cover

John Irving

Laßt die Bären los!

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Michael Walter

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1968 bei Random House, New York,

erschienenen Originalausgabe:

›Setting Free the Bears‹

Copyright © 1968 by John Irving

Die deutsche Erstausgabe erschien 1985

im Diogenes Verlag

Covermotiv: Illustration von

Edward Gorey

Mit freundlicher Genehmigung des

Edward Gorey Charitable Trust, New York

 

 

Dieses Buch ist für

Violette und Co

zum Andenken an

George

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21323 2

ISBN E-Book 978 3 257 60126 8

[9] I
SIGGI

[11] Geregelte Kost in Wien

Ich konnte ihn jeden Mittag treffen, er saß auf einer Bank im Rathauspark mit einer kleinen, dicken Tüte Gewächshausradieschen im Schoß und einer Bierflasche in der Hand. Er brachte immer seinen eigenen Salzstreuer mit; er muß eine ganze Menge davon gehabt haben, denn ich kann mich an keinen speziellen erinnern.

Es waren allerdings auch nie besonders originelle Salzstreuer, und einmal warf er sogar einen weg; er wickelte ihn einfach in die leere Radieschentüte und schmiß ihn in einen der Abfallkörbe des Parks.

Jeden Mittag und immer dieselbe Bank –, die splitterfreieste, in der Ecke des Parks, die der Universität am nächsten lag. Manchmal hatte er ein Notizbuch dabei, immer jedoch die Entenjägerjacke aus Kord mit den seitlichen Schubtaschen und der großen Schlitztasche hinten. Die Radieschen, die Bierflasche, ein Salzstreuer und gelegentlich ein Notizbuch –, alles aus der langen, ausgebeulten Schlitztasche. Beim Gehen hatte er die Hände frei. Der Tabak und die Pfeifen kamen in die seitlichen Schubtaschen der Jacke; er besaß mindestens drei verschiedene Pfeifen.

Ich hielt ihn für einen Mitstudenten, obwohl ich ihn noch in keinem der Universitätsgebäude gesehen hatte. Nur im Rathauspark, an jedem Mittag des neuen Frühlings. Während er aß, saß ich oft auf der Bank gegenüber. Ich las dann meine Zeitung, und es war ein prima Platz, um die Mädchen zu beobachten, die den Weg entlangkamen; man konnte ihnen auf die blassen Winterknie gucken – den hartknochigen, beblusten Mädchen in den [12] durchscheinenden Seidenstrümpfen. Doch er beachtete sie nicht; er hockte bloß wachsam wie ein Eichhörnchen über der Radieschentüte. Durch die Banklatten warf ihm die Sonne Zebrastreifen in den Schoß.

Es dauerte über eine Woche, bevor mir eine weitere seiner Gewohnheiten auffiel. Er kritzelte auf der Radieschentüte herum und stopfte sich dauernd kleine Tütenschnipsel in die Taschen, häufiger jedoch schrieb er in das Notizbuch.

Eines Tages tat er folgendes: Ich sah, wie er eine kleine Notiz auf einem Tütenschnipsel einsteckte, von der Bank wegging und ein kurzes Stück den Weg hinunter beschloß, nochmal einen Blick daraufzuwerfen. Er kramte den Fetzen hervor und las. Dann warf er ihn weg, und ich las dies:

Das fanatische Beibehalten

guter Gewohnheiten ist notwendig.

Später, bei der Lektüre seines berühmten Notizbuchs – seiner Dichtung, wie er es nannte – merkte ich, daß diese Notiz nicht restlos verworfen worden war. Er hatte sie einfach ein bißchen aufpoliert:

Gute Gewohnheiten

lohnen den Fanatismus.

Doch damals im Rathauspark, mit dem kleinen Fetzen von der Radieschentüte in der Hand, konnte ich nicht ahnen, daß er ein Dichter und Aphoristiker war; ich dachte nur, es müßte interessant sein, diesen Burschen kennenzulernen.

[13] Harte Zeiten

In der Josefsgasse hinter dem Parlament gibt es einen Laden, der für seinen verdächtig-raschen Umschlag von Gebrauchtmotorrädern bekannt ist. Die Entdeckung dieses Ladens habe ich Dr. Ficht zu verdanken. Bei ihm war ich gerade durchs Examen gerasselt, und das machte mir Laune, meine mittägliche Routine im Rathauspark abzuwandeln.

Ich marschierte durch eine Reihe kleiner Torbögen voller Modergerüche, vorbei an Kellergeschäften mit schimmligen Klamotten und kam in ein Viertel mit Reparaturwerkstätten, Reifengeschäften und Autoersatzteillagern, wo verschmierte Männer in Overalls herumpolterten und Zeug auf den Bürgersteig hinausrollten. Ich stand plötzlich davor, ein schmutziges Schaufenster mit dem Pappschild FABER in einem Winkel der Glasscheibe; das war alles an Reklame, abgesehen von dem Krach, der aus einem offenen Türeingang schäumte. Schwaden, dunkel wie Gewitterwolken, eine losknatternde Serie prasselnder Hallschüsse, und durch das Schaufenster konnte ich die beiden Mechaniker erkennen, die zwei Motorräder auf Touren brachten; auf der Stellage beim Fenster standen noch mehr Motorräder, doch die glänzten stumm vor sich hin. Auf dem Zementboden beim Eingang verschwammen in Auspuffgasen diverse Werkzeuge und Tankverschlüsse – Speichen und Felgen, Schutzbleche und Kabel – und die beiden konzentriert über ihre Maschinen gebeugten Mechaniker; sie drehten an den Gashebeln und wirkten dabei so ernst und hellhörig wie Musiker beim Stimmen für ein Konzert. Ich inhalierte vom Türeingang her.

Von drinnen musterte mich ein grauer Mann mit breiten, öligen Revers; das Matteste an seinem Anzug waren die Knöpfe. Neben ihm beim Eingang lehnte ein großes [14] Kettenrad – ein herabgefallener, gezähnter Mond, der so dicht voll Schmiere klebte, daß er Licht schluckte und mich anglühte.

»Herr Faber in eigener Person«, sagte der Mann und piekste sich den Daumen in die Brust. Und er bugsierte mich aus dem Eingang und wieder ein Stück die Straße hinunter. Als wir dem Lärm entronnen waren, studierte er mich mit einem winzigen, goldgekrönten Lächeln.

»Ah!« sagte er. »An der Universität?«

»So Gott will«, sagte ich, »aber kaum wahrscheinlich.«

»Harte Zeiten, hm?« sagte Herr Faber. »Welche Art Motorrad schwebt Ihnen denn vor?«

»Mir schwebt gar nichts vor«, erklärte ich ihm.

»Oh«, machte Faber, »Entscheidungen sind nie leicht.«

»Geradezu niederschmetternd«, sagte ich.

»Wem sagen Sie das?« meinte er. »Manche Maschinen sind wie Tiere unter einem, wirklich – echte Bestien! Und genau das schwebt einigen Leuten vor. Genau darauf sind sie aus!«

»Mir wird schon schwindlig, wenn ich bloß daran denke«, sagte ich.

»Ganz recht, ganz recht«, sagte Herr Faber. »Ich verstehe absolut, was Sie meinen. Sie sollten sich mit Herrn Javotnik unterhalten. Er ist Student – so wie Sie! Und er wird gleich von der Mittagspause zurückkommen. Herr Javotnik ist ein wahres Wunder an Entscheidungshilfe. Ein Virtuose der Entschlußfindung!«

»Erstaunlich«, sagte ich.

»Und mir Wonne und Trost«, sagte er. »Sie werden sehen.« Herr Faber legte den schlüpfrigen Kopf schief und lauschte verliebt dem brrt, brrt, brrt der Motorräder drinnen.

[15] Die Bestie unter mir

Ich erkannte Herrn Javotnik an seiner Entenjägerjacke aus Kord mit den aus den seitlichen Schubtaschen ragenden Pfeifen. Er wirkte wie ein junger Mann, der von einem Mittagessen kam, das ihm einen salzigen und brennenden Mund beschert hatte.

»Ah!« sagte Herr Faber und glitt zwei kleine Schritte zur Seite, so als würde er uns etwas vortanzen. »Herr Javotnik«, sagte er, »dieser junge Mann muß eine Entscheidung treffen.«

»Ach so«, sagte Javotnik, »– deswegen warst du wohl nicht im Park?«

»Wie! Was?« quiekte Herr Faber. »Sie kennen sich?«

»Sehr gut«, meinte Javotnik. »Sehr gut, kann man wohl sagen. Ich bin sicher, Herr Faber, dies wird eine ganz persönliche Entscheidung. Würden Sie uns bitte allein lassen.«

»Aber ja doch«, sagte Faber. »Schon gut, schon gut« – und er wand sich davon und kehrte zu den Abgasen in seinem Türeingang zurück.

»Klarer Fall von Tölpel«, sagte Javotnik. »Du hast doch nicht vor, etwas zu kaufen, oder?«

»Nein«, sagte ich. »Ich kam bloß zufällig vorbei.«

»War komisch, dich nicht im Park zu sehen.«

»Ich mache eben harte Zeiten durch«, erzählte ich ihm.

»Bei wem bist du durchgerasselt?«

»Bei Ficht.«

»Tja, Ficht. Über den kann ich dir was flüstern. Der hat Mundfäule, benutzt zwischen seinen Vorlesungen immer eine kleine Bürste – schrubbt sich mit irgendso’ner Sülze aus einem braunen Fläschchen das Zahnfleisch. Wo der hinhaucht, macht das Unkraut schlapp. Der hat selber harte Zeiten.«

»Schön zu wissen«, sagte ich.

[16] »Aber Motorräder sind wohl nicht dein Fall?« sagte er. »Mein Fall wäre es durchaus, mich einfach auf eins draufzuschwingen und aus dieser Stadt abzuhauen. Wien ist wirklich kein Ort für den Frühling. Aber mehr als ein halbes von denen da drinnen kann ich mir nicht leisten.«

»Ich auch nicht«, sagte ich.

»Im Ernst?« meinte er. »Wie heißt du?«

»Graff«, sagte ich. »Hannes Graff.«

»Also, Graff, falls du dich mit dem Gedanken an eine Spritztour trägst, da drin steht ein besonders feines Motorrad.«

»Naja«, sagte ich, »ich kann mir eben nur ein halbes leisten, und du bist scheint’s an einen Job gebunden.«

»Ich bin nie irgendwo angebunden«, sagte Javotnik.

»Vielleicht ist es dir aber schon zur Gewohnheit geworden«, erklärte ich ihm. »Und Gewohnheiten soll man bekanntlich nicht verachten.« Und er kippelte auf den Hacken, zog eine Pfeife aus der Jacke und klapperte damit an seinen Zähnen herum.

»Eine gute Eskapade laß ich mir allemal gefallen«, sagte er. »Ich heiße Siggi. Siegfried Javotnik.«

Und obwohl er sich damals nicht notierte, übertrug er diesen Einfall später doch in sein Notizbuch, unter der revidierten Zeile über Gewohnheiten und Fanatismus – und auch diese neue Maxime war umformuliert:

Vom echten Trieb lasse man selig sich leiten!

Doch an jenem Nachmittag auf dem Bürgersteig hatte er vielleicht weder sein Notizbuch noch einen Schnipsel der Radieschentüte dabei, und er muß wohl Herrn Fabers Drängen gespürt haben, der uns so bang belauerte und dessen Kopf wie eine Schlangenzunge aus der versmogten Werkstatt hervorschnellte.

[17] »Komm mit, Graff«, sagte Siggi. »Ich setze dich auf eine Bestie.«

Wir gingen über den glitschigen Werkstattboden zu einer Tür in der Rückwand, einer Tür mit einer Wurfscheibe daran; Tür und Wurfscheibe, beides hing schief. Die Wurfscheibe war total zernagt und das Schwarze von den verwarzten Korkböllchen ringsherum nicht zu unterscheiden – so als hätte man Schraubenschlüssel statt Pfeile daraufgeschleudert, oder als wären wahnsinnige Mechaniker mit reißenden Mäulern darüber hergefallen.

Wir traten auf eine Gasse hinter der Werkstatt.

»Aber, aber, Herr Javotnik«, sagte Faber. »Meinen Sie wirklich?«

»Unbedingt«, sagte Siegfried Javotnik.

Es war mit einer glattschwarzen Plane zugedeckt und lehnte an der Werkstattmauer. Das hintere Schutzblech war so dick wie mein Finger, ein schwerer Klumpen Chrom mit grauem Rand dort, wo es etwas von der Farbe des tief in den Hinterreifen eingefurchten Stollenprofils annahm – Reifen und Schutzblech und die perfekte Lücke dazwischen. Siggi zog die Plane weg.

Es war ein altes, barbarisch aussehendes Motorrad ohne sanfte Konturen und ausgefüllte Zwischenräume; zwischen seinen Einzelbestandteilen gab es Spielräume, eine Lücke, wo ein Wirrkopf vielleicht versucht hätte, einen Werkzeugkasten unterzubringen, ebenfalls ein kleines, offenes Dreieck zwischen Motor und Benzintank – der Tank, eine blanke, schwarze Träne, saß wie ein viel zu klein geratener Kopf auf einem massigen Rumpf; es war in der Weise schön, wie eine Pistole manchmal schön ist ö weil sich ihre offensichtliche, häßliche Funktion in ihren auffälligsten Teilen zeigt. Es wog schwer und schien den Bauch einzuziehen wie ein magerer, zusammengekauerter Hund im hohen Gras.

[18] »Ein Virtuose, dieser Junge!« sagte Herr Faber. »Wonne und Trost.«

»Britische Maschine«, sagte Siggi. »Royal Enfield, aus der Zeit, als man die Dinger auch so aussehen ließ, wie sie funktionierten. Siebenhundert Kubik. Neue Reifen und Ketten und überholte Kupplung. Wie neu.«

»Der Junge ist ganz verschossen in das alte Stück!« sagte Faber. »Er hat seine ganze Freizeit daran gearbeitet. Die Maschine ist wie neu

»Stimmt, sie ist neu«, flüsterte Siggi.«Ich hab mir Teile aus London kommen lassen – neue Kupplung und Kettenräder, neue Kolben und Ringe und er hat gedacht, die wären für seine anderen Maschinen. Der alte Gauner hat keine Ahnung, was sie wert ist.«

»Steigen Sie auf!« sagte Herr Faber. »Ach, steigen Sie ganz einfach auf und spüren Sie die Bestie unter sich!« »Halbehalbe«, flüsterte Siggi. »Du bezahlst jetzt alles, und ich geb’s dir von meinem Lohn wieder.«

»Starten Sie mal«, sagte ich.

»Äh, ja«, sagte Faber. »Herr Javotnik, ganz startklar ist die Maschine wohl jetzt noch nicht, oder? Vielleicht ist kein Benzin im Tank.«

»Ach was«, sagte Siggi. »Sie müßte eigentlich sofort anspringen.« Und er kam neben mich und pumpte mit dem Kickstarter; es rührte sich herzlich wenig – ein Furzen im Vergaser, ein Zündaussetzer. Dann richtete er sich neben mir auf und ließ sich mit vollem Gewicht auf den Kickstarter fallen. Der Motor sog und keuchte, und der Fußhebel schnellte wieder zurück; doch er trat ihn wieder durch, und dann rasch noch einmal, und diesmal sprang der Motor an – nicht mit dem brrt der Motorräder drinnen: mit einem tieferen, stetigeren tuck, tuck, tuck, so satt wie ein Traktor.

»Hören Sie das?« rief Herr Faber, der plötzlich selber hinhorchte – den Kopf etwas schiefgelegt und sich mit der [19] Hand über den Mund wischend als hätte er erwartet, ein klapperndes Ventil, eine gewisse Unebenheit im Leerlauf zu hören und keine hörte und auch nicht konnte – zumindest nicht so richtig. Und sein Kopf legte sich noch schiefer.

»Ein Virtuose«, sagte Faber, der allmählich so klang, als glaube er es.

Herrn Fabers Bestie

Herrn Fabers Büro befand sich im ersten Stock der Werkstatt, die so wirkte, als könnte sie keinen ersten Stock haben.

»Eine düstere Pißbude«, sagte Siggi, dessen Benehmen Herrn Faber nervös machte.

»Haben wir schon einen Preis dafür festgesetzt?« fragte Faber.

»Aber sicher haben wir das«, sagte Siggi. »Nämlich zweitausendeinhundert Schilling, Herr Faber.«

»Oh, ein äußerst guter Preis«, sagte Faber mit flauer Stimme.

Ich zahlte.

»Da wäre noch etwas, Herr Faber, um das ich Sie bitten möchte«, sagte Siggi.

»Wie?« ächzte Faber.

»Könnten Sie mir wohl meinen Lohn bis heute ausbezahlen?« sagte Siggi.

»Also, Herr Javotnik!« sagte Faber.

»Also, Herr Faber«, sagte Siggi. »Wäre Ihnen das möglich?«

»Sie luchsen einem alten Mann gnadenlos das Geld aus der Tasche«, sagte Faber.

[20] »Aber, aber, ich habe ein paar hervorragende Geschäfte für Sie getätigt«, sagte Siggi.

»Sie sind ein mieser, kleiner, hinterfotziger Bastard«, sagte Herr Faber.

»Siehst du, Graff?« sagte Siggi. »Ach, Herr Faber«, sagte er, »ich glaube, in ihrem sanften Herzen haust eine echte Bestie.«

»Frotter!« brüllte Herr Faber. »Nichts als verbrecherische Frotter weit und breit!«

»Wenn Sie mir jetzt meinen Lohn geben könnten«, sagte Siggi. »Wenn Ihnen das irgendwie möglich wäre, dann würde ich mit Graff hier verschwinden. Wir müssen uns nämlich noch an die Feinabstimmung machen.«

»Ah!« schrie Faber. »Dieses Motorrad muß nicht frisiert werden!«

Feinabstimmung

Und so saßen wir abends im Volksgarten-Café und blickten über den Steingarten auf die Bäume und blickten hinab in die roten und grünen Teiche, in denen sich die über der Terrasse ausgespannten grünen und roten Lichter spiegelten. Alle Mädchen waren unterwegs; durch die Bäume drangen ihre Stimmen plötzlich und erregend zu uns; wie den Vögeln, so eilen auch den Mädchen in der Stadt immer die ihnen eigenen Geräusche voraus – das Klacken ihrer Absätze auf dem Bürgersteig und ihre übertrieben selbstsicheren Stimmen, mit denen sie sich einander anvertrauen.

»Eine richtige Galanacht, Graff«, sagte Siggi.

»Ja«, stimmte ich zu – die erste betäubende Frühlingsnacht, eine feuchte, halbvergessene Schwüle lag in der [21] Luft, und die Mädchen gingen wieder mit bloßen Armen.

»Das wird verdammt nochmal! ein Ausflug«, sagte Siggi. »Ich habe lange darüber nachgedacht, Graff, und ich hab den Bogen raus, wie man sowas richtig anstellt. Keine Planung, Graff – das ist das erste. Keine Landkarte, keine Ankunfts-, keine Abreisetermine. Du brauchst dir nur was zu denken! Denk dir zum Beispiel Berge, oder denk dir Strände. Denk dir reiche Witwen und Bauernmädchen! Dann zeig einfach dahin, wo du spürst, daß sie sein werden, und wähle die Straßen genauso – wähle sie nach den Kurven und Steigungen. Das ist das zweite – man muß Straßen wählen, die der Bestie gefallen werden.

Wie findest du das Motorrad, Graff?« fragte er.

»Toll«, sagte ich, obwohl er mich damit nur ein paar Blocks weit gefahren hatte, von Fabers Laden um den Schmerlingplatz und hinüber zum Volksgarten. Es fühlte sich herrlich unter einem an, laut, bebend – schnellte sich von den roten Ampeln ab wie eine große, wachsame Katze; die widerlichen Fußgänger schauten nicht mal bei Leerlauf weg.

»Du wirst es noch toller finden«, sagte Siggi. »Hoch im Gebirge. Wir fahren nach Italien! Wir reisen mit leichtem Gepäck – das ist das dritte, leichtes Reisegepäck.

Ich nehme meinen großen Rucksack, wir packen unser ganzes Zeug rein, und obendrauf werden die Schlafsäcke geschnallt. Mehr nicht. Nur noch ein paar Angelruten. Wir fischen uns durch die Berge bis nach Italien!«

»Frot Dr. Ficht!« rief er.

»Jawohl«, sagte ich.

»Mögen ihm sämtliche Zähne ausfallen!«

»In der Oper.«

»Verfrottet soll er sein!« sagte Siggi. Und dann sagte er noch: »Graff? Du bist doch nicht deprimiert, weil du durchgerasselt bist? Ich finde, das macht nichts.«

»Überhaupt nichts«, sagte ich, und das stimmte auch – [22] wo doch die Nachtluft wie das Haar eines jungen Mädchens duftete.

Die Ranken der wuchtigen Bäume neigten sich herab und rauschten über den Steingarten und dämpften das Wassergeplätscher in den Teichen.

»Frühmorgens«, sagte Siggi, »laden wir auf und zischen ab. Ich kann uns direkt hören! Wir dröhnen an der Uni vorbei, bevor sich der alte Ficht das Zahnfleisch geschrubbt hat! Wir sind aus Wien raus, bevor der sein Sülzfläschchen entkorkt hat. Wir fahren am Schloß vorbei. Und wecken sie alle auf! Die werden denken, das ist eine durchgebrannte Straßenbahn – oder ein Nilpferd!«

»Ein furzendes Nilpferd«, sagte ich.

»Eine ganze furzende Armee davon!« sagte Siggi. »Und dann sind wir draußen auf den kurvigen Straßen. Über uns die Bäume, und von unseren Helmen klatschen die Grillen weg.«

»Ich hab keinen Helm«, sagte ich.

»Ich hab einen für dich«, sagte Siggi, der sich auf diesen Ausflug vorbereitet hatte.

»Was brauche ich sonst noch?« fragte ich.

»Schutzbrille«, sagte er. »Die kannst du auch von mir haben. Eine Fliegerbrille aus dem 1. Weltkrieg – Froschaugen mit gelben Gläsern. Ist furchterregend! Und Stiefel«, sagte Siggi. »Ich habe echte Knobelbecher für dich.«

»Wir sollten packen gehen«, sagte ich.

»Erst sollten wir unser Bier austrinken.«

»Und dann gehen.«

»Mit Getöse!« sagte Siggi. »Und morgen Abend schlürfen wir aus einem Bergbach oder trinken aus einem See. Schlafen im Gras und lassen uns von der Sonne wecken.«

»Mit Tau auf den Lippen.«

»Mit Bauernmädels neben uns!« sagte Siggi. »Außer bei höherer Gewalt.«

Damit leerten wir die Gläser. Stimmengemurmel auf [23] der Terrasse, Gesichter von den Nebentischen dümpelten in unserem Bier.

Dann das Durchpumpen des Kickstarters und das weiterentfernte Sauggeräusch der Kolben, die sich kilometertief unter dem Motor zu heben schienen. Das Grunzen, mit dem er ansprang, und das langsame, ruhige Tuckern des glatten Leerlaufs. Siggi ließ den Motor warmlaufen, und ich blickte über die Heckenreihen zu den Tischen auf der Terrasse. Die Zuschauer waren nicht verärgert, doch sie hörten mit ihrem Gemurmel auf und reckten die Köpfe nach uns; das langsame Pochen unseres Motors schlug im Takt zu den ersten Böen der frühlingsgeschwängerten Luft.

Und die Rückenschlitztasche von Siggis Entenjägerjacke hatte eine frische Beule bekommen; als ich wieder auf unseren Tisch blickte, sah ich, daß der Salzstreuer weg war.

Höhere Gewalt Nummer Eins

Siggi fuhr. Durch ein Tor kamen wir auf den Heldenplatz; ich warf den Kopf zurück und sah die Tauben über den Hausdächern kreuzen; die feisten Barockputten beguckten mich von den Regierungsgebäuden. Durch die famose Gelbtönung meiner Fliegerbrille aus dem 1. Weltkrieg wirkte der Morgen goldener, als er war.

Eine backenkauende alte Frau rollte einen Schubkarren voller Blumen über die Mariahilfer Straße, und wir bremsten neben ihr am Bordstein, um ein paar safrangelbe Krokusse zu kaufen; wir steckten sie in die Luftlöcher unserer Sturzhelme. »Tunichtgute seid ihr Jungs«, sagte die zahnfleischschlaffe Hexe.

[24] Wir fuhren weiter, warfen unsere Blumen den Mädchen zu, die auf Busse warteten.

Die Mädchen hatten ihre Kopftücher abgestreift; sie flatterten ihnen um den Hals, und die meisten Mädchen hatten schon Blumen.

Wir waren zeitig dran; wir begegneten den Pferdewagen, die zum Naschmarkt Gemüse und Obst und noch mehr Blumen brachten. Einmal fuhren wir an einem Pferd vorbei, das vom Verkehrsgedröhn total verstört war, und unser Motorrad machte es nervös. Die Kutscher waren gutgelaunt und riefen von ihren quietschenden Wagensitzen; einige Kutscher hatten ihre Frauen und Kinder dabei, so strahlend war der Tag.

Schloß Schönbrunn wirkte verlassen; keine Touristenbusse, keine Menschenmengen mit Kameras. Ein kühler Nebel hing über den Schloßanlagen; ein dünner Dunst kroch dicht an den gestutzten Heckenreihen, stahl sich schildkrötengleich über den ach so grünen Rasen. Wir verfolgten, wie das Land Raum griff und wieder zurückgedrängt wurde.

Im Vorort Hietzing, wo die Schloßanlagen ans freie Land grenzen, rochen wir die ersten Düfte vom Tiergarten Schönbrunn.

Wir hielten an einer Verkehrsampel, und ein Elefant übertönte trompetend unseren Leerlauf.

»Zeit genug haben wir doch, oder?« sagte Siggi. »Ich meine, wie ich das sehe, haben wir alle Zeit der Welt.«

»Wir sollten Wien keinesfalls verlassen«, sagte ich, »ohne uns anzusehen, wie der Frühling im Zoo eingeschlagen hat.«

Tja, der Tiergarten Schönbrunn, steintorig, Einlaß gewährt eine Kröte von einem Mann mit fleischigen Kinnbacken und dem grünen Augenschirm eines Spielers. Siggi parkte das Motorrad nicht im Saftgetröpfel, nicht unter den Bäumen, sondern direkt neben der [25] Spielerbude – der kuppeligen Kassa des Kartenkontrolleurs – über der wir den Giraffenkopf am Ende seines Halsmastes wackeln sahen. Die torkelnde Masse der Giraffe folgte dem Hals; kübelhufig versuchten ihre Beine schrittzuhalten. Ihr schmales Kinn hatte eine wunde, haarlose Stelle dort, wo es an dem hohen Gitterzaun scheuerte.

Die Giraffe blickte das Gitter entlang zu den Treibhäusern des Botanischen Gartens; auf den Glasplatten lag noch der eisgraue Tau. Für viel Sonnenschein war es zu früh, und sonst schaute sich niemand die Giraffe an. Auf dem langen kopfsteingepflasterten Weg zwischen den Gebäuden und Käfigen schleppte sich einzig ein Käfigputzer mit seinem Mop dahin.

Den Tiergarten gab es noch nicht lange, doch die Gebäude waren so alt wie Schönbrunn; die Häuser gehörten zu den Schloßanlagen und waren jetzt alle Bruch – ungedeckt, dreiseitig, Gitter oder Drahtnetze ersetzten die fehlende vierte Mauer. Die Tiere hatten die Ruinen geerbt.

Der Zoo erwachte und machte öffentliche Geräusche. Das Walroß rülpste in seinem trüben Becken; auf dem Rand sahen wir steif die alten Fische liegen, die es aus dem Wasser geschubst hatte und deren Schuppen ihm am Schnurrbart hängengeblieben waren. Der Ententeich führte Frühstücksgespräche, und weiter den Weg hinunter hämmerte irgendein Tier in seinem Käfig.

Das Vogelhaus mit den Exoten schlug für uns Lärm – kleine und große Damen in Kostümhüten mit gebrochenen Chorstimmen; und hochherrschaftlich hockten die stumpfgefiederten Kondore gewaltig auf den gestürzten Säulen, thronten auf der gefallenen Büste irgendeiner Habsburger Größe. Sie eigneten sich die Sockel der Statuen an und glotzten grollend auf das über ihnen und der Ruine ausgespannte Maschennetz.

[26] Im Unkraut auf dem Boden des Gebäudes lag ein aufgeschlitzter Schafskadaver, und irgendeinem Südamerikaner mit furchterregender Flügelspanne klebte altes Fleisch im Brustgefieder; die Fliegen schwirrten von der Schaf- zur Vogelseite, und der Kondor schnappte mit dem gekerbten, beinfarbigen Schnabel nach ihnen.

»Unsere gefiederten Freunde«, sagte Siggi, und wir gingen weiter, um nachzusehen, was da in seinem Käfig drauflosrumpelte.

Es war der Berühmte Asiatische Kragenbär, der in einer Hinterecke seines Käfigs kauerte und sich hin- und herschaukelte, um seinen Hintern in die Gitterstäbe zu donnern. Eine kurze, gedruckte Legende des Bären klebte in einer Weltkarte, auf der das Verbreitungsgebiet der Gattung schwarz schraffiert war und ein roter Stern den Ort markierte, wo er gefangengenommen wurde – im Himalaya – von einem Mann namens Hinley Gouch. Der Käfig des Asiatischen Kragenbären, so erklärte die Legende, zeige von den anderen Bären weg, weil er bei ihrem Anblick »wütend« werde; er sei ein besonders grimmiger Bär, sagte die Legende, und müsse in seiner dreiseitigen Ruine hinter Eisengitterstäben eingesperrt leben, weil er fähig sei, sich durch Beton zu graben.

»Möchte wissen, wie der alte Gouch ihn gekriegt hat?« sagte Siggi.

»Kann sein mit Netzen«, sagte ich.

»Vielleicht hat er ihn auch einfach beschwatzt, nach Wien zu kommen«, sagte Siggi. Aber wir hielten Hinley Gouch nicht für einen Wiener. Wahrscheinlich war er einer dieser fehlplazierten Briten gewesen, im Bund mit hundert sehnigen Sherpas, die den Bären in eine flugs geschaufelte Grube gehetzt hatten.

»Das wäre ein Spaß, ihn und Hinley Gouch mal wieder zusammenzubringen«, sagte Siggi, und die anderen Bären schauten wir uns dann nicht mehr an.

[27] Hinter uns kamen jetzt Leute den Weg entlang, und eine Gruppe schaute zu, wie sich die Giraffe das Kinn scheuerte. Vor uns lag das Kleinsäugetierhaus; es war eine instandgesetzte Ruine mit vier mehr oder weniger ursprünglichen Mauern, einem Dach und mit Brettern vernagelten Fenstern. Drinnen, so verriet uns ein Schild, waren die nachtaktiven Tiere – »die in anderen Zoos immer schlafen und anonym bleiben«. Doch hier gab es Infrarotlicht in den dickverglasten Käfigen, und die Tiere verhielten sich so, als wäre es Nacht. Wir konnten sie in einem purpurfarbenen Schein sehen, aber für sie war die Welt jenseits ihres Glaskastens schwarz; sie gingen arglos ihren nächtlichen Gewohnheiten nach, ahnten keinen Moment, daß sie beobachtet wurden.

Es gab ein Erdferkel, das sich an einem eigens zu diesem Zweck über ihm aufgehängten rauhen Brett alte Borsten abschubberte. Es gab Riesenameisenbären, die Käfer von der Glasscheibe abschleckten, und da war die Baumratte aus Mexiko. Es gab einen Flugfuchs und eine Katta; und ein Zweizehenfaultier, das, kopfunterhängend, unsere Bewegungen jenseits des Glaskastens zu registrieren schien – dessen dunkle Knopfaugen, kleiner als seine Nasenlöcher, uns undeutlich in der Außenwelt zu verfolgen schienen, die für es nicht restlos dunkel war. Aber für die anderen war da nichts; weder für den Flugbeutler noch für die Plumploris gab es irgend etwas jenseits des Infrarotlichts unter Glas. Und für das Faultier vielleicht auch nicht; vielleicht wanderte uns sein Blick nur hinterher, weil ihm vom Kopfunterhängen schwindlig war.

In den Gängen zwischen den Käfigen herrschte Dunkelheit, doch unsere Hände waren purpurn getönt und unsere Lippen grün. Am Glashaus der Riesenameisenbären hing ein extra Schild; ein Pfeil wies auf eine kleine Mulde in der unteren Ecke des Glaskastens, die in die Behausung der Ameisenbären führte. Wenn man die [28] Finger dort hinlegte, kam ein Ameisenbär lecken. Die lange Zunge schlüpfte durch das Labyrinth, das die Welt am Eindringen hinderte; wenn er einen Finger im Dunkeln fand, bekam der Blick des Ameisenbärs einen neuen Ausdruck. Aber sie leckte genauso wie jede andere Zunge und brachte uns die nächtlichen Gewohnheiten der Tiere etwas näher.

»Mein Gott!« sagte Siggi.

Und inzwischen hatten die Leute das Kleinsäugetierhaus gefunden. Kinderstimmen schrillten durch die infraroten Gänge; mit zartlila Haaren und hellrosa Augen – mit grünen Wackelzungen.

Also bogen wir auf einem ungepflasterten Pfad vom Hauptweg ab; wir hatten die Nase voll von Ruinen. Und wir kamen zu einem Freigehege, wo die diversen Huftiere untergebracht waren – inklusive der Gemischten Antilopen. Das gefiel uns schon besser. Zebras schnüffelten der Einzäunung entlang, stupsten mit den Flanken gegeneinander und schnaubten sich ins Ohr; wenn sie sich bewegten, überkreuzten sich ihre Streifen mit den Sechsecken des Zauns, und vom Hinsehen wurde uns schwummerig.

Außerhalb der Einzäunung kam uns keuchend ein strubbelhaariger, kleiner Junge entgegen, der sich beim Rennen die Eier hielt. Der Junge stürmte an uns vorbei und blieb stehen, vornübergekrümmt, als hätte er einen Tritt abbekommen. Er ließ seine hohle Hand zwischen die Knie fallen. »Gott im Himmel! Eier!« johlte er. Dann rappelte er sich wieder hoch und hasenhoppelte auf dem ungepflasterten Weg davon.

Er hatte ohne Frage den Oryx gesehen mit dem rapiergleichen Gehörn, sehr lang und beinahe schnurgerade, an der unteren Hälfte geringelt und im selben Winkel zurückgebogen wie die runzelige Stirn und die glattschwarze Nase; ohne Frage, er hatte den alten Oryx unter [29] seinem dünnen Schattenbaum gesehen, scheckig von den Sonnen- und Schattentupfen, die ihm den Rücken sprenkelten – mit einem sanften Muhkuhblick in den großen schwarzen Augen. Und nach seiner tiefgezogenen, wuchtigen Brust und dem dickgerunzelten Nacken zu urteilen, ein Oryxbock obendrein. Seine Rückenschräge senkte sich vom Nackenhöcker abwärts bis zur Schwanzwurzel. Und ein Bulle von den Hinterbacken abwärts, das war er, bis hinunter zu den Knoten an seinen dürren Knien.

»Mein Gott, Siggi«, sagte ich. »Wie groß, meinst du?«

»Die allergrößten überhaupt, Graff«, sagte Siggi. Sie mußten schief baumeln, damit sie eben zwischen die engstehenden Hinterbeine des Oryx paßten.

Und wir lasen die Legende über den Oryx aus Ostafrika, »bestgerüstete von allen Antilopen«.

»Der geht nicht auf Hinley Gouchs Konto«, sagte Siggi, »soviel Mumm hat der nie in den Eiern gehabt.«

Und ganz recht – dieser Oryx war, so lasen wir, im Tiergarten Schönbrunn zur Welt gekommen, und das verdüsterte unsere Stimmung.

Also den ungepflasterten Weg entlang, zurück zum Tor; wir ließen alle Hinweistafeln auf die Dickhäuter links liegen und gönnten nur dem kleinen Wallaroo einen kurzen Blick – »dem berühmten, in den Bergen lebenden und quicklebendigen Känguruh«. Es lümmelte auf einen Ellbogen gestützt auf der Seite und kratzte sich mit eingerollter Faust die Hüfte. Es bedachte uns mit einem knappen Blick aus seinem langen, gelangweilten Gesicht.

Dann gingen wir vorbei am Schild für die Großkatzen und vorbei am Blinken des grünen Augenschirms des Spielers – eine ungeduldige Menschenhorde umlagerte seine Kartenbude –, vorbei an Köpfen, die nach dem angeschlagenen Aufwach-Miaunzen eines Löwen lugten; Köpfe reckten sich hoch, die Giraffe zu grüßen.

[30] Draußen vor dem Zoo bewunderten zwei Mädchen unser Motorrad. Die eine bewunderte es so heftig, daß sie sich draufsetzte und den Benzintank zwischen den Knien knuddelte; es war ein dickes, üppiges Mädchen, dem der schwarze Pulli über den Wanst hochgerutscht war. Und jedesmal, wenn sie die herrliche Träne des Tanks umklammerte, wackelten ihre strammen Hüften.

Das andere Mädchen stand vor der Maschine und fingerte an den Kabeln von Kupplung und Vorderbremse herum; es war ein sehr dünnes Mädchen, das mehr Rippen als Busen zu bieten hatte. Zu dem gelbangehauchten Gesicht gehörte ein trauriger, breiter Mund. Ihre Augen waren so sanft wie die des Oryx.

»Also, Siggi«, sagte ich, »das ist garantiert höhere Gewalt.«

Und dabei war es noch nicht einmal zehn Uhr morgens.

Sonderbar sind des Höchsten Wege

»Graff«, sagte Siggi, »die Dicke ist garantiert nichts für mich.«

Doch beim Näherkommen sahen wir, daß die Lippen des dünnen Mädchens einen Blaustich hatten, so, als hätte es lange Zeit im Wasser gelegen und sich eine Mordsverkühlung geholt.

Und Siggi sagte: »Die Dünne sieht nicht gerade kerngesund aus. Vielleicht kannst du sie wieder auf die Beine bringen, Graff.«

Als wir bei ihnen waren, sagte die Dicke zu ihrer Begleiterin: »Na bitte. Ich hab dir ja gesagt, das sind zwei Jungs, die einen Ausflug machen.« Sie hüpfte auf dem [31] Motorradsattel, und ihre Schenkel patschten gegen den Benzintank.

»So«, sagte Siggi. »Du wolltest wohl auf und davon damit, was?«

»Gar nicht«, sagte das dicke Mädchen. »Aber wenn ich wollte, könnte ich das Ding schon fahren.«

»Na klar«, sagte Siggi. Er tätschelte den Benzintank und trommelte mit den Fingern auf ihrem Knie.

»Nimm dich bloß in acht vor dem«, sagte die Dünne. Sie hatte ein komisches Zucken ums Kinn und hörte einfach nicht mehr auf, an den Kabeln herumzuspielen; die Kabelschleifen hingen von ihrem Gefummel völlig verdrillt unter dem Lenker.

»Sag mal, Graff«, flüsterte Siggi. »Glaubst du, die Dünne verseucht einen? Von mir aus kannst du sie haben. Für mich tut’s der Fettmops hier genauso.«

Und die Dicke sagte: »Sagt mal, Jungs, spendiert ihr uns ein Bier?«

»Im Zoo gibt’s ein Lokal, wo man Bier trinken kann«, sagte die Dünne.

»Wir waren gerade im Zoo«, sagte ich.

Und Siggi flüsterte: »Es ist Tollwut, Graff. Sie hat die Tollwut.«

»Aber ihr wart nicht mit einem Mädchen am Arm im Zoo!« sagte die Dicke. »Und ich wette, ihr seid nicht durch den Tiroler Garten gegangen. Da wächst kilometerweit Moos und Farn, und man kann die Schuhe ausziehen.«

»Also, Graff«, sagte Siggi. »Was meinst du?«

»Er ist ganz wild drauf!« schrie die Dicke.

»Graff?« sagte Siggi.

»Klar doch«, sagte ich. »Wir haben’s nicht eilig.«

»Das Schicksal steuert unseren Kurs«, sagte Siggi.

Also setzten wir uns in den Biergarten, umringt von lauter Bären – und alle beobachteten uns, außer dem [32] Berühmten Asiatischen Kragenbären, der aus seinem Käfig weder Biergarten noch andere Bären sehen konnte.

Die Eisbären saßen in ihrem Schwimmbecken und schnauften; ab und zu schlappten sie träge einen geräuschvollen Schluck. Die Braunbären trotteten hin und her und streiften mit dem dicken Pelz die Gitterstäbe; ihre Köpfe pendelten dicht über dem Boden im Takt einer rituellen Verstohlenheit, die ihnen angeboren war und die sie unsinnigerweise nie vergaßen – ganz egal, wie unangebracht Vorsicht hier für sie war.

In der Windrichtung unseres Tischs und Cinzano-Schirms hockte heiß im gemeinsamen Käfig ein stinkendes Brillenbärpärchen aus den Anden – »die Bären mit dem Cartoon-Gesicht«. Sie sahen aus, als hätte man sie geradewegs aus Ecuador hinausgelacht.

Und Siggi war genervt, weil es im Biergarten keine Radieschen gab. Das dunkelhaarige, dicke Mädchen hieß Karlotta und bestellte zum Bier eine Torte; doch die dünne war Wanga, und sie wollte nur ein klebriges Bock. Siggi berührte seine dicke Karlotta unter dem Tisch; die Hand meiner Wanga war trocken und kühl.

»Och, die Eisbären sollten mehr Eis haben«, sagte Wanga. Und du weniger, dachte ich.

»Siggi«, sagte Karlotta, »könnte ein bißchen Eis brauchen.« Und ihre Arme verschwanden unter dem Tisch und tatschten nach ihm. Die schwarzen Ringellöckchen ihres Ponys glänzten feucht auf ihrer Stirn.

Den Seltenen Brillenbären lief ein weißer Klecks von der Stirn zur Nase und über die Kehle. Ihre Schielaugen trugen eine Banditenmaske aus dem schwarzen Zottelfilz des übrigen Fells; ihre Pelze wirkten eigentümlich verlegen, wie eine Reihe von Haarwirbeln. Sie klackten mit den langen Klauen auf dem Zement.

Die arme Wanga leckte sich behutsam die Lippen, als sondiere sie die rissigen und aufgesprungenen Stellen.

[33] »Ist das deine erste Reise?« fragte sie.

»Ach, ich war schon überall«, sagte ich.

»Im Orient?« fragte sie.

»Überall im Orient.«

»In Japan?«

»Bangkok«, sagte ich.

»Wo liegt Bangkok?« sagte Wanga so leise, daß ich mich dicht zu ihr lehnte.

»Indien«, sagte ich. »Bangkok, in Indien.«

»Oh, Indien«, sagte sie. »Da sind die Menschen ganz arm.«

»Bettelarm«, bestätigte ich und sah sie sanft ihren breiten Mund berühren – ihre dünnen Lippen mit ihrer blassen Hand verbergen.

»Du da!« sagte Karlotta zu mir. »Tu ihr bloß nicht weh. Sag’s mir, Wanga, wenn er dir wehtut.«

»Wir unterhalten uns«, sagte Wanga.

»Ein netter Junge«, sagte Karlotta, und unter dem Tisch stupste sie mir ihren Zehkeil in den Hintern.

Die Brillenbären sackten Schulter an Schulter gegeneinander; der eine ließ dem anderen den Kopf auf die Brust fallen.

»Graff«, sagte Siggi, »meinst du nicht, Karlotta würde der Oryx gefallen?«

»Ich will das Nilpferd sehen«, sagte Karlotta. »Das Nilpferd und das Nashorn.«

»Karlotta ist für das Große«, sagte Siggi. »Also, Karlotta, für dich den Oryx.«

»Wir treffen euch dann hinter dem Nilpferdhaus«, sagte ich. Denn ich wollte nicht, daß die zarte Wanga den Oryx sah. So steht es in Siggis Notizbuch:

Irgendwo muß man die Grenze ziehen.

[34] »Karlotta«, sagte Siggi, »der Oryx wird dich ganz schön elektrisieren.« Und Karlotta rieb sich mit der Handfläche den Wanst.

»Ha!« sagte sie.

Die Seltenen Brillenbären setzten sich auf und gafften.

Das Nilpferdhaus

Um das Nashorngehege verlief ein Graben, und an der Außenseite des Grabens ein Zaun. Versuchte das Nashorn, den Zaun zu rammen, würde es sich beim Sturz in den Graben die Beine brechen; die Kniebuckel des Nashornpanzers waren brüchig und offen wie Hitzesprünge in gebrannter Erde.

Das Gehege, in dem es trabte, war flach und das Gras zu Schorf zertrampelt. Es lag auch ein wenig erhöht – ein hartes, trockenes Plateau, umgeben vom Nilpferdhaus und den hohen Eisentoren zum Tiroler Garten. Wenn man sich gleich drinnen im Tiroler Garten flach auf den Boden legte, konnte man unter den Baumzweigen hinweg durch die Gartenanlagen bis zum Maxing-Park sehen. Wenn man sich im Farn aufrecht hinsetzte, konnte man den Rücken des Nashorns sehen – den Scheitel seines Treibholz-Schädels und die Spitze seines Horns. Wenn das Nashorn rannte, bebte die Erde.

Wanga und ich lagen im Farn und hielten Ausschau nach Siggi und der dicken Karlotta.

»Wohin reist ihr jetzt?« fragte sie.

»Zum nördlichen Polarkreis«, sagte ich.

»Ooh!« sagte sie. »Da käme ich gerne mit. Ich meine, wenn du allein reisen würdest, würde ich dich fragen, ob du mich mitnimmst.«

[35] »Und das würde ich«, sagte ich. Doch als ich mit der Nase den Flaum auf ihrem Arm streichelte, setzte sie sich hin und suchte wieder Siggi und Karlotta.

Wir hörten, wie Siggi dem Nashorn etwas zutrompetete; einige Zeit lang konnte ich ihn nicht sehen, aber ich kannte Siggis poetische Stimme. Er blökte irgendwo beim Nashorngehege herum, und wir konnten Karlotta kichern hören. Als wir sie sahen, gingen sie Arm in Arm hinter dem Nilpferdhaus und kamen auf das Tor des Tiroler Gartens zu.

An Karlottas wildem Blick war leicht abzulesen, daß sie eine von uns sein würde – gezeichnet fürs Leben; nie vergessend, den Oryx gesehen zu haben.

»Wir verstecken uns vor ihnen«, sagte ich, und ich zerrte Wanga hinunter ins Farn.

Doch sie guckte entgeistert und legte sich auf den Rücken und umarmte sich selbst. »Karlotta!« rief sie.

»Hey! Typ!« schrie Karlotta. »Tust du ihr weh?«

»Wir unterhalten uns«, sagte Wanga, »hier drüben sind wir.«

Und sie kamen die Einzäunung entlang zu uns; Siggi stapfte durch das hohe Farnkraut, eine Hand unter Karlottas Pulli geschoben und um ihre massige Seite gewölbt.

»Also, Graff«, sagte Siggi, »meine Karlotta war vom Oryx gehörig beeindruckt.«

»Wer wäre das nicht?« sagte ich.

»Wovon?« fragte Wanga. »Wovon beeindruckt?«

»Nichts für dich, Schätzchen«, sagte Karlotta. »Du bist wirklich ein lieber Kerl«, sagte sie zu mir. »Das war kein Anblick für Wanga.«

»Das ist ein Anblick für die ganze Welt!« sagte Siggi.

»Klappe«, sagte Karlotta, und sie zerrte ihn zu einem anderen Farnplätzchen.

Als wir alle lagen, konnten wir einander nicht sehen. [36] Dicht über dem Boden entstand ein Luftstau, und der volle Dungduft irgendeines Tieres senkte sich auf uns.

»Ich finde, das riecht nach Nashorn!« rief Siggi.

»Oder Nilpferd«, sagte ich.

»Nach etwas Großem und Fruchtbarem.«

»Nilpferde kommen nie aus dem Wasser«, sagte Karlotta.

»Oh, sie müssen!« sagte Siggi. »Man kann sich schwer vorstellen…«

Und Wanga kuschelte sich in meine Armbeuge, die Knie fest angezogen und eine kühle Hand auf meiner Brust. Wir konnten die Umtriebe von Siggi und Karlotta hören; zweimal rief Siggi wie ein wilder Vogel.

Wie teilt das Notizbuch doch weise mit:

Die Zeit verstreicht,

lobpreiset den Höchsten.

Und dann hörten wir Karlotta. »Du bist nicht immer umwerfend komisch«, sagte sie. Und als ich hinschaute, sah ich Siggis hochgereckten Arm – er schwenkte über dem Farnkraut einen kolossalen schwarzen Spitzenschlüpfer.

»Du bist einfach ein Hanswurst«, sagte Karlotta, und ich sah ihren nackten, fetten Fuß aufwärts durch das Farn dreschen. »Du kannst nicht einmal ernst sein, du Frotter!« sagte sie. »Ach, bei dir stimmt doch was nicht.«

Dann setzte sich Siggi auf und grinste zu uns herüber; er trug den schenkelweiten Schlüpfer als Mütze. Karlotta schlug mit einem Unkrautbüschel auf ihn los, und Siggi kam zu uns gehüpft.

Als Karlotta ihm hinterherpirschte, schwang sie neben sich einen schwarzen Spitzen-BH mit rosa Schleife – ein Körbchen war mit Gras und Erde beladen. Er baumelte an ihrem Handgelenk wie die Schleuder eines Kriegers.

[37] »Da kommt der Riesentöter«, sagte Siggi.

Karlottas Brüste baumelten bei ihrem wabbelnden Wanst. Als ihr Pulli hochrutschte, erhaschte ich ein dunkles Nippelendchen.

Dann hatte sich Wanga aus meinen Armen befreit und rannte die Einzäunung entlang zum Tor; sie rannte so, als würde sie umhergestoßen, wie ein von wechselhaften Windböen dahingetriebenes Blatt – durch das Tor und zurück in den Zoo.

»Heh!« sagte ich. »Heh, Wanga!«

»Meine! Meine, Graff«, sagte Siggi. »Ich hole sie.« Er schmiß Karlotta den Schlüpfer zu und stürmte selbst davon.

»Nein!« brüllte ich. »Ich gehe, Siggi!« Doch Karlotta war neben mich getreten; als ich aufzustehen versuchte, rammte sie mich mit der Hüfte und warf mich ins Farn.

»Laß ihn doch den Hanswurst spielen«, sagte sie, und sie kniete sich neben mich. »Du lieber Junge«, sagte Karlotta. »Du hast eine Portion Anstand im Leib. Du bist ganz anders als er.« Und als ich mich hinzusetzen versuchte, hüllte sie mein Gesicht in ihren Schlüpfer ein und hielt mich am Boden fest. Dann lugte sie unter den glorreichen Schlüpfer und küßte mich mit ihren pfirsichsüßen Lippen. »Scht, scht«, sagte sie, und sie drückte mich auf die feuchte Erde.

Wir rollten auf dem verborgenen und stickigen, dungdünstenden Fleckchen; die Zoogeräusche verschmolzen und verloren sich im peitschenden Farn, und das Nashorn ließ die Erde beben.

Und als wir die Vögel wieder hörten, da klangen ihre Stimmen rauh und fordernd. Die Großkatzen knurrten nach Fleisch und Revolution.

»Fütterungszeit«, sagte Karlotta. »Und ich hab’ das Nilpferd noch nicht gesehen.«

Also versuchte ich zu laufen, und sie folgte mir und [38] lotste mich ins Nilpferdhaus, ein Treibhaus mit einem in der Mitte eingelassenen großen Bottich und einem Geländer um das Wasser, damit die Kinder nicht hineinfielen. Zuerst war im Bottich nichts als Schmutzwasser.

»Es wird jetzt jeden Moment auftauchen«, sagte Karlotta. Sie kratzte sich und schenkte mir einen lüsternen Seitenblick. »Mein linker Mops juckt«, flüsterte sie. »Ich habe eine Wagenladung Erde im BH.«

Sie wand sich wie ein Aal und kniff mich auf der Stelle in den Hintern, und ich betrachtete den galligen Pfuhl, in dem Obst trieb – und große, auf und nieder hüpfende Sellerieknollen. Plötzlich gab es Blasen.

Als erstes sahen wir Nüstern – zwei gähnende Löcher, abgrundtief –, und dann kamen die dickliderigen Augen. Sein Kopf stieg immer höher, und sein langes rosa Maul klappte immer weiter auf; ich sah den Stumpf eines unglaublichen Kehldeckels; aus seinem feuchten, leeren Maul schlug mir der Gestank von einem ganzen Blumenkasten verfaulter Geranien entgegen. Die Kinder warfen ihm Futter zu, und es legte sein Kinn auf den Beckenrand; die Kinder warfen Erdnüsse, Marshmallows und Popcorn – sie warfen Papiertüten und Zoosouvenirs, die Zeitung eines alten Mannes und einen winzigen rosa Turnschuh. Als das Nilpferd genug hatte, rollte es einfach den Kopf vom Rand und verwandelte das Bassin in einen See. Es bespritzte uns und versank in seinem Bottich.

»Gleich kommt es wieder hoch«, sagte Karlotta. »Mein Gott, es könnte mich mit Haut und Haar verschlucken!«

Hinten auf Karlottas stämmigem Bein war der Abdruck eines Farns – ein akkurates Fossil auf ihrer dunklen, biegsamen Wade. Ich entwischte unbemerkt vom Beckenrand und ließ Karlotta im Nilpferdhaus.

[39] Grenzziehung

»Wie konntest du das bloß tun«, sagte Siggi. »Du hast null Geschmack.«

»Wo steckt Wanga?« sagte ich.

»Hab’ sie irgendwo verloren, Graff. Ich wollte bloß den Fettmops loswerden.«

»Wir waren im Nilpferdhaus«, sagte ich. »In ein paar Stunden wird’s dunkel.«

»Selber schuld, Graff. Ehrlich, wie konntest du nur! Weißt du, es gibt einen Punkt, da sollte ein Kerl mal eine Denkpause einlegen.«

»Wenn wir jetzt aufbrechen«, sagte ich, »sind wir vor Dunkelheit auf dem Land.«

»Karlotta!« sagte Siggi. »Einfach nicht auszudenken! Saftig wie im Schlamm, war’s so? Hinterher fühlt man sich vermutlich verseucht.«

»Du Bauernflegel!« sagte ich. »Setzt dir ihren Schlüpfer als Mütze auf und hüpfst wie ein Hanswurst durch die Gegend.«

»Aber irgendwo ziehe ich die Grenze, Graff. Oh ja.« Und er machte sich am Motorrad zu schaffen.

»Oh, wie verfrottet großartig von dir!« sagte ich. »Es dürfte dich vielleicht interessieren, daß es nicht so übel war. Ganz und gar nicht übel!«

»Daran zweifle ich nicht, Graff«, sagte er. »Können ist verbreiteter als Schönheit.« Nun, dieser Satz kehrt, pompös und aufdringlich, in seinen Notizen wieder:

Finesse ist kein Ersatz für Liebe.

Und am Zootor ignorierte er mich, stieg auf den Kickstarter und trat ihn mit voller Wucht durch.

»Du bist ein doktrinärer Ficker, Siggi«, sagte ich.

[40] Doch der Motor sprang an, und er drehte am Gas und nickte mit dem Kopf zu der Musik. Ich schwang mich hinter ihn, und wir schnallten unsere Sturzhelme fest. Dann zog ich die Fliegerbrille aus dem 1. Weltkrieg auf, um mir meine Welt gelbzutönen – mir die Gedanken abzuzwacken und zu vernebeln.

»Siggi?« sagte ich. Aber er hörte nicht.

Er fuhr uns vom Platz beim Tiergarten Schönbrunn, während hinter uns die Löwen nach Freiheit und Fressen brüllten und Karlotta, wie ich mir leicht ausmalen konnte, im Begriff stand, sich widerwärtig und bewundernswert zugleich an das Nilpferd zu verfüttern.

Nachtstromer

Wir hatten jetzt seit einigen Ortschaften kein erleuchtetes Gasthaus mehr gesehen. In manchen Bauernhäusern brannte noch ein winziges Licht, höchstwahrscheinlich ein Dachstubenlicht, das immer brennen gelassen wurde – ein Leuchtfeuer, das verkündete: Es ist doch jemand auf, falls du vorhast, hier herumzuschleichen. Es würde auch ein Hund da sein, der wirklich wachte.

Aber die Ortschaften waren alle dunkel, und wir brausten durch und trafen niemand; nur einmal sahen wir einen Mann in einen Brunnen pinkeln. Wir überraschten ihn plötzlich mit unserem Scheinwerfer und dem Getöse des Motors. Er tauchte, noch immer an sich herumfummelnd, nach unten weg, als wären wir megatonnengleich aus der Nacht gefallen. Das war in einem Ort namens Krummnußbaum; kurz vor Blindenmarkt hielt Siggi an. Er machte Motor und Scheinwerfer aus, und die Stille der Wälder hüllte die Straße ein.

[41] »Hast du den Mann vorhin gesehen?« sagte er. »Hast du dir diese Ortschaften angeschaut? So muß es während der Verdunkelung gewesen sein.« Und darüber dachten wir eine Minute nach, während die Wälder sich wieder behutsam an ihre Nachtgeräusche machten und Wesen hervorkamen, um zu beobachten.

Als er den Scheinwerfer andrehte, schienen die Bäume von der Straße zurückzuspringen; Zenturien von nächtlichen Beobachtern huschten ins Versteck zurück – Frettchen und Eulen und die Geister der Wachtposten Karls des Großen.

»Einmal«, sagte Siggi, »da hab’ ich einen ganz alten Helm im Wald gefunden. Mit Spitze und Visier.« Und seine Stimme ließ die Nachtgeräusche verstummen; wir hörten zum erstenmal den Fluß.

»Ist das vor uns?« sagte ich.

Und er trat den Kickstarter durch und fuhr langsam an. Wir überquerten die Ybbs direkt hinter Blindenmarkt, und Siggi schwang die Maschine auf der Brücke seitlich herum. Gleich außerhalb des Scheinwerferstrahls war der Fluß ein schwarzes, zerknittertes Laken im Wind, doch die Stelle, auf die das Licht traf, wirkte wasserlos; der Fluß war seicht und klar, und wir sahen die Kiesel auf dem Grund, so, als hätte es kein Wasser gegeben, das sie bedeckte.