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Geleitwort von Kent Nagano

»Der Quellgrund der Musik«

Singen gehört zum Selbstverständlichsten, was die Menschen kennen und ihnen – mehr oder weniger – eigen ist. Diejenigen, die singen, tun das gerne, oftmals mit besonderem Engagement, mit Leidenschaft und innerer Anteilnahme. Sie üben sich im Singen, pflegen es und versuchen nicht selten, sich in dieser Disziplin zu entwickeln. Im Singen findet die menschliche Stimme gleichsam ihre Überhöhung, manche mögen sogar sagen: ihre eigentliche Bestimmung.

Im Singen aber liegt auch der Quellgrund der Musik, also jenes Phänomens, in dem sich die gestaltende sowie kreative Kraft und Fähigkeit des Menschen im Bereich des klanglichen Ausdrucks offenbaren und zum Ausdrucke bringen. Richard Wagners Votum, die menschliche Stimme sei »die Grundlage der Musik«, ist ein Bekenntnis und besagt nichts weniger, als dass die menschliche Stimme als sich im Gesang offenbarende und erfüllende Stimme geradezu die Bedingungen abgibt für die Möglichkeiten musikalischen Schöpfertums.

Das wird heute so manchen Einspruch und Widerspruch auslösen. Doch wird man dem wiederum entgegenhalten können, dass Singen und Gesang, besonders in ihrer künstlerischen Ausprägung, ungebrochen ihre Faszination, ihre Bannkraft und ihren Zauber auf die Menschen ausüben. Insbesondere dort wird das spürbar, wo der Gesang eine plötzlich als Besonderheit empfundene Aussage enthält, die man mit Worten so ohne Weiteres nicht erfassen kann und wo jeder Versuch einer verbalen Bestimmung unzulänglich und hilflos wirkt; aber doch an der Art der Aufmerksamkeit, der Spannung unter den Zuhörenden, der fühlbaren Ergriffenheit und Benommenheit zum Erlebnis wird, dass da ein »Ereignis« stattfindet. Es ist kein Zufall, dass man gerade Sängern immer wieder zuspricht, sie seien »Mittler zwischen dem Göttlichen, dem Ewigen und dem Menschen«. Orpheus, Farinelli, Caruso, Maria Callas, Edith Piaf, Elvis Presley, Michael Jackson … – in ihnen sahen viele Menschen solche »Mittler«.

Vierhundert Jahre alt ist inzwischen die Geschichte der Oper; jener Gattung also, die tatsächlich den Gesang als Kunst im Sinne menschlichen Ausdrucks zum Wesenskern ihrer Bestimmung gemacht hat und die gerade aus dem Potenzial menschlicher Vokalität ihre ganze Großartigkeit entfaltet hat. Ein einzigartiges Phänomen ist die Oper, und einzigartig ist ihre Geschichte.

Was ist dieses Phänomen? Ein Artefakt, in dem sich viele verschiedene künstlerische Ausdrucksweisen verbinden und auch einander bedingen; untrüglich und immer erkennbar ist es der »singende Darsteller«, der im Mittelpunkt des Geschehens steht, der das Zentrum darstellt. Und letztendlich ist es der gelingende und glückhaft berührende und bewegende Gesang in der Komposition und in der klanglichen Realisierung, der den Ausschlag gibt für Reaktion und Resonanz beim Publikum.

In der jüngeren Entwicklung der Oper und Opernpraxis spricht man gerne von »Musiktheater«. Dieser Begriff verweist durchaus auf beachtliche Veränderungen, so vor allem auf die Tatsache, dass heute im Operngeschehen der Inszenierung und der Regie, also damit der Funktion des Regisseurs im Rahmen der Produktion eine dominierende Rolle unter den Akteuren zukommt. Nicht selten gewinnt man den Eindruck, dass sich die Relationen verschoben haben und die Akzente anders gesetzt werden sollen, mit der Folge, dass der »musikalische Anteil« einer Opernproduktion zurückgesetzt bzw. in seiner Bedeutung reduziert erscheint. Keine Frage: Die Oper hat viele Wandlungen und Änderungen erlebt, sowohl im Bereich ihrer schöpferischen Entwicklung als auch im Bereich der Rezeption eines Repertoires von Werken, die in zurückliegenden Zeiten, in vergangenen Epochen entstanden sind und deren Aktualität immer wieder durch Interpretationen aus der Sicht von heute unter Beweis gestellt werden muss. Die Oper hat viele Wandlungen erlebt und aushalten müssen, und sie wird dem auch weiterhin ausgesetzt sein, will sie überleben und lebendig bleiben.

Das ist gewissermaßen ihr Schicksal, aber es ist auch ihre Chance. Viele Opern haben unter Beweis gestellt, dass sie die sich ergebenden Herausforderungen »im Wandel der Zeiten« durchaus bestehen. Wenn hier von »Oper« gesprochen wird, dann meint das nicht irgendetwas Abstraktes. Oper ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von künstlerisch tätigen und engagierten Persönlichkeiten. Diese sind es, die mit den Bedingungen der Produktion von Oper zurechtkommen, die sich folglich auch den neuen und immer wieder neuen Anforderungen stellen und dazu Haltung einnehmen müssen. Solche Anforderungen betreffen natürlich, aber nicht ausschließlich den engeren Produktionsbereich, den man sich manchmal vielleicht als einen Schutzbereich vorstellen möchte, der das aber keineswegs ist. Technik, Kondition, Routine, Nervenstärke, Haushalten, auf den Punkt topfit sein können – in diesen Kategorien spielt sich das Verhalten von uns Künstlern ab und eben auch das der singenden Darsteller. Physische und psychische Stärke ist gefragt, Entscheidungsfähigkeit in kritischen Situationen.

Doch Oper ist mehr. Oper ist ein öffentliches Phänomen! Das bedeutet, sie ist in vielerlei Abhängigkeiten eingebunden, nicht zuletzt in ökonomische und gesellschaftspsychologische Strukturen und wirtschaftliche Verhältnisse. Das muss den Sänger nicht unbedingt persönlich beschäftigen. Doch ob der Sänger (oder die Sängerin) das wahrnehmen will oder nicht, er spürt diese Abhängigkeiten von Beginn seines Studiums an und dann in der Praxis des Opernbetriebs sowie in den Versuchen, den Weg in die Praxis zu finden. Doch er muss diesen seinen Weg finden, sich selbst als Sänger, als Musiker, als Künstler. Viele haben ihren Weg gefunden und auch ihre künstlerische Identität. Und viele werden ihren Weg auch in Zukunft finden, werden sich als mehr oder weniger große, bedeutende, starke Anwälte der Opernkunst auf dem Gebiet der »Gesangsdarstellung« profilieren. Und manche werden in den zukünftigen Gedächtnissen ihren Platz finden.

Das garantieren die faszinierende Größe und die exklusive Bedeutung der vielen Kunstwerke, die uns große Komponisten hinterlassen haben. Da dürfen wir noch auf einige Zeit hin zuversichtlich sein, vorausgesetzt, wir verlieren nicht in übermäßigem Umfang den »Glauben« an diese einzigartige Kunst, an die Schönheit des Gesangs und an das, was in seiner unendlichen Ausdruckstiefe uns als »Wahrheit« des Lebens sich offenbart. Wir wissen, die Zukunft der Oper ist gebunden an die ausstrahlende Macht und Verführungskraft des singenden Menschen, ist gebunden an Persönlichkeiten auf der Bühne, in denen Musik selbst sich zu verkörpern scheint, in denen Musik zum klingenden Ereignis wird, in dem den zuhörenden und teilnehmenden Menschen ein Geschenk gemacht wird, das durch nichts ersetzt, durch nichts aufgewogen werden kann. Gesang in künstlerischer Vollendung – wie auch immer diese sich zeigen mag – ist eine Gabe, die eine Erfahrung des Transzendierens möglich macht und die Menschen einen zutiefst menschlichen Traum von Leben und Liebe, von Freiheit und Einssein mit sich selbst träumen lässt.

San Francisco, im Juli 2014

Kapitel I:
Das Instrument im Körper

»Ah, die Natur schuf mich im Grimme! Sie gab mir nichts als eine schöne Stimme!«

Matthias Claudius, »Der Esel«

Muskeltraining

Dass der Sänger sein Instrument im Körper trägt, hat einen fundamentalen Einfluss auf den Aufbau und die Pflege der Stimme. »Wir können nicht jeden Tag sechs Stunden auf unserem Instrument spielen, wir sind keine Pianisten«, erklärt Christa Ludwig. Stundenlanges Üben, wie es zum Alltag eines jeden erfolgreichen Instrumentalisten gehört, ist für den Sänger also nur eingeschränkt möglich und kann sogar gefährlich werden: Muskuläre Ermüdung gehört zu den häufigsten Ursachen für Funktionsstörungen, die im Extremfall in einer ernsten Krise münden können. Im Kapitel über Stimmprobleme wird darüber noch zu reden sein. Auch hier ist vom Sänger also das Gespür für die richtige Balance zwischen Belastung und Überlastung gefragt.

Anja Silja kennt sich aus mit Belastungen, bereits mit 22 Jahren sang sie ihre erste Isolde, eine der anspruchsvollsten Rollen im dramatischen Sopranfach. Dennoch hat sie sich ihre Stimme bewahrt und steht noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, in Charakterrollen auf der Bühne. Ihr Erfolgsrezept: »Ich kenne Kollegen, die sich vor einer Aufführung eine Stunde lang einsingen. Ich sage immer: Das ist ja Wahnsinn, wie kannst du dann noch den ganzen Tag durchhalten? Ich singe immer nur eine Tonleiter rauf und runter. Dann merke ich sofort, ob die Stimme anspricht – das war’s. Wenn man so viele Auftritte hat, so viele Rollen einstudiert und so viele Proben hat: Das ist genug Training, da muss man nicht auch noch ständig zu Hause üben. Ein bisschen Gymnastik und Stretching ist sicher gut für die Stimme, aber ich gehöre nicht zu den Sängern, die sich ununterbrochen mit Einsingen und mit Training beschäftigen. Das Training bestand bei mir eher aus sportlicher Betätigung, aus Spazierengehen oder Fitness, um die Muskeln ein bisschen zu trainieren. Die Stimme ist ja nicht der einzige Muskel, den man zum Singen braucht, auch die Atemmuskulatur spielt eine wichtige Rolle.«

Bestätigt wird Anja Silja von ihrem Kollegen Johannes Martin Kränzle. Auch der Bariton warnt vor einem exzessiven Stimmtraining: »Schonung ist wichtig. Zwei Tage nicht singen und viel schlafen ist oft besser, als zu viel zu üben. Es gibt aber auch Kollegen, die sich eher durch das tägliche Singen, durch die Regelmäßigkeit definieren. Mein Rezept ist das aber nicht. Vor allem die Feinheiten kommen zurück, wenn die Stimme wirklich ausgeruht ist. Aktiv eine Stunde täglich zu üben ist schon viel. Sonst wird die Stimme müde. Ich kann viel mental üben, indem ich nur die Noten lese und mir vorstelle, wie ich Phrasen singe.«

Außer durch die Ermüdungsgefahr wird das Gesangstraining dadurch erschwert, dass Sänger ihr Instrument jeden Tag neu »suchen« müssen: Eben weil die Stimme abhängig ist von körperlichen und mentalen Einflüssen, gehört es für viele Sänger zur morgendlichen Routine, ihre Tagesform zu erkunden. Bei Johannes Martin Kränzle sieht das folgendermaßen aus: »Um morgens zu testen, ob meine Stimme funktioniert, mache ich ein paar komische Geräusche, auch mit Kopfstimme. Das ist eine Kontrolle der Randschwingungen und der Obertöne – wenn das funktioniert, dann bin ich beruhigt. Umgekehrt gibt es Tage, an denen man ein bisschen angeschlagen ist, da ist das Einsingen dann sehr wichtig. Man darf sich aber nicht müde machen. Bei mir ist es eher ein Zeichen von Nervosität, wenn ich viel singen muss vor einem Auftritt. Oft habe ich dann die schönsten Töne in der Garderobe gelassen.«

Die Stimme gesund und leistungsfähig zu halten ist vor allem eine Frage der Balance zwischen Anspannung und Entspannung. Dauererregungszustände führen schnell zu den gefährlichen muskulären Ermüdungserscheinungen. Aber auch hier gilt: Jede Stimme ist anders, den richtigen Weg kann jeder Sänger nur individuell für sich finden. Philippe Jaroussky hat daher vor einiger Zeit eine ungewöhnliche Entscheidung getroffen: Für ein achtmonatiges Sabbatical hat er der Bühne den Rücken gekehrt und die Welt bereist, war in Südamerika, Asien, Australien und Neuseeland. Im Gespräch erläutert er die Hintergründe für seine Auszeit: »Es war eine Möglichkeit, etwas Distanz zu allem zu bekommen. Als Sänger hört man immer wieder von Kollegen, die zu einer Pause gezwungen werden, weil sie zu viel gesungen oder Stimmprobleme bekommen haben. Zu diesem Zeitpunkt habe ich wahnsinnig viel gemacht, ich habe über die letzten fünf Jahre beinahe ständig gesungen. Da habe ich beschlossen, eine Auszeit zu nehmen, bevor ich Probleme bekomme. Deshalb habe ich im Vorfeld auch so viel über mein Sabbatical gesprochen, denn ich wollte nicht, dass die Leute denken, dass ich krank bin oder Probleme mit der Stimme habe oder gar operiert werden muss.«

Es klingt paradox, doch selbst in dieser selbstverordneten Pause vom Gesang hat sich die Stimme von Philippe Jaroussky weiterentwickelt. Für den Countertenor hat die Pause die stimmliche Entwicklung sogar überhaupt erst möglich gemacht: »Ich wollte mit meiner Lehrerin, bei der ich immer noch Stunden nehme, seit längerem einige Dinge umstellen, aber ich hatte nie Zeit dafür. Außerdem sind die Nerven und Muskeln daran gewöhnt, auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu funktionieren. Manchmal möchte man etwas anders singen, aber der Körper macht nicht mit, weil er etwas Bestimmtes gewohnt ist. Eine Pause zu machen kann dann sehr hilfreich sein. Das waren die physischen Gründe für meine Auszeit, und ich bin sehr glücklich mit dem Ergebnis, denn die Mittellage meiner Stimme hat an Obertönen gewonnen und ist etwas reicher im Klang geworden. Außerdem hatte ich in den zwei, drei Jahren vor der Pause das Gefühl, dass ich ständig in Eile war. Auch deswegen wollte ich das Tempo ein bisschen herausnehmen, um in Ruhe darüber nachzudenken, was ich in Zukunft machen möchte.«

In dieser Aussage liegt jedoch noch eine andere Erkenntnis verborgen: Nicht nur die angestrebte technische Perfektion auf dem Instrument ist ein kontinuierlicher Prozess, auch für jeden Pianisten oder Geiger ist das ein lebenslanger Kampf. Beim Sänger unterliegt das Instrument selbst aber einem fortwährenden Wandel, bedingt durch die ständigen Veränderungen des eigenen Körpers. Die einschneidendste und offensichtlichste Entwicklung erfährt das Stimmorgan in der Mutation, dem Stimmbruch. Aber auch die hormonellen Veränderungen während einer Schwangerschaft oder in der Menopause sowie altersbedingte Verschleißerscheinungen wie die abnehmende Elastizität und Kraft der Muskulatur können gravierenden Einfluss auf das fein austarierte System des Stimmapparates haben.

Eine solche Zäsur hat unlängst die Sopranistin Edita Gruberová erfahren, die mit 67 Jahren immer noch erfolgreich auf der Bühne steht. Mit Hilfe einer neuen Lehrerin, der Münchner Gesangspädagogin Gudrun Ayasse, hat sie kürzlich ihre Gesangstechnik an die fortschreitende Entwicklung ihres Körpers angepasst: »Das betraf vor allem die Arbeit des Zwerchfells. Natürlich hebt sich das Zwerchfell automatisch beim Singen, es heißt ja auch Stütze. Aber die Art, diesen Vorgang bewusst zu beherrschen, war neu für mich. Das hilft mir ungemein in der Höhe, vor allem bei den hohen Piano-Tönen. Wenn ein lang gehaltener Piano-Ton nicht ausreichend vom Zwerchfell gestützt wird, bewältigen Sie ihn nicht. Damit hatte ich einigermaßen Probleme, ohne dass ich genau wusste, warum. Man braucht eben eine angemessene Technik, vor allem in problematischen Zeiten oder wenn mit zunehmendem Alter die natürlichen Prozesse nicht mehr ganz reibungslos funktionieren.«

Mit technischen Parametern allein lässt sich das Gesangsphänomen Edita Gruberová allerdings nicht erklären. Als Sängerin in diesem Alter überhaupt noch über derartige stimmliche Mittel zu verfügen ist ohnehin außergewöhnlich, bei einem hohen Koloratursopran ist es sogar fast eine Sensation. Natürlich sind auch an diesem kostbaren Instrument die Jahre nicht spurlos vorübergegangen, ist die tiefe Lage etwas blasser geworden, hat ihr Sopran ein bisschen Patina angesetzt, dennoch sind der Zustand ihrer Stimme und die versierte Technik beeindruckend.

Auch Matti Salminen blickt auf eine lange, fast 50-jährige Karriere zurück, in der er sich die Stimme gesund und leistungsfähig erhalten hat. Er weiß, was außer Disziplin und ständiger Arbeit dafür nötig ist: »Zunächst einmal braucht man eine gute Veranlagung. Aber man muss auch versuchen, ein normales Leben zu führen, das Singen also nicht zu überhöhen. Es ist ein Beruf wie jeder andere. Natürlich braucht man ein gewisses Talent und Leute, die das erkennen und fördern. Das ist aber immer ein ganz individueller Prozess, kein Sänger gleicht dem anderen, und keine Stimme ist wie die andere.«

Vielleicht ist das die größte Herausforderung im Leben eines Künstlers: der Versuch, ein normales Leben zu führen. Oder ist die Biografie eines Sängers im Grunde die Biografie seiner Stimme? Denn wie der Mensch hinter dem Sänger durchläuft auch die Stimme verschiedene Entwicklungsphasen, von denen jede ihre speziellen Bedürfnisse mit sich bringt und den Sänger vor immer neue Herausforderungen stellt. Ein zentraler Aspekt in diesem Reifungs- und Alterungsprozess ist die Frage nach der Wahl der richtigen Rolle. Ihr ist das nächste Kapitel gewidmet.

Spiegel der Seele

Gesang ist, rein technisch betrachtet, ein physiologischer Prozess: Durch einen Nervenimpuls werden Muskeln angeregt, die den Prozess der Tonproduktion in Gang setzen. Doch die Stimme ist ein kompliziertes Phänomen und mit technischen Parametern allein nicht zu begreifen. Schon der Volksmund weiß, dass die Stimme der Spiegel der Seele ist. Darauf deutet schon die etymologische Verwandtschaft von Stimme und Stimmung hin. Jeder, der einmal versucht hat, mit einem »Kloß im Hals« zu sprechen oder zu singen, hat diese Erfahrung gemacht. In den subtilen Vorgängen im Stimmapparat werden Emotionen für andere hörbar. Für den Kunstgesang hat es der italienische Gesangspädagoge Giovanni Battista Lamperti (1939–1910) in seinem Lehrbuch Vokale Weisheit folgendermaßen formuliert: »Die Gesangsstimme ist ein Schloss, das in der Luft gebaut wird. Die Imagination ist dessen Architektur. Die Nerven führen die Absichten aus. Die Muskeln sind die Arbeiter. Die Seele bewohnt es.«2

Wenn es ans Seelenleben geht, wird es fast immer kompliziert, das gilt auch für das Verhältnis von Sängern zum eigenen Instrument. Es gibt keine Trennung zwischen Mensch und Stimme, denn Singen ist ein ganzheitliches Phänomen, das erst im Zusammenspiel von biologischen Voraussetzungen und physischer sowie psychischer Konstitution funktionieren kann. Der Sänger ist daher von allen Musikern nicht nur am stärksten von seinem körperlichen Zustand abhängig, sondern auch von seinen Emotionen. Für die Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager ist Singen deshalb mehr als nur Kunst: »Wenn man singt, ist das eine Therapie. So etwas kann an niemandem spurlos vorübergehen, der erfolgreich auf der Bühne steht. In irgendeiner Weise muss man sich früher oder später mit sich auseinandersetzen.«

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»Es liegt immer ein Stück der eigenen Wahrheit in der Stimme«: Philippe Jaroussky bei einem Konzert in Moskau (© picture alliance/dpa – Mandatory credit)

Eine ähnliche Erfahrung hat der Countertenor Philippe Jaroussky gemacht, der in diesem Selbstfindungsprozess auch etwas über das innerste Wesen der Gesangskunst erfahren hat: »Durch das Singen habe ich meinen Körper kennengelernt und auch gelernt, mich durch meinen Körper auszudrücken. Am Anfang war das eine eigenartige Erfahrung, weil ich mich komplett nackt gefühlt habe. Es liegt immer ein Stück der eigenen Wahrheit in der Stimme, es ist schwierig, im Singen zu lügen. Hinter einem Instrument kann man sich besser verstecken, mit der Stimme ist das ein bisschen anders. Ich selbst habe für mich auch die Erfahrung gemacht, dass ich beim Singen viel weniger mit der Musik kämpfe als mit einem Instrument: Es ist direkter.«

Von dieser Unmittelbarkeit im Gesang hat bereits Daniel Behle gesprochen. Davon, dass der Gesang aus der Kehle des Sängers einen direkten Weg zum Zuhörer finde, ganz ohne die Vermittlung eines Instrumentes aus Blech oder Holz oder gar die elektronische Verstärkung durch technische Hilfsmittel. Auch an den Zuhörern geht dieses Phänomen nicht spurlos vorbei, wie schon Joseph Roth in seinem Essayband Panoptikum erzählt: »Die Stimme ›geht uns näher‹. Sie scheint unmittelbarer zu sein als das Angesicht, die Hand, die ruht. Ja, die Stimme ist eine direkte körperliche Berührung3 Das kann sie sein, weil Gesang mehr ist als nur Klang, er ist tönender Ausdruck eines Charakters oder einer Persönlichkeit. Erst dadurch gewinnt Singen – in seinen eindrücklichen Momenten – eine fast gestische Plastizität. Wenn beispielsweise Maria Callas in Toscas Gebet die Tränen der Protagonistin nicht durch Schluchzen ausdrückt, sondern durch einen Ton, der die Tränen vor dem inneren Ohr des Zuhörers gleichsam sichtbar macht. Deshalb gehen uns Stimmen oft näher als der Klang von Instrumenten, denn so artifiziell die Gesangskunst auch sein mag, bleibt sie doch immer eins: zutiefst menschlich.

Die enge Verbindung, ja: Abhängigkeit der Stimme von Körper und Geist birgt allerdings auch Risiken. Denn eine optimale Leistung kann nur dann erfolgen, wenn beide in einem guten Zustand sind. Eine Erfahrung, die jeder Sänger früher oder später machen muss, Angelika Kirchschlager ist hier keine Ausnahme: »Schon während der Ausbildung habe ich gemerkt, dass sich persönliche Krisen sofort auf die Stimme auswirken. Bei mir findet gerade wieder ein Wandel statt, und ich habe das Gefühl, dass das Einzige, was bei mir noch funktioniert, meine Stimme ist. Die wird immer runder, je mehr das Leben Entscheidungen fordert.«

Aus dieser Erkenntnis erwächst eine enorme Verantwortung für den Sänger: Um die bestmögliche Leistung abrufen zu können, muss er nicht nur seine Stimme trainieren und pflegen, sondern auch auf einen guten körperlichen Gesamtzustand und eine ausgeglichene Psyche achten – auch wenn das nicht immer mit der persönlichen Situation und den eigenen Wünschen im Einklang steht. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Sänger ihr ganzes Berufsleben, und man braucht große Erfahrung, um zu einem ausgewogenen Verhältnis zu finden.

Die englische Mezzosopranistin Janet Baker hat ihr ganzes Leben in den Dienst der Musik gestellt, doch dies hinzunehmen, bezeichnet sie als die schwierigste Lektion in ihrer außergewöhnlichen Karriere: »Man muss lernen zu akzeptieren, dass man, egal wie man sich fühlt, immer versuchen muss, das Beste aus sich herauszuholen. Das ist speziell für Sänger schwierig, die so abhängig sind von ihrem körperlichen Zustand, von Müdigkeit oder einer Erkältung. Es interessiert die Leute im Publikum nicht, ob man erkältet ist. Sie wollen, dass man auf die Bühne kommt und das Konzert gibt, für das sie bezahlt haben. An einem Opernhaus ist es etwas anderes, weil es in der Regel einen Einspringer gibt. Wenn allerdings die Carnegie Hall voller Menschen sitzt, die dafür bezahlt haben, dich zu hören, kommt eine Absage einfach nicht infrage. Die Entscheidung, ein Konzert zu geben und dabei vielleicht seine Stimme zu riskieren, kann extrem schwierig sein. Ebenfalls nur schwer zu akzeptieren ist die Tatsache, dass man niemals weiß, ob man wirklich sein Bestes gegeben hat. Man weiß, dass man sich gut vorbereitet hat und dass die Umstände alle gut sind, aber dann kann man nur hoffen, dass die Magie, egal woher sie kommen mag, passiert. Aber man kann sich niemals sicher sein, ob es gelingt und dass man wirklich sein Allerbestes gegeben hat. Es ist klug, das im Hinterkopf zu behalten. Ich habe in all den Jahren gelernt, niemals Perfektion zu erwarten. Keiner von uns ist perfekt, auch wenn wir es sein wollen. Es muss immer diesen Freiraum geben, der uns erlaubt, Mensch zu sein.«

Mit dieser Unsicherheit muss der Sänger umgehen lernen, ebenso wie mit der seelischen Gratwanderung: Die Entscheidung, wie viel man von sich selbst im Gesang preisgeben kann, um ihn mit Emotionalität zu füllen, gleichzeitig aber die eigene Stimme nicht zu gefährden, müssen viele Sänger immer wieder neu austarieren. Letztendlich ist auch dies eine Typfrage: Die eher introvertierte Anja Harteros bewahrt sich auf der Bühne beispielsweise ein letztes Mysterium. Bei aller Interpretationskunst, mit der sie die Figuren der Opern zum Leben erweckt, bleibt ein kleiner Rest von Distanz, der ihren Auftritten etwas Geheimnisvolles und manchmal sogar etwas Kühles verleiht. In die Tiefe der Seele lässt die Sopranistin sich nicht blicken.

Das genaue Gegenbeispiel tritt uns in Gestalt von Rolando Villazón entgegen. Bei den Auftritten des mexikanischen Tenors hatte man stets das Gefühl der völligen Hingabe – seine Fans liebten und lieben ihn dafür. Doch der permanente Seelenstriptease birgt große Gefahren, weil Überemphase zum stimmlichen Kontrollverlust verleitet – manchmal zu einem hohen Preis. Rolando Villazón hat ihn bezahlt mit einer ernsthaften Stimmkrise. Seine Verunsicherung war danach groß, man hat es gemerkt bei den Auftritten des extrovertierten Tenors. Er versuchte, sich etwas zurückzunehmen, doch das Singen mit angezogener Handbremse fiel ihm sichtlich schwer, er war gewöhnt an den emotionalen Tanz auf dem Seil. Mittlerweile hat er zu einer besseren Balance gefunden, sowohl was die Wahl des Repertoires als auch den Einsatz der stimmlichen Mittel angeht. Die Narben auf der Sängerseele bleiben jedoch.