischer« Phänomene am Rand des Arbeitsmarktes. Die Gewerkschaftsführer Michael Sommer und Detlef Wetzel erläutern ihre Konzepte Gute Arbeit und »Besser statt billiger« für eine arbeitnehmerorientierte Zukunft der Arbeit.

Das Schlusskapitel ist der Politik vorbehalten. Mit dem ehemaligen Bundesarbeitsminister Franz Müntefering, der ersten Bundesfrauenministerin Rita Süssmuth und dem langjährigen Ministerpräsidenten Sachsens Kurt Biedenkopf sind hier drei der Schlüsselfiguren der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte versammelt. Sie lassen in den Gesprächen nicht nur ihre politischen Erfahrungen Revue passieren, sondern richten den Blick auch nach vorn und formulieren konkrete Gestaltungsziele. Die aktuellen Spitzenpolitikerinnen und -politiker von Bündnis 90/ Die Grünen, FDP und Die Linke – Katrin Göring-Eckardt, Christian Lindner und Katja Kipping – beschließen das Kapitel und damit auch das Buch mit einem Wettstreit um die besten oppositionellen und außerparlamentarischen Ideen. Wer der Meinung ist, dass sich politische Parteien und ihre Wortführer in ihren Positionen nicht unterscheiden, wird hier eines Besseren belehrt. Mit ihrem Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen bietet Kipping hier die radikalste arbeitsmarktpolitische Alternative an.

Die Arbeit der Zukunft ist 3-D

Die Positionen der Gesprächspartner lassen sich auf drei wesentliche Thesen zu den Veränderungen der Arbeitswelt verdichten. Sie sind zugleich Ansatzpunkte für die Gestaltung der Arbeit der Zukunft. Diese wird dreidimensional sein: digitalisiert, diversifiziert und demokratisiert.

Digitalisiert, weil das Internet der Dinge, Daten und Dienste auf dem Vormarsch in unsere Büros und Fabriken ist und auch vor den Privathaushalten nicht haltmachen wird. Die vierte industrielle Revolution nach der Nutzung von Dampfkraft und Elektrizität, dem Einsatz des Fließbands und der Massenverbreitung von IT bahnt sich, angetrieben von der Allgegenwart des Internets, unaufhaltsam ihren Weg in unser Arbeitsleben. Für die Vernetzung industrieller Abläufe in der Smart Factory werden cyber-physische Systeme eine Schlüsselrolle einnehmen. Mit ihnen wird jedes Werkstück über ein digitales Produktgedächtnis verfügen, welches über das Internet abrufbar ist. Zweck, Gebrauchsanweisung, Herkunft und Bearbeitungsschritte der Produkte werden so jederzeit einsehbar. Alle Produkte werden künftig über digitale Hard- und Softwarekomponenten verfügen, die eine Verbindung zu anderen Systemen ermöglichen, ganz gleich, ob es sich um Produktionsmaschinen, Autos oder Blutdruckmessgeräte handelt.

Diversifiziert, weil die Gesellschaft und damit auch die Arbeitswelt von morgen eine bunte sein wird. Es wird eine Arbeitswelt ohne Altersschranken sein, wie sie dem ehemaligen Bundesarbeitsminister Franz Müntefering schon jetzt vorschwebt: »Jedes Alter kann alles, am besten miteinander. Denn älter sein ist kein Verdienst und keine Garantie für Qualität. Jugend allerdings auch nicht. Damit sollten wir entspannt umgehen, denn diese Wahrheit gilt auch für alle Lebensphasen dazwischen.« Die Vielfalt von Alter, Geschlecht und ethnischen Hintergründen wird folglich zunehmen. Der Zukunftsforscher Matthias Horx führt dies u.a. auf die Megatrends Feminisierung und Individualisierung zurück.

Und schließlich demokratisiert, weil im Unternehmen der Zukunft die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker mitreden werden. Der Erste Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), Detlef Wetzel, fordert für die Stärkung der Mitbestimmung »neu justierte Arbeitsbeziehungen zwischen den Sozialpartnern«. In der Vision des ehemaligen Personalchefs der Deutschen Telekom, Thomas Sattelberger, werden die Arbeitnehmer zukünftig zu »Unternehmensbürgern«, die ihre Vorgesetzten auf Zeit wählen. Reine Zukunftsmusik? Keineswegs. Das zeigt das Beispiel der schweizerischen Haufe-umantis AG. Anfang 2014 stimmten die rund 120 Mitarbeiter in einer demokratischen Wahl über ihr Führungspersonal ab: 25 Führungskräfte hatten sich auf 21 Stellen beworben. Sieben Mitarbeiter wurden dabei neu in das Management gewählt, eine bisherige Führungskraft konnte nicht ausreichend Zuspruch finden.

Die Arbeit der Zukunft ist gestaltbar. Gemeinsam.

Die drei skizzierten Entwicklungsstränge für die Arbeit der Zukunft sind Gestaltungsauftrag für Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politik. Rund 40 Jahre nach dem Start des umfangreichen staatlichen Aktionsprogramms »Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens« (1974 bis 1989) ist es vor dem Hintergrund der vielfältigen Erschütterungen unserer Arbeits- und Lebenswelt unzweifelhaft erneut an der Zeit, die Qualität der Arbeit wieder stärker in den Mittelpunkt von Forschungsvorhaben und öffentlichen Debatten zu rücken. Hierbei kann an die gewerkschaftlichen Initiativen für Gute Arbeit sowie an fortschrittliche Tarif- und Personalpolitik angeknüpft werden.

Mit Blick auf die demografische Entwicklung wird zudem eine besondere Herausforderung darin liegen, motivierte, qualifizierte und leistungsfähige Beschäftigte in ausreichender Zahl aus- und weiterzubilden. Die voranschreitende Digitalisierung der Wirtschaft zu einer Industrie 4.0 verspricht für Deutschland attraktive Produktivitätssteigerungen im internationalen Wettbewerb. Sie wird jedoch auch Berufsbilder grundlegend verändern, manche standardisierten und einfachen Tätigkeiten verdrängen sowie neue, höher qualifizierte entstehen lassen. Eine weitere zentrale Herausforderung wird es daher sein, die vierte industrielle Revolution nicht nur innovationsfördernd, sondern auch menschengerecht und nachhaltig im Sinne eines ausgewogenen Dreiklangs aus Wachstum, Klimaschutz und Gerechtigkeit zu gestalten. Es wird in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung liegen, durch rechtzeitige und präventive Weiterbildungsmaßnahmen sowie eine entsprechende lebensbegleitende Bildungs- und Qualifizierungsberatung neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.15 Franz Münteferings Vorschlag einer Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung hin zu einer Arbeitsversicherung wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Der Arbeitsmarkt muss stärker für individuelle Brüche und Auszeiten angelegt sein. Er muss sich durch wiederkehrende Chancen auf unkomplizierte Einstiege, gelingende Umstiege und mögliche Aufstiege auszeichnen.

Die systematische Vorbereitung auf die Digitalisierung des Arbeitslebens sollte zudem durch die Einführung eines eigenständigen Fachs »Medienkompetenz« bereits in den Schulen erfolgen (vgl. hierzu Henning Kagermann und Günter Wallraff). Eine frühzeitige Berufsorientierung ist zudem vor dem Hintergrund des Dickichts aus derzeit rund 345 Ausbildungsberufen und rund 13.000 unterschiedlichen Studiengängen unbedingt erforderlich (vgl. Tim Hagemann und Michael Sommer). Alle diese Ansätze setzen jedoch voraus, dass sich der politische Fokus in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Zukunft von der Begünstigung einzelner Berufsgruppen am Ende der Erwerbsbiografie auf die gezielte Bildungsförderung aller Bevölkerungsgruppen während des gesamten Erwerbsverlaufs verlagert.

»Die Arbeit der Zukunft braucht uns alle!« – dies gilt in quantitativer Hinsicht aus demografischen Gründen und wird unsere Arbeitswelt vielfältiger werden lassen. Es gilt aber auch in qualitativer Hinsicht im Sinne eines Plädoyers für die engagierte Kooperation aller zentralen politischen und gesellschaftlichen Akteure. Die historisch gewachsene starke Sozialpartnerschaft in Deutschland ist im internationalen Vergleich ein »komparativer Vorteil«, den es zu nutzen gilt.16 Innovative Beteiligungsformen wie beispielsweise die umfassende Beschäftigtenbefragung der IG Metall könnten stilbildend werden (vgl. hierzu Detlef Wetzel). Eine zentrale Aufgabe der Politik wird – wie es der indische Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen in seiner grundlegenden Schrift »Ökonomie für den Menschen« ausbuchstabiert hat – zudem mehr denn je darin bestehen, für ausreichende Verwirklichungschancen der Menschen, Mitspracherechte und Transparenzgarantien zu sorgen, um so die Bürgerinnen und Bürger zu befähigen, unter der Vielfalt möglicher Lebensentwürfe frei wählen zu können.17

Der eingangs zitierte Schriftsteller Max Frisch war auch ein Bewunderer des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Der Wegbereiter der Existenzphilosophie bringt den Aspekt der »Selbstwahl« schon vor über 170 Jahren treffend auf den Punkt: »Darin liegt nämlich die ewige Würde des Menschen, dass er eine Geschichte bekommen kann […] dass er selbst, wenn er will, dieser Geschichte Kontinuität verleihen kann; denn die bekommt sie erst, wenn sie nicht den Inbegriff dessen darstellt, was mir geschehen oder widerfahren ist, sondern meine eigene Tat, dergestalt, dass selbst das mir Widerfahrene durch mich verwandelt und von Notwendigkeit in Freiheit übergeführt ist.«18

Und schließlich ist eine neue Sprache für die Arbeit der Zukunft längst überfällig. Wertschätzung gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Souveränität und Vielfalt in der Arbeit und ihrer Gestaltung – sie müssen sich künftig stärker im arbeitsbezogenen Wortschatz wiederfinden. Darauf weisen in diesem Buch zu Recht Thomas Sattelberger, Günter Wallraff und Kurt Biedenkopf hin. Die sprachlichen Leerstellen des digitalen Wandels in der Arbeitswelt bieten ohnehin neuen Raum für reflektierte Sprachbemühungen.

Kurzum: Die Architekten der Arbeit sind gut beraten, auch diejenigen beim Entwerfen, Gestalten und Bauen aktiv einzubeziehen, die das Ideengebäude am Ende bewohnen sollen. Ob Smart Factory oder Smart Office – ohne neue, kluge Formen von Mitbestimmung und Beteiligung wird die vierte industrielle Revolution nicht gelingen. Die Debatte darüber hat gerade erst begonnen. Der Wettbewerb um die besten Ideen und Entwürfe ist eröffnet!

Arbeit in Deutschland, Europa und der Welt

Richard B. Freeman:
Über soziale Ungleichheit und Mitarbeiterbeteiligung

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Richard Sennett ist einer der bekanntesten und einflussreichsten Theoretiker der modernen Arbeits- und Lebenswelt. Die Bandbreite seiner Forschungsgebiete und Betätigungsfelder ist beeindruckend: Sennett sprengt mit seinem vielfältigen Wirken die traditionellen Grenzen der Fachdisziplinen. Der viel gefragte Intellektuelle und Kosmopolit bewegt sich dabei elegant zwischen der Soziologie, Philosophie, Geschichts- und Kulturwissenschaft.

Die Geschichte und Zukunft der Arbeit im »neuen Kapitalismus« bildet dabei seit mehr als 30 Jahren eines seiner Hauptthemen. Mit seinem Befund, dass an die Stelle der planbaren, kontinuierlichen Lebens- und Arbeitsbiografie der »flexible Mensch« tritt, hat er bereits Ende der 1990er Jahre eine der herausragenden Debatten der letzten Jahre angestoßen, die bis heute anhält. Richard Sennetts besonderes Talent zur Zuspitzung aktueller Themen und sein anschaulicher, essayistischer Schreibstil ließen ihn zu einem Bestsellerautor mit Weltruhm avancieren, dessen Sozial- und Gesellschaftsanalysen weit über die eigene Fachgemeinde hinausstrahlen und von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert werden. Die Titel seiner Veröffentlichungen wurden in diesem Zuge häufig zu Schlagwörtern in der öffentlichen Diskussion.

Richard Sennett wurde 1943 in Chicago geboren und studierte zunächst Musikwissenschaften und Violoncello, anschließend Soziologie und Geschichte, u.a. bei Talcott Parsons und Hannah Arendt. Heute lehrt er Soziologie und Geschichte sowie Sozial- und Kulturtheorie sowohl an der New York University als auch an der London School of Economics. Seine letzten viel beachteten Werke sind »Zusammenarbeit« (2012) und »Handwerk« (2008). Auch noch im fortgeschrittenen Alter treiben ihn die Fragen nach der Zukunft der Arbeit und einer humanen Vision für eine bessere Welt jenseits sozialer Schranken um. Wir treffen uns in unseren jeweiligen Wohnzimmern zum digitalen Video-Interview.

Rahner: Welche entscheidenden Entwicklungen prägen den europäischen Arbeitsmarkt, und welche zentralen Herausforderungen werden sich daraus ergeben?

Sennett: Die drängendste Herausforderung für Europa ist, dass es auf absehbare Zeit schlicht und einfach mehr Arbeitsuchende als Arbeit geben wird. Und das nicht, weil die meisten Leute auf Anhieb Familien mit zwölf oder 14 Kindern gründen. Die Frage ist also, wie wir die vorhandene Arbeit organisieren, um den Bürgern zumindest eine Teilzeitarbeit anbieten zu können. Meiner Auffassung nach wäre die Einführung eines existenzsichernden Grundeinkommens eine Erfolg versprechende Herangehensweise, die genau an diesem Punkt ansetzt. Man versucht, die vorhandene Arbeit zu bestimmen, um sie dann unter zwei oder drei Leuten zu verteilen. Diese werden als Teilzeitkräfte bezahlt. Der Staat gibt ihnen dann zusätzlich ein Grundeinkommen, um den Unterschied auszugleichen.

Ich denke, wir haben es in Europa weniger mit zyklischer Arbeitslosigkeit als mit einem strukturellen Mangel an Arbeit zu tun. In den 1980er und 1990er Jahren exportierten wir eine ganze Menge Arbeit in die Entwicklungsländer, und diese machten etwas aus relativ gering qualifizierten Arbeitskräften. Sie entwickelten die Arbeit weiter und machten sie anspruchsvoller. Diese werden sie uns aber nicht wieder zurückgeben. Nun gibt es die Wunschvorstellung, dass wir die guten Jobs behalten und die ganz schlechten exportieren können. Aber so funktioniert der Arbeitsmarkt einfach nicht. Das ist eine selbst zugefügte Wunde, und das Resultat ist der strukturelle Arbeitsmangel in Europa. Ich glaube, was wir jetzt brauchen, um mit diesem Problem fertigzuwerden, ist eine ziemlich starke Medizin.

Rahner: Welche Art der Medizin könnte das sein? Oder anders ausgedrückt: Wie können wir den Wert der Arbeit in einer flexiblen und dynamischen Arbeitswelt erneuern?

Sennett: Die Menschen brauchen institutionalisierte Formen der Unterstützung, die es ihnen ermöglichen, elementares Fachwissen aufzubauen. Ich glaube nicht, dass man ein permanentes Glück am Arbeitsplatz empfinden kann. Aber ich bin davon überzeugt, dass sich das Gefühl einer grundlegenden Zufriedenheit einstellt, wenn man das Gefühl hat, seine Sache gut zu machen. Um das zu erreichen, müssen Menschen die Möglichkeit haben, über einen Zeitraum von 10.000 bis 12.000 Stunden hinweg gleiche oder sehr ähnliche Aufgaben zu bearbeiten. Das würde rund zwei bis drei Jahre dauern und gäbe ihnen die Chance, zentrale Kompetenzen aufzubauen. Das Flexibilitätspostulat im Personalmanagement der letzten Jahre steht dieser Erkenntnis diametral gegenüber: Die Leute werden permanent von einer Aufgabe zur anderen geschoben, um sie ständig auf einem Niveau der Einarbeitung und Unsicherheit zu halten. Damit wird letztlich das Gefühl der Genugtuung, das sich nach einer erfolgreich erledigten Aufgabe einstellt, zerstört. Genau hier liegt die Krux. Was wir also dringend benötigen, sind alternative Managementmodelle, die auf die kontinuierliche (Weiter-)Entwicklung der Menschen setzen. Das müssen nicht notwendigerweise Routinen sein.

Rahner: Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 hat gezeigt, dass Deutschland in der Lage ist, sehr schnell und effektiv Reformen umzusetzen, wenn alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Akteure koordiniert vorgehen. Verhandlungen zwischen Unternehmensleitungen und Betriebsräten haben in Kombination mit der staatlichen Förderung von Kurzarbeit entscheidend zum im Ausland viel bestaunten »German Jobwunder« (The Economist) beigetragen. Die von Kurzarbeit betroffenen Beschäftigten konnten sich, durch staatliche Maßnahmen gefördert, weiterbilden und dadurch ihre Qualifikationen erneuern und erweitern. Als die Konjunktur sich erholte, waren sie wieder schnell in ihren Betrieben und Unternehmen einsetzbar. Kann das sozialpartnerschaftlich ausgerichtete deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell auch auf andere Staaten Europas übertragen werden?

Sennett: Das deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell kann von den anderen Staaten Europas nicht ohne Weiteres nachgeahmt werden, weil seine Kooperationsformen bereits in seinem hochentwickelten Ausbildungssystem angelegt sind. In Italien gibt es z.B. zwar ein gut entwickeltes Ausbildungssystem in sehr kleinen Fachbetrieben, es ist jedoch sehr schlecht in der Bauindustrie und im verarbeitenden Gewerbe entwickelt. Was in Deutschland eine Art Norm ist, d.h. Kooperation und insbesondere die sehr gute Ausbildung von Facharbeitern, ist im übrigen Europa viel weniger ausgeprägt.

Es gibt eine Vielzahl von Problemen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Großbritannien existiert eine Vielzahl von Plänen für Kooperationen zwischen Arbeiterschaft und Kapitalgebern und zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Diese scheinen aber bloße Erfindungen zu sein. Obwohl das Ausbildungsprogramm auf dem Papier riesig aussieht, ist es in Wirklichkeit winzig.

Wir brauchen also in erster Linie nicht mehr Konzepte. Wir brauchen vielmehr Wege, um das zu ermöglichen, was wir mit den Gesetzen nicht erreichen können. Italien hat z.B. theoretisch ein hervorragendes System für die Kooperation zwischen Gewerkschaften und Management. Es wurde aber nie implementiert. Wir haben in Bezug auf den Arbeitsmarkt offensichtlich keine einheitlichen sozialen Standards in Europa. Auf der einen Seite gibt es Deutschland und seine nordeuropäischen Nachbarn, auf der anderen die restlichen Länder, vor allem im Süden.

Rahner: Welche Chancen auf gute Arbeitsbedingungen, eine flexible Arbeitszeitgestaltung und beruflichen Aufstieg kann der Strukturwandel der Arbeit zukünftig für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland und Europa bieten?

Sennett: Ich mache mir keine großen Sorgen über das, was in Deutschland passieren wird. Ich mache mir viel größere Sorgen über das, was in Spanien, Italien, Griechenland und in Großbritannien außerhalb von London passieren wird. Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt, aber das deutsche und die nordischen Wirtschafts- und Sozialsysteme haben sehr erfolgreiche und bewährte Methoden, mit denen man Arbeit klug organisieren kann. Dennoch lässt sich das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft nicht als Universalmedizin auf die anderen Länder Europas anwenden, die deutlich stärker von den Krisen getroffen wurden.

Wenn es um Ideen wie ein Grundeinkommen oder Möglichkeiten der flexiblen Arbeitszeitgestaltung geht, ist die unbeantwortete Frage, ob Nationalstaaten wie Spanien und Frankreich überhaupt in der Lage wären, diese zu finanzieren. Nun bin ich kein Wirtschaftswissenschaftler, aber Wirtschaftswissenschaftler, die ein Grundeinkommen befürworten, haben mich darauf hingewiesen, dass gewisse Formen von sozialer Umverteilung höchst komplexe Wirkungen haben können. Das bedeutet, dass die angesprochenen Staaten, Spanien und Frankreich, bei der Einführung von durchaus sinnvollen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gegebenenfalls auch negative Nebenwirkungen in Kauf nehmen müssten, also beispielsweise die Arbeitslosenversicherung in ihrer derzeitigen Form abschaffen oder aber das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre anheben müssen. Solche komplexen Rückwirkungen sind, je nachdem, wie die finanziellen Spielräume und Kontexte in den einzelnen Staaten beschaffen sind, sehr unterschiedlich und daher unbedingt zu berücksichtigen.

Rahner: Wie beeinflusst die Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben die Arbeitsbedingungen der arbeitenden Bevölkerung in OECD-Ländern wie Deutschland, Großbritannien oder Frankreich?

Sennett: Es gibt die Illusion, dass längere Arbeitsstunden für eine hochproduktive Gesellschaft notwendig sind. Meiner Meinung nach ist das der Versuch, ein neues System, neue Formen des Kapitalismus zu etablieren. Die Ideologie, die derzeit vorherrscht, suggeriert den Menschen, dass nur außergewöhnliche Anstrengungen sie in diesem System am Leben halten. Manche Menschen sagen, »Nein, ich lehne diese Anstrengungen ab, das ist nicht akzeptabel«. Momentan funktioniert das System so, dass es das Maximum verlangt und dieses als Norm für die Arbeitnehmerdisziplinierung einführt. Das ist natürlich unethisch, denn Menschen haben ein Recht darauf, z.B. nur acht Stunden am Tag zu arbeiten bzw. nur zehn Monate im Jahr. Sie werden allerdings immer Menschen finden, die bereit sind, das Maximum als Norm zu betrachten. Aber das werden keine guten Arbeiternehmer sein, denn sie sind auf Dauer nicht belastbar – überdies weder loyal noch verlässlich.

Ich glaube, wir brauchen daher einen Vertrag, in dem die Arbeitgeber für eine Kontinuität und Nachhaltigkeit am Arbeitsplatz bereit sind anzuerkennen, dass es soziale Normen gibt, die mit dem Maximum an Arbeitszeiteinsatz nicht vereinbar sind. Das strukturelle Problem ist nicht neu, jedoch die Tatsache, dass manche Arbeitgeber glauben, dass nur das Maximum akzeptabel und zielführend ist. Ich habe das an der Universität gesehen. Zurzeit erwarten Hochschulen in Großbritannien, dass ihre Angestellten zwischen zehn und zwölf Stunden am Tag arbeiten. Sie müssen alle möglichen Aufgaben erledigen, die genau genommen mit ihrer eigentlichen Tätigkeit nichts zu tun haben. Unter diesen Bedingungen leidet die Produktivität. Die Leute gehen nicht gerne zur Arbeit, und entsprechend sind ihre Arbeitsergebnisse. Wir verhandeln im Arbeitskontext viel zu selten Fragen der Lebensqualität. Insbesondere in Bezug darauf, dass Zeit eine zentrale Frage der Lebensqualität darstellt. Ich würde gerne viel mehr darüber diskutieren, wie man an diesem Punkt weiterkommen könnte. Ich glaube, es sollte im Interesse der Arbeitgeber liegen, dieses Thema voranzutreiben, denn die Arbeitsqualität, die man von Leuten bekommt, die zu viel arbeiten, ist niedrig. Das lässt sich statistisch nachweisen.

Rahner: Gibt es eine Vision für die Zukunft der Arbeit, die Sie als wünschenswert erachten?

Sennett: Natürlich (lacht). Mehr Sozialismus, mehr Mitbestimmung, kleinere Firmen, die Schwächung des Finanzkapitals zugunsten produktiver Arbeit. Ich habe keine große eigene Vision, aber ich weiß, dass das Problem, mit dem wir es im modernen Kapitalismus zu tun haben, die Manipulation der Zeit ist. In anderen Worten: Die Menschen werden von Zeitstrukturen dominiert, die ihre Fähigkeit reduzieren, Arbeit als Genugtuung zu erleben. Ich bin der Meinung, dass das ein Thema ist, das man zwar angehen, aber nicht in Gänze lösen kann. Unser System hat ganz offensichtlich eine sehr unrealistische Sicht auf die Art und Weise, wie Menschen an ihrem Arbeitsplatz Zeit erleben. Das ist es auch, worauf ich mich derzeit in meinen Forschungen besonders fokussiere.

Richard B. Freeman ist ein Phänomen: Sein Lebenslauf ist 58 Seiten lang und weist rund 40 Monografien und herausgegebene Bücher sowie über 300 Aufsätze in Fachzeitschriften auf. Man fragt sich unmittelbar, wann um Himmels willen macht er das nur alles? Die Themenpalette reicht von international vergleichenden Studien über die Auswirkungen der Globalisierung und Fragen der sozialen Ungleichheit bis hin zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und zur Rolle und Verantwortung von Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt. Der Harvard-Professor, dessen Markenzeichen das Tragen eines Hutes ist, zählt damit seit über drei Jahrzehnten zu den produktivsten Arbeitsökonomen weltweit. Dabei verlässt er gern bekannte Pfade und übt sich im Vor- und Querdenken.

Neben seinem beeindruckenden ökonomischen Sachverstand ist es somit die Originalität seiner Ideen und Politikempfehlungen, die seinen Thesen oftmals den Weg in die öffentliche und politische Diskussion ebnen. In vielfältiger Weise wirkt Freeman als wirtschaftspolitischer Berater: So war er in unterschiedlichen Funktionen für die Weltbank, die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) und die Europäische Union tätig. Darüber hinaus prägte er beispielsweise die Arbeitsmarktreformen in Südafrika und setzte wichtige Akzente in der US-amerikanischen Steuerpolitik.

Richard B. Freeman wurde 1943 im Bundesstaat New York geboren. Er ist Wirtschaftsprofessor an der Harvard-Universität, Visiting Professor an der London School of Economics sowie Forschungsdirektor am National Bureau of Economic Research (NBER) der USA. 2006 wurde Freeman für sein Lebenswerk in der Arbeitsmarktforschung mit dem Mincer-Preis ausgezeichnet. 2007 wurde ihm zudem der renommierte Preis für Arbeitsökonomie des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) verliehen. Zuletzt erschien von ihm und zwei Fachkollegen das von der »New York Times« hochgelobte Buch »The Citizen’s Share: Putting Ownership Back into Democracy« (2013). Derzeit arbeitet er an einem neuen Buch mit dem Titel »Making Europe Work«.

Bleibt die Frage, wie der Star-Ökonom alle seine wissenschaftlichen und politikberatenden Tätigkeiten sprichwörtlich »unter seinen Hut« bekommt. Mit einem Augenzwinkern verrät er, dass er gerne in wolkiger Höhe im Flugzeug fernab von Telefonen und E-Mail-Postfächern nachdenkt und schreibt. Ich erreiche Freeman zwischen zwei Terminen in Oslo und Peking bei einer Zwischenlandung in seinem Arbeitszimmer an der Harvard-Universität zum Video-Interview. Im Gespräch gibt er Einblicke in globale Arbeitsmarkttrends, diskutiert innovative Arbeitszeitmodelle und schlägt mit der Einführung von grundlegenden Formen der Mitarbeiterbeteiligung an den Unternehmenswerten zugleich einen radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel vor.

Rahner: Welche entscheidenden Entwicklungen und Zusammenhänge werden Ihrer Auffassung nach die Zukunft der Arbeit im Wesentlichen bestimmen?

Freeman: Zuallererst möchte ich die Globalisierung und deren Auswirkung auf China, Indien und die 75 Prozent der Staaten der Welt nennen, die nicht zu den industrialisierten westlichen Ländern zählen. Die Entwicklungen in den bevölkerungsreichen und sich rasant verändernden Ländern wie China und Indien werden einen wesentlichen Einfluss auf die globale Entwicklung haben. Ein zweiter entscheidender Trend wird der wissenschaftliche und technologische Fortschritt sein: Wie werden wir diesen innerhalb unserer Wirtschaftssysteme einsetzen, und wer wird diesen Einsatz kontrollieren und beeinflussen? Es wird von entscheidender Bedeutung sein, ob eine kleine Gruppe von Milliardären die Kontrolle übernimmt oder ob der Umgang mit den wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften der Zukunft von einer größeren Gruppe beeinflusst wird.

Rahner: Welchen Einfluss hat die demografische Entwicklung auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen in den USA?

Freeman: Es gibt im Großen und Ganzen drei demografische Entwicklungen, die hier von Bedeutung sind. Dies sind zunächst der steigende Bedarf sowie die verbesserte Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Frauen, die über 50 Prozent der Bevölkerung stellen, übernehmen heutzutage mehr und mehr Aufgaben in der Erwerbsarbeit, und dies oftmals in Vollzeit. Sie stellen zudem inzwischen die Mehrheit der Universitätsabsolventen. In den USA schließen aktuell etwa 40 Prozent mehr Frauen als Männer ihr Studium mit dem Bachelor ab. In Deutschland sind es etwas mehr Frauen als Männer, aber es sind keine 40 Prozent wie hierzulande. Diese Entwicklung hat natürlich einen immensen Einfluss auf den gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitsmarkt sowie die Arbeitsbedingungen.

Die zweite Entwicklung in den Vereinigten Staaten betrifft die Einwanderung. Bisher kamen hauptsächlich einfach qualifizierte Menschen aus Mexiko und Lateinamerika in die USA, was zu einem Niedriglohnsektor geführt hat, den es in dieser Form sonst nicht gegeben hätte. Inzwischen nehmen jedoch viele Immigranten an Doktorandenprogrammen teil oder arbeiten als Professoren. Aktuell sind unter ihnen viele chinesische Staatsbürger. Die USA werden also vor allem im universitären Bildungswesen und im Bereich der Hochqualifizierten über einen längeren Zeitraum hinweg keinen Fachkräftemangel haben. Sie werden langfristig sogar die attraktiveren und lukrativeren Jobs anbieten können als Indien oder China.

Als dritte Entwicklung können wir eine sich wandelnde ethnische Zusammensetzung der amerikanischen Arbeitnehmerschaft feststellen. Früher stellten Weiße europäischer Herkunft die überwältigende Mehrheit. Wir wissen, dass in der jüngeren Bevölkerung die Anzahl der Weißen zurückgeht. Stattdessen setzt sich die junge Arbeitnehmerschaft vermehrt aus Latein- und Afroamerikanern, Asiaten sowie weiteren ethnischen Gruppen zusammen. Diese Entwicklung hat sowohl Einfluss auf den Arbeitsmarkt als auch auf die Arbeitsbedingungen und stellt daher ein konfliktreiches politisches Thema dar.

Rahner: Sind Sie der Meinung, dass liberale Marktwirtschaften wie die USA gut aufgestellt sind, um die bevorstehenden Herausforderungen in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu meistern? In Bezug auf welche arbeitsmarktbezogenen Aspekte sind die USA erfolgreicher als kooperative Marktwirtschaften wie die deutsche?

Freeman: In einigen Aspekten hat das sozioökonomische Modell der Vereinigten Staaten gute Arbeit geleistet: Frauen konnten ziemlich reibungslos in Arbeit kommen und sich eine eigenständige Existenz aufbauen, im Fast-Food-Sektor wurden viele Arbeitsplätze geschaffen, und ungelernte Migranten konnten z.B. als Putzfrauen, Tagesmütter oder Erzieherinnen eine Vielzahl von Jobs finden. Zudem haben sich die Arbeitsmärkte als sehr aufnahmefähig erwiesen, als die Türen für chinesische, indische und andere Immigranten geöffnet wurden, die als Wissenschaftler und Ingenieure auf den US-amerikanischen Arbeitsmarkt geströmt sind.

Auf einem anderen Gebiet hat sich der neoliberale Arbeitsmarkt der Vereinigten Staaten allerdings als nicht sehr erfolgreich erwiesen, denn wir haben keine ausreichend starken Gewerkschaften, die die Menschen an der Spitze der Gesellschaft daran hindern, der Bevölkerungsmehrheit einen immer größeren Anteil des Einkommens wegzunehmen – eine klare institutionelle Schwäche unseres Arbeitsmarktes. Wir haben keine Instrumente, mit denen man gegen die Macht der Reichen opponieren könnte. Es wird umso leichter, den Lohn zu drücken, wenn mehr und mehr Migranten ins Land strömen und Arbeit suchen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bevor die Gewerkschaften zu Fürsprechern der Migranten wurden. Jetzt, da sie es sind, haben sie einen noch zu geringen Einfluss. Neoliberale Arbeitsmärkte haben ihre Stärken bei der Schaffung neuer Jobs, aber sie sind sehr schwach, wenn es um die Einkommensverteilung geht oder darum, die Macht von Arbeitgebern und Arbeiternehmern auszubalancieren, indem faire Regeln für den Arbeitsmarkt aufgestellt werden. Dies ist der Bereich, in dem das amerikanische System grundlegenden Nachholbedarf hat.

Diese Defizite wurden während der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise offensichtlich: Die amerikanischen Unternehmen entließen ihre Mitarbeiter viel schneller, als sie es jemals zuvor in der amerikanischen Geschichte getan hatten. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurden einfach auf die Straße gesetzt. Durch die rasche Senkung der Personalkosten konnten viele Unternehmen ihre Geschäftsbilanzen sehr schnell aufbessern. Die Unternehmen verloren zwar zunächst Kapital, weil die Aktienkurse fielen. In der Zwischenzeit hat sich aber der Aktienmarkt wieder erholt.