Swen Ennullat, geb. 1976, ist ehemaliger Kriminalrat. Nach seinem Studium in Aschersleben, Hannoversch Münden und Münster war er u.a. als stellvertretender Leiter des Dessauer Staatsschutzes und als Leiter der Auswerteeinheit islamistischer Ex­tremismus/Terrorismus in Berlin tätig. „Alpendohle“ ist sein literarisches Debüt.

SWEN ENNULLAT

Alpendohle

Thriller

mitteldeutscher verlag

Figuren und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig.

L

Obwohl Torben Julia in Wien wieder bedeutend nähergekommen war, stimmte es ihn irgendwie froh, die Stadt zu verlassen. Da er nicht wusste, wie es Frank und Thomas gelungen war, den Strom in den Museen und Regierungsgebäuden abzustellen, rechnete er ständig damit, dass irgendeine Sondereinheit der Polizei auf der Jagd nach Terroristen ihr Hotelzimmer stürmen würde.

Sie nahmen wieder den schwarzen Mercedes und mit Franks Zustimmung saßen sie dieses Mal alle drei gemeinsam auf der hintersten Sitzbank. Julia saß zwischen den beiden Männern und in engen Kurven oder auf einigen Serpentinen ließ es sich nicht vermeiden, dass sie und Torben sich berührten. Er zwang sich, diese kurzen Momente nicht auszunutzen, und wurde einige Stunden später dafür belohnt, weil sie sich beim Einschlafen an ihn schmiegte. Inzwischen war er sich sicher, zumindest ihr Vertrauen, wenn nicht sogar ihre Zuneigung, wiedergewonnen zu haben.

Die Strecke führte sie von Wien über das tschechische Brno, Prag, Dresden und Chemnitz nach Altenburg. Torben schätzte, dass es rund sechshundert Kilometer gewesen sein mussten, für die sie mit kurzen Zwischenstopps den ganzen Tag benötigt hatten. Sie kamen am Rande der Stadt im „Parkhotel“ unter, das an einem in der einsetzenden Dämmerung idyllisch anmutenden See lag. Julia bekam ein eigenes Zimmer, während sich Torben und der Professor wieder ein Doppelzimmer teilten.

Auf dem Schreibtisch fanden sie einen Stadtführer und erfuhren, dass sich Altenburg knapp vierzig Kilometer südlich von Leipzig sowie nordwestlich von Chemnitz befand und die Gegend zu den letzten Ausläufern des Erzgebirgsvorlandes gehörte. Wegen des ungemein fruchtbaren Bodens, der wildreichen Wälder und sauberen Gewässer hätten sich bereits vor sechstausend Jahren Menschen im Altenburger Raum niedergelassen. Die erste urkundliche Erwähnung der Stadt stammte aus dem Jahre 976, nachdem Heinrich I. die Slawen unterworfen hatte und die Markgrafschaft Meißen gegründet wurde.

Torben vermutete, dass Himmler die Stadt aufgrund ihrer Geschichte wiederum ganz bewusst für seine Zwecke gewählt hatte. Schließlich sah er sich ja selbst als Wiedergeburt des deutschen Königs gleichen Namens.

Auf einem Bett sitzend, überflog er etwas schneller die Ausführungen zur Herkunft des Beinamens Barbarossastadt. Friedrich I., genannt Barbarossa, hielt – wie seine Nachfolger auch – im 12. Jahrhundert in Altenburg Pfalz, also während seiner Reisen hier Hof.

Interessant wurde für Torben dann erst wieder der Zeitraum des Zweiten Weltkrieges. Schenkte man der Broschüre Glauben, erlebte die Stadt zwischen 1940 und 1945 mehr als zweihundert Fliegerangriffe, nicht zuletzt wegen der Produktionsanlagen der Hugo und Alfred Schneider AG, des größten Rüstungskonzerns in Mitteldeutschland, geführt von Wilhelm Renner, dem Vater von Hannelore Kohl, in dem bis zu dreizehntausend Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge Munition herstellten. 1944 erhielt das Unternehmen durch Albert Speer sogar die Sondervollmacht „Hochlauf Panzerfaust“ und wurde dadurch alleiniger Hersteller dieser Waffe in Deutschland. Der Standort Altenburg war also gerade in Hinblick auf die anrückenden Panzerverbände der Roten Armee mehr als kriegswichtig.

Während Torben noch über die manchmal so unterschiedlichen Wege, die Eltern und deren Kinder einschlagen, verwundert den Kopf schüttelte, wies ihn der Professor daraufhin, dass die Stadt durch einen Putsch Altenburger Antifaschisten kampflos und somit ohne weitere Zerstörungen an die Alliierten übergeben wurde, zuerst an die US-Amerikaner und am 1. Juli 1945 an die Rote Armee.

Die Rotgardisten besetzten natürlich auch den Flugplatz und transportierten das vorgefundene Material samt allen Produktionsanlagen des Schneider-Konzerns als Reparationszahlungen in ihre Heimat ab. Der angrenzende Leinawald wurde ebenfalls beschlagnahmt. In den folgenden Jahren entstand dort eine weitläufige Kasernenanlage der Sowjetarmee, welche die militärische Bedeutung des zum Militärflughafen erhobenen Landefeldes bedeutend erhöhte. Erst 1992 wurde der Flugplatz wieder einer zivilen Nutzung zugeführt, nachdem die russischen Streitkräfte endlich nach Hause zurückgekehrt waren.

Torben blickte den Professor an und triumphierte regelrecht. „Haben Sie das gelesen? Dort war Sperrgebiet! Das ist die Erklärung! Weder der Orden noch irgendwelche Historiker konnten da Nachforschungen anstellen!“

Professor Meinert nickte. „Ich weiß, Torben! Hier steht es: Standort von Jagdbombern Typ MiG 23, MiG 27, MiG 29, einer Hubschrauberstaffel und was weiß ich noch alles. Der Flughafen hatte während des Kalten Krieges eine zentrale strategische Bedeutung. Die US-Amerikaner haben ihn deshalb sogar in der Wüste von Nevada als Übungsziel nachgebaut.“

„Tatsächlich?“, zweifelte Torben und hielt dem Professor den Stadtführer hin. „Woher wollen Sie das wissen? Das steht hier gar nicht drin!“

Der Professor stöhnte auf und trat an ein Fenster. „Ich habe Ihnen noch nicht alles erzählt. Ich habe mich bereits vor einigen Jahren mit der Region beschäftigt.“

„Und das sagen Sie erst jetzt?“ Torben blickte den Professor entgeistert an. „Wann war das?“

„Es ist bestimmt schon mehr als fünfzehn Jahre her! Damals hat der amerikanische Schatzsucher Norman Scott, bekannt geworden ist er vor allem durch den Fund eines Maya-Schatzes in Mexiko, im Leinawald nach Nazigold gesucht. Ein alter SS-Mann hatte ihm wohl von einer Ladung Goldbarren erzählt, die hier in den letzten Kriegstagen vor den Alliierten versteckt worden sein soll.“

„Und, war er erfolgreich?“, fragte Torben interessiert nach.

„Keineswegs, später hat er unter anderem auch im Toplitzsee in der österreichischen Steiermark nach Goldschätzen getaucht, übrigens genauso erfolglos. – Aber zurück zum Leinawald. Die Gerüchte bezüglich dieser Bunkeranlage gab es schon zu tiefsten DDR-Zeiten. Die Staatssicherheit hat deshalb 1961 – mit Zustimmung und unter Aufsicht der Sowjetarmee – nach möglichen versteckten Kulturgütern oder verschollenem Reichsgold gesucht. Sie haben dafür Bohrungen angestellt, diese aber abgebrochen, weil Gas austrat.“

„Das heißt, es gibt gar keine Bunkeranlage und wir bluffen nur?“ Torben ließ sich nach hinten in die Kissen sinken und dachte unweigerlich an Julia, deren Leben plötzlich wieder in höchster Gefahr war.

„Nein, nein, ganz so ist es nicht!“ Der Professor wandte sich ihm wieder zu. „Ich bin überzeugt, dass es hier eine unentdeckte Bunkeranlage gibt, die sicherlich einige ganz außergewöhnliche Dinge enthält!“

„Wir brauchen aber keine außergewöhnlichen Funde, wir brauchen Himmlers Aufzeichnungen zum Orden, um wieder freizukommen! Ich erinnere Sie nur ungern, aber wir wollten Nicole und ihr Gefolge ab jetzt dazu zwingen, uns nach und nach freizulassen!“

„Das habe ich nicht vergessen.“

„Gut, ich wollte es Ihnen nur noch einmal ins Gedächtnis rufen. Das nächste Gespräch steht bald an und wir sollten uns auf die Konfrontation zumindest gedanklich vorbereiten. – Also, wieso glauben Sie so fest an einen geheimnisvollen Bunker?“

Der Professor drehte sich wieder dem Fenster zu und ließ sich Zeit, ehe er antwortete. „Ich habe seit einigen Jahren Kontakt zu einem hiesigen Heimatforscher, oder besser gesagt, er zu mir, weil ich nicht mehr auf seine E-Mails reagiert habe. Trotzdem sendet er mir und einigen meiner Kollegen alle paar Monate Nachrichten, er nennt es seine ‚Forschungsergebnisse‘. – Sein Name ist Rainer Brückner. Er ist, soweit ich mich erinnere, pensionierter Mitarbeiter der Altenburger Stadtverwaltung. Anscheinend hatte er in seiner früheren beruflichen Tätigkeit die Möglichkeit, alte Unterlagen im Heimatarchiv und anderen Sammlungen einzusehen. Jedenfalls vertritt er die Ansicht, dass Zwangsarbeiter den sogenannten Pfennigberg im Leinawald unterhöhlt haben, um eine gigantische Grabkammer zu bauen. Er hat mir Protokolle über Messungen geschickt, die riesige Hohlräume beweisen sollen. Zuletzt ging er sogar davon aus, dass Albert Speers sogenannte Große Halle, die der in Berlin geplant hatte, von den Abmessungen her unterirdisch in den Berg passen würde.“

„Das klingt doch vielversprechend. Zumindest schöpfe ich jetzt wieder etwas Hoffnung“, sagte Torben sichtlich erleichtert.

„Wirklich? Wollen Sie tatsächlich noch einen ahnungslosen Menschen in diese Sache mit hineinziehen? Sie und ich kannten zumindest das Risiko ein wenig. Julia und Michael wussten, wenn wir ehrlich miteinander umgehen, nicht, auf was sie sich einlassen. Wie viele Unschuldige wollen wir noch der Gefahr eines möglichen Todes aussetzen?“

„Die Frage ist unfair, George! Natürlich habe ich darauf keine Antwort. Aber haben wir denn eine andere Wahl?“

„Nein, vermutlich nicht.“ Der Professor vergrub das Gesicht in den Händen und Torben bemerkte nach all den gemeinsam verbrachten Tagen das erste Mal, dass die Ereignisse auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen waren.

Am nächsten Morgen führte sie Thomas in einen der Konferenzräume des Hotels. Zu Torbens Überraschung traf er dort nicht nur auf eine verlegen blickende Julia – wohl, weil Michael, der neben ihr stand, demonstrativ seinen Arm um ihre Schultern gelegt hatte –, sondern auch auf Nicole und eine ältere Frau, die ihn mit offenkundiger Feindseligkeit in den Augen anfunkelte. Sie war von schlanker Gestalt und recht klein, nicht größer als einen Meter fünfundfünfzig. Trotzdem konnte er ihre Präsenz förmlich spüren. Keinen anderen im Raum umgab eine solche Aura von Macht und Stärke. Der Orden hatte also eine seiner höchsten Führerinnen, wenn nicht sogar eine Meisterin, geschickt, um sicherzugehen, dass eine jahrzehntelange Suche endlich zu einem erfolgreichen Ende gebracht wurde.

Als Torben ihr entgegenging, schaute er sie sich genauer an. Er sah gebräunte, wettergegerbte Haut und bemerkte, dass sie trotz ihres Alters, das Torben auf etwa siebzig schätze, das graue Haar modisch kurz hielt. Weiterhin trug sie, wie es sich auf geheimnisvollen Expeditionen nun einmal gehörte, genauso wie Nicole, sehr funktionale und wetterfeste Kleidung. Diese schien perfekt zu passen und war überaus hochwertig.

Nicole war die Erste, die das Wort an Torben und den Professor richtete: „Guten Morgen, die Herren, wir haben schon sehnsüchtig auf euer Erscheinen gewartet. Wir kommen nämlich mit unseren Nachforschungen nicht weiter.“

Sie wies auf Karten, Unterlagen und Fotografien, die einen großen Konferenztisch hinter ihnen bedeckten, und sagte beiläufig: „Thomas, Sie können Julia und Michael inzwischen wieder hinausbegleiten, unsere Freunde wissen nun, dass wir alle wieder beisammen sind … wie eine große glückliche Familie.“

Als Michael Torben im Vorbeigehen ansah, hatte dieser allerdings nicht das Gefühl, dass das stimmte. Irgendetwas im Gesichtsausdruck seines alten Freundes beunruhigte ihn.

Nachdem sich die Tür hinter den dreien geschlossen hatte, schüttelte Torben seine düstere Vorahnung aber ab und wandte sich an Nicole: „Bevor wir anfangen, solltest du uns – aus Gründen der Höflichkeit – deine Begleiterin vorstellen.“ Er schaute dabei demonstrativ die Fremde an.

„Das ist nicht nötig. Es reicht, wenn ich weiß, wer Sie sind!“ Ihre Stimme war unangenehm hoch und triefte vor Überheblichkeit.

Torben hatte sie schon einmal gehört. „Ah, Rema, schön, Sie einmal persönlich kennenzulernen.“

Seine Bemerkung klang selbst in seinen Ohren erstaunlich selbstbewusst und es gelang ihm, sie für einen kurzen Moment aus der Fassung zu bringen, wie ihm ihr verblüffter Gesichtsausdruck verriet.

Rema fing sich jedoch sehr schnell wieder, setzte eine gleichgültige Miene auf und entgegnete: „Nun gut, Herr Trebesius, Sie haben also meine Stimme wiedererkannt und wissen, wer ich bin. Offensichtlich hat Sie der gute Frank hier im schönen Bad Mergentheim doch nicht so schnell bewusstlos geprügelt, wie ich dachte. Nun, da jeder weiß, mit wem er es zu tun hat, würde ich Sie bitten, uns mitzuteilen, wo sich die von der Organisation Todt errichtete Bunkeranlage, Himmlers geheimes Versteck, nun genau befindet.“

„Meisterin, das ist doch Ihre offizielle Anrede, richtig? Bevor wir dazu kommen, möchte ich Ihr Verständnis für unsere Lage wecken.“

Für Torben war die Zeit des Taktierens gekommen und er beabsichtigte, dies jetzt vorsichtig und überaus höflich zu tun.

„Wir wurden in den letzten Tagen Zeugen, wie konsequent einige Ihrer Mitarbeiter agieren. Vieles davon werden die Ermittlungsbehörden sicherlich auch uns anlasten und uns wegen Beihilfe und Mittäterschaft zur Rechenschaft ziehen, da wir schwerlich das Gegenteil beweisen können.“

„Außerdem sind Sie ja sowieso ein Straftäter auf der Flucht, nicht wahr? Man würde Ihnen Ihre Ausreden sowieso nicht glauben“, wandte Rema ein. „Nun gut“, sagte sie dann mit einem leichten Anflug von Ungeduld, als Torben ihr eine Antwort schuldig blieb, „worauf wollen Sie hinaus?“

„Ganz einfach“, wagte sich Torben weiter nach vorn, „wir vermuten, dass Sie eventuell die Befürchtung haben, dass wir uns – im Falle einer Freilassung – an die Öffentlichkeit wenden könnten. Ich versuche, Ihnen nun zu erklären, dass wir dies gar nicht können, da wir uns selbst der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen würden.“

„Sie könnten aber einen Deal aushandeln, sozusagen Straffreiheit gegen eine uns belastende Aussage, nicht wahr?“, erwiderte die Meisterin.

„Das mag schon sein. In diesem Fall würden wir aber die Macht des Ordens unterschätzen. Ich glaube, Sie sprechen uns die Intelligenz zu, zu erkennen, dass wir damit unser Todesurteil unterschreiben würden, denn keine Polizei der Welt kann uns vor Ihnen schützen, nicht wahr?“

Rema lächelte. „Sie sind so gerissen, wie man mir Ihren Großvater beschrieb. Lassen Sie uns also Klartext reden! Noch einmal: Was wollen Sie?“

Sie sprach von seinem Großvater, als würde ihn jeder kennen! Torben versuchte, sich nicht ablenken zu lassen, und verdrängte schweren Herzens den Wunsch, mehr über ihn zu erfahren. „Bislang wurde uns erzählt, dass wir nach dem Fund der Dokumente freigelassen werden. Da wir uns jetzt praktisch auf der Zielgeraden befinden, schlage ich vor, wir machen einen Staffellauf daraus. Bei jeder Übergabe des Stabes, sprich jedem weiteren wesentlichen Schritt, lassen Sie einen von uns vieren frei.“

Torben hielt die Luft an. Er hatte sein gesamtes Pulver verschossen. Ihr Schicksal lag jetzt in Remas Händen. Sollte sie ablehnen, wusste er, dass ihr Tod längst beschlossene Sache war. Sollte sie jedoch zustimmen, bestand tatsächlich ein Funken Hoffnung, lebend aus dieser gefährlichen Situation herauszukommen.

Rema taxierte Torben sehr genau, fast so, als wollte sie in sein Gehirn kriechen, um in Erfahrung zu bringen, was in ihm vorging. Dann schaute sie in Nicoles Richtung, vielleicht um zu sehen, ob sie Einwände hatte. Doch deren Gesicht blieb versteinert. „Dann soll es so sein. Ich werde allerdings die Reihenfolge festlegen. Sie können sich schon einmal darauf einstellen, dass Sie bleiben, bis der Vorhang des letzten Aktes fällt.“

Als er das hörte, fiel ihm trotzdem ein Stein von Herzen. Er würde Julia retten! Das war im Moment alles, was zählte.

„Ich hatte mit nichts anderem gerechnet. – Es bleiben aber noch drei andere Positionen. Ich schlage vor, zuerst Julia, dann Michael, dann …“

„Nein“, unterbrach ihn Rema. „Meinetwegen zuerst Ihren Schulfreund, wenn wir das Versteck kennen, dann Ihre Exfreundin, wenn wir die Bunkeranlage geöffnet haben, der Professor kann gehen, wenn sie nicht leer ist, und Sie, wenn ich die Unterlagen in Händen halte. Das ist meine Entscheidung und ich werde nicht mehr darüber verhandeln.“

Torben schluckte, Julia würde also erst als Zweite freigelassen werden. Aber immerhin noch bevor sie vielleicht feststellen müssten, dass die Schnitzeljagd weitergehen würde, weil der Bunker leer war. So gesehen, war es ein Kompromiss, den er eingehen könnte, die Hauptsache wäre, Julia in Sicherheit zu wissen.

Er nickte als Zeichen der Zustimmung und Rema sagte: „Nun, da wir auf Ihre Forderungen eingegangen sind, besitzen Sie gewiss die Freundlichkeit, uns endlich zu sagen, was wir als Nächstes tun sollten.“

„Professor?“, wandte Torben sich an seinen Freund. Er spürte, wie dieser innerlich mit sich rang. Als er nicht antwortete, wurde Torben eindringlicher: „Professor, Sie müssen …“

„Ist ja schon gut! Ich weiß, was ich zu tun habe!“ Der Professor sah Rema missmutig an und sagte langsam: „Suchen Sie Rainer Brückner!“

LI

Rainer Brückner zu finden, war nicht das Problem, ganz im Gegenteil: Ihn im beschaulich anmutenden Altenburg zu übersehen, wäre ungleich schwieriger gewesen. Allein schon der Blick ins ­Telefonbuch genügte, um zu erfahren, dass er im Ortsteil Niederleupten in der Randsiedlung, direkt am Flughafen neben dem Leinawald lebte. Außerdem war er Mitbegründer eines Heimatvereins und leitete ehrenamtlich die Geschicke der Heimatstube, einer Art kleinen Museums. Er engagierte sich seit Jahrzehnten aktiv in seiner Kommune und fand regelmäßig die Muse, in Leserbriefen auf Missstände in der Landespolitik aufmerksam zu machen. In letzter Zeit war es freilich erstaunlich ruhig um den parteilosen Heimatforscher geworden.

Irgendwie brachte der Professor Rema dazu, ihm zu gestatteten, Brückner zuerst nur gemeinsam mit Torben aufzusuchen, wollte er doch auf jeden Fall vermeiden, dass Nicole sofort gewaltsam versuchen würde, ihn zur Mitarbeit zu zwingen.

Frank übernahm den Fahrdienst und setzte die beiden wenig später an einem massiven Bungalow im typischen DDR-Stil ab, der schon bessere Tage gesehen hatte. Während ihr Aufpasser im Wagen wartete, gingen Torben und der Professor durch einen ungepflegten Vorgarten, der langsam wieder zum Leben erwachte, zur Haustür. Sie hatten kaum die Klingel betätigt, als ihnen ein zerzaus­ter alter Mann in Jogginghose und schmutzigem T-Shirt öffnete und fragte: „Ja, was wollen Sie?“

„Herr Brückner, mein Name ist Professor Meinert“, stellte sich der Professor vor. „Wir haben uns …“

„Professor Meinert? Ich wusste, dass irgendwann jemand von euch auftauchen würde! Sie haben meine letzte E-Mail gelesen! Sie glauben also auch, dass ich kurz davor stehe, die Große Halle von Speer zu finden, deshalb sind Sie hier, nicht wahr?“

Brückner war außer sich vor Freude und ließ zwei lückenhafte Reihen mit gelben Zahnstümpfen sehen. Irgendwie passte der Ruf, den er hatte, nicht zu der Person, die sie jetzt vor sich sahen. Sein Körper wirkte hager, fast schon ausgemergelt. Torben wusste, dass er bereits pensioniert war. Also tippte er, dass er mindestens sechzig Lenze zählte. Brückners Alter zu schätzen, war nämlich schier unmöglich. Die strähnigen ergrauten Haare waren nackenlang. Er war unrasiert und seine drahtigen Augenbrauen standen in alle Richtungen ab. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, dass man einen verwahrlosten und gescheiterten Greis vor sich hatte, wenn da nicht diese wachen Augen gewesen wären. Sie stachen regelrecht aus dem ungepflegten Gesicht heraus und zeugten von seinem noch immer scharfen Verstand.

Mit einer freundlichen Geste öffnete er die Haustür ganz und sagte: „Aber kommen Sie doch erst einmal herein!“

„Vielen Dank, ich hoffe, wir stören Sie nicht“, bemerkte der Professor.

„Nein, nein, nicht im Geringsten! Entschuldigen Sie bitte die Unordnung, aber meine Frau ist bei ihrer Schwester zu Besuch.“

Als Torben sich umsah, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Brückners Frau schon seit mehreren Jahren ihre Schwester besuchte, wenn es überhaupt je eine Ehefrau gegeben hatte.

Das Haus starrte vor Dreck, überall lagen Kleidung, Zeitungen oder einfach nur Müll herum. Die Luft war nicht nur abgestanden, sondern bereits im Flur schlug ihnen ein fürchterlicher Gestank entgegen. Torben ließ daher die Haustür offen stehen, um etwas Frischluft hereinzulassen, und erschrak heftig, als etwas durch seine Beine hindurch nach draußen huschte. Für einen kurzen Moment glaubte er, es sei eine Ratte. Es war aber nur eine graue Katze, die in diesem Haus mit Blick auf die Nahrungskette sicherlich immer genug zu fressen fand.

Brückner führte sie ins, wie er es nannte, „Wohnzimmer“, das aber eher an die Höhle eines Messies erinnerte. Auf dem Fußboden, den Möbeln, den Heizkörpern oder in den Fensterbrettern, überall türmten sich Berge nicht identifizierbarer Kisten, Tüten, Zeitschriften oder Bücher auf. Zumindest war Torben jetzt klar, warum sich seine bessere oder zumindest saubere Hälfte aus dem Staub gemacht hatte. Hier konnte einfach niemand mehr leben, der noch geistig gesund war.

Es gab mit einem alten, fleckigen Sessel eigentlich nur eine freie Sitzgelegenheit und ihr Gastgeber kippte deshalb kurzerhand mehrere gewaltige Stapel Papiere, die auf den Sitzflächen zweier Stühle lagerten, auf den verdreckten und von einer unbekannten Substanz klebenden Fußboden.

Obwohl sich Torben dabei vor Ekel schüttelte, nahm er genauso wie der Professor darauf Platz und ihm rutschte die Frage heraus: „Wann ist Ihre Frau gleich noch einmal verreist?“

Er hatte ziemlich leise gesprochen und Brückner fragte daher nach: „Was haben Sie gesagt?“

Als Torben den tadelnden Blick des Professors sah, entgegnete er schnell: „Ach, nichts Besonderes! Ich wollte mich nur vorstellen, mein Name ist Trebesius. Ich bin Professor Meinerts Assistent.“

„Oh, ich verstehe! Natürlich braucht er einen Assistenten. Bräuchte ich auch. Ich habe so viel Arbeit, ich stehe ja kurz vor dem Durchbruch! Warten Sie, ich muss Ihnen gleich etwas zeigen, was ich vor drei Wochen gefunden habe.“

„Herr Brückner“, versuchte der Professor das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, „Sie suchen also immer noch nach einem Bunker unter dem Pfennigberg?“

„Natürlich, Professor Meinert, aber ich suche nicht mehr, ich glaube, ich habe ihn gefunden!“

Torben konnte es kaum fassen. Sollte dieser verrückte alte Kauz ganz allein tatsächlich eines der letzten und bestgehüteten Geheimnisse Himmlers, wenn nicht gar des untergegangenen Dritten Reichs gelüftet haben?

Dem Professor ging es wohl genauso, denn er fragte schnell nach: „Wie kommen Sie darauf?“

Brückner grinste triumphierend. „Niemand hat mir geglaubt, alle haben immer nur gelacht. Zu DDR-Zeiten hatte ich dadurch eine Zeit lang die Stasi am Hals, aber ich habe nie aufgegeben. Ich wusste, der Leinawald birgt ein großes Geheimnis!“

Torben dachte nur, dass Brückner nicht einmal ahnen konnte, wie recht er damit hatte und in welche Gefahr ihn seine Nachforschungen nun brachten. Aufmerksam hörte er ihm weiter zu.

„Angefangen hat es mit einer Bemerkung meines leider viel zu früh verstorbenen Vaters. Gott hab ihn selig!“ Brückner bekreuzigte sich. „Auf seinem Totenbett, quasi im Delirium, sprach er plötzlich von einem verborgenen Raum im Pfennigberg, bei dessen Entstehung er wohl in den Vierzigerjahren beteiligt gewesen war. Diese dürftigen Informationen waren sein Vermächtnis an mich, denn wenige Atemzüge später verstarb er. Nach seinem Tod ließ mich der Gedanke daran nicht mehr los und ich habe, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen, jedes Blatt in den Heimatarchiven durchforstet, oftmals ganze Akten abgeschrieben oder Karten abgezeichnet, weil es ja Kopierer noch nicht gab. Weit mehr als dreißig Jahre lang habe ich Zeitzeugen befragt und sogar Russisch gelernt, um mit den stationierten Soldaten in Kontakt treten zu können. Ich habe mir Luftbilder besorgt, errechnet, wie sich der Wald verändert haben muss und welche Vegetation es früher vielleicht noch nicht gegeben haben könnte. Die Wende und der Abzug der Sowjets haben dann die eigentliche Suche vor Ort erst möglich gemacht. Ich habe …“, sein Blick ging plötzlich irgendwie ins Leere, „… sobald es die Witterung zuließ, der Boden nicht mehr gefroren war, gebuddelt, das ganze Jahr, bis zum ersten Frost und manchmal darüber hinaus.“

Er schlüpfte flink aus dem rechten Hausschuh, von dem Torben gar nicht glauben konnte, dass er noch irgendwie zusammenhielt, zog eine dreckige Socke aus und streckte ihnen seinen ungewaschenen Fuß entgegen, an dem die beiden kleinsten Zehen fehlten. „Erfroren! – Winter vor drei Jahren. Damals habe ich noch an der falschen Stelle gegraben. Außer ein paar alten Waffen und Munition habe ich nichts gefunden, muss wohl ein Luftschutzbunker für irgendwelche Wachmannschaften der Zwangsarbeiter gewesen sein.“

Während sich Torben noch Gedanken machte, ob er sich nun vor Brückner gruseln oder diesen bedauern sollte, weil er bereits mehr als zwanzig Jahre den Leinawald umgrub, streifte sich dieser den Strumpf wieder über und präsentierte ihnen überschwänglich einen großen Umzugskarton eines bekannten Baumarktes, den er irgendwo in dem Chaos versteckt hatte. Er öffnete ihn mit den Worten: „Jetzt, nach so langer Zeit, habe ich aber die Wächter des Eingangs gefunden!“

„Wächter des Eingangs? Wie meinen Sie das, mein lieber Freund?“, fragte der Professor nach.

„Schauen Sie nur, Sie werden gleich verstehen!“

Als sie sich über die Kiste beugten, blickten sie plötzlich in die Augenhöhlen von einem halben Dutzend menschlicher Schädel, die zum Teil noch ziemlich verdreckt waren.

„Du großer Gott!“, entfuhr es Torben, was Brückner mit einem Lachen quittierte, während er einen der skelettierten Köpfe herausnahm. „Keine Angst, sie tun Ihnen nichts! – Hier, sehen Sie, der Kiefer ist intakt und die noch vorhandenen Zähne kaum abgenutzt, dennoch fehlen sehr viele. Für mich als medizinischen Laien ist das ein eindeutiges Anzeichen, dass es sich um junge Menschen gehandelt haben muss, die unter einer Mangelernährung litten, ganz klar Zwangsarbeiter, die das Versteck bauen sollten.“

Er nahm zwei weitere Schädel heraus und steckte seine Finger durch Löcher in deren Schädeldecken. „Und hier, Kopfschuss eindeutig! – Die meisten weisen diese Löcher auf. Einige wenige, wie mein Freund hier“ – er tätschelte liebevoll den ersten der drei Schädel –, „sind wohl an Erschöpfung oder irgendetwas anderem gestorben.“

Professor Meinert erlangte als Erster seine Fassung wieder: „Von wie vielen Skeletten sprechen wir?“

„Genau siebenundvierzig!“

„Und fast alle weisen diesen Grad der Verletzung am Schädeldach auf?“

„Ja, das habe ich doch schon gesagt! Manchmal ist auch der Wangenknochen zerstört oder die Augenhöhle. Ich vermute, sie mussten sich hinknien und erhielten einen aufgesetzten Schuss in den Hinterkopf. Manchmal trat dabei die Kugel eben nach vorn wieder aus und nahm einen Teil des Gesichts mit. Ich kann es Ihnen beweisen.“

Torben, der sich mittlerweile entschieden hatte, dass Brückner in ihm doch ein Gefühl von Angst verursachte, sagte daraufhin: „Wie meinen Sie das, Sie können es beweisen? Haben Sie Fotos gemacht?“

„Ach Fotos! Fotos kann man fälschen! Fotos verbleichen! Ich habe Sie hier!“

„Wie, Sie haben sie hier? Sie meinen doch nicht etwa alle?“ Das unangenehme Gefühl in Torbens Magen schien explosionsartig auf die Größe eines Medizinballs anzuschwellen.

„Ja, natürlich! In den Kartons!“ Brückner zeigte in Richtung einer Kammer nebenan. „Ich habe die Schädel selbstverständlich mitgenommen! Der Rest der Gebeine liegt noch da, wäre ja sonst auch zu schwer geworden!“

In Torbens Kopf drehte sich alles. Hatte er tatsächlich gesagt, wäre ja auch zu schwer geworden? Er war in einer gottverdammten Gruft gelandet und Brückner war eine Art Ghul, ein leichenfressendes Fabelwesen. Er wollte auf dem schnellsten Wege aus dieser Grabstätte heraus, bevor er sich mit dem gleichen Virus infizieren würde. Plötzlich spürte er die beruhigende Hand des Professors auf seinem Unterarm und hörte ihn sagen: „Sie brauchen uns die Schädel nicht zu zeigen. Ich glaube Ihnen. Es würde mich aber sehr interessieren, wo Sie sie gefunden haben. Eventuell sind Sie auch so nett und würden ein paar Kollegen – und uns natürlich auch – zu der Stelle führen?“

Brückner schlug sich auf die Oberschenkel und lachte. „Ich wusste es! Sie sind nicht alleine da! Auf einmal kommen Sie alle, wie Schmeißfliegen, die einen frischen Haufen Scheiße wittern! Wen haben Sie mit: Presse? Fernsehen? Bestimmt jede Menge Wissenschaftler! Oder andere Schatzsucher? Bürokraten? Egal, Hauptsache, die Welt erfährt, dass ich es war, der das Rätsel gelöst hat. Von mir aus können Sie so viele Leute anschleppen, wie Sie wollen. Aber vielleicht sollten Sie sich vorher etwas anderes anziehen, wie werden uns nämlich die Hände schmutzig machen!“

„Er ist verrückt! Er ist völlig verrückt!“ Sie waren auf dem Weg zum Auto und Torben konnte immer noch nicht glauben, was er gerade erlebt hatte.

„Verrückt ist relativ, mein junger Schüler. Die Welt entsteht im Kopf. Für ihn sind wir vielleicht die Verrückten, weil wir ihm früher nicht geglaubt haben. Sein mutmaßlicher Erfolg bestätigt ihn jetzt in seiner Annahme“, antwortete der Professor.

„Aber er sammelt menschliche Schädel! Ich will nicht wissen, was sich sonst noch in diesem Haus verbirgt. Vielleicht hat ja auch einer dieser zentnerschweren Müllstapel seine Frau unter sich vergraben. So wie es dort drin stinkt, könnte sie neben ihm verfaulen und er würde es nicht merken.“

„Torben, nun hören Sie aber auf! Sie mögen recht haben, dass er etwas verschroben ist, aber für ihn besteht nun mal der Sinn des Lebens darin, das Vermächtnis seines Vaters zu erfüllen. Es gibt wahrlich üblere Motive. Statt um Geld und Macht geht es ihm, wie es scheint, darum, die Geschichte seiner Familie zu ergründen. Oder ist Ihnen nicht aufgefallen, dass er den Namen ‚Alpendohle‘ nicht ein einziges Mal in den Mund genommen hat. Er hat eine andere Sicht auf die Dinge als wir oder die Priesterinnen. Vielleicht ist es ihm tatsächlich gelungen, die berühmte Nadel im Heuhaufen zu finden, und er kann uns nun zum Eingang des Bunkers führen. Das ist alles, was für mich zählt. Wie dem auch sei, in drei Stunden wissen wir mehr!“

Durch die Worte des Professors sah Torben Brückner auf einmal in einem etwas anderen Licht und stimmte ihm im Stillen sogar zu.

Als sie den Mercedes erreichten, fragte Frank sofort: „Waren Sie erfolgreich?“ Als beide nickten, warf er seine Zigarette weg und ergänzte: „Dann sollten Sie Nicole anrufen! Sie liebt gute Nachrichten!“

LII

Nachdem sie den Vertretern des Ordens von Brückner und dessen Gemütszustand berichtet hatten, kehrten sie, wie verabredet und alle gemeinsam, am frühen Nachmittag zu dessen Haus zurück, wo er ihren kleinen Tross schon begierig erwartete.

Der Professor, Torben und der grobschlächtige Kerl, der in der Walhalla geholfen hatte, das Gerüst zu bewegen, fuhren wieder in Franks schwarzem Mercedes mit. Julia und Michael befanden sich mit Thomas, einem weiteren Wächter und jeder Menge Ausrüstung, die man vielleicht noch brauchen könnte, Schaufeln, Spitzhacken, Lampen, Seile, Haken, Bandschlingen und Klemmgeräte, die im alpinen Klettern gebräuchlich waren, und einigem anderem mehr, in dem silberfarbenen VW-Bus. Rema und Nicole bildeten mit einem geländegängigen Volvo samt persönlichem Chauffeur den Abschluss der Karawane.

Brückner war von den vorfahrenden Karossen tief beeindruckt und murmelte ständig etwas davon, dass er, wenn er das Gold haben würde, sich auch ein neues Auto kaufen würde.

Pantoffeln, T-Shirt und Jogginghose hatte er mittlerweile gegen Stiefel und einen schon ziemlich mitgenommenen Overall aus alten Armeebeständen der DDR getauscht, der in der schmalen Hüfte von einem Gürtel mit Koppelschloss zusammengehalten wurde, das als Emblem Hammer und Sichel zeigte.

Torben und die anderen waren von ihren Bewachern ebenfalls neu eingekleidet worden und trugen nun wasserdichte Schnürstiefel und Outdoor-Kleidung.

Brückner stieg in den Mercedes und wies Frank an, eine südliche Route entlang des Leinawaldes zu nehmen. Sie passierten einige kleine verschlafene Orte, die nur aus wenigen Häusern bestanden, ehe er sie nach wenigen Kilometern auf einen Waldweg einfahren ließ. Schon die Einfahrt erkannte man kaum und an einigen Stellen war es in der Folge nur Franks vorausschauendem Fahrstil zu verdanken, dass sie nicht auf dem zugewachsenen und verschlammten Weg stecken blieben.

Da sie sich immer mehr vom eigentlichen Flugplatz entfernten und sich bereits im östlichsten Teil des Leinawaldes, eines riesigen urwüchsigen Mischwaldes und Naturschutzgebietes, befanden, merkte der Professor an, dass er hier nicht mit dem Eingang zu der Anlage gerechnet hätte. Brückner ließ darauf sein Lachen hören, bei dem sich jedes Mal Torbens Nackenhaare aufrichteten, und erklärte, dass deshalb auch nie jemand dort gesucht habe. Die Stasi und die ganzen anderen Schatzsucher hätten immer völlig falsch gelegen.

Er selbst habe den Tipp vor einigen Jahren von einem russischen Veteranen erhalten, mit dem er in Briefkontakt stand und der während der Zeit seiner Stationierung wegen der schlechten Verpflegung in der Kaserne versucht hatte, seinen Speiseplan mit selbst gesammelten Pilzen und Beeren etwas zu bereichern und deshalb die Umgebung sehr genau absuchte. Zufällig war er dadurch in einer kleinen Senke auf etwas gestoßen, das er Brückner irgendwann berichtet hatte.

Er bat Frank anzuhalten und alle anderen auszusteigen. Mit der knappen Bemerkung, dass sie ab jetzt nur noch zu Fuß weiterkönnten und ihm deshalb folgen müssten, lief er schnurstracks auf ein scheinbar undurchdringliches Dickicht zu.

Brückner hatte an dieser Stelle aber lediglich einige Zweige der Büsche und Bäume am Wegrand miteinander verbunden, um einen dahinterliegenden kleinen Pfad zu verbergen. Frank und die anderen Wächter schnappten sich die Ausrüstung und gemeinsam mit Torbens Leuten folgten sie Brückner in das dichte Unterholz. Lediglich Remas Chauffeur blieb an den Autos zurück.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Pfad in einer kleinen Senke endete. Sie war nur wenige Hundert Quadratmeter groß und an den Rändern von alten Buchen und Kastanienbäumen umschlossen, die dafür sorgten, dass das Treiben auf diesem Platz dem Blick von oben verborgen blieb. Unmittelbar am Ende des Pfades stand ein altes Armeezelt, dessen Plane Brückner nun zurückschlug und stolz den Blick auf ein gewaltiges Notstromaggregat freigab. Als Torben fragte, warum und wie er es hertransportiert habe, zuckte er gleichgültig mit den Schultern und erklärte, dass er es in Einzelteile zerlegt und hier halt wieder zusammengesetzt habe, weil manchmal nun einmal Strom für die Grabungen nötig sei.

In der Zwischenzeit hatten auch die anderen zu ihnen aufgeschlossen und Torben suchte den Blickkontakt zu Julia. Es gelang ihm aber nicht, da Michael sie immer wieder vor ihm abschirmte. Darüber frustriert wandte er sich wieder an ihren Führer: „Sie sprachen vorhin von einem russischen Soldaten, der etwas gefunden hätte. Um was hat es sich gehandelt?“

Brückner drehte sich um und zeigte in die Mitte der Senke. „In Vertiefungen und Löchern sammeln sich zwangsläufig altes Laub, Nadeln, Dreck oder Staub. Mit der Zeit wird Humus daraus, der Regenwasser besser speichert als der nährstoffärmere Boden rings herum. Aus einer Vertiefung entsteht so im Laufe der Jahrzehnte also eine besonders fruchtbare Stelle. Wir haben Frühling. Das neue Gras beginnt wieder zu sprießen. Am schnellsten wächst es an diesen feuchten, nährstoffreichen Orten. Wenn man ganz genau hinschaut, entdeckt man so manchmal ganz besondere Dinge!“

Sie blickten alle nach unten und tatsächlich, die gesamte Lichtung war zwar mit Gras bedeckt, in der Mitte war das neue Grün des Jahres aber viel saftiger und schon etwas weiter im Wuchs. Als Torben sich darauf konzentrierte, wusste er plötzlich, was Brückner meinte. Er konnte ein Symbol erkennen, das wie ein dunkler Schatten über der Wiese lag. „Eine Doppelsigrune! Das Symbol der Waffen-SS!“

„Ganz genau!“ Brückner kicherte und trat dabei unruhig von einem Bein auf das andere. „Und jetzt überlegen Sie einmal, der Totenkopf der SS in der Sandgrube am Flughafen, den Himmler noch 1945 zerstören ließ, und dann die Doppelsigrune der SS, hier mitten im Wald, zig Kilometer entfernt!“

„Wir hatten auch die Doppelsigrune am Kragenspiegel des Soldaten auf der Wandmalerei. Erinnern Sie sich, Professor?“

„Sie haben recht, Torben! Es könnte ein neuer Querverweis sein“, antwortete der Professor.

„Welche Wandmalerei? – Ach, auch egal!“, sagte Brückner. Man sah es ihm regelrecht an, dass er darauf brannte, ihnen etwas mitzuteilen. „Diese Sigrunen wurden jedenfalls absichtlich in den Fels darunter geschlagen, im Lauf der Zeit haben sie sich zugesetzt und jetzt wächst Gras über die Sache! – Haben Sie die Doppeldeutigkeit verstanden? Es wächst Gras über die Sache!“ Er ließ erneut sein verschlagenes Gekicher hören. Als die erhofften Lacher ausblieben, zog er ein missmutiges Gesicht und brummte: „Dann eben nicht! Humorloses Volk! – Gut, kommt einfach mit, wir müssen auf die andere Seite.“

Seine Verstimmung hielt nur kurz an. Während sie ihm folgten, kam er bald wieder ins Erzählen. „Ich habe mir eine Karte genommen und den Totenschädel und die Sigrunen eingezeichnet. Dann habe ich sie verbunden und auf dieser Linie verschiedene Grabungen angestellt, zuerst zwischen beiden Symbolen und dann darüber hinaus. Meine Messungen waren nicht sehr genau und so habe ich verschiedene Anläufe gebraucht, um etwas zu finden.“

Der Professor unterbrach Brückner: „Wie weit sind beide Symbole voneinander entfernt?“

„Wie weit? Hm, ich denke so etwa zehn, zwölf Kilometer!“

Professor Meinert lächelte, als er weitersprach: „Lassen Sie mich raten, der Eingang, den sie jetzt gefunden haben, ist im Gegensatz dazu nicht sehr weit entfernt.“

Brückner nickte.

Der Professor überlegte laut: „Zwölf Meter von den Sigrunen entfernt, wäre zu nah, aber vielleicht zwölf mal zwölf Meter, also einhundertvierundvierzig Meter, richtig?“

Brückner staunte. „Ich habe nicht gemessen, aber ja, so um die hundertfünfzig Meter kann hinkommen! Wie haben Sie das gemacht? Ich habe Jahre gebraucht, um die Stelle zu finden!“

„Ach, das war nur so eine Vermutung!“

Brückner führte sie auf die andere Seite der Senke und über den Hang wieder in den Wald hinein. Nach weniger als einhundert Metern lichteten sich die Bäume wieder, und sie standen plötzlich vor einem übergroßen Krater, der sich vor ihren Füßen eröffnete. Er hatte einen Durchmesser von etwa dreißig Metern und war gut und gerne fünf Meter tief. Anscheinend war er im Laufe von mehreren von Brückners „Grabungs-Saisons“ entstanden, denn an den Rändern wuchsen bereits wieder kleine Bäume und der Großteil war mit dem Unkraut des letzten Jahres bedeckt. Der Hals des Trichters sah allerdings so aus, als ob dort erst vor Kurzem gegraben worden war. Außerdem war er mit Baumstämmen vor dem Einstürzen gesichert worden.

Brückner merkte an, dass er an dieser Stelle nur zu graben angefangen habe, weil die Vegetation hier bedeutend jünger gewesen war als im Rest des Waldes. Bäume und Sträucher hatten sich wahrscheinlich erst nach dem Krieg selbst vermehrt. Vorher wäre hier vermutlich eine Freifläche gewesen.

Er war es dann auch, der mit einer erstaunlichen Schnelligkeit, die ihm sicherlich keiner seiner Begleiter zugetraut hätte, als Erster hin­unterkletterte. Torben und der Rest der kleinen Expedition folgten ihm auf dem Fuße.

Brückner wartete voller Ungeduld, bis alle bei ihm waren, und sagte, dass jetzt der Moment wäre, einige Schnappschüsse für die Ewigkeit zu machen. Julia holte tatsächlich ihre Kamera heraus, bei deren Anblick Brückner Haltung annahm und höchst theatralisch eine große Plane wegzog, die bislang den Blick auf die Funde am Kraterboden verborgen hatte. Torben erkannte sofort, dass es sich um die Reste der Skelette handeln musste, deren Schädel sich in Brückners Haus befanden. Ein Blick zum Professor genügte, um sich die diesbezügliche Bestätigung zu holen.

„Das wollten Sie uns also zeigen? Einen Haufen alter Knochen?“, fragte Rema, die nun wieder die Kontrolle übernahm.

„Nicht nur alter Knochen!“ Brückner watete längst durch nasse Erde und die letzten Reste von menschlichen Gebeinen und verfaulter Kleidung. Er streckte mit beiden Händen einen Becken­knochen in die Höhe und sagte: „Ziemlich eng, nicht wahr? Nicht gerade gebärfreudig! Ich wette, dass es sich um einen jungen Mann gehandelt hat, dass es sich bei allen hier“ – er machte eine ausladende Armbewegung – „um Männer, das heißt um Zwangsarbeiter und unliebsame Zeugen gehandelt hat.“

„Aber wo ist nun der Eingang?“, erwiderte Rema nicht im Geringsten beeindruckt.

„Na ja, es musste damals schnell gehen!“ Brückner wühlte schon wieder in den Knochenbergen. Torben wollte sich gerade angewidert abwenden, als er sah, dass an der Stelle, wo ihr neuer Freund gerade scharrte, die Knochen nur oberflächlich und vereinzelt aus der Erde ragten. Es schien fast so, als wären sie von dem alten Mann aufgeschichtet oder bewusst drapiert worden, um die Stelle zu markieren. Plötzlich sah Torben neben Brückner ein Gebilde, das wie die Ecke eines Betonsockels aussah. Nicole musste es auch bemerkt haben, denn sie schickte sofort zwei ihrer Leute in das Loch.

Sie schoben den laut protestierenden Brückner zur Seite und legten im weichen Waldboden innerhalb von drei Minuten den sichtbaren Teil des Betonsockels auf mehr als zwei Meter Länge und dreißig Zentimeter Tiefe frei.

„Kann das tatsächlich der Eingang sein?“, kam die eher rhetorische Frage des Professors.

Brückner starrte ihn mit einem breiten Grinsen an und nickte. „Ich sagte doch, es musste schnell gehen. Die armen Seelen hier haben nach der Fertigstellung des Bunkers den Eingang zugeschüttet. Als Entlohnung dafür wurden sie gleich darauf an Ort und Stelle erschossen. Himmlers Leute mussten sich dann allerdings noch selbst die Hände schmutzig machen und etliche Kubikmeter Erde über die Leichen kippen.“ Seine Stimme wurde brüchig und er schluckte. „Ich hoffe nur, dass mein Vater keiner dieser Handlanger des Teufels war. Es würde jedoch sein Schweigen erklären. Erst im Angesicht des sicheren Todes wollte er vielleicht seine Sünden beichten und Absolution erlangen. – Wollte er es vielleicht zu meinem Schicksal machen, als Sohn eines der damaligen Mörder den Bunker wiederzuentdecken?“

Niemand antworte ihm auf seine Frage. Torben hockte sich hin und sah auf den gebrochenen alten Mann herab. Er wurde von seinen Gefühlen überwältigt. Zu seinem eigenen Erstaunen waren es nicht nur die Worte des bemitleidenswerten Brückner, die dafür sorgten. Er dachte auch daran, dass sie anscheinend das geschafft hatten, was mehr als fünfundsechzig Jahre davor niemandem gelungen war. Sie standen vor Himmlers geheimer Bunkeranlage! Nie hätte er gedacht, dass ihm dieser Fund so viel bedeuten würde, da es letztendlich der Orden war, der ihn dazu genötigt hatte, die Suche immer wieder fortzusetzen. Er hätte sicherlich schon längst aufgegeben.

Torben erinnerte sich daran, wie alles angefangen hatte, mit dem Buch seines Großvaters und dem Treffen des Professors am ­Holocaustmahnmal in Berlin.

Als er die Augen schloss, sah er aber auch den erhängten Reiher und den erschlagenen Wachmann in der Walhalla vor sich. Plötzlich war auch Julia da und sein Herz zog sich aus Angst und Sorge um sie zusammen. Er zwang sich dazu, sich erneut auf sein Ziel – ihrer aller Leben zu retten – zu konzentrieren, sog so viel kalte Luft ein, dass ihm die Lungen schmerzten, und richtete sich wieder auf. Er wandte sich Rema zu und sagte mit fester Stimme: „Wenn dies der Eingang ist, dann kennen wir hiermit den Standort des Bunkers. Michael kann folglich gehen.“

Rema zögerte kurz, aber zu Torbens großer Erleichterung antwortete sie: „Meinetwegen! Er soll verschwinden!“

Als Michael das hörte, entgegnete er: „Wieso kann ich gehen? War­um zum Teufel ausgerechnet ich? Ich lasse doch Julia hier nicht allein zurück! Torben, was ist hier los? Ich will eine Erklärung!“

Doch Torben ignorierte dessen Gefühlsausbruch, denn er wollte sichergehen, dass der Orden nicht einige Männer stationiert hatte, die seinen alten Freund gleich wieder gefangen nehmen würden. „Kann Ihr Fahrer ihn in die Zivilisation zurückbringen?“

Rema zögerte erneut und Torben vermutete bereits einen Vertragsbruch. Doch einen Moment später sagte sie: „Von mir aus auch das! Ich rufe ihn an. Er kann ihm sagen, wo er hingebracht werden will, und es wird so geschehen, wenn es nicht gerade Berlin oder Hamburg ist. Das wäre wohl etwas weit.“

Torben ging auf den Anflug von Humor nicht ein und stellte die nächste Forderung: „Er braucht auch ein Telefon!“

Rema war der Sache allerdings längst überdrüssig. „Herr Trebesius,­ Sie stellen meine Geduld auf die Probe!“

„Wie können wir ihn denn sonst kontaktieren, um zu erfahren, ob alles glattläuft?“, wandte er deshalb schnell ein.

Sie stöhnte und ging missmutig zu Nicole. „Geben Sie ihm Ihr Handy!“

„Sie wollen doch nicht …“, versuchte Nicole zu intervenieren.

„Doch, ich will! Nun machen Sie schon!“ Der Ton, den sie anschlug, machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete.

Widerwillig warf Nicole Michael ihr Handy zu, während Torben an ihn herantrat, um ihn doch zum Aufbruch zu bewegen.

„Michael“, flüsterte er, „wenn du jetzt nicht gehst, lassen sie Julia nachher vielleicht auch nicht laufen! Die Reihenfolge ist abgesprochen. Erst du, dann sie, danach der Professor und ich zum Schluss.“

Insgeheim hoffte er allerdings auch, dass, wenn einer von ihnen auf freiem Fuß wäre, dieser notfalls die Behörden informieren und sie so alle retten könnte.

Sein Freund zögerte noch immer. „Versprichst du mir, auf sie aufzupassen?“

„Selbstverständlich!“, antwortete Torben.

Michael blickte Julia und den Professor an. Als beide ebenfalls nickten, brummte er etwas Unverständliches, trat an seine Freundin heran, gab ihr einen flüchtigen Kuss , verabschiedete sich von Torben und dem Professor und verschwand, ohne seine Peiniger noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wieder auf dem Pfad, den sie gekommen waren.

Brückner konnte der gerade erlebten Situation keinen Sinn abgewinnen, es interessierte ihn aber auch nicht. Für ihn war das Ganze nichts anderes als ein Streit, der ihn nichts anging. Er war längst wieder in seiner eigenen Traumwelt versunken und hatte mit Frank und dessen Kumpanen angefangen, den Eingang weiter freizulegen.

Rema und Nicole suchten sich für die Wartezeit ein trockenes Plätzchen unter einer Buche und Torben tat es ihnen mit Julia ein Stück entfernt gleich. Weil der Professor indes die Grabungen am Grund des Kraters etwas genauer im Auge behielt, hatte Torben Gelegenheit, allein mit Julia zu reden.

„Geht es dir gut?“ Er rückte näher an sie heran, aber sie stellte den Abstand zwischen ihnen geschickt wieder her, ohne es so aussehen zu lassen, als setze sie sich absichtlich weiter weg. Torben bemerkte es dennoch mit Bedauern.

„Ja, den Umständen entsprechend. Danke! Meinst du, das alles hat tatsächlich bald ein Ende? Das wäre so wunderbar!“

Torben nickte. „Erstaunlicherweise hält sich der Orden bislang an sein Versprechen. Ich rufe Michael in einigen Minuten an, und wenn er mir bestätigt, dass bei ihm alles geklappt hat, können wir Rema faktisch vertrauen.“

„Sie könnten ihn aber abgefangen haben und zwingen, uns am Telefon nur vorzuspielen, dass alles in Ordnung ist!“

Torben schüttelte beharrlich den Kopf. „Ich habe ihm im Gehen noch zugeflüstert, dass er mich in einem solchen Fall im Gespräch an meine Mutter erinnern soll, dass er sie anrufen wird, um Grüße auszurichten, irgendetwas in der Art.“

„Dann hoffen wir mal, dass der Trick funktioniert.“ Julia umschlang ihre Beine und zog sie an sich heran. Ihr Blick ruhte auf dem Rücken des Professors.

Torben hätte sie am liebsten wieder in den Arm genommen, aber er spürte, dass sie das jetzt nicht wollte. Die letzten Stunden hatte sie wieder in Michaels Nähe verbracht und er wusste nicht, was sie ihm alles berichtet hatte.