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Wolfram Frietsch

DIE ILLUMINATEN

Wolfram Frietsch

DIE ILLUMINATEN

Geschichte, Herkunft, Ziele

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Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka/Thomas Hofer, Dobl

Umschlagfoto Vorderseite: Wikimedia Commons/Archiv des Autors

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ISBN 978-3-85365-248-0

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© Copyright by Verlag für Sammler, Graz 2011

Layout: Ecotext Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 Wien
Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Inhalt

Vorwort

I. Im Widerstreit von Aufklärung und Gegenaufklärung

Womit alles begann: Das 18. Jahrhundert – Zeitalter der Aufklärung und der Geheimbünde

Die Vernunft als alleiniger Maßstab

Wirtschaft der unsichtbaren HandVernunft und GlaubeDie Aufklärung des ZeitaltersGegenaufklärungAufklärung und GegenaufklärungDie Aufklärung in Bayern und die Illuminaten

Verschwörungstheorien und was noch dazugehört

Woher stammt die Verschwörungstheorie?AmerikaIlluminat und IlluminatiÜbertragung der VerschwörungÖffentlichkeit und Privatheit

Die Illuminaten, das „Licht der Vernunft“ und die Politik

Der Mensch führt sich selbstAbkürzungen und VerschlüsselungenIlluminaten sind keine EsoterikerDer Illuminat zwischen allen StühlenDas Illuminatenverbot und seine FolgenFreiherr KniggeFreimaurer und IlluminatenDas HörensagenRelativ lockerer ZusammenschlussFazit

II. Aufstieg und Fall der Illuminaten

1776: Amerika liegt in Bayern – Die Gründung der Illuminaten

1777: Woher kam die Idee?

1778: Redliches Bemühen

1779: Areopag und beginnende Ausbreitung der Illuminaten

1780: Struktur und Umgangsformen

1781: Neubeginn

1782: Politische Alchemie

1783: Eine wütende Feindschaft

1784: Der Anfang vom Ende

1785: Ein kurfürstliches Dekret und seine Folgen

1786: Auslieferungen

1787: Entdeckte Originalschriften und der Bote Bode

1788 bis 1796: Die letzten Jahre: Abgesang und Legendenbildung

179017931794

III. Ziele, Riten und Köpfe des Ordens

Was erwartete den neu aufgenommenen Illuminaten?

FragebogenIlluminatenversprechenIlluminaten-DeutschMinervalgraChristentum und Illuminaten

Führende Köpfe der Illuminaten I: Adam Weishaupt, der Ordensgründer

Die KarriereFamilienlebenGründung der IlluminatenAuflösung und Flucht

Führende Köpfe der Illuminaten II: Friedrich Adolph Freiherr Knigge, der Kommunikator

Erblich vorbelastetIlluminaten aus BayernDer Obere der OberenNeuanfang und altes Leben

Führende Köpfe der Illuminaten III: Johann Christoph Bode, der Radikalaufklärer

Bode als IlluminatDie Schwedenkiste

Geheimes Weimar

Fürsten und Illuminaten: Gekrönte Illuminaten-Häupter

So sehen Illuminaten aus: Wenn das Unbekannte ein Gesicht bekommt

ILLUMINATEN

109 Inwieweit waren Mozart und Beethoven Illuminaten?

IV. Umsturz, Verschwörung und bleibende Aktualität

Frankreich, die Französische Revolution und die Illuminaten

Im Schatten der französischen Illuminaten

Emanuel SwedenborgLouis Claude de Saint-MartinFranz Anton MesmerCagliostro

„Du bist Staatsbürger, oder Du bist Rebell!“ – Enzyklopädisten + Freimaurer + Illuminaten = Jakobiner

„Aus dem Illuminatismus entstand der Jacobinismus und aus diesem der Carbonarismus in Italien … und der Radicalismus in England.“ – Illuminaten in England und den USA

Illuminaten-Engel

Satzung des Illuminatenordens

Illuminaten-Symbolik

Dollarnote2323 – Nichts ist so, wie es scheintLara Croft: Tomb RaiderGargoyles – Auf den Schwingen der GerechtigkeitModerne IlluminatiDas Foucaultsche PendelDan Brown

Die Illuminaten, die keine sein wollten

Schluss – und doch nicht vorbei

V. Anhang

Der Illuminatenorden und seine Wurzeln: Alchemie, Kabbala, Hermetik, Freimaurer, Rosenkreuzer und das System der Strikten Observanz

AlchemieDie KabbalaHermetikDie RosenkreuzerFreimaurerStrikte Observanz

Anmerkungen

Danksagung

Ausgewählte Literatur

Vorwort

Spricht man von den Illuminaten, muss man wissen, welche Illuminaten gemeint sind. Die Geschichte der Illuminaten ist eindeutig und kompliziert zugleich. Eindeutig, wenn man auf die Vorstellungen des Gründers des historischen Illuminatenordens, Adam Weishaupt, zurückgreift; kompliziert, wenn Ideen aus den Zusammenhang gerissen werden und deren Eigendynamik unterschätzt wird; eine Eigendynamik, die bis heute eindrucksvoll ihre merkwürdigen Blüten treibt, bis hin zu Weltherrschafts- und Verschwörungstheorien. Im Grunde bleibt also erst einmal nur ein Wort: Illuminat!

Illuminat bedeutet übersetzt „Erleuchteter“. Heilige der Vergangenheit gelten als erleuchtet und werden auf Bilder symbolisch mit einem Strahlenkranz um ihren Kopf dargestellt. In der östlichen Mystik – beispielsweise im Buddhismus – ist es durchaus üblich, Menschen, die eine gewisse religiöse oder spirituelle Reife erlangt haben, als erleuchtet zu bezeichnen. Man muss nun keinen allzu großen mystischen oder religiösen Sinn dafür haben, um einen Widerspruch zwischen einem Erleuchteten in geistiger Hinsicht und einem Illuminaten mit Anspruch auf Weltherrschaft festzustellen. Beides scheint sich – zu Recht – zu widersprechen.

Für Adam Weishaupt, dessen Illuminatenorden bis heute als Keimzelle des Verschwörungsdenkens gilt, gibt es eine enge Beziehung zwischen Lichtsymbolik und Illuminatenidee. Letztere zielt jedoch nicht auf Licht und Erleuchtung im Sinne einer religiösen Erfahrung ab, sondern auf das „Licht der Vernunft“!

Erst ein aufgeklärter, rationaler und seinen Verstand sicher gebrauchender Geist ist für Weishaupt ein wahrer Illuminat! Mit Spiritualität oder religiösem Schwärmertum, mit okkulten Bestrebungen oder, wie man heute sagen würde, Esoterik, hat das nichts zu tun. Im Gegenteil. Weishaupt zählt zu einer Kategorie der Radikalaufklärer, die Verstand und Vernunft über alles setzen und letztlich davon überzeugt sind, alle Fragen beantworten zu können. Es ließe sich sogar so weit gehen und sagen, der Illuminatenorden sei angetreten, um die Menschen aus der Dunkelheit der Unwissenheit zur Erkenntnis des „Lichtes der Vernunft“ zu führen. Mit Weltherrschaft oder einer Neuen Weltordnung hat dies wenig zu tun. Und dennoch bringt man die Illuminaten damit in Verbindung. Warum?

Betrachten wir das Motiv auf dem Umschlag dieses Bildbandes genauer. Es handelt sich um die Rückseite einer amerikanischen Ein-Dollar-Banknote. Was ist darauf zu sehen? Ins Auge fällt die dreizehnstufige Pyramide, doch statt eines Schlusssteines entdecken wir ein allsehendes Auge und unter der Pyramide lesen wir den lateinischen Satz: „Novus ordo seclorum“, der irrtümlich mit „Neue Weltordnung“ übersetzt wird. Handelt es sich hierbei nicht um bekannte Symbole der Illuminaten und Indizien für eine ihrer Verschwörungen?

Betrachten wir das Ganze genauer. Das Motto „Novus ordo seclorum“ (oder „saeculorum“) heißt wörtlich übersetzt „Neuordnung der Zeitalter“ und ist eine Anspielung auf einen Vers des römischen Dichters Vergil, der hier ein „Goldenes Zeitalter“ prophezeit. Mit einer neuen Weltordnung hat das nichts zu tun. Auch die Zahl Dreizehn ist nicht so geheimnisvoll wie es den Anschein hat. Die „Neuordnung der Zeit“ meint die Unabhängigkeitserklärung der USA; unterzeichnet von dreizehn (!) Bundesstaaten im Jahre 1776. Das „allsehende Auge“ ist ein weit verbreitetes religiöses Motiv und findet sich – ohne Bezug zur Illuminatensymbolik – seit Jahrhunderten in vielen Kirchen, um die Allgegenwart Gottes auszudrücken. So verschwörerisch das alles auch anmutet, so wenig hat es mit den Illuminaten zu tun.

Wenn man nun auf die Gründungsintentionen des Illuminatenordens zurückgeht, wird deutlich, dass Weishaupt sich von den geheimen Bewegungen seiner Zeit abgrenzen wollte, notwendigerweise auch von übertriebener Symbolik, esoterischer Begriffssprache und fruchtloser Geheimniskrämerei. Seine Getreuen haben dieses Ziel angenommen und weiterverfolgt. Die Illuminatenwelt ist extrem arm an Symbolik und esoterischer Begrifflichkeit. Obwohl es deshalb Missverständnisse und Auseinandersetzungen gab, namentlich mit einem seiner Getreuesten, Adolph Freiherr Knigge, blieb der Illuminatenorden seiner Linie treu, Verstand und Vernunft über alles zu stellen. Warum aber ein solches Ziel bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und in sein Gegenteil verkehrt wurde, gehört zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte.

Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung und der Geheimbünde, ist der Illuminatenorden beheimatet, und zwar zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung. 1776 in Bayern gegründet, wirkt er, wenn man großzügig rechnet, bis 1796, ehe er wieder verschwand. Und doch reichte die Zeit aus, um ihn mit der Staatsgründung der USA in Verbindung zu bringen und ihn für die Französische Revolution 1789 verantwortlich zu machen sowie für die Unterwanderung Europas und Amerikas im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert.

Wie sollte dies dem Illuminatenorden gelungen sein? Und wer gehörte dem Illuminatenorden an? Zu ihm zählten gekrönte Häupter, Adelige, Bürger aller Schichten und illustre Gestalten wie Goethe, Herder oder Johann Heinrich Pestalozzi. Standen sie für Weltverschwörung und Anarchie? Schwer vorstellbar. Und doch bleiben Spekulationen über eine Jahrhunderte andauernde Illuminatenverschwörung.

Im Mittelpunkt dieses Bildbandes stehen die Illuminaten, deren Geschichte, Absichten, Ziele und Pläne. Damit wird zwar auch der Gedanke der Weltverschwörung berührt, aber nur am Rande. Auf Spekulationen in dieser Hinsicht wird weitgehend verzichtet. Die Illuminaten als ein Orden der Verschwörer, der sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte zieht und von unsichtbarer Hand die Geschicke der Welt lenkt, ist deshalb ebenso wenig Gegenstand dieses Buches wie die „üblichen Verdächtigen“ mit Anspruch auf Weltherrschaft: Skull & Bones, Bilderberger, einflussreiche Familien (Rockefeller oder Rothschild), Hochgrad-Freimaurer, eine jüdische Weltverschwörung oder ein hinter den Kulissen ablaufender Krieg der Geheimdienste der Welt … All dies sind Themen, die hier nicht behandelt werden. Der Grund dafür liegt darin, dass sich der Bezug zu den Illuminaten häufig entweder nicht ergibt, zu spekulativ ist oder den eng gesetzten Rahmen dieses Bildbandes sprengen würde.

Bis heute bleibt aber die Sache der Illuminaten anziehend und faszinierend. Bücher wie Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel oder Dan Browns Illuminati, Filme wie Tomb Raider mit Lara Croft oder 23 – Nichts ist so, wie es scheint finden bis heute ihr Publikum. Ein Ende ist nicht abzusehen. Längst haben die „Illuminaten“ das Internet und die PC-Spiele-Welt erobert. Und dennoch – oder gerade deswegen – sind berechtigte Zweifel angebracht. Immer gilt es zu unterscheiden zwischen Illuminaten und Illuminaten, zwischen der durch Fakten belegten Bewegung der Illuminaten und jenen Vorstellungen, die auf sie projiziert werden.

Die herbeiphantasierte Welt der Illuminaten ist bei Weitem nicht so geheimnisvoll wie ihr tatsächliches Wirken, das auf den folgenden Seiten beschrieben wird. Die sich ergebende Frage nach den wahren Absichten der Illuminaten beantwortet sich aus ihrer Geschichte und den Irrungen und Wirrungen des sich verselbständigenden Phänomens „Illuminati“. Mit anderen Worten: So reizvoll die Aussicht auf eine geheime, die Zeiten überdauernde illuminatische Verschwörung auch sein mag, die tatsächliche Geschichte des Illuminatenordens bleibt ungleich faszinierender.

Wolfram Frietsch
im März 2011

I.
Im Widerstreit von Aufklärung und Gegenaufklärung

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Womit alles begann: Das 18. Jahrhundert – Zeitalter der Aufklärung und der Geheimbünde

Das 18. Jahrhundert bietet philosophisch, politisch und kulturell ein überaus komplexes und uneinheitliches Bild. Dieses Jahrhundert, auch als „Zeitalter der Aufklärung“ bezeichnet, ist eng mit Liberalismus, beginnender Demokratisierung, sozialistischen Utopien, Konservativismus, Royalismus und der Bildung von Geheimgesellschaften verbunden. Problematisch bleibt es, fasst man diesen Zeitraum nur in Gegensätze wie Aufklärung und Gegenaufklärung, Fortschritt und Konservativismus oder Demokratisierung und Monarchie. Auch Schlagworte wie „Zeitalter der Polarisierung“ oder „Gegensätze und Unversöhnlichkeiten“ greifen mit Blick auf das 18. Jahrhundert zu kurz. Es gibt zu viele Überschneidungen und Grauzonen von Positionen, Meinungen und Standpunkten. Differenzierung ist also angesagt.

Zu einfach ist es deshalb auch, zwischen Verteidigern und Bewahrern des Status quo auf der einen und Reformern auf der anderen Seite zu unterscheiden. Auch Aufklärung an sich verbürgt noch keinen Fortschritt. Bestehendes bewahren zu wollen, muss nicht notwendigerweise antiaufklärerisch sein. Pointiert ausgedrückt: Es gab auch konservative Aufklärer, die, wie es der österreichische Historiker Fritz Valjavec formulierte, „vor den politischen Folgen der rationalen Geisteshaltung zurückschreckten und daher auch ihrer weltanschaulichen Begrenzung zustimmten“.

Heute sind wir uns der Grenzen von Fortschritt, Technisierung, Demokratisierung und Rationalisierung bewusst. Ein naiver Glaube an das „Licht der Vernunft“ oder daran, sich „nur“ seines Verstandes zu bedienen, entlarvt sich angesichts der Ereignisse im 20. Jahrhundert als allzu einseitige Hoffnung. Schon den Zeitgenossen zeigt sich bei Einschätzung und näherer Betrachtung über Einfluss und Folgen der Französischen Revolution des Jahres 1789, wie divergierende Auffassungen nebeneinander bestehen und um Geltung ringen, ohne dass eine eindeutig als Sieger hervorging.

Nicht unterschlagen werden sollte, dass auch ein aufgeklärtes Weltverständnis spezifischen Ordnungsvorstellungen und Glaubenssätzen unterliegt, nämlich denen der Vernunft und des „Glaubens“ an die Gewissheit der Vernunft. Dass die Vernunft aus sich heraus ihre eigene Vernünftigkeit zweifelsfrei erklärt, dieser Beweis steht noch immer aus.

Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft mit Blick auf die Vernunft eine Grenzziehung vorgenommen. Die theoretische Vernunft könne das Wesen der Wirklichkeit („Dinge an sich“) nicht unmittelbar erfassen. Diese Grenzziehung markierte eine bedeutsame Relativierung des Anspruches der radikalen Vertreter einer „vernunftgemäßen“ Weltbetrachtung.1 Problematisch ist es weiter, zwischen Gegnern und Befürwortern „der“ Aufklärung unterscheiden zu wollen, wofür sich der Begriff „Gegenaufklärung“ eingebürgert hat. Was leichthin als Gegenaufklärung bezeichnet wird, ist alles andere als eindeutig identifizierbar.

Konservative oder bewahrende Kräfte sind nicht notwendigerweise „gegenaufklärerisch“ und vice versa. Auch solche Bewegungen sind als vernünftig und vernunftkritisch einzustufen, so dass sich Vernunft alleine als Unterscheidungsmerkmal nur bedingt anbietet. Überhaupt kann nicht einmal eindeutig definiert werden, was „Aufklärung“ genau meint oder bedeutet. Selbst im Jahrhundert der Aufklärung wurde erst spät eine Definition formuliert, die zwar einen breiten Konsens fand, aber auch Ablehnung erfuhr. Um zu verstehen, was Aufklärung ist, wäre zunächst zu klären, in welchem „Raum“ sie sich abspielte, was also das 18. Jahrhundert im Kern maßgeblich prägte.

Die Vernunft als alleiniger Maßstab

„Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ – so wurde der Herrschaftsbereich der römischdeutschen Kaiser vom Mittelalter bis zum Jahre 1806 genannt. Hinter der Bezeichnung stand der Anspruch, in der Nachfolge des Römischen Reiches zu stehen. Gleichzeitig verband sich hiermit der Gedanke der Universalherrschaft. Aber noch ein anderer Aspekt spielte eine wichtige Rolle, nämlich die Prophezeiungen des Propheten Daniel. Von ihm stammt die Vorhersage, dass es vier Weltreiche geben werde, bevor der Antichrist erscheint („Vier-Reiche-Lehre“) und die Apokalypse beginnt. Das Römische Imperium, dass in der „Vier-Reiche-Lehre“ als viertes Reich eingestuft wird, musste vor diesem Hintergrund weiter Bestand haben. Der Zusatz „Heilig“ verwies auf das Gottesgnadentum des Kaisertums und legitimierte die Herrschaft.

Politisch haben wir es im 18. Jahrhundert nach wie vor mit dem Absolutismus zu tun. Deutschland ist in einzelne Fürstentümer aufgeteilt. Einfluss auf die deutschen Staaten übten neben den Großmächten Preußen und Österreich auch England und Frankreich aus. Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt immer noch weit davon entfernt, eine geeinte Nation zu sein. Im 18. Jahrhundert geriet das absolutistische Herrschaftsgebaren, verstanden als Handeln des Herrschers aus eigener Machtvollkommenheit, mehr und mehr in die Kritik, flankiert von neuen, grundstürzenden Ideen. Losungen wie der Mensch sei frei geboren und liege nicht in Ketten, Gerechtigkeit für alle sei möglich, eine von Gott gegebene Ordnung gäbe es nicht, sondern nur eine, die der Mensch erschaffen hat, werden mit einem radikalen Fortschrittsglauben angereichert. Dieser Glaube bildet die Grundlage für die sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts abzeichnende Industrialisierung, die zunächst vor allem in England einsetzt. Die Erfindung der Dampfmaschine im Jahre 1712 – weiterentwickelt durch James Watt 1769 – oder des vollmechanisierten Webstuhls, 1785 von Edmond Cartwright erfunden, zeigen deutlich, wohin die Entwicklung gehen wird. Maschinen lösen mehr und mehr die Handarbeit ab. Fabriken entstehen und bringen Wohlstand und Fortschritt, aber auch soziale Verelendung in noch unbekanntem Ausmaß. Federführend ist der Dritte Stand, das Bürgertum, das an politische Macht gewinnt und zu Einfluss gelangt. Das Bürgertum betritt die politische Bühne und mit ihm die Ideen der „Vernunft“.

Durch den Glauben an die Allmacht der Vernunft wird die Legitimierung des Anspruches auf (absolute) Adelsherrschaft schwierig. Hieß es früher „König von Gottes Gnaden“, kann dieses Gottesgnadentum vor dem „Licht der Vernunft“ immer weniger bestehen. Eine Reaktion darauf war der aufgeklärte Absolutismus, der aufklärerische Ideen aufzunehmen und zu integrieren versuchte. Hier versteht sich der Herrscher nicht mehr als Souverän, der von Gott eingesetzt ist und über jedem Gesetz steht, sondern als oberster Repräsentant einer „vernünftigen“ Staatsordnung, der dem Allgemeinwohl dient. Friedrich II. von Preußen (König 1740–1786) bezeichnete sich beispielsweise als der „erste Diener seines Staates“.

Neben Friedrich gelten Joseph II. von Österreich, Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ (1765–1790), im weiteren Sinne seine Mutter Maria Theresia (Erzherzogin 1740–1780) und die russische Zarin Katharina die Große (1762–1796) als Vertreter des aufgeklärten Absolutismus. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass hierin ein schwindender Einfluss der Religion zum Ausdruck kommt, die zugunsten „vernünftiger Prinzipien“ zurückgedrängt wird. Damit verbunden war nolens volens eine schleichende Erosion des als „gottgewollt“ apostrophierten Herrschaftsverständnisses.

Wirtschaft der unsichtbaren Hand

Die rasch voranschreitende wirtschaftliche Entwicklung erforderte neue Wege. Dies kann durchaus wörtlich verstanden werden; das Gebot der Stunde waren ein besseres Straßennetz und ausgebaute Verkehrswege. Dazu kam, dass die Einschränkungen der Handelsbeziehungen beseitigt werden mussten, wollte man „frei wirtschaften“. Dazu gehörte weiter, dass auch die Bürokratie und das Rechtssystem leistungsfähiger werden mussten. Mit anderen Worten: Der Druck auf die Regierenden wuchs. Wo Handel ist, ist Geld. Wirtschaften heißt Kosten und Nutzen abwägen. Bald regten sich hier die ersten Stimmen, die die Frage stellten, ob man sich einen Herrscher noch leisten könne oder wolle.

Veränderungen sind notwendig und geschehen auf wirtschaftliche Art. Das merkantile Wirtschaftssystem, ein System, das auf Handel, Export und Zöllen aufgebaut war, wurde aufgeweicht. Die Idee eines Wirtschaftsliberalismus, des freien Handels ohne Beschränkungen und Zölle, griff um sich. Der bis dahin praktizierte Merkantilismus, der darauf aufbaute, den Import durch Zölle zu hemmen und den Export mit dem Ziel vorzutreiben, die Wirtschaftsmacht zu stärken, erwies sich immer weniger als praktikabel. Gefordert war ein Staat, der zurückhaltend agierte, der den Handel überwachte und nur dann gezielt eingriff, wenn es nötig war.

Auch wenn Religionskriege der Vergangenheit angehörten, wurden weiter Kriege zu Zwecken der Gebietserweiterung geführt, wovon beispielsweise Preußen profitierte. Friedrich II., besser bekannt als Friedrich der Große (1712–1786), eroberte Schlesien (1740–1763). Der Siebenjährige Krieg (1756–1763) mit Preußen, England bzw. Hannover auf der einen und Österreich, Frankreich und Russland auf der anderen Seite etabliert Preußen als Großmacht auf dem europäischen Parkett.

Ließ sich dieser Krieg aber auch wirtschaftlich rechtfertigen? Zu Buche standen hohe Staatsausgaben, die steigende Staatsverschuldung und die vielen Toten auf den Schlachtfeldern … All das war im Übrigen auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Das Ergebnis dieser Betrachtung: Kriege dienen nur bedingt der Wirtschaft und sind damit nicht im Interesse des Bürgertums.

Der Aufklärer und Moralphilosoph Adam Smith, der heute als Begründer der klassischen Volkswirtschaftslehre gilt, propagierte ein System der natürlichen Freiheit, das gesellschaftlichen Wohlstand bringen sollte. Ein Kerngedanke von Smith lautet, dass der Einzelne dadurch, dass er aus Eigeninteresse seine Produktivität und damit die Erträge erhöht, unterschwellig im Interesse der Allgemeinheit handelt und damit deren Wohlstand fördert, und zwar in einem höheren Grad, als wenn er dies direkt beabsichtigt hätte. Smith spricht hier unter anderem von einer „unsichtbaren Hand“, die den Einzelnen leitet. Mit anderen Worten: Nach Smith kann der Staat im Hintergrund bleiben, weil sich die Gesellschaft selber lenkt. Smith machte hier allerdings zwei bedeutsame Einschränkungen, nämlich dass es keine Monopole gibt und der Markt nicht eingeschränkt ist. Im Gegensatz zum oben angesprochenen merkantilen System soll der Staat also lediglich dafür sorgen, dass ungestört Handel getrieben werden kann. Genauer gesagt: Smith reduziert die Rolle des Staates darauf, die Landesverteidigung zu organisieren, für Gerechtigkeit zu sorgen, das Privateigentum durchzusetzen und öffentliche Anstalten wie beispielsweise Schulen einzurichten, von denen die Allgemeinheit profitiert.

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Adam Weishaupt: DAS VERBESSERTE SYSTEM DER ILLUMINATEN MIT ALLEN SEINEN EINRICHTUNGEN UND GRADEN. Frankfurt u. Leipzig [Nürnberg] 1787. Hierin legt Weishaupt über den Illuminatenorden Rechenschaft ab. Die berühmte Eule der Illuminaten ist auf dem Titelbild zu sehen. Im Bild: Neuauflage, 1788 (© AAGW)

Vernunft und Glaube

Theorien wie diese gingen auf Kosten des Souveräns, der neben politischem Machtverlust auch wirtschaftlichen Druck zu spüren bekam. Selbst biblische Wahrheiten sahen sich angesichts wirtschaftlicher Interessen relativiert. Der französische Schriftsteller Antoine de Rivarol (1753–1801) konstatierte 1788 zum Beispiel: „Einstmals diskutierte man über die Wahrheit der Religion, heute diskutiert man nur noch über ihre Nützlichkeit.“

Kritiker unterstellten der Kirche, fortschrittsfeindlich bzw. ein überholtes Requisit aus dem Mittelalter zu sein. Weiter denunzierten sie die Kirche als Ort überkommener Vorstellungen wie Dogmatismus, Autoritätsanspruch oder Jenseitsorientiertheit. Vor allem der Herrschaftsanspruch der Kirche wurde angezweifelt. Wie immer kommt es auch hier auf die Perspektive an: Was für den einen Dogmatismus ist, ist für den anderen der Garant einer „ewigen Ordnung“ in Hinblick auf eine übermenschliche, sprich göttliche Vernunft. Übersetzt als Glauben, der sich in ein Gesamtsystem eingliedert, das als Abbild himmlischer Ordnung gedeutet werden kann, kann hier von einer Form ontologischer Geborgenheit gesprochen werden, die durchaus als „vernünftig“ apostrophiert werden kann. Das Vaterunser dient dabei als Vorbild, wenn es heißt: „Dein Reich komme. / Dein Wille geschehe, / wie im Himmel so auf Erden.“ Die Umsetzung der Ideale des Christentums ist ja nicht abgeschlossen, sondern wird als Prozess begriffen, der teleologisch und eschatologisch in Hinblick auf eine „neue Welt“ ausgerichtet ist. Wieso sollte die Vernunft hierbei nicht ihren angestammten Platz finden?

Dennoch: Auf den ersten Blick standen sich zwei Parteien – Aufklärung und Religion – unversöhnlich gegenüber. So sahen es viele Zeitgenossen. Der französische Enzyklopädist Denis Diderot (1713–1784) schrieb 1756 in seiner Encyclopédie: „Die Vernunft bedeutet für die Philosophie, was die Gnade für den Christen bedeutet. Die Gnade bestimmt den Christen zum Handeln, die Vernunft den Philosophen.“ Diderot macht zustimmend deutlich, dass versucht wurde, Glauben durch Vernunft zu ersetzen, konkret: Religion durch Philosophie.

Glaube wird vernünftig umgedeutet, und aus Christus („dem Gesalbten“) machen die Aufklärer überspitzt ausgedrückt einen „Philosophen der Vernunft“. Der protestantische Theologe und spätere Radikalaufklärer Karl Friedrich Bahrdt (1741–1792) portraitiert in seinem Buch Ausführung des Plans und Zwecks Jesu (1784) Jesus als Anführer einer Geheimgesellschaft. Sein Ziel soll gewesen sein, die Vernunft zu verbreiten – Jesus als vernünftiger Gott und Wundertäter; ein Gedanke, den die Illuminaten aufgreifen werden. Der Gründer der Illuminaten, Adam Weishaupt, meinte sogar, dass die religiöse Schwärmerei auf die Vernunft zurückgeführt werden müsse: „Wir sagen also: Jesus hat keine neue Religion einführen, sondern nur die natürliche Religion2 und die Vernunft wieder in ihre alten Rechte setzen wollen.“ Damit setzte er sowohl ein deutliches Zeichen gegen die herrschende Religionsauffassung als auch gegen – seiner Meinung nach – Wunderglauben und Schwärmerei.

Die Illuminaten (und auch die Freimaurer) verstanden sich vor diesem Hintergrund auch als Gegenorganisationen zu den Kirchen. Die fünf Grundideale – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität – sollten im Alltag gelebt werden.

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Adam Weishaupt, Begründer des Illuminatenordens

Weishaupt schrieb gegen einen aus seiner Sicht antiaufklärerischen Mystizismus an. Er stand damit stellvertretend für eine Reihe von Kritikern, die das 18. Jahrhundert durch eine teilweise sehr naive, „aufgeklärte Brille“ sahen. Für sie war die Vernunft alles und der Glaube wenig. Sie stellten eine radikale Philosophie über kirchliche Wahrheiten und liebäugelten mit einer Revolution als einem Mittel, gegen die bestehende Ordnung vorzugehen. Die Schattenseiten der Vernunft, der Revolution und der Machtausübung – wie sie dann in der Zeit der Jakobinerherrschaft augenfällig wurden – waren ihnen dabei aber nicht bewusst.

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Adam Weishaupt: PYTHAGORAS ODER BETRACHTUNGEN ÜBER DIE GEHEIME WELT- UND REGIERUNGSKUNST. Frankfurt/M., Leipzig 1790/1795. Das Buch erschien, als Weishaupt selbst nicht mehr „Oberer“ des Illuminaten-Ordens war. (© AACW)

Zeitweise kann von einem Vakuum zwischen Macht und Religion, Vernunft und Glaube gesprochen werden, in das frische Kräfte mit neuen, revolutionären und radikalen Ideen drängten, um die Welt – und damit die bestehende Ordnung – zu verändern. Man wollte Politik machen, und man spielte mit dem Feuer.

Das Fundament schien brüchig geworden zu sein, die bestehende Ordnung war ins Wanken geraten. Mit gewaltigen Schritten nähern wir uns der Französischen Revolution von 1789 und damit der „Herrschaft der Vernunft“ – so wie sie ihre selbsternannten Parteigänger verstanden – und ihrer blutigen Entartung. Die Französische Revolution ist der Höhepunkt einer Entwicklungslinie, die die Welt nachhaltig veränderte, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil offener Terror, symbolisiert durch die Guillotine, die „große Gleichmacherin“, für die Durchsetzung radikaler politischer Positionen eingesetzt wurde. Die Bilanz dieses Terrors steht für sich: Auf die Entmachtung des Adels und die Jagd auf den Klerus folgten die Irrungen und Wirrungen der Revolutionäre, die schließlich selbst von ihrer Revolution gefressen wurden. Der Versuch der Durchsetzung einer Herrschaft, die auf „vernünftigen Prinzipien“ basiert, war offensichtlich gescheitert und die Schattenseiten der Aufklärung unübersehbar geworden.

Die Aufklärung des Zeitalters

Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) lieferte der Aufklärung mit seiner berühmten Wendung „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ihre Losung. Kant gilt aber auch als der schärfste Gegner eines überzogenen Vernunftbegriffs, was nicht zuletzt seine Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) deutlich machte. 1784 gibt er in seiner Schrift Was ist Aufklärung? eine Antwort auf das, was schon seit Jahren die Köpfe der Menschen beschäftigte. Kant formulierte, was diejenigen dachten, die den Glauben durch etwas anderes ersetzt wissen wollten. Die Radikalität seines Anspruches ist uns heute nicht mehr unmittelbar einsichtig. Wir sind es gewohnt, unseren Verstand oder unsere Vernunft einzusetzen. Doch das war nicht immer so. Kant bringt hier seine berühmten Sätze zu Papier:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.

Freiheit war das Thema und Kant einer der großen Wegbereiter, wenn auch mit bedeutsamen Einschränkungen. Denn dass der Mensch vernünftig handelt, bedeutete für Kant, nach moralischen und ethischen Prinzipien zu handeln, die den Anspruch erheben konnten, auf allgemeine Akzeptanz zu stoßen. Dieser Anspruch steht hinter dem „kategorischen Imperativ“ Kants, für den er verschiedene Definitionen fand. Eine sei hier als Beispiel genannt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dies kann er zwar nur in Freiheit, aber Freiheit schließt freiwillige Selbstbeschränkung und die Anerkennung von Grenzen mit ein. Jene wiederum gilt es aufzuzeigen. Kant war sich dessen bewusst und avancierte zum ersten Kritiker der Vernunft. Ihm ging es vor allem um die Prüfung menschlichen Erkenntnisvermögens im Hinblick auf dessen Grenzen. Er unterzog Metaphysik, Religion und das menschliche Erkenntnisvermögen einer grundlegenden Kritik, sprich: Prüfung. In seinem bereits mehrfach angesprochenen Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft findet der Leser auch eine überraschende Versöhnung zwischen Wissen und Glauben. Nach Kant ist das menschliche Erkenntnisvermögen beschränkt. Es gibt eine Grenze, über die es nicht hinausgelangen kann („Ding an sich“). Wenn der gläubige oder religiös ausgerichtete Mensch auf der einen Seite unter dem Widerspruch von Offenbarung, Glaube und Religion und auf der anderen Seite unter dem Widerspruch von Vernunft, Verstand und Freiheit leidet, so erhält er von Kant folgende Auskunft: Zwar können Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit durch die Vernunft nicht bewiesen werden; die Vernunft ist aber auch nicht in der Lage, die Nichtexistenz dieser Ideen zu beweisen. Damit ist die Frage nach dem Absoluten eine Glaubensfrage: Kant meint weiter, dass die praktisch-sittliche Vernunft geradezu die Annahme dieser übersinnlichen, nicht erfahrbaren Welt fordert: „Das Wissen blähet auf (wenn es Wahn ist), aber das Wissen bis zu den Grenzen desselben (Sokrates) macht demütig.“ Auch das ist Kant.

Der Pietist und Goethefreund, Professor der Medizin und Schriftsteller Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling (1740–1817), wird geradezu enthusiastisch über dieser Erkenntnis. In seiner Lebensgeschichte schreibt er:

Kant beweist durch unwiderlegliche Gründe, daß die menschliche Vernunft außer den Grenzen der Sinnenwelt ganz und gar nichts weiß … Jetzt war Stillings Seele wie emporgeflügelt, es war ihm bisher unerträglich gewesen, daß die menschliche Vernunft … der Religion, die ihm über alles teuer war, schnurgerade entgegen seyn sollte, aber nun fand er alles passend und Gott geziemend.

Damit scheint vieles gerettet: Gott und die Religion, die innere Erfahrung, die Vernunft … – eine friedliche Koexistenz zwischen Glauben und Vernunft schien auf einmal möglich.

Einige sahen dies anders. Kritisch und eher polemisch meint der Dramaturg, Schriftsteller und Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) im Jahre 1774:

Die Kanzeln, anstatt von Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts als vom innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben … Die ganze geoffenbarte Religion ist nichts als eine erneute Sanktion der Vernunft.

Kant ließ, wie wir gesehen haben, dem Glauben in der Tat Raum. Radikalaufklärer, die auf den Prinzipien der Vernunft und des Verstandes insistieren, gewährten diesen Raum nicht. Doch damit ist der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft nicht gelöst. Er gärt weiter, verborgen in Büchern, Pamphleten, geheimen Gesellschaften und dubiosen Verbindungen, Ideen und Vorstellungen. Einige werden im sprechenden Begriff der Gegenaufklärung zu fassen versucht.

Gegenaufklärung

Das Pendant der Aufklärung ist kurz gesagt: die Gegen-Aufklärung. Wie wir noch sehen werden, ist dies aber nur scheinbar so einfach. Isaiah Berlin rechnet zur Gegenaufklärung den Klerus und religiöse Denker. Der Historiker Hans Graßl sieht darin ein „Doppelphänomen im Vorfeld der Romantik“. Zur Gegenaufklärung gehört grundsätzlich aufklärungsfeindliches Denken, wozu Mesmerismus ebenso zählen wie Teile der Illuminatenbewegung. Nach heutigem Verständnis zählen esoterische Bewegungen, esoterisches Denken bzw. Esoterik allgemein zur Gegenaufklärung.

Argumente für eine Gegenaufklärung findet man beispielsweise im Preußischen Religionsedikts von 1788, das Friedrich Wilhelm II., der Neffe Friedrichs des Großen, durchsetzte; dieses Edikt stand im Gegensatz zur Ausrichtung seines Onkels. Friedrich II. war zu seiner Zeit nicht nur Souverän von Preußen, sondern holte den Aufklärer Voltaire (1694–1778) an seinen Hof, der radikale Kritik am Absolutismus und der Kirche übte. Friedrich musizierte leidenschaftlich und war ein Verehrer Johann Sebastian Bachs; er schaffte die Folter ab, verminderte die Zensur, erneuerte das Landrecht und gewährte Glaubensfreiheit. Jeder solle nach seiner Fasson selig werden, ist ein viel zitierter Ausspruch von ihm. Aufklärung von oben könnte das genannt werden. Der Preußenkönig starb am 17. August 1786.

Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) trat Friedrichs Nachfolge als preußischer König an. Er war im Volk durchaus beliebt, stand aber auch unter dem Einfluss seiner Minister Johann Christoph von Wöllner (1732–1800) – den Friedrich der Große einen „hinterlistigen und intriganten Pfaffen“ nannte – und Johann Rudolf von Bischoffwerder (1741–1803). Um den König wieder auf den „rechten Weg“ zu locken, weg von seinen Maitressen und hin zum Glauben, wurden spiritistische Sitzungen abgehalten, die den König nachhaltig beeindruckten und Wöllners Einfluss auf ihn stärkten.

Dieser Einfluss wird so groß, dass er im Juli 1788 ein Religionsedikt durchsetzt, das den Einfluss der lutherischen Landeskirche und der Aufklärung beenden soll. 1793 wird es zwar wieder aufgehoben, gilt aber bis heute als deutlich erkennbares Zeichen der Einflussnahme einer Geheimgesellschaft auf die Politik. Friedrich Wilhelm II stirbt am 16. November 1797. Sein Sohn Friedrich Wilhelm III. (1797–1840) folgt ihm auf den Thron.

Dieses Beispiel und weitere dieser Art, auf die hier nicht eingegangen werden kann, werden angeführt, um die Gegenbewegung „gegen“ die Aufklärung zu illustrieren. Der Begriff der Gegenaufklärung, der auf den ersten Blick so einleuchtend erscheint, wird, will man ihn mit Inhalten füllen, indes immer schwammiger.

Aufklärung und Gegenaufklärung

Um die Hintergründe dieser Problematik besser zu verstehen, ist es sinnvoll, die Selbsteinschätzung der Illuminaten in der Zeit, in der sie wirkten, zu beleuchten. Grundsätzlich vertraten die Illuminaten des Adam Weishaupt die Ideen der Vernunft und der Aufklärung. Dass sich dies zeitweise anders darstellte und sowohl intern als auch aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit anders erschien, ändert nichts an der Ansicht des Gründers der Illuminaten, die sich auch durchsetzte.

Die Absicht Weishaupts, einen radikal vernünftigen Illuminatenorden einzurichten, verlangte ihre Opfer. Das prominenteste Opfer war Freiherr Knigge, der ein eher „esoterisches“ Illuminatentum propagierte und zum Austritt aus dem Verbund der Illuminaten aufgefordert wurde.

Aus der Sichtweise der Illuminaten stellte sich die politische und gesellschaftliche Situation vereinfacht so dar: Der Absolutismus – die Alleinherrschaft eines Regenten – als Regierungsform schien sich überlebt zu haben. Bisher gültige Gesellschaftsordnungen waren in Auflösung begriffen. Der König oder Landesfürst waren zwar noch Souverän, die Betonung lag dabei auf „noch“. Überdies warf das Vorbild der parlamentarischen Monarchie in England seine Schatten auf den Kontinent. Veränderung und Umbruch lagen in der Luft und die Illuminaten wollten dabei mitwirken. Deshalb fanden sie sich hauptsächlich – aber nicht nur! – im bürgerlichen Lager.

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Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr Knigge (1752–1796) wurde 1780 unter dem Ordensnamen „Philo“ in den Illuminatenorden eingeführt. Zeitweise war er Gegenspieler Weishaupts.

Unübersehbar drängten neue Kräfte ins Rampenlicht der Geschichte Der dritte Stand, neben Adel und Klerus, machte auf sich aufmerksam. Ein starkes Bürgertum entstand. Begriffe wie Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität, Gewaltenteilung und die Beteiligung der Stände an politischer Verantwortung machten die Runde. Und mittendrin befanden sich die Illuminaten. Sie setzten auf den Aufstieg des Bürgertums und darauf, dass sich Vernunft und Aufklärung durchsetzten. Aufklärung bedeutete, vernünftig zu sein, vernünftig zu handeln und vernünftig zu leben. Vernunft sollte den Glauben ersetzen und wurde ihrerseits wieder zum Glauben. Das bedeutet, dass die Vernunft absolut gesetzt wird und neben ihr keine andere Erkenntnismöglichkeit mehr Platz findet. Dominierte früher der Glaube, so dominiert nun die Vernunft. Im Licht einer aufgeklärten Vernunft konnte nur gelten, was die Vernunft als „vernunftgemäß“ einstufte. Gegen diesen Anspruch standen gottgewollte Ordnungen, Monarchien oder religiöser Glaube. Das Ergebnis war eine wachsende Unzufriedenheit, was zu schwelenden Konflikten führte.

Aufklärung von Gegenaufklärung abzugrenzen, bleibt ein unbefriedigendes Unterfangen. Heute herrscht die Meinung vor, dass es so etwas wie „Ordnung“ im Sinne einer gottgegebenen oder ewigen Ordnung nicht gäbe, dass sich der Mensch seine eigenen Gesetze erschaffe und sie nicht vorfinde, um sich danach zu richten, bzw. dass jeder absolute Herrscher notwendigerweise ein Tyrann und Diktator sein müsse, weil er die Freiheit beschneide. Wer diese Auffassungen kritisiert, wird gerne der Gegenaufklärung zugerechnet. Diese Einstufung trifft aber nicht auf jeden Gegner und vor allem nicht auf jeden Kritiker zu. Es gibt durchaus berechtigte Kritik. Es greift zu kurz, Gegenaufklärung allein als unumstößliche Kritik an Ideen, Ansichten oder Grundsätzen der Aufklärung zu verstehen. Zweifelsfrei gilt, dass die angestammten Pfeiler der Gesellschaftsordnung – nämlich eine grundsätzliche Frömmigkeit, eine hierarchische Struktur und eine darauf aufbauende Sittlichkeit – in Worten und Taten angegriffen wurden. Aber auch die „Ordnung“ wurde in Wort und Tat verteidigt. Wird gemeinhin Katholizismus als Beispiel für die Ablehnung der Ideen der Aufklärung angeführt, so ergibt sich bei näherem Hinsehen, dass es auch dort nicht darum ging, solche Ideen einfach zu negieren oder zu unterdrücken. Die Kirche nahm aber eine kritische Haltung ein, um zu prüfen, inwieweit solche Ideen in Einklang mit dem Glauben zu bringen waren. Aussagen der Illuminaten wie „Fürsten und Nationen werden ohne Gewalttätigkeit von der Erde verschwinden, das Menschengeschlecht wird dereinst eine Familie, und die Welt der Aufenthalt vernünftiger Menschen werden“, trugen nicht gerade dazu bei, die angespannte Situation zu entschärfen. In diesem Zitat wird der Kern des Konfliktes anschaulich ausgedrückt: Vernunft soll Glauben ersetzen, religiöse Ordnungen sollen vernünftigen weichen, der Souverän soll seiner besonderen Stellung als Repräsentant göttlicher Ordnung verlustig gehen. So folgerichtig solche Ideen auch erscheinen, sie riefen heftigen Widerstand hervor, und zwar nicht nur bei konservativen Kräften, sondern auch bei aufklärerischen.

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Friedrich der Große (1712–1786): er holte den Aufklärer Voltaire (1694–1778) an seinen Hof, übte Kritik am Absolutismus und an der Kirche, musizierte mit Johann Sebastian Bach und gewährte Glaubensfreiheit. „Jeder solle nach seiner Fasson glücklich werden“, meinte Friedrich und betrieb damit Aufklärung von oben.

Notwendig ist, daran zu erinnern, dass die angestrebte Seite der Vernunftherrschaft ebenfalls als eine bestehende Ordnung angesehen werden kann, eine „vernünftige Ordnung“ eben, die erhalten sein will; und dass die dunkle Seite der Aufklärung, ihr Fundament sozusagen, ebenfalls einen Glauben darstellt, den Glauben an den Menschen als Absolutum. Kann man sogar so weit gehen zu sagen, dass im Prozess der aufgeklärten Vernunft lediglich die Vorzeichen vertauscht wurden, ohne an der Substanz etwas geändert zu haben? Wurde Gott lediglich durch den Menschen, der Souverän durch den Bürger, der Glaube durch die Vernunft zu ersetzen versucht? Eine solche Umdeutung spiegelt sich kongenial in der Geschichte der Illuminaten, ihrer Ideen und ihrer Geschichte wider. Nicht vergessen werden darf, dass auch die Geschichte der Illuminaten eingebettet ist in eine Geschichte der Verschwörungstheorie, die eng mit der Französischen Revolution zusammenhängt.

Friedrich Gentz, der Herausgeber der Betrachtungen über die Französische Revolution von Edmund Burke, urteilt im Jahre 1793 über das Werk:

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Friedrich Wilhelm II. (1744–1797), Neffe Friedrichs des Großen und preußischer König, wurde mittels spiritistischer Sitzungen durch Wöllner und Bischoffwerder beeinflusst.

Die Lehre, die es enthält, ist die Lehre der vernünftigen und der gemäßigten, also nicht der modernen Freiheit. Kein Wunder, daß es von allen Seiten Widersacher fand. Es sündigt gegen alle Götzen dieser Zeiten, es vergreift sich an allem, was die französische Revolution geheiligt hat: es mußte also allenthalben, wo man diese anbetet, ein Ärgernis sein.

Diese Einschätzung trifft präzise den Charakter dieser Schrift, die bis heute einflussreich geblieben ist und eine andere Seite der Aufklärung vertritt.

Burke stand der Französischen Revolution ablehnend gegenüber. Sie habe in kurzer Zeit eine jahrhundertealte Ordnungsstruktur zerstört, die nicht mehr so ohne Weiteres aufgebaut werden kann. Burke schreibt:

In diesem seltsamen Chaos von Leichtsinn und Verruchtheit, von Schandtaten aller Art im gewaltsamen Gemisch mit Narrheiten aller Art, scheint alles aus dem Geleise der Natur gewichen zu sein.