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Henk Stoorvogel & Eugène Poppe

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Geboren

um zu fliegen

Kraftvoll. Majestätisch. Himmelwärts.

Inspiration für ein Leben mit Aufwind

Aus dem Niederländischen von Karl Hilse

Inhalt

  1. Vorwort
  1. Einleitung
  1. Prolog
  1. 1.Geboren um zu fliegen
  1. Werde, der du bist!
  1. 2.Sich ausrichten auf das, was oben ist
  1. Leben mit dem Fokus auf Gott!
  1. 3.Die Berufung leben
  1. Deine Aufgabe auf Erden
  1. 4.Kompetenz
  1. Entwickle deine starken Seiten!
  1. 5.Charakter
  1. Widerstand macht dich stärker und reifer
  1. 6.Balance
  1. Ohne Schwanz stürzt du ab
  1. 7.Der Start
  1. Aller Anfang ist schwer
  1. 8.Im Aufwind schweben
  1. Mit der Kraft des Heiligen Geistes leben
  1. 9.Innere Erneuerung
  1. Lerne deinen Glauben zu pflegen!
  1. 10.Erfahrung zählt
  1. Je älter, desto besser
  1. 11.Treue
  1. Ergeben sein und bleiben
  1. 12.Gut sterben
  1. Auf Gott gerichtet und mit dem Blick für andere
  1. Quellenverzeichnis

Vorwort

Der Adler ist der König der Lüfte. Seit Menschengedenken regt dieser imposante Vogel die Fantasie des Menschen an. Ihm werden viele königliche Eigenschaften zugeordnet: Stärke, Tapferkeit und Scharfsinn. Und seine Größe mit einer Spannweite bis zu drei Meter, sein scharfer Blick und sein majestätisch anmutender Flug machen ihn in jeder Hinsicht zu einer beeindruckenden Erscheinung am weißblauen Himmel. Dass der Adler über die Jahrhunderte vielfach als starkes Symbol zu finden ist, ist wenig verwunderlich. Der Weißkopfseeadler beispielsweise ist der Wappenvogel der Vereinigten Staaten von Amerika, Indianer schmücken bis heute ihr Haupt mit Adlerfedern und der Aquila (lateinisch: Adler) prunkte auf den Standarten der römischen Legionen wie auch auf denen der Regimenter Napoleon Bonapartes.

Stilisierte Bildnisse des Adlers finden sich heute in den Wappen verschiedenster Länder wie Deutschland, Albanien, Mexiko, Polen, Serbien und Russland. Sein Name steht für ein Sternbild, eine Mondfähre, Kometen, Züge, Autos, Traktoren und Mopeds. Außerdem spielt der König der Lüfte in zahllosen Geschichten, Sagen, Legenden, ja selbst in Liedern und Volksmärchen, oftmals eine zentrale Rolle. In der Literatur, beispielsweise im Buch „Der Herr der Ringe“, lässt J.R.R. Tolkien den Adler als Retter erscheinen, während sein Autorenkumpan C.S. Lewis ihm in den „Chroniken von Narnia“ eine observierende Aufgabe zuschreibt. Überall stoßen wir in unserer Umwelt auf den Adler als Symbol oder Figur – selbst in der weltberühmten Muppet-Show, wo er als gewichtiger Moralapostel über die Rechtschaffenheit der Darbietungen wacht. Sein fokussierter Blick, seine enorme Spannweite wie auch seine Federpracht werden bis heute für Bilder und Vergleiche herangezogen, um Wichtiges zu verdeutlichen.

Der Adler ist auch der am häufigsten genannte Vogel in der Bibel. Dort wird er immer wieder erwähnt als ein Symbol für imponierende Schlagkraft und Macht. Männer wie Moses, Jesaja, Hesekiel und Johannes nutzten den Adler, um an ihm tiefe geistliche Wahrheiten deutlich zu machen. Sie schilderten, wie schnell er im Sturzflug werden kann, bewunderten seinen anmutigen Flug, während er sich im Aufwind befindet, berichteten von der treuen Fürsorge um seine Jungen und von imposanten Greifattacken sowie seinem eindrucksvollen Schweben am Himmel. Der Prophet Hesekiel und die Offenbarung vergleichen sogar das Wesen Gottes und sein überwältigendes Erscheinen mit einem Adler.

Wir haben uns entschieden, ein geistliches Buch über den Adler zu schreiben, weil er einfach ein solch imposanter und faszinierender Vogel ist, vor allem aber weil wir glauben, dass am Bild des Adlers vieles greifbar wird für das Leben als Christ. Wir hoffen daher, dass dieses Buch dir helfen wird, deinem Leben mit Gott auf kraftvolle Weise weiter Form und Inhalt zu geben, dass du neu das Kraftvolle und Majestätische in deiner Beziehung zum Vater im Himmel entdeckst!

Henk und Eugène

Einleitung

Die Bibel enthält mehr als 25 Texte, in denen der Adler genannt wird. Auf verschiedenste Art werden Bezüge zum Leben der Menschen geschaffen, die mit Gott unterwegs sind. In zwölf Kapiteln wenden wir das Bild und die Eigenschaften des Adlers auf das Leben in der Nachfolge an, um uns unsere Bestimmung und Berufung aus Gottes Sicht neu oder vielleicht zum allerersten Mal vor Augen zu führen.

Nach einer Geschichte, die von einem Adler erzählt, der das Fliegen verlernt hat, und Beispielen, wie unser Leben aussehen kann, wenn wir dem gleichtun, beschäftigen wir uns in Kapitel 2 mit dem unglaublichen Sehvermögen des Adlers und seiner Vorliebe für die Sonne.

Der griechischen Antike zufolge ist der Adler das einzige Tier, das direkt in die Sonne blicken kann. Auch im Leben als Christ spielt das Licht eine zentrale Rolle – wenn wir von der Sonne der Gerechtigkeit und vom Vater des Lichts lesen. Die eigene Bestimmung zu finden, hat wesentlich damit zu tun, in dieses herrliche Licht zu schauen.

In Kapitel 3 bleiben wir noch bei dem Sehvermögen des Adlers, dann aber fokussiert auf die Erde. Wir behandeln die Frage, wie es gelingt, die eigene gottgegebene Berufung zu entdecken und zu entwickeln. Adler können dreimal schärfer und viermal weiter als Menschen sehen. Dem Adler gelingt es, während er fliegt, nicht nur die Sonne, sondern auch die Erde im Blick zu behalten. Insofern gilt es auch für uns, diesen Fokus zu wahren, denn unsere Bestimmung liegt bei Gott, aber unsere Berufung findet sich auf Erden.

In Kapitel 4 und 5 konzentrieren wir uns auf die Flügel des Adlers. Sie sind geschaffen, um den Vogel endlos weit schweben zu lassen. Um als Mensch seine Bestimmung und Berufung zu finden, sind vor allem zwei Dinge (Flügel) wichtig: Kompetenz und Charakter. Man muss bestimmte Dinge können (Kompetenz) und über bestimmte Eigenschaften verfügen (Charakter). Beide Flügel müssen gleich stark entwickelt sein. Jemand, der über große Kompetenz verfügt, aber einen schwachen Charakter hat, wird hochmütig und arrogant. Und jemand, dessen Charakter ausgeprägt ist, dem es aber an Kompetenz mangelt, wird verkrampft. Wie also kann man beide Flügel derart entwickeln, dass sie sich in einem guten Gleichgewicht befinden?

Im Kapitel 6 sprechen wir über den Schwanz des Adlers. Er hilft dem Adler beim Abbremsen und dient seiner Balance und Flugkorrektur. Auf der Reise durch unser Leben sind auch wir angewiesen auf Balance und Korrektur: Personen oder Bücher, denen wir das Recht zugestehen, uns zu korrigieren und zu beraten.

Wie ein Adler fliegen lernt, erfahren wir in Kapitel 7. Und wir fragen danach, wie sich das auf unser Leben anwenden lässt: Wie kann man gut starten? Was sind Hindernisse? Worauf kann man sich verlassen?

In Kapitel 8 setzen wir uns mit der ausgefeilten Flugtechnik des Adlers auseinander. Ein Adler ist ständig auf der Suche nach neuem Aufwind, der durch Sonne erwärmten Luft, um möglichst lange schweben zu können. Aufwind im übertragenen Sinne eines Lebens als Christ ist das Werk des Heiligen Geistes. Wie lässt sich dieses Wirken erkennen? Wie das eigene Leben mit dem Heiligen Geist gestalten? Um diese und weitere Aspekte der Führung durch den Heiligen Geist geht es in diesem Kapitel.

Wie der Adler sein Federkleid erneuert, ist faszinierend. Über die Dauer eines Jahres erneuert er sein gesamtes Federkleid. Einfach so – über siebentausend prächtige Adlerfedern. Der Adler unterliegt damit einem kontinuierlichen Veränderungsprozess. Wie aber können wir so leben, dass wir uns ständig erneuern und wachsen? In Kapitel 9 beschäftigen wir uns ausführlich damit.

Dass ein Adler immer besser fliegt, je älter er wird, erfahren wir in Kapitel 10. Erfahrung zählt einfach! Auch im Leben als Christ. Als Autoren dieses Buches befinden wir uns in sehr unterschiedlichen Lebensphasen: Eugène, Jahrgang 1951, hat bereits einen ganzen Schatz an Lebenserfahrung, von dem bereits viele Kirchen und Menschen profitieren durften. Henk, Jahrgang 1977, hat auch schon viele Erfahrungen gemacht, nur gibt es doch Dinge, die wir Menschen einfach erst im Laufe der Jahre lernen. In diesem Kapitel gehen wir daher auf den großartigen Schatz ein, den die Gemeinschaft von älteren und jüngeren Generationen in sich trägt.

In Kapitel 11 beschäftigen wir uns mit der Treue. Adler leben nämlich monogam. Solange sein Partner lebt, wird er es bei dem einen belassen. Treue ist eine der schönsten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann. Auch für Gott ist Treue enorm wichtig. Mittlerweile leben wir in einer Gesellschaft, die Untreue akzeptiert. Ist ein Auftrag zu schwierig, eine Kirche zu alt- bzw. neumodisch oder ein Partner zu langweilig, ist für viele der Schritt hin zu einer Trennung plausibel. An dieser Stelle hält uns Aquila, „der Adler“, einen Spiegel vor.

Das Schlusskapitel des Buches widmen wir dem letzten Kapitel unseres menschlichen Daseins: dem Sterben. Es geht um das Geheimnis, gut aus dieser Welt zu scheiden. Denn die Art, wie man stirbt, macht auch für die Hinterbliebenen einen großen Unterschied. Der Adler stirbt, während er von seinem Felsen oder Baum zur Sonne schaut. Sterben wir mit der Sicht auf Jesus? Auch wenn in unserer Gesellschaft oft vermieden wird, über dieses Thema zu sprechen, erleichtert es enorm, wenn man sich Gedanken über den eigenen Tod gemacht und sich vorbereitet hat.

Zusätzlich werden wir in gesonderten Kästen Wissenswertes über den Adler, das zutreffend für das jeweilige Kapitel ist, schildern.

Die Idee, das Bild des Adlers auf das geistliche Leben anzuwenden, stammt von Eugène. Der eigentliche Schreiber des Textes ist Henk. Jedes Kapitel haben wir aber gemeinsam entwickelt. Wenn wir Beispiele aus unserem persönlichen Leben gebrauchen, machen wir dies durch die Nennung des Vornamens des Betreffenden deutlich.

Prolog

Der Adler, der nicht fliegen wollte

Es war einmal ein Adlerküken, das in seinem Nest saß, über das während einer dunklen Herbstnacht ein gewaltiger Sturm hereinbrach. Der Sturm war so heftig, dass es aus seinem Nest geblasen wurde und in die Tiefe hinabfiel. Verzweifelt flatterte das Adlerküken mit seinen kleinen Flügeln, in der Hoffnung den Sturz noch etwas abfangen zu können. Doch es schlug unsanft auf den Boden auf und blieb benommen liegen, während der Sturm weiter wütete.

Am nächsten Morgen kam der Sturm zum Erliegen. Die Luft war klar und rein. Ein Junge von ungefähr sieben Jahren war auf dem Weg von seinem Bauernhof zum Markt im Dorf. Er pfiff ein heiteres Liedchen vor sich hin, als er plötzlich gleich neben sich ein Häufchen Daunenfedern im Gras bemerkte. Aufgeregt und erschrocken sah er, dass es ein Adlerküken war. Ein echter Adler! Zwar mehr tot als lebendig, aber doch: ein Adler!

Er nahm den verwundeten Adler in seine Hände und lief so schnell er konnte zurück zum Bauernhof. Dort versorgte er die Wunden des Adlers. Der kleine Adler schien stark und würde es wohl überleben, aber er hatte Pflege nötig. Aus Mangel an Besserem brachte der Junge den Adler in den Stall zu den Hühnern. So hatte dieser auf jeden Fall Gesellschaft.

Schnell kam der Adler wieder zu Kräften und fand es herrlich bei den Hühnern. So lange war er allein gewesen, immer nur in einem Nest, hoch oben in den Bergen. Der Adler fing an mit den Hühnern zu spielen, dass es die reinste Freude war. Er lernte zu picken, zu scharren und mit seinen kräftigen gelben Zehen eine Kuhle in die Erde zu graben, um bequem darin zu liegen. Irgendwann gab er sogar eine Art gackerndes Geräusch von sich, um mitzufeiern, wenn eins der Hühner wieder mal ein Ei gelegt hatte. Der Adler verhielt sich wie ein Huhn.

***

Der Junge aber hatte die wahre Natur des Adlers nicht vergessen. Nach einer Weile nahm er den Jungadler aus dem Hühnerstall und brachte ihn auf den Hof. „Flieg!“, rief er dem Adler zu. Der Adler aber machte keine Anstalten zu fliegen. Im Gegenteil. Er stolzierte keck herum, als wäre er ein Huhn. Nach vielen verzweifelten Versuchen steckte der Junge den Adler wieder in den Hühnerstall.

Ein paar Monate später versuchte es der Junge erneut. Nun kletterte er jedoch mit dem größer gewordenen Adler auf das Dach der Scheune. Aber der Adler bewegte nicht einmal seine Flügel. Unverrichteter Dinge kletterte der Junge herunter und steckte den Adler wieder zu den Hühnern, wo der Greif sein Hühnerspiel schnell wieder aufnahm.

Es dauerte ungefähr ein Jahr, bis der Junge einen erneuten Versuch mit dem ausgewachsenen Adler unternahm. Er nahm den riesigen Vogel auf seinen Arm und kletterte mit ihm auf einen Berg. Es war ein hoher Berg und der Aufstieg war schwer, aber schließlich erreichten sie den Gipfel. Dort befand sich ein Felsplateau. Nun müsste der Adler doch endlich fliegen. Aber es geschah nichts – bis der Junge sich irgendwann mit dem Adler auf dem Arm umdrehte, sodass der Adler zufällig direkt in die Sonne blickte. Da stieß der Adler einen Schrei aus, rang sich los, schlug ein paar Mal mit seinen mächtigen Flügeln und glitt weg, der Sonne entgegen. Er flog höher und höher, bis er eins wurde mit dem endlosen Blau des Himmels.

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Seit Jahrhunderten, von Generation zu Generation, und in verschiedenen Varianten wird die afrikanische Erzählung „Der Adler, der nicht fliegen wollte“ des Lehrers und Missionars James Aggrey erzählt. Doch die Moral der Geschichte ist über die Zeit erhalten geblieben und offensichtlich: Der Adler ist, im Gegensatz zu den Hühnern, geboren um zu fliegen. Solange aber der Adler denkt, er sei ein Huhn, wird er nicht zu seiner Bestimmung finden. Nie wird er das sensationelle Gefühl erleben, das zu tun, wozu er geschaffen wurde, solange er sich zufriedengibt mit einem Leben, das nur aus Graben, Spielen und dem Imitieren von Gegacker besteht.

Du bist der Adler! Und in diesem Buch geht es darum, herauszufinden und dem zu folgen, wofür du bestimmt bist. Du wurdest für etwas Großes geschaffen! Zwar lebst du dein Leben hier auf der Erde als Mensch unter den Menschen, aber die hinter deinem Leben steckende Wahrheit ist größer. Der Apostel Johannes bringt es im ersten Kapitel seines Evangeliums auf den Punkt:

„Sie wurden dies [Gottes Kinder] weder durch ihre Abstammung noch durch menschliches Bemühen oder Absicht, sondern dieses neue Leben kommt von Gott.“ Johannes 1,13

Als Christ hast du eine andere Herkunft. Du hast ein neues Leben empfangen. Dieses Leben hat seinen Ursprung im Vater des Himmels. Damit ist deine Abstammung nicht mehr menschlich, sondern göttlich. Oder anders gesagt: Du bist kein Huhn! Du bist ein Adler!

Du wurdest nicht erschaffen, um möglichst viele Scheinchen, auf denen „Euro“ prankt, zu sammeln. Du wurdest nicht erschaffen, um ein noch schöneres Haus oder ein noch größeres Auto oder einen noch spannenderen Urlaub zu haben als deine Nachbarn. Du wurdest erschaffen für etwas von unendlicher Reinheit, Schönheit und Intensität. Der Apostel Paulus offenbart uns in seinem Brief an die Gemeinde in Ephesus die schwindelerregende Wahrheit über unsere wahre Natur, wenn wir unser Leben Jesus anvertraut haben:

„Durch Christus habt ihr jedoch etwas anderes kennengelernt, wenn ihr ihm zugehört habt und die Wahrheit kennt, die in ihm ist.“

„Als neue Menschen, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes und zur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Wahrheit berufen, sollt ihr auch ein neues Wesen annehmen.“ Epheser 4,21+24

Wir dürfen nach dem Maßstab des neuen Menschen, den Gott in uns angelegt hat, unser Leben führen und gestalten. Dies ist ein Prozess, der durch das Wort „annehmen“ ausgedrückt wird. Und das Wesentliche, zu dem wir berufen sind, besteht in Gerechtigkeit, Heiligkeit und Wahrheit.

Gerechtigkeit bedeutet, dass du bestrebt bist, Gutes zu tun und dich nach dem Guten auszustrecken. Heiligkeit bedeutet, dass du einer vollkommen anderen Ordnung angehörst, dass du dein Leben in den Kategorien eines anderen Wertesystems führst. Und genau das ist Gottes Wille – darum geht es: dass du ein anderes Leben führst als jenes, das du überall um dich herum siehst. Ein Leben, das durchsetzt ist von Gottes Güte und Reinheit und umgeben ist mit einem geheimnisvollen Glanz. Oder um im Bild zu bleiben: Picke nicht länger launisch herum wie ein Huhn, sondern fang endlich an, wie ein Adler zu schweben, anmutig und erhaben.

Es ist viel Zeit vergangen und ich bin erwachsen

Die eigene und wahre Bestimmung zu finden, ist ein Prozess, den man nicht erzwingen kann. Du kannst ihn auch nicht forcieren. Selbstverständlich hast du auch einen eigenen Beitrag zu leisten, nur ist es so, dass eine Bestimmung dir auch geschenkt werden muss – sie muss dir zufallen. Ein Beispiel:

Carly Fiorina war die erste Frau, die eine der größten und einflussreichsten Firmen der USA als geschäftsführendes Vorstandsmitglied (CEO) vertrat. Sechs Jahre lang war sie der Kopf von Hewlett Packard, eines der sogenannten „Fortune 20“-Unternehmen – dem Wirtschaftsblatt „Fortune“ zufolge die tonangebenden und bedeutendsten Firmen der Vereinigten Staaten von Amerika. Das Magazin verlieh Carly Fiorina zudem den Titel „einflussreichste Geschäftsfrau“.

In ihren Memoiren „Mit harten Bandagen“ schreibt Carly Fiorina, wie sie damals als angehende Studentin versuchte, Anerkennung von ihren Eltern zu bekommen. Ihre Mutter konnte gut malen, ihr Vater hingegen hielt viel von Recht und Bildung. Da Carly künstlerisch nicht so begabt war wie ihre Mutter, trat sie in die Fußstapfen ihres Vaters. Sie beschloss Jura zu studieren. Sie dachte, das würde ihre Mutter zufriedenstellen und ihren Vater unglaublich froh machen. Von da an arbeitete sie ungewöhnlich hart und gab jeden Tag ihr Bestes. Aber mit der Zeit forderte ihre Gesundheit den Tribut für diesen Lebensstil. Sie litt immer öfter an Kopfschmerzen und vermisste es, Dinge einfach mal für sich selbst machen zu können. Irgendwann besuchte sie ein Wochenende lang ihre Eltern.

An diesem Sonntagmorgen fühlte sie sich wegen ihres Studiums und ihrer Zukunftsaussichten wieder einmal elend. Sie nahm eine Dusche und bekam währenddessen eine Eingebung. In ihrer Biografie schreibt sie:

„Ich sehe noch die Kachel vor mir, auf die ich während des Duschens starrte, und ich erinnere mich, wie ich in diesem Moment keinen blassen Schimmer mehr hatte, warum ich eigentlich Jura studierte. In diesem Moment, mit 22 Jahren, wurde mir zum ersten Mal klar, dass sich mein Leben nicht darum zu drehen hatte, bloß meine Eltern zufriedenzustellen.

Wenn ich alle meine Fähigkeiten und Gaben einsetzen wollte, wenn ich etwas aus meinem Leben machen wollte, dann müsste ich etwas finden, was meinen Verstand herausfordern und mein Herz erwärmen würde. Mir wurde auf einmal klar: Mein Leben gehörte mir. Ich konnte tun, was ich wollte. Meine Kopfschmerzen verschwanden. Ich trat aus der Dusche und bereitete mich darauf vor, meine Eltern zu enttäuschen.“ (1)

Carly Fiorina wurde an jenem Morgen in der Dusche mit 22 Jahren bewusst: Es ist viel Zeit vergangen und ich bin erwachsen! Wenn es je an der Zeit war, um an meinen größten Träumen und tiefsten Sehnsüchten zu arbeiten, dann jetzt!

Ihr Jurastudium war für sie der Hühnerstall. Sie hatte versucht, sich damit zufriedenzugeben und ihren Eltern zu gefallen. Doch dann kam der Augenblick, in dem sie merkte: Da gibt es mehr! Was sie in diesem Moment noch nicht wusste: Sie war dazu bestimmt, einen Betrieb mit Zehntausenden Angestellten in einem komplexen innovativen Markt zu führen. Sie fühlte da nur etwas. Nämlich, dass sie geboren war, um zu fliegen.

Den Augenblick, als sie dies für sich erkannte, beschreibt Carly Fiorina als eine Epiphanie – eine Offenbarung von Gott selbst. Und wir sind uns sicher: Als Christ brauchst du hin und wieder eine solche Eingebung. Dass dir plötzlich bewusst wird, wie es tatsächlich um dein Leben und deine Situation bestellt ist. Denn hast du erst einmal die Wirklichkeit, die über deinem Leben steht, erkannt, kannst du daraus neue und radikale Schritte der Erneuerung und Veränderung unternehmen.

Vergessen zu fliegen

Echte Veränderung beginnt damit, Wirklichkeiten zu erkennen. Wenn du angesichts der Wahrheit einer Sachlage ehrlich zu dir selbst wirst. Um an diesen Punkt zu gelangen, brauchst du allerdings Gottes Hilfe, denn unser Leben ist ein feinmaschiges und verworrenes Spiel verschiedenster Einflüsse. Durch diesen Lebenswirrwarr zu seiner wahren Bestimmung vorzudringen, ist daher leichter gesagt als getan. Es gibt genügend Einflüsse und besonders listige Versuchungen, die dich vom Erkennen der Wirklichkeit und deiner Bestimmung abhalten wollen. Vieles, mit dem wir tagtäglich konfrontiert sind, versucht uns bildlich gesprochen zu betäuben und die Luft zum Atmen zu nehmen, und zwar so, dass man Sein und Schein nur schwer unterscheiden kann. Der Mystiker Thomas Feverel Merton (1915–1968) schreibt in seiner Autobiografie dazu:

„Wir leben in einer Gesellschaft, die gänzlich darauf ausgerichtet ist, jeden Nerv des menschlichen Körpers zu reizen und auf dem höchsten Grad künstlicher Spannung zu halten. In unserer Gesellschaft wird jede menschliche Begierde bis aufs Äußerste angesprochen und ausgereizt, und es werden so viele neue Begierden und künstliche Leidenschaften wie möglich ins Leben gerufen, um diese mit den Produkten unserer Fabriken, Druckerpressen, Filmstudios und den übrigen zu bedienen.“ (2)

Mir (Henk) erscheinen diese Worte als unglaublich wahr. Sie sprechen etwas Wichtiges an, so als ob man mal kurz über den eigenen Alltag emporgehoben wird und aus dieser „Vogelperspektive“ einmal sehen darf, was da eigentlich passiert. Alles um uns herum buhlt um unsere Aufmerksamkeit, erhebt Anspruch auf unsere Loyalität und zwingt uns oftmals in die straffe Zwangsjacke, ein Leben zu führen, das gar nicht das unsere ist. Und oft sind es die an sich nicht verkehrten Dinge, die uns aber doch vollkommen austricksen und uns vom wirklichen Leben fernhalten. Ein paar Beispiele:

Ist Fernsehen verkehrt? – Nein. Aber überleg doch einmal, wie oft du dich in der Woche abends vom Sofa Richtung Bett bewegst – unerfüllt. Der Fernsehabend, womöglich durch die Kanäle gezappt, erfrischt dich nicht für den neuen Tag. Musik zu hören oder einige Seiten aus einem Buch zu lesen dagegen schon. Probiere es doch einmal aus!

Ist Alkohol zu genießen, in Maßen, verkehrt? – Nein. „Aber“, so verriet mir ein Freund, „das anfangs kleine bisschen Alkohol wurde im Laufe der Zeit immer ein wenig mehr und sorgte letztlich dafür, dass ich später als meine Frau zu Bett ging, wodurch unsere Gespräche am Abend immer mehr abnahmen.“ Er fasste daraufhin einen radikalen Entschluss und beschloss, ein Jahr lang keinen Alkohol mehr zu trinken. Und die Beziehung zu seiner Frau gewann neu an Tiefe.

Paulus rät:

„Hasst alles Böse und stellt euch auf die Seite des Guten.“ Römer 12,9

Und weiter:

„Ich möchte, dass ihr das Gute klar erkennt und euch von allem Bösen fernhaltet.“ Römer 16,19

Es geht um zwei wichtige Verhaltensweisen. Die erste lautet: Geh keinen schlechten Dingen nach, beschäftige dich erst gar nicht damit und setz dich auch nicht ihrem Einfluss aus! Doch selbst wenn du schlechte Einflüsse und Dinge meidest, kannst du dennoch das Gute verpassen. Nämlich dann wenn du in Trägheit, in einer energielosen, kraftlosen Sattheit, versinkst, die dich gefangen nimmt und betäubt. Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns darum kümmern, das Gegenteil des Schlechten, also das Gute, in unserem Leben zu kultivieren und zu pflegen.

Sein Herz nach dem Guten auszurichten ist daher die zweite wichtige Verhaltensweise. Kümmere dich darum, wie du guten Einflüssen, dem Reinen und Aufbauenden, das dir Kraft verleiht, einen Platz in deinem Leben geben kannst. Öffne deinen Geist, deine Seele und deinen Körper dafür!

Susannah Wesley, die Mutter des berühmten Erweckungspredigers John Wesley, gab ihm einmal folgende Definition von Sünde mit:

„Was dein Denken schwächt, die Empfindsamkeit deines Gewissens antastet, dein Verständnis von Gott verfinstert und dir die Lust an geistigen Dingen raubt – das ist für dich Sünde.“

Sünde, das Verfehlen von Gottes gestecktem Ziel für uns und unser Leben, umfasst nach dieser Definition nicht nur das Negative, sondern auch das mangelnde Dasein an Positivem. Oder um es anhand unserer Adlergeschichte vor Augen zu führen: Für den Adler ist es ist nicht nur Sünde ein Huhn zu sein, es ist ebenso Sünde kein Adler zu sein.

Demnach hätten die folgenden Verse des italienischen Dichters und Philosophen Dante Alighieri (1265–1321) auch in der Geschichte über den Adler und das Huhn ihren Platz haben können:

„Aber du vergaßt deine Flügel auszubreiten.

Eine junge Frau, eine Anzahl flüchtiger

Genüsse hielten dich von mir fern.“ (3)

Ein junger Mann. Eine junge Frau. Oder was auch immer … Täglich treiben uns unzählige Reize, Genüsse und Späße um, flüchtige, vergängliche, aufmerksamkeitsfordernde. Sie sind Ausdruck und Tragik von zu viel Leben, da sie uns oft von unserer Bestimmung ablenken, wenn nicht gar fernhalten. Sie lassen uns das wahre Leben versäumen, für das wir erschaffen wurden. Wir sind zu beschäftigt, zu abgelenkt, manchmal vielleicht einfach zu müde durch zahllose an sich nicht verkehrte Vergnügungen und Beschäftigungen, dass wir einfach etwas ganz Wichtiges vergessen: zu fliegen.

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