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Band 184

 

Im Reich der Naiir

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Disposition: Inkubation

1. Kriiyrsystem: MAGELLAN

2. Kriiyrsystem: FERNAO

3. Solsystem: Luna

4. Solsystem: Merkur

5. Kriiyrsystem: MAGELLAN

6. Kriiyrsystem: FERNAO

7. Solsystem: Luna

8. Solsystem: Merkur

9. Kriiyrsystem: MAGELLAN

10. Kriiyrsystem: Layl

11. Solsystem: Luna

12. Solsystem: Merkur

13. Kriiyrsystem: MAGELLAN

14. Kriiyrsystem: Layl

15. Solsystem: Luna

16. Solsystem: Merkur

17. Kriiyrsystem: MAGELLAN

18. Kriiyrsystem: Layl

19. Solsystem: Luna

20. Kriiyrsystem: Layl

21. Solsystem: Merkur

22. Kriiyrsystem: Layl

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – ein Abenteuer, das den Menschen kosmische Wunder offenbart, sie aber immer wieder in höchste Gefahr bringt. Zuletzt musste sogar zeitweilig die gesamte Erde evakuiert werden.

2058 ist die Menschheit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt und findet immer mehr zu einer Gemeinschaft zusammen. Die Terranische Union, Motor dieser Entwicklung, errichtet bereits Kolonien auf dem Mars und dem Mond.

Auf Luna tauchen mysteriöse Fremdwesen auf. Sie können sich unsichtbar machen und werden deshalb Laurins genannt. Kurz darauf bläht sich die Sonne auf, ihre Glut bedroht die inneren Planeten.

Währenddessen hat sich Perry Rhodan auf die Spur der geflüchteten Laurins gesetzt. Er will herausfinden, welche Pläne sie haben – Antworten erhofft er sich IM REICH DER NAIIR ...

Disposition

Inkubation

 

Irgendwo in der Leere startet die Genese.

Existenz entfaltet sich selbstständig aus etwas, das kaum mehr ist als ein verlorener Impuls. Was da entsteht, in der kalten Öde, durchpulst vom Herzschlag zweier toter Sterne, ist für niemanden einsehbar – sogar wenn es einen Beobachter gäbe.

Das wachsende Fragment ist sich selbst genug, stellt sich dennoch infrage.

Wer bin ich?

Was bin ich?

Wo bin ich?

Bin ich?

Da ist Überraschung über die eigene Empfindung.

Warum weiß ich, dass ich sein kann?

Die Fragen sind eher ein Empfinden als ein Denken. Die Antworten sind ungenügend, und was auch immer an dieser Stelle denkt oder empfindet, badet in der gleichgültigen Hitze einer Schwemme beinahe auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigter Teilchen, die von der nekrotischen Masse der beiden zentralen Pulsare mit unglaublicher Präzision ausgestoßen werden.

Was nicht ist, kann immerhin werden.

Was auch immer da denkt oder empfindet, war sehr lange nicht. Der Ursprung ist nicht weit entfernt, eingeschlossen und sicher verwahrt. Dass das Fragment dennoch entkommen ist, ist für sich bereits ungeheuerlich.

Aber was ist, das ist.

Es wird angezogen.

Es nähert sich.

Es trägt den Tod mit sich ...

1.

Kriiyrsystem: MAGELLAN

Morula: 1. Stadium

 

Grell schrillte der Alarm durch die Medosektion der MAGELLAN.

Ärzte liefen durcheinander. Jeder versuchte schnellstmöglich, seine Station zu erreichen. Medoroboter wechselten in den Notfallmodus.

Sud schreckte auf. Im nächsten Augenblick wurde ihr schwindlig. Sie taumelte und sank zu Boden. Sie konnte nicht klar sehen; es war, als habe ihr jemand einen Schleier aus Gaze vor die Augen gebunden. Etwas drückte sie nieder. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihr klar wurde, dass das, was sie gerade erlebte, keine organische Angelegenheit war. Ein Druck lag auf ihrem Geist, den sie nicht einordnen konnte.

Das Intarsium!, schoss es ihr durch den Kopf. Es ist das Intarsium. Aber warum? Es gibt keinen Grund ...

Sie war ein Mentamalgam, eine Mischung aus Sue Mirafiore und Sid González, im Halbraum entstanden unter Umständen, die niemand reproduzieren konnte.

Das fremdartige Metallfragment, das sich während ihrer Reise an Bord eines Situativs in ihrem Schädel festgesetzt hatte, vibrierte derart intensiv, dass es ihren ganzen Organismus in Mitleidenschaft zog. Das war selten der Fall. Sie war als Sue Mirafiore eine Heilerin gewesen, hatte anderen geholfen. Nun war sie gezwungen, ihre Paragabe ständig zu einem erheblichen Teil für sich selbst einzusetzen. Sie hatte mehrmals den Versuch unternommen, die Verwendung ihrer Psikraft für den eigenen Körper zu reduzieren, um sie anderweitig nutzen zu können – die Schmerzen hatten sie davon schnell wieder abgebracht. Die exotischen Metallwurzeln waren zu tief in ihrem Gehirn verankert.

Heilerin, heile dich selbst!

Die Empfindung änderte sich: von simplem Druck zu Schmerz. Sud schrie laut auf, presste die Hände gegen den Kopf. Das Metallfragment schien unter ihrer Handfläche zu glühen.

Was ist nur los mit mir?

Dann war es vorüber.

Der Schmerz verklang, als habe sie geträumt. Sud verspürte ein verwirrendes Gefühl der Leere. Wo die Schmerzimpulse gewesen waren, blieb nur ein sonderbarer Druck.

Sud rappelte sich auf. Ihre private positronische Betreuung meldete sich. »Ich registriere einige Abweichungen der Vitalwerte für die Dauer von eins Komma vier Sekunden. Soll ich einen Medoroboter anfordern oder die Medizinische Abteilung benachrichtigen?«

Eins Komma vier Sekunden?, dachte Sud ungläubig. Das kann nicht sein!

Sie räusperte sich. »Nicht nötig. Ich werde die Medosektion ohnehin aufsuchen.«

»Vermerkt.«

Sud stand mit wackligen Beinen am Schott, atmete erst mal durch, so tief sie konnte. Dann fühlte sie sich stark genug und verließ den Bereitschaftsraum. Der Alarm war im Isolationstrakt ausgelöst worden. Dort lagen die beiden geretteten Laurins, schwer verletzt, aber auf dem Weg der Besserung. Zumindest war Sud davon ausgegangen. Sie kontaktierte Julian Tifflor.

»Was ist los?«, fragte Sud. »Ich dachte, die beiden seien über den Berg.«

»Der Meinung war ich auch«, drang Tifflors Stimme aus dem Akustikfeld. »Als ich vor zwanzig Minuten kontrolliert habe, waren die Vitalwerte in Ordnung und stabil.«

»Der Alarm sagt was anderes!« Sud eilte den kurzen Gang entlang. Ungeduldig wartete sie die Freigabe ab. Ein Alarm im Isolationsbereich erhöhte automatisch die allgemeine Sicherheitsstufe für den Zugang. »Könntest du das Getöse bitte abschalten? Das nervt!«

Tifflor war bereits vor Ort. Der Chefarzt der MAGELLAN war 43 Jahre alt, in letzter Zeit hatte Sud die ersten grauen zwischen den braunen Haaren entdeckt. Schlank war er nach wie vor; energiegeladen und engagiert. Dennoch ging die Zeit nicht spurlos an ihm vorüber; eine Tatsache, die Sud traurig stimmte.

»Was war los? Ich wollte bereits jemanden schicken, der nach dir sieht«, sagte Tifflor.

»Das Intarsium«, antwortete Sud nur. Tifflor kannte ihre Situation gut genug.

Einige Ärzte, die dem Alarmsignal gefolgt waren, verließen auf Suds Wink hin den Isolationsbereich. Darunter war Doktor Leo Krassow, ein sehr fähiger – und gut aussehender – Neurologe. Er warf Sud einen merkwürdigen Blick zu und verschwand dann sehr schnell.

Ja, dachte Sud deprimiert. Ich hab's befürchtet. Das war's dann wohl. Dann schob sie die privaten Probleme von sich. Die Wiederherstellung der verletzten Laurins war wichtiger; langsam dunkelte die Raumbeleuchtung ab. Licht konnte für Laurins extrem unangenehm sein – das betraf allerdings nicht alle Wellenlängen.

»Partialer Druck? Sättigung?«, fragte Tifflor, ohne aufzublicken. »Wir haben leichte Kreislaufprobleme, fürchte ich. Die Belastung der vergangenen Stunden war offenbar zu groß. Vielleicht hätten wir Schablonski und Darnell etwas bremsen sollen.«

Trotz der negativen Nachricht atmete Sud auf. Die Laurins lebten. Sie beobachtete, wie Tifflor die Zufuhr von Sauerstoff erhöhte, danach injizierte er die nötige Menge an neutralem zellulärem Material. Die Gewebeschäden der Patienten waren schwer, aber nicht letal. Problematisch waren sie vor allem deshalb, weil die Struktur ihrer Zellen so völlig anders war. Referenzmaterial existierte nicht. Die Aufzucht der Zellkulturen funktionierte, aber davon, deren Struktur komplett zu verstehen, waren Sud und Tifflor weit entfernt.

Hauptsache, es funktioniert überhaupt!, dachte sie. Es war ein Widerhall von Sids Pragmatismus, der sich da zeigte.

»Stand?«, fragte Tifflor.

Sud richtete ihre Aufmerksamkeit sofort auf die entstehende Holoballung, in der die Wachstumskurven mit den genetischen und biomolekularen Daten korreliert wurden. Sie bemerkte, dass Tifflor für einen kurzen Augenblick auf eine Stelle starrte, als sähe er dort eine Schabe sitzen. Für einen Quarantänebereich war das undenkbar.

»Die Vermehrungsrate ist unverändert zu gering«, sagte die Medopositronik, obwohl die beiden Mediziner diese Information den Darstellungen auch selbst entnehmen konnten.

Tifflor rieb sich kurz die Augen, dann schüttelte er sich, als versuche er, wach zu werden. »Was ist mit dem Genmaterial?«

»Die modifizierte Polymerase-Kettenreaktion baut sich zu langsam auf«, antwortete die Positronik. »Die Parameter müssen erneut abgeglichen werden. Die Zellproben der Laurins hingegen sind stabil. Die Deckung des zellulären Substanzbedarfs ist für diese Phase der Behandlung gesichert.«

»PCR-Abläufe nach Abschluss in einem weiteren Durchgang optimieren!«, ordnete Sud an. Sie wandte sich an Tifflor. »Für die Analyse hätte ich mir zusätzlich einen Kern- oder Quantenphysiker gewünscht. Bei Rätseln wie diesem ist ein interdisziplinärer Ansatz häufig sehr ergiebig. Ich habe bei Doktor Leyden nachgefragt, aber ich habe aus seinem Gemurmel nur schließen können, dass er die Grundstruktur des laurinschen Zellgewebes für extrem problematisch hält. Und für uninteressant. Etwas für Ärzte oder Biologen ... nicht für Wissenschaftler.«

Tifflor lächelte müde. »Passt zu ihm. Fänden wir in jedem Zellkern einen interdimensionalen Nexus, könnte man ihn nicht mal mit Waffengewalt fernhalten.«

»Soll ich?«, fragte Sud trocken. »Eine kleine Notlüge würde ich moralisch vertreten können ...«

Etwas taumelte unscharf durch Suds Blickfeld. Sie schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf.

Ich bin offenbar genauso müde wie Julian, dachte sie. Den Effekt kannte sie. Es musste eine Verdichtung von Kollagenfasern im Glaskörper ihres Auges sein, die den Eindruck von Schattenflocken oder Fäden hervorrief; ein Floater. Irgendwann würde sie sich eine Pause gönnen müssen. Behandlungsfehler aufgrund von Übermüdung konnten sie nicht gebrauchen. Die Fähigkeit, sich selbst zu heilen, ersetzte keinen Schlaf. Sud war längst klar geworden, dass Selbstüberschätzung eine ganz reale Gefahr war. Sie atmete dreimal tief durch. Sogar ein Freak wie ich braucht Ruhephasen.

Etwas weiter im Hintergrund standen neben Reginald Bull die Chefingenieure der MAGELLAN und der FERNAO: Tim Schablonski und Rufus Darnell. Die beiden hatten die Wachphasen der zwei Laurins für ein heikles Vorhaben genutzt. Die beiden Fremden waren hilfsbereit gewesen. Nun hatte Tifflor sie wieder ins Heilkoma versetzt. Die Farbe ihrer Haut war graublau. Wie fremdartig sie waren, zeigte allerdings erst ihre Zellstruktur.

Das Laurinskop würde seine Tauglichkeit unter Beweis stellen müssen.

Bull räusperte sich. »War das unsere Schuld? Ich nehme an, wir haben die beiden etwas zu sehr in Beschlag genommen? Tut uns leid. Obwohl diese Verzögerung extrem ungelegen kommt.«

Schablonski grinste. »Immer mit der Ruhe. Wir wissen, dass es eilig ist. Die jüngsten Informationen werden die Probleme lösen, die wir noch hatten.« Er klopfte Darnell auf die Schulter. Da der Leitende Ingenieur der FERNAO hager und hochgewachsen war, ganz im Gegensatz zum eher stämmigen Schablonski, sah das ein wenig bemüht aus.

Sud hob beruhigend die Hände. »Keine Angst. Der Kreislauf ist etwas instabil, aber das kommt wieder in Ordnung. Die Heilung an sich läuft gut, solange wir den Nachschub an neutralem zellulärem und genetischem Material sicherstellen können. Die beiden brauchen nur eine Ruhepause.«

»Sind Sie sicher?«, vergewisserte sich Bull mit leicht kratziger Stimme. Im kalten Licht der Isolationssektion wirkten seine roten, kurzen Haare wie ausgebleicht. »Die Aussicht, Laurintechnik bedienen zu müssen, während man sie nicht sieht ...«

Darnell unterbrach ihn. »... ist nicht verlockend. Vor allem, wenn man unter Druck arbeiten muss. Ich glaube nicht, dass wir eine weitere Sitzung mit den beiden brauchen. Vertrauen Sie uns.«

Bull grinste nun ebenfalls. »Rufus, Sie wissen genau, dass ich das tue! Wenn Sie nach Komplimenten fischen wollen ...«

Der pferdegesichtige Ingenieur zeigte seine beeindruckend großen Zähne. »Würde ich nie tun ... Es sei denn, ich wäre deprimiert.«

»Ah, das sind Sie nicht?«

»Nicht mal im Ansatz«, beteuerte Darnell. »Die zwei haben uns wirklich weitergeholfen. Ein letzter Test, und das Laurinskop ist einsatzbereit. Sie dürfen mich zitieren, Reginald. Es sollte funktionieren.«

Bull zog die Augenbrauen nach oben. »Sollte?«

Schablonski machte sich ein paar letzte Notizen und schob sein kleines Holoboard zurück ins Komarmband. »Sie wissen doch: Caveat emptor!«

Darnell gab ein amüsiertes Kieksen von sich. »Da lässt er wieder seine klassische Bildung raushängen ... Aber er hat recht: Der Käufer muss aufpassen.«

Schablonski sah zufrieden aus. »Klassische Bildung. Als ob ich so was hätte!«

»Und wie funktioniert dieses ... Laurinskop denn nun?«, fragte Bull.

Darnell holt tief Luft und warf einen langen Blick auf die isolierten Laurins. Die Beleuchtung wechselte ins langwellige Rot. »Vereinfacht ausgedrückt: Wir haben einen arkonidisch basierten Massetaster mit einem Wärmebilddetektor kombiniert. Letzteren haben wir für polyfrequente Abtastung umgebaut. Eine Mikropositronik rechnet die Gesamtdaten zu einer kompletten Umgebungsdarstellung hoch, in der alle Oberflächen exakt nachgebildet und für unser Wahrnehmungsfenster von vierhundert bis siebenhundert Nanometer optimiert werden. Das funktioniert allerdings nur in höherwertigen Einsatzanzügen mit interaktiver, dreidimensionaler visueller Darstellung.«

»Das heißt nur bei geschlossenem Helm«, sagte Bull lakonisch.

»Exakt«, bestätigte Darnell. »Vielleicht lässt sich das Design später eleganter gestalten und verschlanken – aber fürs Erste muss das reichen.«

»Aber wir werden etwas sehen können?«, fragte Bull nach.

»Eindeutig ja«, versicherte Schablonski. »Damit wird eine Expedition bei den Unsichtbaren überhaupt erst praktikabel. Was man nicht sieht, kann man weder bedienen noch sabotieren. Beides wird unter Umständen nötig sein. Sogar unsere technointiutive Allzweckwaffe Tuire Sitareh ist nutzlos, wenn er nichts erkennen kann. Er hat mir mal verraten, dass vieles bei dieser Fähigkeit optisch basiert ist – Symmetrie und Mustererkennung sind wichtig.«

Die Zugangsschleuse hinter ihnen öffnete sich, und Autum Legacy trat ein. Die xenomedizinische Abteilung der MAGELLAN verfügte sowohl über eine Intensiv- als auch eine Quarantänesektion. Die Sicherheitschefin hatte auf einer Kombination aus beidem bestanden.

»Wie geht's dir?«, fragte Bull seine Frau.

Autum Legacy blinzelte kurz. »Ein bisschen Zwillingsentzug, das ist alles. Ich vermisse Laura und Sophie.«

»Na, wenn das alles ist«, kommentierte Bull ein wenig zu spöttisch.

Legacy quittierte es mit einem leichten Verziehen der Mundwinkel.

»Was täten wir nur ohne den CSHS?«, fuhr Bull versöhnlich fort. Der Children's Second Home Service versorgte die Kinder von Raumfahrern während der Abwesenheit der Eltern. Unter der Schirmherrschaft der Terranischen Union hatte sich die Stiftung sehr schnell etabliert; es war eine Institution mit Zukunft.

»Was ist mit dem Halsband?«, erkundigte sie sich. »Ich möchte das Ding sicher verwahrt haben. Wir wissen nicht, was es im Zweifelsfall anrichten kann. Er gehört genauso in Isolation wie unsere zwei Gäste.«

Schablonski hielt ihr etwas entgegen, was tatsächlich wie ein etwas zu breites Hundehalsband aussah. Die zwei geborgenen Laurins hatten jeder eins davon getragen – wie ein Schmuckstück. Wie sich bei der näheren Untersuchung herausgestellt hatte, waren sie nicht weniger als ein komplettes technisches Handbuch. Nur eins der beiden war intakt geblieben. Es enthielt ein Kompendium der technischen Errungenschaften der Laurins und hatte für diese Lebewesen offenbar etwa dieselbe Bedeutung wie die Bibel für einen Christen oder der Koran für einen Muslim.

»Sie sind extrem stolz auf das, was sie erreicht und erschaffen haben«, sagte Darnell. »Uns mag das übertrieben vorkommen, aber für sie bedeutet es, dass die Zukunft offen ist. Sie können etwas erreichen, durch Erfindungsreichtum und eigene Kraft. Wie hat der Translator das genannt ...?«

»Koraktor«, half Schablonski aus. »Ich kenne das Wort sogar aus einigen Geschichten, die mir mein Vater erzählte. Er stammt aus Polen, wie du weißt. Es steht unter anderem für Zauberbuch. Sorbisch, glaube ich. Wörtlich bedeutet es eingeprägtes Zeichen. Passt ziemlich gut.«

»Na wunderbar«, kommentierte Legacy. »Zauberbücher gehören unter Verschluss. Und damit gehört es mir. Danke.«

»Und was ist, wenn wir es noch mal benötigen?«, erkundigte sich Darnell.

»Stellen Sie einen Antrag, Herr Leitender Ingenieur!«, beschied ihm Legacy.

Bull grinste. »Warum soll es Ihnen besser gehen als mir? Wenn Sie wüssten, für was ich alles Anträge stellen muss ...«

»Ich hatte nicht vor, den Koraktor zu ehelichen!«, äußerte Darnell.

»Ich hab mir das notiert, werter Gatte!«, drohte Legacy amüsiert. »Du weißt, ich vergesse selten etwas.«

»Wir gehen jetzt«, unterbrach Schablonski. »Die Arbeit erledigt sich nicht von allein.«

»Wir sind auf der FERNAO, wenn uns jemand braucht«, sagte Rufus Darnell und folgte Tim Schablonski zur Schleuse.

»Der Große und der Kleine«, kommentierte Bull. »Ich hab vor einiger Zeit von Tom eine alte Serie bekommen. Komplett, restauriert und alles. Pat und Patachon. Seit ich diese alten Slapstick-Geschichten gesehen habe, fallen sie mir immer ein, wenn ich Schablonski und Darnell sehe.«

Sud machte eine gedankliche Notiz. Das klang nach etwas, was den Sid-Anteilen ihrer Persönlichkeit wahrscheinlich gefallen würde.

»Ich bin verblüfft, was du alles unter Kultur verstehst, mein Schatz.« Legacy packte den Koraktor in eine Sicherheitsbox und übergab sie einem Roboter. »Sicherheitsverwahrung Stufe drei!«, befahl sie. »Mit meinem persönlichen Kode sichern.«

»Tja, was du hast, gibst du so schnell nicht wieder her«, brummte Reginald Bull.

Er und seine Frau verließen die Medosektion ebenfalls. Sud war sicher, dass der fremdartige Koraktor keinen Schaden anrichten würde. Wenn Autum Legacy die Dinge in die Hand nahm, gab es keine Fehler – zumindest keine, die man verhindern konnte.

 

Ein akustisches Signal zeigte an, dass die Integration des nachgezüchteten Zellgewebes abgeschlossen war. Nun würde der Organismus der Fremden den Rest erledigen müssen. Der Koraktor war eine Fundgrube, was Technologie anging; medizinische oder biologische Details enthielt er deutlich weniger. Die technologischen Informationen waren allerdings zumeist eine Herausforderung und überstiegen den terranischen Kenntnisstand erheblich.

»Übernimmst du die neue Kalibrierung?«, fragte Julian Tifflor.

Sud nickte und registrierte beunruhigt, dass der Mediziner sich müde die Augen rieb. Etwas an seiner Haltung allerdings wollte nicht recht dazu passen.

Er hat etwas genommen, dachte Sud. Dafür sind wir alle anfällig. Dabei geht die Welt auch dann nicht unter, wenn wir mal eine komplette Ruheschicht durchschlafen würden. Ich hoffe, er hat's im Griff.

Sie passierte die dreifache Schleuse und ertrug die Biodekontaminierung mit dem nötigen Stoizismus. Was solche Dinge betraf, war der Kontakt mit dem Großen Imperium beinahe ein Neustart gewesen. Das Wissen besonders der Aras hatte die irdische Medizintechnik auf ein neues Niveau gebracht.

Die Freigabe kam, und Sud betrat den von transparenten Glassitscheiben umgebenen Raum, in dem die Zellproben aufbewahrt und vermehrt wurden. Die positronisch optimierten Abläufe der Polymerase-Kettenreaktion erforderten mehr Aufmerksamkeit als üblich: Die Fremdartigkeit der Laurins bot zu viele Möglichkeiten für Fehler.

»Zuwachsrate?«, fragte Sud.

»Elf Prozent unter der Prognose«, antwortete die Medopositronik. »Die Effizienz nimmt sukzessive ab. Das gewählte Amplicon von Probe neun liegt darunter. Die Anzahl der Amplifikat hat das nötige Minimum beinahe erreicht.«

»Probe neun besteht aus nichtkodierenden DNS-Sequenzen«, murmelte Sud nachdenklich. »Warum sind ausgerechnet diese Sequenzen derart widerspenstig?«

»Die Antwort liegt derzeit nicht vor«, sagte die Positronik. »Analysen laufen.«

Etwas irritierte Sud. Sie trat näher an die Probenbank heran, die durch eine ganze Reihe von Prallfeldern abgesichert war. Die verstärkten Glassitkuben waren nur mit erheblicher Gewalt zu beschädigen. Der Grund für Suds Verblüffung allerdings war etwas anderes: die Farbe.

Probe 9 schimmerte schwärzlich. Dann kippte sie komplett zu Schwarz.

Nein, korrigierte sie sich sofort. Es ist eher, als hätte man ein schwarz-weißes Bild durch sein Negativ ersetzt. Die weißgraue Zellmasse ist jetzt schwarz.

Der Farbwechsel an sich wirkte nicht bedrohlich, obwohl Sud etwas Vergleichbares noch nie gesehen hatte. Was hingegen beängstigend war, das war die Empfindung, die die Probe in ihr hervorrief. Die war eindeutig. Das ist gefährlich!

Sud spürte eine Art mentalen Druck, der von der veränderten Zellmasse ausging. Für einen normalen Menschen mochte es sich lediglich als ein leichtes Unwohlsein darstellen, in Sud schrillten alle Alarmpfeifen. Seit sie ein Mentamalgam war, war sie hypersensitiv. Das Intarsium, das wie eine rötliche Metallbeule in ihrer Schläfe saß, fühlte sich übergangslos heiß an. Das war ein Effekt, den sie nie zuvor bemerkt hatte. Der Klumpen, dessen filigrane Wurzeln sich bis in ihr Gehirn zogen, bestand neben Halaton noch aus anderen, exotischen Metallen und Legierungen. Eine Entfernung war nicht möglich. Wahrscheinlich war sie durch den jüngsten Anfall geschwächt, oder das Intarsium war gereizt – wenn das möglich war. Sicher konnte sie nicht sein. Obwohl das Fragment ein Teil von ihr war, blieb es eigenartig fremd; nichts, was ihrer Kontrolle unterlag. Sie hielt es lediglich im Zaum.

Schwarze Reflexe schwebten durch die Luft.

Noch mehr Floater? Oder sind das Kreellflocken?, überlegte Sud. Aber diese Dinger waren nicht weiß, glänzten nicht. Was ist das?

Kreellgestöber wäre nicht ungewöhnlich gewesen – immerhin war ein Transfernexus in der Nähe. Ein alter Nexus, aber das änderte kaum etwas. Sud beobachtete beunruhigt, wie sich die verwaschenen Flecken in der Nähe der auffälligen Zellprobe ballten. Sie waren klein, pechschwarz – und erneut hatte Sud das Gefühl der Bedrohung.

»Sie haben die Probe verunreinigt«, raunte Sud.

»Was sagst du?«, klang Julian Tifflors Stimme von jenseits der Glassitwandung auf.

»Ich habe hier eine Verunreinigung einer der Proben festgestellt«, wiederholte Sud. »Probe neun, um genau zu sein. Die Ursache ist etwas, was wie schwarzes Kreell aussieht.«

»Du meinst Molkex?«, fragte Tifflor leicht verwirrt.

»Ich meine Kreell. Schwarzes Kreell. Es ist nur ein Vergleich, keine Analyse. Eine Assoziation, mehr nicht.« Im nächsten Moment riss Sud die Augen auf. Die der betroffenen Probe 9 nächstgelegene Zellsammlung verfärbte sich ebenfalls. Wieder war da der Eindruck, ein Bild verwandle sich ins eigene, schwarz-weiße Negativ.

»Die Verunreinigung weitet sich aus«, verkündete Sud laut und deutlich. »Ohne dass eine der Flocken in der Nähe gewesen wäre. Der Vorgang ist infektiös!«

»Bei mir ist keinerlei Warnhinweis der Positronik eingegangen!«, wunderte sich Tifflor. »Irrst du dich auch nicht?«

Sud lachte kurz und hart auf. »Nein, sicher nicht.«

Ganz automatisch aktivierte sie den Notalarm. Das laute, enervierende Schrillen der Warnpfeifen war unüberhörbar; hing im Raum wie ein einziger, panischer Schrei. Sud sah einige der Mediziner und Assistenten jenseits der transparenten Wände der Laborkammer zusammenzucken. Andere standen starr wie Salzsäulen. Schleusen und Türen arretierten und einige gingen in den Versiegelungszustand über. Diese Türen würde niemand nutzen können, bis der Alarm endete.

»Sensoren und Positroniken nehmen nichts auf«, beharrte Tifflor. Seine Stimme klang nervös. »Was kann das sein?«

»Keine Ahnung«, antwortete Sud. Die Spannung stieg. Für die technischen Systeme existierte das Phänomen nicht. Damit war das ganze Raumschiff in Gefahr.

Sud aktivierte den Bioalarm der Stufe 5, die höchstmögliche Gefahrenmeldung. Es gab sie erst, seit die Menschen mit dem Creaversum in Kontakt gekommen waren. Die Parameter hatten Tifflor und Sud in enger Zusammenarbeit mit Icho Tolot erarbeitet. Zu diesem Zweck hatten sie die Daten analysiert, die der Haluter am Sechsecksonnentransmitter im Zentrum von Andromeda gewonnen hatte. Die vom Alarm ausgelöste Abschottung war perfekt. Gestaffelte Prallfelder, Magnetfelder und leichte Schutzschirme bildeten mehrere Abwehrwälle, ergänzt durch desinfizierende Gasschalen sowie Hochspannungsfelder. Und Sud steckte mittendrin in diesem Hochleistungskäfig – egal was darin geschehen würde. Sie empfand keine Angst. Eine leichte Unruhe vielleicht, mehr aber nicht.

Das erneute Schrillen der Alarmsirenen ging Sud sofort auf die Nerven. Diese Signale waren so konzipiert, dass man sich auf keinen Fall an sie gewöhnte.

Sie stöhnte.

»Wie geht es dir?«, drang Tifflors Stimme aus dem Akustikfeld. »Beschwerden? Zeichen für eine Infektion?«

»Nichts davon«, beruhigte Sud. »Nur das Intarsium zeigt Aktivität. Es ist nicht bedrohlich, nur ein wenig unheimlich. Ansonsten keine Änderung im Befinden. Ich melde mich, wenn das anders werden sollte. Die Alarmpfeifen sind nervig.«

Tifflor überlegte kurz. »Kann es sein, dass du auf akustische Reize stärker reagierst als sonst? Niemand mag den Lärm, aber du scheinst mir extrem empfindlich ...«

»Möglich«, sagte Sud kurz angebunden. Er kann nichts dafür. Und meine Reaktion ist ein Zeichen dafür, dass er recht hat. Ich muss mich auf etwas anderes konzentrieren.

Die Schwärze wucherte wie ein Pilz. Eine dritte Kultur zeigte Spuren von Befall.

»Es weitet sich aus«, berichtete Sud. »Wenn ich mich nicht täusche, nimmt die Geschwindigkeit allerdings nicht zu. Etwas verändert sich. Ich sehe eindeutig eine Morula.«

»Ein Maulbeerkeim?«, fragte Tifflor verblüfft. »Das kann wohl kaum stimmen. Da findet niemals eine Genese statt.«

»Ich erkenne eindeutig so etwas wie einen kugeligen Zellhaufen«, widersprach Sud. »Ich glaube, aus den Kulturen wird etwas anderes. Obwohl ich keine Ahnung habe, was das sein könnte. Die Zellen sind zur Restitution nicht mehr zu gebrauchen. Sie differenzieren sich aus.«

»Die Kulturen sind nicht gerade unersetzlich«, erinnerte sie Julian Tifflor. »Dennoch sollten wir versuchen, sie zu retten. Wir brauchen sie für die Wiederherstellung der Laurins. Ihre Genesung wird sich verzögern, wenn wir sie nicht unterstützen können.«

Die Sirenen gingen Sud unverändert auf die Nerven, aber aus der Quarantäne heraus konnte man sie nicht desaktivieren. Mit Inkrafttreten der Biogefahrstufe 5 waren ihre Autorisationen passiv geschaltet worden. Sie war gefangen. Zusammen mit den infizierten Kulturen.

»Julian, bitte: Kannst du dieses Schrillen ausschalten?«, bat sie. »Ich kann mich nicht konzentrieren bei dem Krach.«

Der penetrante Lärm verstummte.

»Ich kann ihn nur kurzfristig stilllegen«, warnte Tifflor. »Bei der nächsten Änderung wird er erneut losgehen. Tut mir leid. Die Grundsatzroutinen könnte nur Autum Legacy als Sicherheitschefin abändern. Und du weißt, dass sie das nicht tun wird.« Er überlegte kurz. »Es sind nur die Zellproben der Laurins«, sagte er dann. »Vielleicht eine sich aufschaukelnde Reaktion während der PCR? Oder ein latenter, speziesinterner Keim? Wir haben auf so etwas nicht testen können. Die Biodaten der Laurins sind zu fragmentarisch. Wir müssen die Proben also lediglich isoliert halten. Du bist da bald wieder raus.«

»Ich hoffe sehr, dass das unser größtes Problem bleibt«, sagte Sud.

2.

Kriiyrsystem: FERNAO

Sternennekrose

 

Ein Zirpen drang durch die Zentrale der FERNAO.

»Verlangsamen!«, befahl Perry Rhodan.

Aus dem Zirpen wurde ein Wummern, dann eine Reihe harter Schläge, als dresche jemand mit einem Hammer gegen massives Metall, allerdings extrem schnell. Es waren zwei unabhängige Sequenzen, die sich zu einem intensiven Rhythmus verbanden.

»Das sind die zwei Komponenten des Doppelpulsars. Kriiyr A und B«, erläuterte der Ortungs- und Funkchef Freder Karminski. »Die Pulse kommen hochpräzise. Die beiden Pulsare rotieren siebzehnmal pro Sekunde.«

»Wir befinden uns außerhalb der unmittelbaren Materiescheibe, die von den Plasmaströmen der Jets gespeist werden«, sagte Cel Rainbow. Langsam schob der Kommandant der FERNAO eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Sind das Planeten, Karminski?« Er markierte vier Stellen im Holo der Außendarstellung.

Karminski hustete. »Wenn man so will ...«

Rainbow sah unwillig hoch. »Geht's etwas exakter?«

Der Ortungsoffizier verzog das Gesicht. »Exakter ist gut. Drei dieser Tasterechos sind bestenfalls ... Schlackeklumpen. Eine Zusammenballung eingeschmolzener Materie. Im Laufe der Zeit haben die Pulsare diese Konglomerate in so etwas wie Schwämme verwandelt.«

Rhodan vergrößerte den Ausschnitt rund um das Massezentrum, das am weitesten vom Kriiyr-Paar entfernt war. »Drei davon ... Dieser ist also anders?«