ADRIAN DOYLE

&

TIMOTHY STAHL

 

 

BLUTVOLK, Band 17:

Diebin der Zeit

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Was bisher geschah... 

 

DIEBIN DER ZEIT 

 

Vorschau auf BLUTVOLK, Band 18: DIE LOGE DER NACHT 

von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL 

 

Glossar 

 

Das Buch

 

Das Tor existiert seit Äonen. Von der Bruderschaft der Illuminati unter dem Befehl des Vatikans bewacht, hat keines Menschen Fuß es je durchschritten. Und nie hätte es auch nur geöffnet werden dürfen.

Doch es ist geschehen. Ein Kind – oder vielmehr die Gestalt eines Kindes – hat die Siegel gebrochen. Und Lilith Eden, Geschöpf zweier Welten, ist hindurchgegangen.

Die Welt, in die sie tritt, ist Legende. Eine Legende des Bösen, ein Hort der Furcht, ein Kerker der Verzweiflung. Wo sie all das wiedertrifft, was sie zu verdrängen suchte.

Es ist ein Schritt in eine Welt, die die Menschen Hölle nennen...

 

BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.

Die Autoren

 

 

Manfred Weinland, Jahrgang 1960.

Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.

Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.

Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.

Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.

Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.

Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.

 

 

 

Timothy Stahl, Jahrgang 1964.

Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.

In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.

Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.

In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada.

  Was bisher geschah...

 

 

Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch, mit dem allein neue Vampire aus Menschenkindern entstehen können, mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, Kelchhüter und einer der ältesten Vampire, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten.

Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind. Als kurz darauf ein infizierter Vampir eintrifft, wird er von dem Säugling geheilt! Doch die Vampire, die daraufhin zum Nonnenstift pilgern, werden getäuscht. Das Baby entzieht ihnen alle Kraft und Erfahrung und wächst dabei rasch zum Knaben heran.

Die Seuche macht auch vor einem Stamm von Vampir-Indianern nicht halt, die dem Bösen widerstehen, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, den Adlern, halten. Hidden Moon, Schüler des Häuptlings Makootemane, bittet Lilith Eden um Hilfe. Sie steht den Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler und letztlich – durch Lilith – auch Makootemane tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren. Das wird Hidden Moon beinahe zum Verhängnis. Denn Lilith tötete seinen Adler, und nun »staut« sich das Böse in dem Arapaho – bis er erkennt, dass Lilith die Rolle seines Adlers übernommen hat und er nur in ihrer Nähe dem Bösen widerstehen kann. So schließt er sich ihr an.

Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer.

Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet.

Im Kloster befinden sich die Para-Träumer, unter ihnen eine Frau, die die Träume anderer bewusst erleben kann. Als Salvat sie in die Alpträume der Para-Träumer eintauchen lässt, erfährt er vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes, der Rolle des Widderköpfigen – und dass das Tor bald geöffnet wird!

Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie und Hidden Moon zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen.

Eine ganz ähnliche Erfahrung machte zu der Zeit, als Gottes Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, der Geist einer jungen Frau, die mit gebrochenem Genick in einem Korridor (ist es der zum Anfang der Zeiten im Garten Eden?) »erwachte« und auf ein fernes Licht zugezogen wurde – als plötzlich sämtliche Türen des Korridors aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht sie im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Der Inquisitor Matthäus Wenzel soll mehr über sie in Erfahrung bringen.

Doch nicht die junge Frau ist das wahre Böse in Prag. Ein Wesen, das die Menschen wohl »Satan« nennen, streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet es die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg werden soll. In den Wirren der Geschehnisse flieht Justus, der Eleve des Inquisitors, zusammen mit einer Freundin und der jungen Frau, die eine seltsame Macht auf ihn ausübt. Zum »Dank« saugt sie auch ihm und dem Mädchen das Leben aus...

Jenseits des Tores im Monte Carnago erwarten Lilith und Landru ihre ganz persönlichen Alpträume; eine Welt, in der ihre schlimmsten Ängste Gestalt annehmen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: eine »Oase« der Normalität, in der eine riesige Lilie den Übergang in die Vergangenheit der Erde ermöglicht – nicht körperlich, nur geistig!

Lilith folgt Landru durch diesen Schlund der Zeiten – und wird im Körper der jungen Zigeunerin Kathlen wiedergeboren, deren Sippschaft gerade dem Feuer überantwortet wird. Dank ihrer vampirischen Fähigkeiten kann sie vom Scheiterhaufen fliehen. Ein Vampir, der dem Treiben zusah, nimmt sich ihrer an.

Doch was ist mit Landru geschehen? Befindet er sich in derselben Zeit und am selben Ort: im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635?

DIEBIN DER ZEIT

 

 

 

Prag, an den Hängen des Hradschin

23. Mai Anno Domini 1618

»Bitte«, fleht das Mädchen, »lass uns gehen! Von uns droht dir keine Gefahr. Justus und ich...«, sie fährt sich mit gespreizten Fingern durch den feuerroten Haarschopf, »...wir haben dich befreit, erinnerst du dich nicht? Befreit! Und wenn du uns gehen lässt, verschwinden wir noch heute, und du wirst uns niemals wiedersehen. Bitte...!«

Der magere Junge neben ihr kneift die Lippen zusammen und bleibt stumm. So sitzen sie im Gras und fürchten sich.

Weit sind sie nicht gekommen...

 

Mein Atem flieht. Ich schulde ihnen nichts. Das Mädchen lügt. Befreit hat mich ein anderer. Aber selbst wenn es wahr wäre, was bilden sie sich ein? Empfindet man Dankbarkeit für den Schlüssel, der er sich nach grausamster Folter endlich im Schloss der Kerkertüre dreht?

Mir ist elend kalt. Sie könnten mich wärmen mit ihrer Lebenskraft. Worauf warte ich noch? Seit ich zu mir gekommen bin, werde ich verfolgt. Niemand hat Mitleid mit mir. Warum sollte ich also andere schonen?

Es ist heller Tag. Ich trage Lumpen und blicke dorthin zurück, wohin man mich verschleppte und mir unvergessliche Torturen bereitete.

Dort oben im Burgverlies sah ich den Knaben und das Mädchen zum ersten Mal. Aber als sie die Tür zu meinem Gefängnis öffneten, ging es ihnen nicht um mein, sondern um das eigene Leben.

Sie waren auf der Flucht und hofften den, der ihnen auf den Fersen war, durch mich abzulenken, vielleicht eine Zeitlang aufhalten zu können. Und tatsächlich, er kam zu mir und löste meine Ketten. Er nahm mein Gesicht in seine unerhörte Hand, und noch jetzt stockt mir der Atem, wenn ich seiner gedenke.

Mein Blick findet zu denen zurück, deren Spur ich durch die geheimen Gänge folgte. Gänge, die nicht nur innerhalb der Festung verlaufen, sondern auch aus ihr herausführen.

Und hier, zwischen dornigem Gestrüpp im Schatten mächtiger Mauern, habe ich die Flüchtenden eingeholt.

Schon unten im Kerker riefen sie einander bei ihren Namen. Der Junge heißt Justus, das Mädchen Anna. Ich möchte sie gernhaben, möchte ihnen verzeihen, aber das kann ich nicht. In mir gibt etwas anderes den Ton an. Etwas, das stärker ist als vordergründiges Wollen.

»Wie gefallen sie dir?«, fragt die Stimme in meinem Kopf, die nie ein lautes Wort verliert.

»Sie sind wunderbar«, gebe ich auf gleiche Weise zurück.

»Dann zögere nicht länger. Nimm sie dir!«

Und das tue ich.

Diese dummen Kinder.

Danach fühle ich mich gestärkt und voller Tatendrang.

In Prag will ich nicht bleiben.

Warum auch, denn die ganze Welt steht mir offen. Wer weiß, vielleicht erinnere ich mich eines Tages sogar wieder, wer ich bin.

Und wie es zugeht, dass alle Menschen, die mir nahe kommen, wenn ich hungrig bin, als Greise sterben...

 

 

17 Jahre später

Paris, 28. September 1635

Wann immer Ravaillac von seinem Beobachtungsposten südöstlich der Seine zur nächtlichen Silhouette der verkommenen Kloake namens Paris hinüberspähte, überkam ihn ein Grausen, ebenso mächtig wie unerklärlich.

Es war zehn Tage her, dass das Unbeschreibliche über das ansässige Vampirgeschlecht gekommen und es binnen einer einzigen Stunde in alle Winde versprengt hatte!

Fluchtartig hatten die Sippenmitglieder die Stadt verlassen – jeder, ohne Ausnahme. Auch Ravaillac selbst, das gestrenge Oberhaupt, war gewichen. Vor einem unsichtbaren, nichtsdestotrotz aber fühlbaren Feind, der wie ein jenseitiger Wind in die Straßen und Gassen der überbevölkerten Stadt eingefallen war...

»Wird er je wieder aufhören?«

Ravaillac zog den Blick aus der Ferne ab und wandte sich dem Fragesteller zu.

Racoon, ein Kelchkind wie er, aber um viele Jahre jünger, weil lange nach ihm gezeugt, stand gegen einen großrädrigen Holzkarren gelehnt und betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. Die dunklen Schatten darunter rührten von Verletzungen und getrocknetem Blut her – aber gewiss nicht seinem eigenen.

»Aufhören?«, echote Ravaillac. »Was meinst du?« Sein Blick streifte den Halbtoten, der zu Racoons Füßen lag. Manchmal zuckte er etwas heftiger, und das Wimmern aus seinem Munde schwoll an. Zum richtigen Schreien jedoch fehlte ihm bereits die Kraft. Und selbst wenn er es über sich gebracht hätte, wer hätte ihm beistehen sollen? Überall lagen die Toten und Sterbenden, Mägde und Knechte, Tagelöhner... Ravaillacs Sippe hatte fürchterlich auf dem Hof des Bauern Vaugard gehaust, nicht zuletzt aus dem ungewohnten Gefühl eigener Ohnmacht heraus.

Die Ohnmacht gegenüber dem, was sie aus Paris und dem Dunstkreis Louis XIII. und Kardinal Richelieus – ihren vermeintlichen Marionetten – vertrieben hatte...

Eine ganze Woche hatte es gedauert, bis Ravaillac endlich das letzte seiner verstörten Kinder aufgespürt und wieder um sich geschart hatte, nachdem dieser wahnsinnige Richelieu nach seinen verdeckten und von Ravaillac geduldeten Kriegseinmischungen nun durch sein öffentliches Bekenntnis, Frankreich fühle sich durch Habsburg bedroht, fast zur Kriegserklärung genötigt hatte!

In den letzten zehn Tagen seit der gespenstischen Vertreibung aus Paris (zehn Tage, die Ravaillac und seiner Sippe wie eine Ewigkeit vorkamen) hatte sich die Welt verändert: Frankreich war nun offiziell mit Schweden, Savoyen, Bayern, Weimar und Hessen gegen Kaiser Ferdinand II. verbündet, und wenn es nach Richelieus öffentlich geäußertem Willen ging, würde bald eine Kriegsfurie ungeahnten Ausmaßes über Deutschland hinwegfegen...

»Den Bann«, präzisierte Racoon. »Das, was uns erst in kopflose Panik gestürzt hat und nun den Weg zurück verwehrt!«

Ravaillac starrte den überaus ansehnlichen, geradezu beunruhigend attraktiven Vampir an, der wie ein Adelsspross gekleidet war und dadurch hier draußen, wie die meisten seiner Brüder und Schwestern, seltsam deplatziert wirkte.

Hier draußen...

Drei Kilometer von Paris entfernt war das, was Racoon als Bann bezeichnet hatte, immer noch spürbar, aber sehr viel erträglicher: ein Druck, eine Benommenheit, die jeden Gedanken bremste.

Und unsere Magie erstickt, dachte Ravaillac.

So war es tatsächlich. Dieses unsichtbare Tuch, das sich über die Dächer der Stadt gespannt hatte, unterdrückte das, was der Kelch dereinst in sie gepflanzt hatte, in ihr geschwärztes Blut!

Mit Mühe waren sie auf ledrigen Schwingen entkommen, aber schon kurz hinter der Stadtgrenze hatten die meisten von ihnen aus Entkräftung bereits wieder zu Boden gehen und ihre wahre Gestalt annehmen müssen. Ein schrecklicher Durst hatte sie heimgesucht, und erst nachdem er gestillt gewesen war, hatten sie allmählich begriffen, was ihnen widerfahren war. Inmitten der unterschiedlichsten Beschäftigungen waren die Instinkte im gleichen Augenblick mit allen durchgegangen. Tiefverwurzelte Reflexe, denen sie – daran zweifelte kaum einer – ihr Überleben zu verdanken hatten.

Was war geschehen?

Ravaillac wusste sich keine Antwort darauf. Aber er war trotz aller Fremdheit und Bedrohung, die Paris neuerdings ausstrahlte, fest entschlossen, es herauszufinden.

Noch heute Nacht!

»Sag den anderen, sie sollen hier auf meine Rückkehr warten!«

Als er das nächste Mal in Racoons Augen schaute, brannte für einen flüchtigen Moment ein wahres Feuerwerk der Furcht darin ab. Doch dann lagen sie wieder ruhig und vertrauensvoll wie zwei tiefe, dunkle Brunnen in den Höhlen.

Die hochgeschossene Gestalt nickte, und Ravaillac nahm all seine Sinne zusammen, um sich zu verwandeln.

Wieder war ihm, als würden seine Flügel Wasser peitschen, so elend schwer, so zögerlich trugen sie ihn voran. Und je näher er den überfüllten Häusern mit Menschen von unterschiedlichster Couleur kam, über die er und die seinen so lange und so absolut geherrscht hatte, desto bestürzender formte sich die Erkenntnis in ihm, dass keiner dieser Flügelschläge unbemerkt blieb von dem, was die geheimen Herrscher aus der Stadt an der Seine gejagt hatte...

 

 

Es gab keine Stadtmauer, es gab keine Gräben... Eines Tages würde die Stadt in Schönheit sterben, falls die Truppen von Kaiser Ferdinand II. es schafften, bis hierher vorzurücken!

Ravaillacs Gedärm – oder genauer die Eingeweide des Wesens, in das er sich verwandelt hatte – zogen sich vor Wut zusammen. Gedanken stoben wie Funken durch das winzige Hirn der Fledermaus.

Er begriff es nicht!

Je näher er dem Palast desjenigen kam, den er und seine Sippe umhegt und gefördert hatten, wo immer es erforderlich gewesen war, desto unfassbarer erschien Ravaillac die Tat von König und Kardinal.

Wie hatten sie so eigenmächtig handeln können? Louis XIII. und Armand Jean du Plessis Richelieu... was maßten sie sich an?

Aber der Verdacht, dass dieses Fehlverhalten der ansonsten gehorsamen Diener mit dem Einzug einer unbenennbaren, feindseligen Kraft in die Stadt zusammenhing, nahm immer konkretere Formen in Ravaillacs Denken an, auch wenn es noch keinerlei Anhaltspunkt gab, wer oder was denn eigentlich diese auf Vampire so abschreckende Kraft verströmte...

Es mutete an wie eine Naturgewalt. Wie ein Strom extremer polarer Kälte, gegen den die sterblichen Pariser Bürger auf absonderliche Weise gewappnet schienen, nicht jedoch die unsterblichen Machthaber.

Die Stadt selbst, alles darin, war eine fremde geworden.

Eine unbekannte Wildnis.

Ein tödlicher Dschungel!

Bisher waren wir die Bestien darin, dachte Ravaillac. Aber jemand macht uns diese Rolle streitig. Wer? Wer besitzt solche Macht...? 

Insgeheim fürchtete er die Antwort.

Trotzdem kämpfte er sich weiter durch die Böen, die niemand außer ihm zu spüren bekam. Winde, die ihm wie der Odem eines Fabeltiers entgegenbliesen...

Kurz vor der Stadtgrenze erlosch Ravaillacs Kraft der Verwandlung abrupt.

Aus fünf Metern Höhe stürzte er auf eine mit Pflastersteinen begradigte Straße und blieb eine Weile vollkommen betäubt liegen, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.

Über ihm spannte sich ein Himmel voller höhnischer Lichter.

Die Stille machte ihm solche Angst, dass das träge Herz in seiner Brust völlig außer Rand und Band geriet! Erschüttert lauschte Ravaillac dem nie erlebten stakkatoartigen Pochen.

Er wusste nicht, wie lange er gelegen hatte, ehe er sich aufrappelte und die Wurzeln seiner Schmerzen erkundete.

Bleibende Schmerzen...

Wie geschieht mir?

Warum half und heilte sich sein Körper nicht wie gewohnt?

Ravaillac war Jahrhunderte alt, aber noch nie hatte er es erlebt, dass die Hülle, die ihm klaglos dienen musste, sich verweigerte wie ein launisches Weib... eib... ib... b...