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1. Von den Anfängen bis zu Mubarak

Die Muslimbruderschaft wurde 1928 in Ismailiyya, einer Hafenstadt am Suezkanal, von Hassan al-Banna gegründet. Bis zu seinem Tod 1949 prägte seine Person die Organisation maßgeblich. Kein Führer der Gruppe sollte je wieder so einflussreich sein, wie er es gewesen war. Bis heute ist al-Banna die unangefochtene Ikone der Muslimbruderschaft, deren Mitglieder nicht müde werden, ihre Treue gegenüber den Ansichten und der Mission ihres Gründervaters zu beteuern. Bei allen Neuerungen, die die Gruppe nach seinem Tod vollzog, legte sie stets viel Wert darauf, zu betonen, dass diese nicht nur kompatibel seien, sondern schon immer im eigentlichen Sinne des Gründers gelegen hätten.

Al-Banna wurde in eine Zeit geboren, die vom ägyptischen Nationalismus geprägt war. Bereits in seiner frühen Jugend nahm al-Banna an Demonstrationen gegen die britische Präsenz in Ägypten teil. Die nationalistische Bewegung war damals jedoch gespalten, in ein säkulares Lager, angeführt von der Wafd-Partei, und in ein islamisch orientiertes Camp um den islamischen Reformer Rashid Rida. Während die säkularen Nationalisten den Islam als rückständig beurteilten und ihn für die Schwäche Ägyptens und dessen Unterwerfung durch die Kolonialmächte verantwortlich machten, sah das islamisch-nationalistische Lager im Islam nicht das Problem, sondern die Lösung. Die Muslime seien vom rechten Islam abgekommen und deshalb schwach. In seiner Reinform sei der Islam nur in den ersten drei Generationen von Muslimen gelebt worden. Zu dieser Zeit hätte die muslimische Gemeinde auch ihr »Goldenes Zeitalter« erlebt, und Ruhm, Macht und Reichtum seien auf dem Höhepunkt gewesen. Seither jedoch seien Neuerungen und Verwässerungen im Islam aufgekommen, die es nun durch die Neuinterpretation von Koran und Sunna, anhand von Ratio und Vernunft, zu überwinden gelte. Erst wenn der Islam derart reformiert würde, könne Ägypten und die ganze arabische Welt wieder zu Stärke, Reichtum und Fortschritt gelangen.

Dieser »islamische Reformismus« war jedoch eigentlich eine theologische Strömung, dessen Vertreter, wie Muhammad Abduh oder Rashid Rida, eine professionelle religiöse Ausbildung genossen hatten. Somit blieb diese Strömung eine Strömung der Intellektuellen. Erst der Laie Hassan al-Banna knüpfte diese Ideen an eine soziale Bewegung an. Er machte sie erstmals massentauglich, als er den Gedanken der »islamischen Reform« mit dem Streben nach einer Reform der Lebensbedingungen der Ägypter verband. Es ging ihm darum, diese zu verbessern und drastische soziale Ungerechtigkeiten, die auch die Briten verschärft hatten, zu überwinden. Damit verbunden war das Ziel, den Islam im Alltagsleben durch Graswurzelarbeit und Bildung zu stärken – nicht zuletzt, um den Einfluss westlicher Ideen und Werte zurückzudrängen, die gemeinsam mit den Briten Einzug ins Land gehalten hatten und al-Banna zufolge die authentische Kultur Ägyptens zu zerstören drohten. Damit verstand sich die Muslimbruderschaft von Anfang an auch als eine antikoloniale Bewegung.

Sosehr al-Banna bis heute unangefochten im Zentrum der Muslimbruderschaft steht, so umstritten ist er jedoch in der breiteren ägyptischen Gesellschaft. Die einen sehen in ihm einen aufrichtig pazifistischen und toleranten Muslim. Andere hingegen halten ihn für den Ursprung eines radikalen und gewaltbereiten Islamismus. Tatsächlich vereint er beide Extreme: Auf der einen Seite setzte er sich mit den friedlichen Mitteln gesellschaftlicher Graswurzelarbeit für das Gemeinwohl und vor allem das Wohl der Unterprivilegierten ein, auf der anderen Seite aber veranlasste er wenige Jahre vor seinem Tod die Gründung einer geheimen Eliteeinheit innerhalb der Muslimbruderschaft, die – fernab vom zivilen Teil der Organisation und ohne dessen Wissen – zur gewaltsamen Bekämpfung des kolonialen Feindes ausgebildet wurde. Auch in der Fachliteratur wird al-Bannas Denken, insbesondere sein Verständnis von Islam und Gesellschaft, äußerst unterschiedlich gedeutet. Wollte er, wie es die einen beteuern, den Islam und die Gesellschaft mit Vernunft in die Moderne führen? Oder war er in erster Linie rückwärtsgewandt und strikt antiwestlich eingestellt, wie es die anderen behaupten?

Seine Figur und sein Denken erscheinen oft nur schemenhaft umrissen. Dies liegt zunächst in der Natur seiner Schriften begründet. Die ursprünglich losen Texte wurden als »Sammlung von Briefen« erst posthum zu einem Werk zusammengefasst. In den einzelnen »Briefen« aber werden Themen nicht systematisch und in sich abgeschlossen behandelt. Vielmehr finden sich verschiedene, zum Teil auch widersprüchliche Aussagen zu den jeweiligen Themen über ganz unterschiedliche »Briefe« hinweg verstreut. So mancher Widerspruch mag hier auch darauf zurückzuführen sein, dass Hassan al-Banna ganze 21 Jahre die Muslimbruderschaft führte und sich in diesem Zeitraum seine Haltung naturgemäß in einigen Punkten verändert hat. Ein weiterer Aspekt, der Widersprüchlichkeiten in al-Bannas gesammelten Schriften begünstigt, liegt in seiner Wesensart begründet: Als Mann der Tat ging es ihm nie darum, ein intellektuelles Meisterwerk zu verfassen, ein in sich geschlossenes Welt- und Islambild oder gar den perfekt ausgeklügelten Entwurf einer idealen sozialen, muslimischen Ordnung. Al-Bannas große Mission waren immer die »Taten«. Und genau dafür gründete er 1928 die Muslimbruderschaft, die zu einer der bedeutendsten islamistischen Organisationen weltweit werden sollte und heute ein weites Netz an Ablegern in über 70 Ländern besitzt.

Hassan al-Bannas Erziehung und Entwicklung

Hassan al-Banna wurde 1906 in al-Mahmudiyya, einer Kleinstadt im Nildelta, geboren und wuchs zusammen mit sechs Geschwistern in bescheidenen, dennoch gebildeten Verhältnissen auf. Sein Vater war ein einfacher Uhrmacher, der als islamischer Laiengebildeter aber hohes Ansehen bei den Notabeln der Stadt, beispielsweise dem Bürgermeister sowie bei islamischen Rechtsgelehrten, genoss. So wurde ihm sogar die Ehre zuteil, das Freitagsgebet in der städtischen Moschee zu leiten.

Schon als Kind war Hassan al-Banna vom Islam fasziniert und wurde auch durch den Einfluss seiner Familie in verschiedenen islamischen Kreisen sozialisiert. Bereits mit zwölf Jahren war er Mitglied einer Gruppierung, die die islamische Lebensweise ihrer Mitglieder verbessern wollte. So begann er schon damals, sich strikt an das tägliche fünfmalige Beten zu halten und sich darin zu üben, Untugenden zu unterlassen. Kurze Zeit später engagierte er sich in einer weiteren Gruppierung, deren Anliegen es war, nicht nur die islamische Moral der eigenen Mitglieder, sondern auch die der Gesellschaft zu korrigieren. Entsprechend maßregelnd trat die Gruppe auf: Sobald sie Übertretungen der islamischen Moral – wie etwa den Konsum von Alkohol – zu beobachten glaubte, sandte sie rügende Briefe an die Übeltäter, um diese zur Abkehr von ihren Lastern zu bewegen. Auch in späteren Jahren engagierte sich al-Banna immer wieder in verschiedensten Gruppierungen, immer mit dem Ziel, die Menschen durch Bildung und Aufklärung über die rechten Werte des Islam zum Einhalten islamischer Tugend anzuhalten.

Hassan al-Bannas Jugend fiel in die Hochzeit des ägyptischen Nationalismus, der ihn neben dem Islam stark beeinflussen sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Rufe nach Unabhängigkeit immer lauter, bis sie schließlich in dem von der Wafd angeführten Volksaufstand von 1919 mündeten. Im Jahr 1922 schien dieses Ziel mit der formalen Unabhängigkeit tatsächlich erreicht (wobei die vollständige Unabhängigkeit erst 30 Jahre später, mit dem Putsch der freien Offiziere von 1952, erreicht wurde).

Im Jahr 1923 zog der 17-jährige Hassan al-Banna in die Hauptstadt des nun formal unabhängigen Landes, um dort eine vierjährige Lehrerausbildung am Dar al-’Ulum zu absolvieren. Besonders in diesen Studienjahren in Kairo wurde al-Banna stark vom Klima der 1920er Jahre geprägt. Vor allem die großen nationalen Ambitionen und Debatten der Intelligenzija beeindruckten ihn nachhaltig. Das Ethos des Kämpferischen und des Heroischen hielt er fortan in glühenden Ehren. Der Kampf spielte sich bei ihm jedoch vor allem auf kultureller Ebene ab. Denn für ihn stand die ägyptische Nation zweifelsfrei für den Islam mit seinem strikten Moralkodex, während die Briten seiner Meinung nach nunmehr den Zerfall der Sitten durch Prostitution und Alkohol in das Land brachten. Die Kolonialmacht galt es deshalb in erster Linie auf kultureller Ebene zu bekämpfen. So erklärt sich al-Bannas erneute Mitgliedschaft in einer Organisation, die sich der Erziehung von Individuen zu tugendhafteren Muslimen widmete, der »Gesellschaft für noble islamische Werte« in Kairo.

Noch vor ihrer Gründung zeichnete sich hier also bereits das zweifache Fundament der Muslimbruderschaft ab. Zum einen liegt ihr ein aktionistisches Verständnis zugrunde: Um das Individuum und die Gesellschaft zu verbessern, bedarf es nicht allein der Worte, sondern vor allem der Taten. Dabei kommt der Erziehung, insbesondere dem Anhalten der Gesellschaft zu islamisch tugendhaftem Verhalten, eine zentrale Bedeutung zu. Zum anderen ist die Frage nach einer höheren Moral in der Gesellschaft eng mit dem Streben der ägyptischen Nation nach Befreiung von britischer Dominanz verwoben.

Die Gründung und ihre Mission

Nach dem Abschluss seiner Ausbildung in Kairo im Jahr 1927 nahm al-Banna einen Lehrerposten in der Hafenstadt Ismailiyya am Suezkanal an. Kurz darauf, im Jahr 1928, gründete er die Muslimbruderschaft. Sie sollte den Ägyptern helfen, ihre Würde zurückzuerlangen, die sie durch die Ausbeutung, Erniedrigung und Fremdbestimmung durch die Kolonialherren verloren hatten. In Ismailiyya waren die sozialen Ungerechtigkeiten, die die britische Präsenz in Ägypten mit sich brachte, nur allzu präsent, denn hier befand sich der Sitz der Suezkanal-Gesellschaft, damals noch in der Hand der Kolonialmächte. Während viele Ausländer dadurch ein luxuriöses Leben führen konnten, lebten die ägyptischen Arbeiter oft in Armut.

Hassan al-Bannas Schlüssel zur Rückerlangung der Würde lag in der islamischen Erziehung und Bildung. Sie sollten die soziale Gerechtigkeit, die Moral und die Tugend in der Gesellschaft stärken. Das Kerngeschäft der Muslimbrüder bestand deshalb darin, Grundkurse in islamischer Bildung für Erwachsene anzubieten. Diese richteten sich inhaltlich durchaus an »einfache« Leute ohne nennenswerten Bildungshintergrund. Später kamen die kostengünstige Ausbildung für Jungen und Mädchen sowie die medizinische Versorgung hinzu. Die Muslimbruderschaft richtete sich zudem ausdrücklich an die »unterdrückten und ausgebeuteten« Arbeiter der Stadt. Damit war sie derzeit in erster Linie eine islamische Wohlfahrtsorganisation und als solche auch legal eingetragen.

Langfristig wollten die wohltätigen Missionare die Menschen aber vor allem zu besseren Muslimen erziehen. Denn sie sollten schließlich die Grundlage einer guten muslimischen Gesellschaft bilden, in der sich der »Islam« mit seiner absoluten sozialen Gerechtigkeit verwirklicht. Den »Islam« begriff al-Banna hierbei als allumfassendes System, das jeden Bereich des Lebens – und somit auch des Alltagslebens – durchziehen sollte.

Neben den in der Gesellschaft dringend benötigten Wohlfahrtsleistungen der Gruppe sorgte vor allem al-Bannas kommunikatives Talent dafür, dass sehr schnell neue Mitglieder gewonnen werden konnten. Zunächst expandierte die Gruppe im unmittelbaren geografischen Umfeld, in der Suezkanal-Zone. Im Jahr 1930 zählte die Gruppe bereits fünf Ableger, 1932 waren es 15. Und als al-Banna kurz darauf nach Kairo umzog, wuchs die Gruppe in völlig neue Dimensionen.

Umzug nach Kairo

Auf eigenen Wunsch wurde Hassan al-Banna 1932 als Lehrer nach Kairo versetzt, wo sein Bruder bereits einen Ableger der Muslimbruderschaft betrieb. Die Hauptstadt eröffnete al-Banna ganz neue Expansionsmöglichkeiten. Und in der Tat erfreute sich die Gruppe immer größerer Popularität. Weiterhin lockten immer mehr und attraktivere soziale Dienstleistungen, aber auch al-Bannas Charisma blieb ein zentraler Aspekt, der die Mitgliedschaften vervielfältigte. Er reiste regelmäßig durch Ägypten, um ein »persönliches Band« zwischen ihm und den Muslimbrüdern herzustellen – was ihm aufgrund seiner hohen sozialen Kompetenz auch gelang. So konnte er neue Mitglieder in allen Teilen des Landes dazugewinnen. Gleichzeitig entwickelte er eine moderne Organisationsstruktur, die es ermöglichte, die Abwicklung der Geschäfte im ganzen Land aufrechtzuerhalten und an die Zentrale in Kairo anzubinden. 1938 gab es bereits rund 300 Ableger, und bis zu al-Bannas Tod im Jahr 1949 wuchs deren Zahl auf 2000 Ableger an, während die damaligen Mitgliederzahlen, wenn auch ohne gesicherte Aussagen, auf ungefähr 500.000 Mitglieder geschätzt werden.2 Die Mitgliedschaft bestand nun schon lange nicht mehr aus verarmten Arbeiterschichten, sondern war breit und heterogen aufgestellt und erfasste vor allem auch die gebildeten Mittelschichten.

Zu jener beachtlichen Expansion hatte ein weiterer Punkt wesentlich beigetragen: In al-Bannas »Kairener Zeit« – in den 1930ern, vor allem aber in den 1940er Jahren – fand neben der Ausweitung der sozialen Dienstleistungen und der Missionierungstätigkeit der Muslimbrüder auch eine Politisierung der Gruppe statt. Durch diese verwandelte sich die Muslimbruderschaft nun sukzessive von einer Wohlfahrtsorganisation in eine institutionalisierte soziale Bewegung.

Vor dem Hintergrund der wachsenden arabisch-zionistischen Spannungen in Palästina, des Zweiten Weltkriegs sowie der sozioökonomischen Krise im eigenen Land erlebte die ägyptische Gesellschaft in den späten 1930ern und 1940er Jahren eine regelrechte »Politisierung der Straße«. Auch die antibritische Bewegung erfuhr einen Aufschwung, denn Ägypten war zu dieser Zeit noch immer lediglich formal unabhängig; gerade in zentralen Punkten hatten die Briten das Sagen behalten. Ägypten war nun immer häufiger von nationalistischer, antibritischer und antizionistischer Mobilisierung der Straße geprägt, durchaus auch von Gewalt, als sich radikale nationalistische Gruppen bildeten. In dieser turbulenten Zeit organisierte ebenso die Muslimbruderschaft zunehmend Demonstrationen und Kundgebungen gegen den kolonialen Einfluss und baute in diesem Zuge erhebliches Potenzial der Massenmobilisierung auf. Dabei kam ihr der Organisationsaufbau ihrer Gruppierung, der an eine moderne Partei erinnert, zugute. Die Gruppe avancierte somit zu einer bedeutenden oppositionellen Kraft – jedoch einer, die außerhalb der formalen politischen Kanäle agierte.

Durch ihre zunehmende Politisierung geriet die Muslimbruderschaft nun immer öfter in Konflikt mit dem Staat. Und das, obwohl al-Banna zuvor darauf bedacht gewesen war, ein gutes Verhältnis zum ägyptischen Königshaus aufzubauen. Al-Banna hätte sich ursprünglich viel lieber als Berater des Königs in gesellschaftlichen und religiösen Fragen eingebracht; so hatte er schon früher versucht, den König durch Briefe zur Einhegung der Unmoral, insbesondere der Prostitution oder des Alkoholausschanks, zu bewegen. Die zunehmenden Spannungen zwischen Muslimbruderschaft und staatlicher Autorität, die sich im Zuge der Politisierung der Gruppe zuspitzten, eskalierten Ende der 1940er Jahre schließlich gewaltsam und mündeten in der Ermordung al-Bannas durch die ägyptische Geheimpolizei.

Gründung eines bewaffneten Geheimapparats

Um die Zionisten in Palästina und das britische Militär in der Suezkanal-Zone zu »bekämpfen«, gründete Hassan al-Banna in den frühen 1940er Jahren einen bewaffneten Geheimapparat. Er sollte in den als »besetzt« geltenden Gebieten kriegerische Operationen gegen den zionistischen und britischen Feind vornehmen. Solche Gewaltakte deutete al-Banna als Dschihad, um sie religiös zu legitimieren – was zur damaligen Zeit durchaus nicht unüblich war. Bis zu seiner Aufdeckung durch den ägyptischen Staat 1948 blieb der Geheimapparat auch dem Gros der Muslimbruderschaft verborgen. Nur wenigen Mitgliedern der obersten Führungsriege war die Existenz der geheimen Einheit bekannt. Dementsprechend agierte der Apparat losgelöst von den zivilen Strukturen der Muslimbruderschaft: War der zivile Teil als breite Massenbewegung angelegt, so handelte es sich bei dem Geheimapparat um eine kleine avantgardistische Kampfeinheit. Dies stand in offenem Widerspruch zur prinzipiell pazifistischen Ausrichtung der zivilen Muslimbruderschaft, die sich die soziale Gerechtigkeit und das Gemeinwohl auf die Fahnen schrieb.

Schon bald nach seiner Gründung verlor al-Banna die Kontrolle über den Geheimapparat, der begann, nicht mehr nur Gewaltakte gegen die britischen oder zionistischen Besatzer in den besetzten »Zonen« auszuüben, sondern auch innerhalb nicht besetzter Gebiete in Ägypten sowie gegen Vertreter des ägyptischen Staates, denen man Kooperation mit den Briten vorwerfen konnte. Mit dem Mord am ägyptischen Premierminister al-Nuqraishi im Dezember 1948 durch den Geheimapparat eskalierte die Gewalt. In einem Vergeltungsakt wurde al-Banna 1949 von der Geheimpolizei ermordet.

Die Zeit nach Hassan al-Banna

Die Ermordung ihres Gründervaters stürzte die Gruppe zunächst in eine tiefe Krise der Orientierungslosigkeit. Erst 1951 wurde ein neues Oberhaupt der Muslimbruderschaft ernannt: Richter Hassan al-Hudaybi wollte die Gruppe auf einen anderen Kurs bringen, auf den intellektuelleren Pfad der Bildung und Mission, weg von der »Politik der Straße« und weg von der Gewalt. Seine ersten Amtshandlungen widmeten sich dem schwierigen Unterfangen, den Geheimapparat aufzulösen, was endgültig jedoch erst im darauffolgenden Jahrzehnt gelang. Denn al-Hudaybis Mission des »neuen Kurses« wurde sehr bald von anderen Geschehnissen überschattet.

Als 1952 mit dem Putsch der Freien Offiziere die Monarchie gestürzt und erstmals die vollständige und tatsächliche Unabhängigkeit von Großbritannien erreicht wurde, waren die Beziehungen der Muslimbrüder zum Militär zunächst gut. Schon zuvor hatten Kontakte zwischen ihnen bestanden. Dann aber entbrannte unter den Freien Offizieren ein interner Machtkampf. Behaupten konnte sich hier Gamal Abdel Nasser, der seinen Konkurrenten Muhammad Naguib an den Rand drängte und im Jahr 1954 der Präsident der »neuen ägyptischen Republik« wurde. Bevor er daraufhin ein autoritäres System mit sich selbst an der unangefochtenen Spitze errichtete, räumte er seinen letzten großen politischen Konkurrenten, die Muslimbruderschaft, aus dem Weg. Zum Anlass seiner historischen Verfolgung der Gruppe nahm er ein missglücktes Attentat von Mitgliedern des Geheimapparates der Muslimbruderschaft auf ihn selbst (welches die Muslimbruderschaft ihrerseits bis heute bestreitet). Die Gruppe wurde verboten, ihre Zentrale geschlossen, und in nur einer Nacht wurden über 1000 Mitglieder der Organisation verhaftet. Die Unterdrückungswelle sollte viele Jahre andauern, die Tausende von Mitgliedern und ein großer Teil der Führungsriege hinter Gitter verbringen sollten, wenn sie sich nicht rechtzeitig ins Exil gerettet hatten. Viele der Führungsmitglieder blieben bis zu 15 Jahre in Haft. Die Zwangsarbeit, die menschenunwürdige Behandlung und die regelmäßige Folter, die die Muslimbrüder dort erleben mussten, blieben nicht ohne Konsequenzen.

Radikalisierung und Sayyid Qutbs »Wegmarken«

Unter dem Eindruck der Gewalterfahrungen in den Gefängnissen begannen sich einige Muslimbrüder zu radikalisieren. Die bekannteste und bis heute einflussreichste Figur ist hier Sayyid Qutb, dessen Gedankengut sich nun vom traditionellen Denken der Muslimbruderschaft entfernte.

In seinem bekannten Werk »Wegmarken« suggeriert Qutb, das neue Ägypten sei mitnichten islamisch zu nennen. An seiner Stelle müsse ein wahrhaft islamischer Staat geschaffen werden, der erst als solcher gelten könne, wenn Gott der Souverän sei. Dies fände darin Ausdruck, dass allein die Scharia als Gesetz gelte. Der Herrscher, der nicht die Scharia zur einzigen Quelle des Rechts erhebe, sei ein Ungläubiger. Damit legt Qutb nahe, dass dieser ein »Vogelfreier« und als solcher zu töten sei. Die Scharia interpretiert er rigide und unflexibel, als detaillierte Sammlung von Rechtsvorschriften, die dem Menschen keinerlei Spielraum mehr für eigene Interpretation lassen. Fast perfide durchzieht eine Schwarz-Weiß-Logik sein Denken. Für ihn ist alles auf der Welt entweder islamisch oder unislamisch und somit entweder zu befürworten oder strikt abzulehnen.

Mit seinen Ideen, die sich hauptsächlich in seinem Werk »Wegmarken« wiederfinden, öffnet Qutb seinen Anhängern Tür und Tor, die Mitmuslime als Ungläubige zu brandmarken, was wiederum Gewaltakte gegen sie ermöglicht. Nach seiner Hinrichtung 1966 sollte er posthum tatsächlich zum Geistesvater einer neuen islamistischen Strömung werden: der radikalen, gewaltbereiten Gruppen, die Gewalt auf andere Art, als es die Muslimbrüder vor ihnen getan hatten, legitimierten. Unter al-Banna war die als Dschihad religiös legitimierte Gewalt der Muslimbruderschaft, die der Geheimapparat auszuführen hatte, auf die Bekämpfung der fremden Besatzer begrenzt. Dies war zur damaligen Zeit eine keineswegs unübliche Lesart des Dschihad. Bei den von Qutb inspirierten Gruppen, die sich später bilden sollten, fand jedoch eine Entgrenzung der Gewalt statt, die durch das Ernennen von Mitmuslimen zu Ungläubigen (takfir) legitimiert wurde. Gewalt wird somit zum Alltagsrepertoire der Handlungsoptionen, die nicht nur gegenüber dem Herrscher, sondern auch gegenüber den muslimischen Mitbürgern eingesetzt werden können. Im Ägypten der 1980er und vor allem der 1990er Jahre wird dies zur bitteren Realität, als Gruppierungen wie al-Dschihad und al-Gama’a al-Islamiyya zahlreiche Attentate verüben.

Hassan al-Hudaybis Korrekturkurs

Qutbs Gedankengut wich in vielerlei Hinsicht vom traditionellen Denken und Islamverständnis der Muslimbruderschaft ab. Noch in den 1960er Jahren verfasste al-Hudaybi unter dem Titel »Prediger, nicht Richter« eine Gegenschrift zu Qutbs »Wegmarken«, in der er die traditionelle Sicht der Muslimbruderschaft noch einmal konstatierte.

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