Stefan Friedmann

Gottverlassen

Der Autor

Stefan Friedmann ist Jahrgang 1975. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem kleinen Ort in Niedersachsen. Hauptberuflich arbeitet er als Elektroniker. In seiner Freizeit verfasst er Kurzgeschichten und Romane. Sein erster Roman „Das Teufelshaus“ erschien 2017 bei Tredition.

Von Stefan Friedmann bisher erschienene Titel:

„Das Teufelshaus“

ISBN

Paperback:

978-3-7345-5533-6

Hardcover:

978-3-7345-5534-3

e-Book:

978-3-7345-5535-0

„Kleine Leckerbissen für Feinschmecker“

ISBN

Paperback:

978-3-7469-0853-3

Hardcover:

978-3-7469-0854-0

e-Book:

978-3-7469-0855-7

Besucht mich auf meiner Homepage:

www.stefanfriedmann.de

oder schreibt mir unter:

stefan.friedmann1@web.de

Ein fettes Dankeschön an Stefanie, Kathrin, Katja und
Ariane für die tolle Unterstützung bei diesem Buch.
Und natürlich an meine Frau, die mich dafür so manche
Stunde entbehren musste.
Danke für dein Verständnis.

Für Marco, Yvonne, Finja und Neele.
Haltet immer ganz fest zusammen.
Ich wünsche euch von ganzem Herzen,
dass alles wieder gut wird.

Prolog

Auszug aus dem Harzer Boten (Seite 1, Schlagzeile), vom 27.12.2015

In Hallermanns Berg, einer kleinen Ortschaft mit dreihundert Einwohnern im Südharz, ereignete sich an Heiligabend eine schreckliche Tragödie. Wie unserer Redaktion mitgeteilt wurde, kamen dort dutzende Personen ums Leben, hundert wurden verletzt. Mindestens zehn Häuser gingen in Flammen auf. Ganze Straßenzüge sahen aus wie nach einem Bombenangriff…

Auszug aus dem Harzer Tagesblatt (Seite 6, Lokales), vom 27.12.2015

Aus bisher unbekannten Gründen wurden in Hallermanns Berg, Landkreis Harz, mehrere Menschen zum Teil schwer verletzt. Einige Häuser gingen in Flammen auf. Die Polizei ermittelt gegen unbekannt und hält sich bis zum jetzigen Zeitpunkt bei ihren Ermittlungen bedeckt…

Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.

Faust 1, Vers 2181f./Mephistopheles

Eins

Der Raum war dunkel und roch nach Schweiß, Kot, Urin und Tod. Lisa erkannte schemenhaft das Bett, schlich leise daran vorbei zum Fenster und zog langsam knatternd die Jalousie nach oben. Anscheinend klemmte sie jeden Tag ein wenig mehr. Lisa musste ihre gesamten Kräfte aufbringen um sie hochzuziehen. Vielleicht war es aber auch andersherum; sie verlor jeden Tag mehr und mehr ihre Kräfte, was ihr zunehmend Sorgen bereitete.

Draußen herrschte eine Dunkelheit, die mittlerweile in dickflüssiges Grau überglitt, welches den erwachenden Tag ankündigte. Undeutlich sah sie die schwarzen Umrisse der Bäume und des Nachbarhauses, das seit beinahe zwei Jahren leer stand. Seine ehemaligen Bewohner hat es nach Hannover in die Stadt gezogen.

Auf Zehenspitzen schlich sie zum Bett und setzte sich vorsichtig auf die Kante. Die Matratze knarzte leise. Fahles Licht fiel aus dem Flur durch die halbgeöffnete Tür ins Schlafzimmer und auf eine geisterhafte Gestalt auf dem Bett. Die Person, mehr Vogelscheuche als Mann, hielt die Augen geschlossen. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn und dem spitzen, stoppeligen Kinn. Lisa nahm einen Lappen vom Nachttisch und tupfte die Haut trocken.

Eine Zeit lang saß sie einfach nur da und betrachtete ihren Ehemann, der immer dünner wurde. Der, wie sie sagte, unter ihren Händen dahinschmolz. Und das war beileibe nicht übertrieben. Sein schmaler Brustkorb hob und senkte sich wie ein altersschwacher Blasebalg unter dem durchgeschwitzten Pyjama, der ihm mittlerweile viel zu groß war. Seine Wangen waren eingefallen. Spitz traten die Knochen hervor, als wollten sie die dünne, mausgraue Haut zerreißen. Das Haar, das vor Jahren noch dicht und braun gewesen war, war durch die Chemotherapie verschwunden. Der Vergleich mit einer Vogelscheuche war nicht sehr weit hergeholt. Lisa nahm zärtlich seine Hand.

„Nun weiß ich endlich, wie ich uns aus dieser beschissenen Lage befreien kann. Du kannst dich auf mich verlassen, Liebling. Ich habe eine Idee … und die wird funktionieren. Was haben wir auch zu verlieren? Nichts“, flüsterte Lisa und streichelte über seine knochigen Finger.

Dann fing sie leise an zu weinen. Ein abgehacktes, unterdrücktes Schluchzen. Sie wusste nicht, wie lange sie das Ganze noch ertragen konnte. Wie lange sie es noch durchstehen würde, ohne verrückt zu werden. Ihre Kräfte gingen langsam zur Neige. Zu lange schon kämpfte sie alleine gegen die Schmerzen und das Schicksal ihres Mannes an. Dafür, dass er einen möglichst schmerzfreien, erträglichen Tod bekam. Einen menschenwürdigen Tod.

Nach einigen Minuten stand sie auf, wischte sich die Augen mit dem Ärmel trocken und schlich noch einmal zum Fenster, das sie leise auf Kipp stellte. Sie hörte den Regen, der in dicken Tropfen niederprasselte. Das sanfte Rauschen der Tannen, die der Wind mühsam schüttelte. Langsam füllte sich der Raum mit frischer, nach feuchter Erde und Fichtenharz duftender Luft und vertrieb wenigstens für kurze Zeit den Gestank des Todes. Dann drehte sie sich um und verließ eilig das Zimmer. Als sie die Tür wieder ins Schloss gezogen hatte, öffnete der Mann im Bett die Augen und starrte in die Dämmerung eines weiteren leidensreichen Tages.

Zwei

Die Glocke, die an einem dünnen Band über der Tür baumelte, läutete schrill, als jemand den kleinen Verkaufsraum betrat. Die Verkäuferin schaute auf, während sie dampfende Brötchen aus dem Ofen nahm. Sie trug eine Weihnachtsmannmütze und auf ihrer Schürze tanzten lustige Wichtel. Sie lächelte, als sie sah, wer um halb sieben an diesem Morgen hereinkam.

„Guten Morgen, Tom“, sagte sie und lächelte.

„Guten Morgen, Josie“, sagte Tom, während er seinen Regenschirm zusammenklappte, näherkam und vor dem gut gefüllten Verkaufstresen stehen blieb. Seine Schuhe quietschten auf dem hellen Linoleum und hinterließen feuchte, schimmernde Spuren. Er lehnte den dunklen Schirm an das Glas. Sein Blick streifte über das Sortiment hinter der Scheibe, dann blieb er am hübschen Gesicht der jungen Verkäuferin hängen. Josephine lächelte immer noch. Nervös knetete sie ihre Hände, wobei ihre linke Hand den Ehering an ihrer rechten geschickt verdeckte. Ihre blauen Augen musterten Toms Hose und Jacke, die vom Regen tropften. Vor dem Tresen bildete sich eine kleine Pfütze.

„Verdammt beschissenes Wetter heute, nicht wahr? Bist du mit dem Fahrrad gekommen?“

„Nein. Heute zu Fuß. Ich hatte keine Lust, das Fahrrad aus dem Schuppen zu kramen. Doro hat letztes Wochenende ihre ganzen Gartenzwerge dort eingemottet. Stehen jetzt alle vor dem Rad. Ist aber egal, ich fahr eh selten“, antwortete Tom und grinste. Josephine hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. In diesem Augenblick wirkte sie wie ein kleines Schulmädchen. Tom mochte das an ihr.

„Das sieht Dorothea ähnlich. Ihre Gartenzwerge sind ihr Ein und Alles.“

„Jupp, die liebt sie tatsächlich … leider“, sagte er und seufzte theatralisch.

„Wie geht es ihr denn? Ist bei euch alles in Ordnung?“

„Du kennst doch Doro, die ist unverwüstlich. Erst gestern musste ich sie bremsen, damit sie sich mit ihren fünfundsechzig Jahren nicht noch übernimmt. Sie wollte den großen Karton mit dem Weihnachtsbaumschmuck aus dem Keller die Treppe hochschleppen. Als ich ihn ihr abnehmen wollte, wurde sie sauer. Nein, bei uns ist alles okay.“

Tom tippte mit dem Zeigefinger an das glänzende Glas der Theke.

„Mhmmm, die riechen lecker … richtig frisch. Machst du mir eine gemischte Tüte Brötchen?“, fragte er.

Josephine stemmte die Hände auf den Tresen und beugte sich vor. Dabei kippte die weiße Schürze, die sie trug, nach vorne und Tom konnte unter ihrem T-Shirt den mit Spitzen verzierten BH sehen, der ihre kleinen festen Brüste verbarg. Sie schaute ihn dabei nicht an, sondern ließ den Ausschnitt seine Wirkung entfalten.

„Natürlich. Wie immer, oder habt ihr zwei heute Sonderwünsche?“, fragte sie, ohne Anstalten zu machen, sich zu erheben. „Wir haben doch unser Weihnachtsangebot: Körnerbrötchen-Spezial, wobei die Körner die Form einer Kerze bilden.“ Toms Blick blieb kurz an ihrem BH haften, dann studierte er wieder die Auslage in der Theke.

„Nein danke, wie immer bitte. Wir haben unsere Gewohnheiten.“

Bevor Josephine etwas erwidern konnte, bimmelte erneut das Glöckchen und sie erhob sich. Ein älterer Mann kam herein, schüttelte vor der Tür seinen Hut ab und schob ihn drinnen wieder über sein dichtes, graues Haar. Dann zog er aus seiner Manteltasche eine Plastiktüte und schlug sie aus.

„Guten Morgen, allerseits“, sagte er mit einer Stimme, die von jahrelangem Zigarettenkonsum zeugte. „Ich hoffe wir werden nicht alle ersaufen, wenn das so weiter regnet. Habe gehört, die Arche Noah ist unterwegs nach Hallermanns Berg. Soll aber nur noch ein Platz frei sein. Ich schätze, wir werden knobeln müssen.“

Er grinste und entblößte zwei Reihen gelber Zähne. Der Mann stellte sich an den Verkaufstresen und reichte Tom die Hand. Der ergriff sie und sagte: „Guten Morgen, Hans. Was macht dein Rücken? Doro hatte sich Sorgen gemacht, ob du heute überhaupt aus dem Bett kommen würdest, nachdem du dich gestern bei ihr verhoben hast. Meine Güte, warum sagt ihr zwei Dickköpfe mir nicht Bescheid? Ich helfe euch doch, wenn ihr den Schuppen umräumt.“ Hans grinste und griff sich ins Kreuz.

„Ach das“, er winkte ab, „ist schon wieder vergessen. Doro wollte nicht warten, bis du wieder zurück bist. Und da hat sie mich angerufen. So, wie die letzten zwanzig Jahre nach dem Tode ihres Mannes auch. Und wenn Doro ruft, dann eile ich. Das solltest du wissen.“

„Allerdings“, sagte Tom und klopfte Hans freundschaftlich auf die Schulter.

Während die Männer sich unterhielten, packte Josephine Toms Brötchen in die Tüte und legte sie auf den Tresen. Dann stellte sie die Kaffeemaschine an, die ratternd zu arbeiten begann. Sofort breitete sich ein angenehmer Geruch nach frischen Kaffeebohnen aus. Die „Backhöhle“ verkaufte nicht nur für zu Hause, sondern bot Kaffee, Brötchen und Kuchen auch zum Verzehr an drei Stehtischen an. Diese standen in einem gemütlich eingerichteten Verkaufsraum, der nun weihnachtlich geschmückt war. Gerade an den Wochenenden wurde dieser Service von den Dorfbewohnern gerne in Anspruch genommen. Hier traf man sich zum Klönen und Tratschen.

Hans Hein kam gerne hierher, um Neuigkeiten auszutauschen. Er wohnte seit mehr als dreißig Jahren in Hallermanns Berg und hatte alle Höhen und Tiefen dieses Ortes am Fuße des Brockens durchlebt. Er dachte an die Zeit zurück, als der Ort noch 1400 statt der jetzigen 300 Einwohner beherbergt hatte. Der Tourismus war damals eine gute Einnahmequelle gewesen. Die Bürger der ehemaligen DDR hatten hier gerne ihren Heimaturlaub verbracht, da es im Ausland für viele schlicht und ergreifend nicht erschwinglich war.

Seit der Öffnung der Grenze waren aber die Touristen ausgeblieben und viele Einwohner in den Westen abgewandert. Der Schatten des Brockens schien zum Fluch geworden zu sein. Ein Umstand, der ihn aber keineswegs dazu veranlasste, über einen Wegzug nachzudenken.

Ein dicker Mann mit einer schmierigen Schürze, Bürstenhaarschnitt und Mehl an den fleischigen Händen schaute durch einen schweren Vorhang in den Verkaufsraum. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Er wirkte erregt.

„Mensch, Josephine, ich habe dir schon letztes Wochenende gesagt, du sollst den Kaffee früher anstellen, bevor die große Kanne alle ist. Damit du den lauwarmen Kaffee mit frischem füllst. Wann geht das denn in deinen Schädel?“

„Entschuldigung, Herr Mörser. Ich bin da irgendwie drüber hinweg gekommen. Das passiert nicht noch einmal. Versprochen.“

„Ja ja, das habe ich schon öfter gehört. Halte dich gefälligst auch mal daran, sonst muss ich mich nach einer neuen Verkäuferin umsehen“, sagte Mörser, schnaubte wie ein Walross und zog sich, ohne die beiden Männer zu begrüßen, hinter seinen Vorhang zurück, der die altertümliche Backstube vom Verkaufsraum trennte. Mehlreste blieben am Stoff hängen.

Josephine schaute verlegen zu Boden. Dabei knetete sie ihre Hände, wie immer, wenn sie nervös war. Sie nahm die Mütze ab und fuhr sich über die am Hinterkopf streng geknoteten Haare. Dann setzte sie sie wieder auf. Der alte Mörser war ihr Chef und wie sie ihrem Mann jeden Abend erneut versicherte, ein Riesenarschloch. Josephine hatte die Stelle, trotz mehrerer Warnungen aus ihrem Umfeld, erst vor einem Jahr angetreten. Sie hatte keine Wahl gehabt, sie brauchte das Geld. Ihr Mann hatte seit längerem keine feste Anstellung und brachte so nicht genug Scheine mit nach Hause. Josephine konnte nicht wählerisch sein, auch wenn es ihr nicht gefiel. Hier in der Gegend gab es nicht viele Jobs.

Ihre Vorgängerin hatte nach drei Jahren Schikane den Mut gefunden zu kündigen. Zum Abschied hatte sie ihrem Chef ein nettes Geschenk für die Hölle hinterlassen, die er ihr bereitet hatte; einen großen Urinfleck unter seinem Schreibtisch. Natürlich war Mörser nicht anwesend gewesen, als sie ihren Rock gelüftet, den Slip heruntergezogen und sich auf dem grünen Teppich in seinem Büro erleichtert hatte. Insgeheim hatte sie sich gewünscht, dass er genau das hätte sehen können. Aber sie war auch so zufrieden gewesen.

Eine Windböe peitsche einen Schwall Regen gegen die Glasscheibe der Backhöhle, die Josephine in Gedanken immer nur Backhölle nannte und sie erschrak.

„Hey Kleines, lass dich von diesem alten Stinkstiefel nicht unterkriegen. Ich glaube, der ist schon so zur Welt gekommen. Vielleicht haben seine Eltern ihm die Windeln zu fest gebunden. Also, wenn du mich fragst, ich würde meine Brötchen lieber woanders kaufen. Leider hat Mörser hier ein Monopol und die hübscheste und netteste Verkäuferin im ganzen Harz“, sagte Hans. Tom stimmte ihm zu.

Tatsächlich zauberte die Schmeichelei ein Lächeln auf ihr Gesicht. Ein kurzes nur, aber immerhin.

„So und jetzt packst du mir vier Brötchen in die Tüte. Und heute Abend komme ich euch besuchen. Dich und die Kleinen. Einverstanden?“, fragte Hans.

„Einverstanden“, erwiderte Josephine und nahm das Geld, das Tom ihr über den Tresen reichte.

„Dann wünsche ich euch noch einen schönen Tag“, sagte Tom, zog den Reißverschluss seines Parkas zu und klemmte sich den Schirm unter den Arm. Als er die Tür aufziehen wollte, um auf den Bürgersteig zu treten und damit in den Regen, sagte Hans: „Liebe Grüße an Doro. Ich komm bald nochmal vorbei. Wir müssen unsere Aufräumaktion vor dem Heiligen Abend beenden. Ach ja, ich hoffe, wir haben nicht dein Fahrrad zugestellt. Das wäre ja zu blöd.“ „Nein, alles gut“, sagte Tom und trat hinaus in den Regen.

Drei

Der erwachende Morgen verdrängte langsam die deprimierende Dunkelheit, die sich an diesem kleinen Ort festgeklammert zu haben schien. Der Himmel hatte nun seine Schleusen komplett geöffnet; es goss wie aus Kübeln. Tom fragte sich, wie lange die Kanalisation die Regenmassen noch bändigen würde. Sturzbäche schossen über den Bürgersteig, spülten den Sand aus den Fugen zwischen den Betonplatten und rannten ungestüm mit ihrer Beute die Schräge hinab. Das Wasser floss zum Dorfmittelpunkt, einem mit Kopfstein gepflasterten Marktplatz, in dessen Zentrum sich ein aus altem Granitstein gemauerter Brunnen befand.

Der Brocken, der sich als waldbewachsener Riese zu seiner Linken erhob und in den tiefhängenden dunklen Himmel wuchs, war beinahe komplett in einem dichten Nebelband versunken. An diesem Morgen wirkte er bedrohlich, wie ein schauriges Mahnmal, das durch die pure Anwesenheit seinem Betrachter eine Gänsehaut verpasste.

Selbst wenn das Wasser nicht den Rand der Gullys erreichen sollte, um die Ortschaft zu ersäufen, hatte das Wetter seinen Schaden bereits hinterlassen. Seit vier Wochen regnete es beinahe ununterbrochen und würde dadurch dem letzten verbliebenen Hotel, dem Brockenblick, kräftig die Wintersaison verhageln.

Zwar war die Saison gerade erst angelaufen, doch auf genug Schnee für die Skifahrer würde man wohl noch lange hoffen dürfen. Die Durchschnittstemperatur der letzten vierzehn Tage lag bei satten zwölf Grad. Damit blieben die so dringend benötigten Wintertouristen aus. Tom seufzte. Er lebte erst seit einem Jahr in Hallermanns Berg, doch die schrulligen Bewohner waren ihm ans Herz gewachsen. Er fühlte mit ihnen.

Der Ort schien wie ausgestorben. Ab und zu konnte man ein verschwommenes Gesicht hinter einer regennassen Fensterscheibe mehr erahnen als erkennen. Niemand traute sich auf die Straße. Hallermanns Berg wirkte deprimierend grau, blass und leer. Als hätte der Dauerregen jegliche Farben von den Fassaden gewaschen. Den Straßenlaternen, die ein schwaches gelbliches Natriumdampflicht in die Straßen warfen, gelang es nur unzulänglich, den beginnenden Tag zu unterstützen. Selbst die Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen schien dieses Jahr spärlicher auszufallen als sonst. Sie wirkte irgendwie fehl am Platz.

Tom blieb vor Gottliebs Friseursalon stehen und schaute durch die Scheibe in den geschlossenen Laden, in dem sie ihm vor Kurzem noch die Haare geschnitten hatten. In drei Tagen war Heiligabend. Seine Frau Sabine wollte ihn mit ihrer neunjährigen Tochter Franziska über die Feiertage besuchen kommen. Wenigstens für diese Zeit konnten sie auf heile Familie machen. Vielleicht würde sich ja auch mehr ergeben. Das hoffte Tom zumindest. Er war schon seit dem Tage, an dem Sabine seine Einladung angenommen hatte, extrem nervös. Das war vor zwei Wochen gewesen. Sie hatten miteinander telefoniert, wie jeden Sonntagabend vor den Acht-Uhr-Nachrichten.

Wie er damals vermutet hatte, war sie nicht begeistert gewesen. Seiner Tochter, die während des Telefonats neben Sabine gestanden hatte, war es am Ende gelungen, ihre Mutter zu überzeugen. Seine Frau verhielt sich schon länger auffallend merkwürdig. Tom bekam immer mehr den Eindruck, sie wolle ihn überhaupt nicht mehr zurück. Doch noch hatte sie das Wort Scheidung nicht in den Mund genommen. Noch nicht.

Tom betrachtete sich in der Scheibe und sah einen vierzigjährigen Mann mit vollem Haar und Brille, der sich vor sich selbst in einem kleinen Ort im Harz versteckte. Der Schirm in seiner Hand schützte ihn zwar vor dem Regen, doch er konnte nicht seine Seele vor dem bewahren, was wie ein Feuer in ihm wütete. Ein Feuer, das ihn von seiner Familie fortgetrieben und nach Hallermanns Berg geführt hatte. An den Arsch der Welt, wie Tom es nannte. Hier wollte er wieder zu sich selbst finden. Sabine hatte ihm zum Abschied geraten, er solle doch nicht zu lange suchen. Das war vor einem Jahr gewesen. Das einzige, was er bis jetzt gefunden hatte, waren weitere Selbstzweifel und Dorothea; eine gute, mütterliche Freundin, in deren Obergeschoss er nun zur Miete wohnte.

Tom trat einen Schritt zurück, klemmte sich die Brötchentüte unter den Arm und strich sich die Haare glatt. Dann streckte er seinem Spiegelbild die Zunge heraus. Als er sich umdrehte, sah er auf der anderen Straßenseite jemanden im Vorgarten stehen. Jemanden ohne Jacke, mitten im Regen.

Nach einem kurzen Innehalten erkannte Tom Greta Rausch, die wie ein zu groß geratener Gartenzwerg in einem grauen Pullover, Trainingshose und Hausschuhen neben einem großen Rhododendronbusch am Gartenzaun stand und über den Zaun zu ihm hinüberblickte. So wie sie dastand, wirkte sie noch verlorener als er.

Tom überquerte eilig die leere Straße, wich hüpfend einer tiefen Pfütze aus und trat mit einem unguten Gefühl in der Magengegend vor die völlig durchnässte Frau. Einige graue Haarsträhnen hatten sich aus dem Knoten auf ihrem Kopf gelöst und hingen ihr wie glitschige, kleine Schlangen ins Gesicht. Wasser tropfte von den Fingerkuppen und dem Kinn, ihre Hausschuhe hatten sich vollgesogen wie Schwämme. Der graue Pullover klebte als zweite Haut am Körper. Tom fiel auf, wie abgemagert sie wirkte.

„Warum stehen Sie hier im Regen? Ist Ihnen nicht gut? Kann ich vielleicht helfen?“, fragte Tom, bekam aber keine Antwort. Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie in Gedanken überhaupt nicht mehr auf diesem Planeten.

„Frau Rausch, alles in Ordnung? Fehlt Ihnen was? Sie sollten wirklich reingehen. Es regnet in Strömen“, sagte Tom. Unter normalen Umständen hätte er sich dafür geohrfeigt, etwas so Offensichtliches festgestellt zu haben. Doch das hier war keine normale Situation. Ganz und gar nicht. Über ihre Schulter hinweg sah er, dass die Haustür offenstand. Eine Katze huschte über den Flur.

„Kommen Sie, ich bringe Sie rein. Sie holen sich hier ja den Tod.“ Doch als er den Arm nach ihr ausstreckte, trat sie einen Schritt zurück und wich ihm aus.

„Es ist soweit“, sagte sie in einem melancholischen Singsang, der Tom auf der Stelle eine Gänsehaut verpasste. Sie sprach leise, ohne ihn anzusehen.

„Wir werden für unsere Sünden bezahlen. Wir alle.“

„Wovon reden Sie, Frau Rausch?“, fragte Tom, dem immer unbehaglicher zumute wurde. Mittlerweile hielt er seinen Schirm über sie. Seine Brötchentüte weichte nun völlig auf. Das war Tom aber egal, er konnte den Blick nicht von Greta Rauschs versteinertem Gesicht wenden.

„Er wird kommen, doch diesmal nicht um sich zu paaren, sondern um sich seine Belohnung zu holen. Oh ja, seine Belohnung. Und wir werden für unsere Sünden bezahlen.“

„Ich verstehe das nicht. Was meinen Sie mit: Er wird kommen?“

„Der Unreine wird hinaufsteigen, so wie er es schon in den Jahrhunderten zuvor getan hat. Hinauf auf den Brocken, um sich mit den Hexen zu paaren“, sagte Greta und ihr Gesicht nahm nun einen wütenden Ausdruck an. Sie zog die Oberlippe hoch und entblößte einige Lücken zwischen den gelblichen Zähnen.

„Wer will sich mit den Hexen paaren?“, fragte Tom völlig überrascht. Ein Wagen fuhr an ihnen vorüber und Tom spürte förmlich den fragenden Blick des Fahrers, der sich bei dem Anblick einer komplett durchnässten älteren Frau beinahe den Hals verdrehte.

„Sie kennen die Geschichte nicht? Sie unwissender Wurm. Und sowas wie Sie wohnt in Hallermanns Berg. Hier kennt jedes Baby die Geschichte.“

Greta Rausch trat unter seinem Schirm hervor und stellte sich in eine schlammige Pfütze auf dem Rasen. Trotzig verschränkte sie die Arme vor ihrer schmalen Brust. Die Bündchen ihres Strickpullovers waren so durchtränkt, dass sie vom Gewicht des Wassers herunterhingen. Sie war wütend und Tom wusste nicht warum. Wegen dieser Geschichte, die er anscheinend nicht kannte? Das war absurd, einfach lächerlich. Die Bewohner von Hallermanns Berg waren auf ihre Art schrullig, aber so etwas wie jetzt hatte er noch nicht erlebt.

Die Situation erinnerte Tom an eine Begegnung, die er vor einigen Jahren in einer Berliner U-Bahn gehabt hatte, als seine Welt noch in Ordnung gewesen war. Damals war auf der Fahrt vom Adenauer- zum Wittenbergplatz ein ziemlich zerlumpter Obdachloser an ihn herangetreten und hatte laut trompetend das Ende der Welt verkündet. Er hatte Tom versichert, wenn er ihm zwei Euro gebe, würde er verschont bleiben. Tom hatte ihn daraufhin gefragt, was er denn als einziger Mensch auf einer völlig zerstörten Welt machen solle. Er hatte dem Obdachlosen erklärt, dass er sich so für zwei Euro die Hölle auf Erden erkaufen würde. Kurz darauf war der Mann laut schimpfend in ein anderes Abteil verschwunden. Greta hatte genau diesen Blick, der das Ende der Welt verkündete. Nur meinte sie es anscheinend ernst.

„Ich dachte, dass Dorothea Ihnen einiges über diesen mystischen Ort erzählt hätte. Eine so wichtige Sache kann man nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Anscheinend ist sie doch nicht so zuverlässig, wie ich dachte. Egal, ich werde Sie aufklären. Sie sollen ja nicht dumm sterben. Und so, wie ich das sehe, steht uns das allen sowieso bald bevor.“

Tom wollte Greta fragen, warum ihnen das bevor stehe und wie sie darauf komme, aber sie gab ihm keine Gelegenheit dazu. Ungestüm packte sie seinen Arm und zog ihn zu sich heran. Tom roch ihren Atem: Zigaretten und bitterer Kaffee. Er sah ihre Haut, die grau und eingerissen wirkte. Falten, so tief wie der Mariannengraben. Er sah in ihre Augen, die einen seltsam verrückten Schimmer angenommen hatten. Und er spürte seinen Magen, der sich zu einem gewaltigen Knoten zusammengezogen hatte und rebellierte.

Da ist etwas im Gange, dachte Tom. Meine Güte, irgendwas stimmt nicht mit ihr.

Als sie sprach, tat sie das leise und schaute sich dabei nervös zu allen Seiten um.

„Der Ausgangspunkt ist der Brunnen. Den Steinbrunnen auf dem Marktplatz meine ich. Er ist so alt wie die Welt. Vielleicht noch älter und nicht nur der Mittelpunkt von Hallermanns Berg, sondern das Zentrum unseres Planeten. Er war vor Hallermanns Berg da und wird immer noch dort sein, wenn Hallermanns Berg nur noch Asche und Staub ist. Die ersten Siedler hatten ihre Häuser um den Brunnen herum gebaut und ihn als Heiligtum verehrt. Seit Jahrtausenden dient er ihm als Aufstieg in unsere Welt. Er kommt, um auf den Brocken zu wandern. Dort paart er sich mit willigen Hexen. Doch diesmal kommt er nicht einfach nur, um mit den Hexen Unzucht zu treiben, nein, diesmal kommt er, um diesen Sündenpfuhl dem Erdboden gleichzumachen. Um alles Übel hier auszuradieren.“

Tom kannte die Geschichte vom Brunnen tatsächlich nicht. Und obwohl es offensichtlich eine alte Legende war, die unter den Bewohnern von Hallermanns Berg grassierte und die sie wahrscheinlich den Touristen als Appetithappen auftischten, lag in der Stimme von Greta Rausch etwas Unerschütterliches. Die Gewissheit, dass dies keine Legende war, sondern jedes Wort exakt der Wahrheit entsprach. Tom hatte ihre Hände beobachtet, die beim Sprechen wie die Scheren eines Hummers auf und zu schnappten. Ihre Augen schienen nun noch mehr zu glänzen.

„Der Brunnen führt hinunter in die tiefste Hölle. Und der Unreine nimmt ihn als Aufstieg“, sagte Greta. Dann packte sie noch fester zu, mit einer Kraft, die Tom bei dieser schmalen Frau nicht erwartet hatte, zog sich an sein Ohr heran und flüsterte, wobei sich ein feiner Sprühregen aus Spucke löste: „Machen Sie, dass Sie hier wegkommen, bevor es zu spät ist. Retten Sie Ihre Seele. Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange.“

Mit diesen Worten ließ sie seine Jacke los und schlurfte, ohne sich noch einmal umzudrehen, zur Haustür zurück. Tom war zu verdutzt, um schnell zu reagieren und als er fragte, wer den Brunnen emporsteigen würde, hatte sie die Haustür mit einem lauten Knall geschlossen.

Vier

Dorothea nahm ihre Brille ab und wischte sich über die Augen. Nachdem sie sie wieder aufgesetzt hatte, sah sie Tom verständnislos an. Er hatte seiner Vermieterin, die mittlerweile eine gute Freundin war, von der Begegnung mit Greta erzählt. Tom hatte es kaum erwarten können.

„Doch Doro, sie war völlig verwirrt. Greta … ihre Augen, so etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte Tom, nachdem er die aufgeweichte Tüte mit den matschigen Brötchen auf den gedeckten Tisch gelegt hatte.

Die Beiden saßen sich in Dorotheas Küche gegenüber, in der sie am Wochenende immer zusammen frühstückten. Es roch nach frischem Bohnenkaffee und geschälten Apfelsinen. Draußen trommelte Regen gegen die Scheibe und drinnen Tom mit seinen Fingern nervös auf die Tischplatte. Im Hintergrund dudelte das Radio. Es klickte und zwei Toastbrote machten einen kleinen Hüpfer. Dorothea stand auf und nahm sie aus dem Toaster. Über dem Waschbecken kratzte sie die dunklen Stellen mit dem Messer herunter.

„Das verdammte Ding hat noch nie ordentlich funktioniert. Egal wie man es einstellt, sie verbrennen trotzdem. Schade, dass die Brötchen versaut sind“, sagte Dorothea und reichte Tom einen Toast über den Tisch hinweg. Tom reagierte nicht, er starrte aus dem Fenster in den regenverseuchten Tag. Seine Finger trommelten weiterhin unruhig auf den Tisch. Dorothea seufzte, legte den Toast auf seinen Teller und setzte sich zu ihm.

„Mach dir nicht solche Gedanken. Greta war schon immer ein wenig merkwürdig. Ich weiß das, schließlich kenne ich sie schon seit Kindertagen. Wir beide wohnen unser gesamtes Leben in diesem Kaff. Und obwohl wir uns nicht mögen, haben wir keinen Streit miteinander. Mit ihrer Zwillingsschwester Klara hatte ich öfter mal Auseinandersetzungen. Meistens ging es um Jungs. Soweit ich mich erinnere, hatte Greta nie etwas mit Jungs gehabt. Böse Zungen behaupten, sie sei noch Jungfrau.“

Dorothea lächelte unbehaglich und trank einen Schluck schwarzen Kaffee aus feinem, mit grünen Blumen verziertem Porzellan. Tom schaute sie an, sein Trommeln hatte er eingestellt.

„Sie hat eine Zwillingsschwester? Das wusste ich nicht.“

„Hatte“, betonte Dorothea. „Sie ist vor zwanzig Jahren verstorben. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Immer zu zweit, die haben sich sogar ein Ehebett geteilt. Eines Morgens lag Klara tot neben ihrer Schwester.“

„Woran ist sie gestorben?“, wollte Tom wissen.

„Herzversagen hat unser Doc diagnostiziert. Kurz und schmerzlos.“

Der Regen ebbte etwas ab und ein Auto fuhr hupend am Haus vorbei.

„Man erfährt hier jeden Tag Neues. Und was hat das jetzt mit diesem Brunnen auf sich? Wer kommt denn da herausgeklettert?“, fragte Tom. Bisher hatte er den Toast auf seinem Teller nicht angerührt. Es sogar ein Stück von sich geschoben. Dorothea spürte, dass die Neugier schwer an ihm nagte und lachte. Geschickt rückte sie ihre Brille zurecht und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Ich hoffe niemand.“ Erneut lachte sie. „Das wäre für uns nicht sehr angenehm. Die Rede ist vom Teufel. Der Legende nach steigt er jedes Jahr in der Walpurgisnacht, das ist die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, durch den Brunnen in unsere Welt, um sich auf dem Brocken, auch Blocksberg genannt, mit den Hexen zu paaren, die dort oben ihr Fest abhalten. Alles verstanden?“

„Hexen?“, fragte Tom.

„Ja, Hexen. Die Sexgespielinnen von Beelzebub. Meine Güte Tom, hast du noch nie von dieser Geschichte gehört? Walpurgisnacht? Du bist doch Schriftsteller.“

„Ich … nein, noch nie davon gehört“, antwortete Tom. Dorothea sah, wie er langsam errötete.

„Hexen haben wir hier tatsächlich, aber nicht auf dem Brocken. Ist auch nicht so wichtig“, lenkte sie vom Thema ab.

„Lass uns lieber über etwas Erfreuliches sprechen. Wann kommt denn Sabine mit Franziska?“

Toms Miene hellte sich auf. Sie wusste, dass dies ein Thema war, mit dem sie ihn seelisch aufpäppeln konnte. Kurz zogen sich seine Mundwinkel nach oben und ein freudiger Glanz erwachte in seinen blauen Augen. Dann erlosch beides.

„Freust du dich denn nicht, dass die beiden dich über die Festtage besuchen kommen?“

„Doch, natürlich“, erwiderte Tom zögernd und stand auf. Er ging mit schweren Schritten zum Fenster und schaute auf die verlassene Straße hinaus.

„Und warum bist du dann so geknickt?“

„Ich bin nicht geknickt … nur nervös. Ich weiß nicht, wie sie reagieren wird, wenn wir uns sehen. Sie war während der letzten Telefonate so … abweisend. Kalt.“

Dorothea zündete auf dem Tisch eine lange Kerze an, die in einem Porzellanengel als Ständer steckte. Tom beobachtete unruhig das rhythmische Zucken der Flamme. Auf seinen Armen bildete sich sofort eine Gänsehaut. Dorothea bemerkte es und sagte: „Ach verdammt, daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Tut mir leid, ich lösche sie wieder.“

„Nein“, sagte Tom und ergriff ihre Hand. „Das brauchst du nicht. Ich muss lernen damit umzugehen. Ich kann nicht ständig vor meinen Ängsten davon laufen. Lass sie bitte an. Immerhin bin ich hier um das zu lernen.“

Dorothea schaute milde zu ihm auf und ergriff seine Hand noch fester. „Alles wird gut werden, Tom. Du wirst schon sehen. Alles wird gut.“

Fünf

Frank Morgenstern stand am Fenster der weihnachtlich geschmückten Empfangshalle und blickte hinunter auf das graue, verregnete Hallermanns Berg. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und in seinem Mundwinkel steckte eine Zigarette. Normalerweise rauchte er nicht, wenn er am Empfangstresen seines Hotels arbeitete. Der Kunden wegen. Aber in diesem Winter war alles anders. Momentan beherbergte er nur drei Gäste, obwohl das Hotel zwanzig Einzelzimmer und dreißig Doppelzimmer besaß. Im gesamten Gebäude herrschte eine gespenstische Stille. Ab und zu hörte man ein Knacken in der Heizung.

Morgenstern hatte den Brockenblick vor zehn Jahren von seinem Vater übernommen, der drei Jahre später im gesegneten Alter von zweiundachtzig Jahren in einem Krankenhaus in Bad Harzburg gestorben war. Sein alter Herr war in den Achtzigern für viele Jahre Bürgermeister von Hallermanns Berg gewesen. Seine Mutter lebte jetzt schon drei Jahre in einem Altersheim in Goslar. Sie war dement und erkannte ihren Sohn an vielen Tagen überhaupt nicht mehr. Frank Morgenstern besuchte seine Mutter in letzter Zeit kaum noch.

Er sog an der Zigarette, ohne sie aus dem Mund zu nehmen. Blauer Dunst schwebte um seinen Kopf. Früher war alles besser, dachte er und schob eine Strähne seiner perfekt frisierten, dunklen Haarpracht aus der Stirn. Früher steckte dieser Ort noch voller Leben. Pulsierend und fröhlich. Touristen säumten die Straßen, schlenderten an den Geschäften vorbei und füllten die Kassen der Läden. Doch das war längst vorbei und wenn er könnte, würde er das Hotel schleunigst verkaufen und irgendwo anders neu anfangen. Morgenstern war ledig und besaß keine Kinder. Es gab nichts, was ihn an diesen trostlosen Ort band. Er hasste Hallermanns Berg. Für ihn war er nichts weiter, als ein riesiger, lebendiger Sarg. Nein, hier sterben wollte er nicht.

Frank Morgenstern hatte eine Vision. Er wollte ein neues Hotel errichten, an einem Ort, der lukrativ genug dafür war. Und das war im Allgemeinen weit weg von Hallermanns Berg. Irgendwo hinter dem Brocken, der ihm die Sicht auf sein neues Leben versperrte, würde seine Zukunft liegen. Die Pläne für diesen Neuanfang lagen schon in seiner Schublade: die Skizze eines Hotelkomplexes, den er aus dem Boden stampfen würde. Zumindest sobald er den Brockenblick vom Hals hatte.

Das Hotel lag auf einer Anhöhe am Ende der Ortschaft, direkt an der Waldgrenze zum Brocken. Morgenstern hatte von dort aus schon häufig auf Hallermanns Berg hinabgeschaut. Jedes Mal mit wachsender Abscheu. Hübsch fand er ihn nur, wenn er im Winter von einer sauberen, samtigen Schneeschicht bedeckt war. Wenn die Straßenbeleuchtung einen zarten Schimmer auf die weiße Pracht warf und die Weihnachtsbeleuchtung sich in den Fensterscheiben spiegelte. Dann brannten die Kamine in den Stuben und dünner Rauch trieb aus den Schornsteinen und verwehte über den schneebedeckten Dächern. In diesem Moment wurde Hallermanns Berg zum Wintermärchen, bei dem jedem Postkartenmaler die Augen feucht geworden wären. Ein verträumtes kleines Königreich. Aber wenn er auf die Häuser im Regen schaute, dachte er an ein hinterlistiges Ungeheuer, das am Fuße des Berges in einem unruhigen Winterschlaf verharrte. Morgenstern wusste nur zu gut, dass jeder Winterschlaf irgendwann mal endete.

Als Morgenstern die Stimme hinter sich hörte, wirbelte er aus seinen Gedanken und zuckte sichtlich zusammen. Er fuhr herum, wobei ihm beinahe die Zigarette aus dem Mundwinkel rutschte. Die Haarsträhne plumpste zurück ins Gesicht. Er war so überrascht, den kleinen Mann mit Hut, in einen grauen Regenmantel gewickelt, vor sich stehen zu sehen, dass er den Mund wie ein Vollidiot sperrangelweit offen stehen ließ.

„Guten Tag“, sagte der Mann mit dem Hut und dem glimmenden Zigarrenstummel im Mundwinkel. Er betrachtete Morgenstern sichtlich amüsiert durch buschige, graue Brauen, die um seine Augen herumzureichen schienen.

„Hoffentlich habe ich Sie nicht erschreckt. Es war sehr unhöflich von mir, mich so anzuschleichen. Aber ich habe es einfach nicht über das Herz gebracht, Sie in Ihren Gedanken zu unterbrechen. Es schien mir wichtig gewesen zu sein. Habe ich recht?“

Frank Morgenstern klappte die Kiefer lautstark zusammen und nahm im Anschluss einen hastigen Zug von der Zigarette, die er nun in seiner Hand hielt. Er war immer noch völlig perplex. Ungeschickt versuchte er die Strähne zurückzuschieben. Was ihm nicht gelang.

„Guten Tag. Ich habe Sie überhaupt nicht hereinkommen gehört. Normalerweise knarrt die Eingangstür, wenn sie jemand öffnet. Aber eben … ich habe überhaupt nichts mitbekommen.“

„Oh, sie hat nicht geknarrt“, sagte der Fremde und grinste. Dabei schob sich sein enormer Schnurrbart an den Mundwinkeln in die Höhe. „Sie ließ sich geräuschlos öffnen.“

Morgenstern schaute irritiert, erst die Tür und dann den Mann an. Asche rieselte von seiner Kippe auf den Mahagonitresen, hinter dem er stand.

„Mein Name ist Gorgo, Herr Morgenstern. Ich würde gerne bei Ihnen ein Zimmer mieten. Wenn Sie noch eines frei haben, selbstverständlich.“

Gorgo nahm die Zigarre zwischen seine kräftigen Finger, lächelte erneut und wartete. Draußen peitschte ein aufkommender Wind Regen an die Scheibe und Hallermanns Berg schien in grauen Sturzfluten zu versinken. Eine der vier brennenden Kerzen auf dem Adventskranz, der auf einem runden Tisch in der Empfangslobby stand, erlosch. Morgenstern betrachtete den Fremden. Seine kleine, gedrungene Statur hinterließ keineswegs einen schwerfälligen Eindruck. Morgenstern vermutete, in dem kleinen Körper stecke genug Energie, um aus dem Stand elegant über den Empfangstresen zu schnellen und ihn mit seinen großen Händen zu erwürgen. Dann dachte er, dass so etwas völliger Blödsinn sei - warum sollte er das tun? Trotzdem hatte dieser Gorgo etwas Beunruhigendes an sich. Die Sachen, die der Mann trug, waren trotz des Regens erstaunlich trocken.

„Wir haben noch eine Menge Zimmer. Sie haben die freie Auswahl, Herr Gorgo. Ich könnte Ihnen Nummer dreizehn empfehlen. Es hat einen großen Plasmabildschirm und zusätzlich eine wunderbare Aussicht über den Ort. Einfach wunderbar. Ach ja, W-LAN ist bei uns natürlich inklusive“, sagte er und lächelte sein bestes Verkäuferlächeln, das er in diesem Augenblick zustande brachte.

Gorgo fixierte ihn aus dunklen Augen, die in einem Elfenbeinweiß zu schwimmen schienen. Augen, so unergründlich wie die Tiefsee. Und genauso faszinierend. Das Knacken der Heizung war wieder zu hören. Irgendwo in den Tiefen des Gebäudes pfiff der Wind durch ein schräg stehendes Fenster. Morgenstern begann zu schwitzen.

„Das klingt fantastisch. Mit Blick auf die Häuser. Einfach toll. Ein besseres Zimmer kann ich mir nicht vorstellen. Und obwohl ich nicht fernsehe, niemals, nehme ich es“, antwortete Gorgo.

Die Zigarette in Morgensterns Hand brannte herunter und versengte seine Haut. Er zuckte kurz, ließ den Stummel auf den teuren Teppich fallen und trat ihn unauffällig aus. Die Finger wischte er sich am Hosenbein ab, dann öffnete er eine Schublade und nahm ein Formular heraus.

Er legte es Gorgo mit einem verkniffenen Lächeln vor und versuchte die verbrannte Stelle an seiner Hand zu verbergen. Gorgo legte einen Ausweis auf das polierte Mahagoni, unterschrieb das Papier und griff sich seinen verbeulten braunen Koffer.

„Bevor ich es vergesse, ich bin Kettenraucher. Ohne die Dinger kann ich nicht mehr. Sie verstehen doch sicher … “, sagte Gorgo und hielt den qualmenden Stummel vor sich. Dabei schienen die stechenden fast schwarzen Augen Morgenstern zu durchbohren.

„Zimmer dreizehn ist ein Raucherzimmer. Kein Problem.“

„Danke vielmals, Herr Morgenstern“, sagte Gorgo, tippte sich an die Hutkrempe und schritt Richtung Treppe.

„Sagen Sie, Herr Gorgo, eigentlich geht es mich ja nichts an, aber zu welchem Anlass besuchen Sie denn unser schönes Örtchen? Skifahren fällt ja leider flach“, rief Morgenstern hinter ihm her. „Vielleicht kann ich Ihnen einige Informationen über unsere Sehenswürdigkeiten geben.“

Wieder dieses schmierige Lächeln.

Gorgo blieb kurz vor der Treppe stehen und drehte sich noch einmal um. Eine dichte Qualmwolke verdeckte sein Gesicht, als er sagte: „Ich bin nicht zum Vergnügen hier, sondern zum Arbeiten. Ich möchte ein Buch schreiben. Ein Buch über Hallermanns Berg. Und ich werde es zusammen mit seinen Einwohnern verfassen. Guten Tag, Herr Morgenstern.“

Mit diesen Worten bestieg er die Treppe zum ersten Stock und ließ einen völlig verblüfften Hotelbesitzer in der weihnachtlich geschmückten Lobby zurück. Die Heizung fing wieder an zu knacken.

Sechs

Ralf Sänger arbeitete seit zwanzig Jahren als Pfarrer in Hallermanns Berg und fühlte sich in der kleinen Gemeinde gut aufgehoben. Die Leute waren schrullig, aber freundlich. Sie kamen regelmäßig in die Kirche und halfen sich gegenseitig im Alltag. Dass der größte Teil der Bevölkerung über fünfzig war, störte ihn nicht. Die alten Leute kamen sowieso lieber in die Kirche, während die Jungen am Sonntagmorgen ihren Rausch ausschliefen. Sänger wusste, dass es in anderen Gemeinden weitaus schlimmer aussah. Es schien beinahe so, als hätte sich eine Kirchenmüdigkeit in die Gesellschaft geschlichen, die mit grausamer Effektivität jedes einzelne Individuum befiel. Vielleicht nur vorübergehend, aber Sänger wusste, dass daraus ein unaufhaltsamer Trend werden könnte. In einer Gesellschaft, in der sich die Räder immer schneller drehten, wollte man nicht vom Wagen fallen. Da brauchte man keine Kirche mehr, die nur störte. Es fehlte schlichtweg die Zeit, um sich mit Gott zu beschäftigen. Deshalb war er froh, an den Gottesdiensten nicht vor komplett leeren Bänken predigen zu müssen.

Nein, er hatte es nie bereut, sich hier niedergelassen zu haben. Doch das Gefühl, das ihn jetzt beinahe von den Füßen holte, konnte man nur mit Abscheu bezeichnen. Sänger hatte sich immer für in Not geratene Schäfchen, wie er sie nannte, eingesetzt. War zu ihnen nach Hause gekommen, um sie nach einem schweren Verlust zu trösten oder sie bei einer schweren Krankheit zu begleiten, um ihnen ein Fels in der Brandung zu sein. Momentan half er dem Ehepaar Müller. Herr Müller war schwer an Darmkrebs erkrankt. So wie die Ärzte prognostizieren, unheilbar. Alle vierzehn Tage besuchte er ihn und seine Frau, die Reinigungskraft in seiner Kirche war, und spendete den beiden Trost.

Sänger musste sich setzen, wollte er nicht zusammensacken. Es war, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Er starrte ungläubig auf den Zettel in seiner Hand. Schmutziges Tageslicht zwängte sich schwerfällig durch die bunten Fenster und erhellte das kleine Kirchenschiff nur schwach. Doch es reichte aus, um die Worte, die mit einem Computer auf den Zettel gedruckt waren, zu lesen.

Sänger setzte seine Brille auf, als könnten die Gläser den Inhalt des Schreibens beeinflussen. Doch die einzige Veränderung war, dass er die Worte nun deutlicher entziffern konnte. Worte, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben. Worte, die ihm das Vertrauen an die Rechtschaffenheit der Bewohner nahm. Worte, die ihm die Kehle zuschnürten.

Auf dem zerknitterten DIN-A-4 Zettel stand:

ICH KENNE DEIN GEHEIMNISS. UND WENN DU NICHT WILLST, DASS DEINE SCHAFE ES ERFAHREN, SOLLTEST DU GUTES TUN. ABSOLUTION IST DAS ZAUBERWORT. MIT 15000 EURO BIST DU REINGEWASCHEN. ICH MELDE MICH WIEDER.

DEIN JESUS

Unterschrieben mit Jesus; was für ein schlechter Scherz. Sänger legte den Brief neben sich auf die Kirchenbank und betrachtete die Deckenmalereien über sich. Er dachte nach: Wer sollte von seinem Geheimnis erfahren haben? Und wie? Niemand wusste davon. Aber vielleicht meinte der Verfasser ja auch gar nicht dieses Geheimnis. Aber sonst hatte er keins. Vielleicht war das Ganze ja auch ein schlechter Scherz. Nein, das war kein Scherz, das spürte Sänger.

Er stand auf, nahm den Putzeimer in die Hand und betrachtete die Stelle auf der Kirchenbank, an der er den Umschlag gefunden hatte. Wieder grübelte er: Wer konnte wissen, dass er heute selbst die Kirche säubern musste, da seine Putzfrau frei hatte. Wenn es nicht so wäre, hätte die Putzfrau den Brief gefunden und nicht er. Ihm kam sofort ein Name in den Sinn. Jemand, den er schon länger auf dem Kieker hatte. Jetzt war er sich fast sicher, dass er wusste, wer ihm den Zettel untergeschoben hatte.

Sänger stopfte das Blatt in die Tasche und ging mit hallenden Schritten zum Altar. Er stellte den Eimer zur Seite und ging auf die Knie. Fleckiges Licht sprenkelte die grauen Fliesen. Erst würde er beten, dann konnte er sich um die Angelegenheit kümmern.