* Rainer Barzel: Es ist noch nicht zu spät, München/Zürich 1976, S. 24 f.

** Rainer Barzel: Es ist noch nicht zu spät, a. a. O., S. 39.

*** Jens Schmidthammer: Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mittler zwischen Ost und West, Hamburg 1987, S. 87.

**** Siehe Erich Mende: Von Wende zu Wende, München/Berlin 1986, S. 14.

***** Erich Mende: Von Wende zu Wende, a. a. O., S. 142.

Personenregister

Abel, Rudolf I.

Adenauer, Konrad

Albertz, Heinrich

Backlund, Sven

Barzel, Claudia

Barzel, Kriemhild

Barzel, Rainer

Behling, Kurt

Ben-Ari, Jitzhak

Berg, Hans-Dieter

Berg, Ingrid

Berg, Jens

Berg, Simone

Berger, Lieselotte

Brandt, Willy

Braune, Werner

Bräutigam, Hans-Otto

Brentano, Heinrich von

Brodesser, Karl Friedrich

Burt, Richard R.

Cheysson, Claude

Craxi, Bettino

Czaja, Herbert

Dahlgrün, Rolf

Engelhard, Hans Arnold

Erhard, Ludwig Wilhelm

Esch, Arno

Fabiola, Königin von Belgien

Felfe, Heinz

Franke, Egon

Frenzel, Alfred

Frohn, Wolf-Georg

Gaus, Günter

Gehlen, Reinhard

Genscher, Hans-Dietrich

Glienke, Lotha

Globke, Hans

Goerke, Edgar

Gorbatschow, Michail S. 

Grobel, Olaf

Guillaume, Günter

Gysi, Gregor

Hamm-Brücher, Hildegard

Hennig, Ottfried

Hirt, Edgar

Honecker, Erich

Hoppe, Hans-Günter

Hoensbroech, Benedikt Graf von und zu

Hörl, Familie

Hösl, Alex

Javorsky, Jaroslav

Jenninger, Philipp

Kaczmarek, Jerzy

Kaiser, Jakob

Karl, Prinz von Preußen

Kaul, Friedrich Karl

Klier, Freya

Koecher, Hana

Koecher, Karel F.

Kohl, Helmut

Krautwig, Carl

Kornblum, John C.

Krolikowski, Herbert

Kunst, Hermann

Lemmer, Ernst

Lutze, Lothar-Erwin

May, Rolf

Meehan, Francis J.

Meißner, Herbert

Mende, Erich

Meyer, Michel

Mindszenty, Jószef

Mischnick, Wolfgang

Mitchell, John H.

Modrow, Hans

Müller, Udo

Nehm, Albert

Nistroy, Dietrich

Obojes, Andreas

Ost, Friedhelm

Palme, Olof

Papandreou, Andreas

Plewa, Klaus

Powers, Francis

Priesnitz, Walter

Rauschenbach, Klaus-Dieter

Ravens, Karl

Reagan, Ronald W.

Rebmann, Kurt

Richthofen, Hermann Freiherr von

Romberg, Alan D.

Scharanski, Natan siehe ­Schtscharanski, Anatoli

Scharf, Kurt

Scharfenorth, Detlef

Schäuble, Wolfgang

Schinkel, Karl Friedrich

Schmidt, Helmut

Schmidthammer, Jens

Schtscharanski, Anatoli

Schtscharanski, Avital

Schumacher, Monika

Sehrig, Helmut

Seidel, Harry

Seidel, Karl

Semljakov, Jewgenij

Seydoux, François

Sinowatz, Fred

Spangenberg, Dietrich

Springer, Axel

Staab, Jürgen

Stange, Jürgen

Stolpe, Manfred

Stoph, Willi

Strauß, Franz Josef

Strehlow, Bodo

Streit, Josef

Sudhoff, Jürgen

Svingel, Carl-Gustav

Thedieck, Franz

Thiel, Heinz

Toth, Robert C.

Trudeau, Pierre

Ulbricht, Walter

Vogel, Hans-Jochen

Vogel, Helga

Vogel, Wolfgang

Wagner, Leo

Wedel, Reymar von

Wehner, Herbert

Weinkauff, Hermann

Wilms, Dorothee

Windelen, Heinrich

Zinke, Johannes

Übersicht über die im Rahmen der »besonderen humanitären Bemühungen« entlassenen Häftlinge 25

Jahr

Anzahl der Häftlinge

1963

8

1964

888

1965

1 541

1966

424

1967

531

1968

696

1969

927

1970

888

1971

1 375

1972

731

1973

631

1974

1 053

1975

1 158

1976

1 439

1977

1 475

1978

1 452

1979

890

1980

1 036

1981

1 584

1982

1 491

1983

1 105

1984

2 236

1985

2 669

1986

1 450

1987

1 209

1988

1 048

1989

1 840

Summe

31 775

25 Diese Übersicht basiert auf den Angaben, die Werkentin anhand von Archivmaterialien (vgl. Falco Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror bis zur verdeckten Repression, Berlin 1997, S. 378) und Judt anhand des Berichtes des Bundestags­untersuchungsausschusses zum Bereich KoKo und Schack-Golodkowski (vgl. Judt, Häftlinge, S. 434) recherchiert haben und die sich auch mit den Zahlen von Posser (vgl. Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968, München 1991, S. 439–441) sowie Brinkschulte, Gerlach und Heise (vgl. Brinkschulte/Gerlach/Heise, Freikaufgewinnler, S. 23 f.) decken, die allerdings die Herkunft ihrer Angaben jeweils verschweigen. Davon zum Teil abweichende Angaben (für die Jahre 1963–1969, 1972 und 1989) macht Whitney (vgl. Whitney, Advocatus, S. 400), der sich auf Wolfgang Vogels Büro­akten stützt. Bezüglich der Gesamtanzahl der freigekauften Häftlinge gibt es ganz unterschiedliche Berechnungen und Angaben: Judt kommt insgesamt auf 33 775 Freigekaufte, wobei er darunter auch 2 000 Kinder zählt. Rehlinger geht dagegen von 33 755 Häftlingen aus, zu denen die ca. 2 000 Kinder noch hinzukommen (vgl. S. 263). Zählt man Whitneys Zahlen zusammen, dann kommt man zunächst auf 31. 668 freigekaufte Häftlinge, denen er noch 2 087 Amnestierte des Jahres 1972 hinzuaddiert, wodurch sich dann ebenfalls die Gesamtsumme von 33 755 ergibt.

Ludwig A. Rehlinger

titel

Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten
1963–1989

Nachwort von Justus Vesting

mitteldeutscher verlag

Umschlagabbildung: Ausreise von freigekauften Häftlingen über die Grenz­übergangsstelle Wartha (Bezirk Erfurt) in die Bundesrepublik (Notaufnahme­lager Gießen); Busse mit eskortierenden Fahrzeugen des Ministeriums für Staatssicherheit auf der Transitstrecke zwischen Gotha und Eisenach, 14. September 1977 (ullstein bild – Mehner)

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2011
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954620340

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Vorwort zur ersten Auflage (1991)

Die folgenden Seiten berichten über die »besonderen Bemühungen im humanitären Bereich« seitens der Bundesregierungen in der Zeit von 1963 bis zu ihrem Ausklang Ende 1989. Hinter dem umständlichen Titel verbirgt sich der Einsatz für politische Häftlinge in der DDR und die Unterstützung von über zweihundertfünfzigtausend Landsleuten, die wegen der als unerträglich empfundenen gesellschaftspolitischen Verhältnisse aus der DDR in die Bundesrepublik ausreisen wollten. Um diese Hilfe zu ermöglichen, mussten unkonventionelle Wege beschritten werden. »Häftlingsfreikauf« und »Menschenhandel« lauteten die Überschriften, mit denen die Vereinbarungen mit der DDR charakterisiert wurden.

Ich gehöre zu den wenigen, die noch Auskunft über die Aktionen von Beginn an geben können. Immer wieder wurde ich gedrängt, die Geschehnisse aufzuzeichnen, denn sie umfassen ein wichtiges Kapitel der Nachkriegszeit in Deutschland. Viele Bürger wurden von ihnen in ihrem persönlichen Schicksal tief betroffen. Sie haben viele Menschen sehr bewegt und einen nicht geringen Einfluss auf die politische Entwicklung im geteilten Deutschland gehabt.

In den Bericht wurden nicht alle Vereinbarungen mit der DDR aufgenommen. Außerdem schien es mir geboten, auch wenn die »besonderen Bemühungen« nun ihr Ende gefunden haben, eine gewisse Vertraulichkeit weiter zu wahren.

Leider habe ich nicht die Sicht der anderen Seite, der ehemaligen DDR, wiedergeben können. Erst wenn die dortigen Archive einmal geöffnet sein werden, wird die Öffentlichkeit eine genaue Kenntnis erhalten, aus welchen Gründen die SED-Führung sich auf diese anstandswidrigen, unmoralischen, ja abstoßenden Praktiken eingelassen hat und welche Überlegungen das Politbüro der SED und der damalige Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende Erich Honecker in Bezug auf die innen- und außenpolitischen Auswirkungen angestellt haben.

Vorwort zur Neuauflage

Die folgenden Seiten sind ein persönlicher Erlebnisbericht über Vorgänge und Ereignisse, die in den Jahren der Spaltung unseres Landes viele tausend Menschen sehr bewegt haben. Sie hatten tiefe Auswirkungen auf die damalige Politik beider deutscher Staaten.

Ich bin der letzte noch lebende Zeitzeuge, der die „besonderen humanitären Bemühungen der Bundesregierung“ von 1963 an mit verfolgt und gefördert hat. Meine Erinnerungen hielt ich im Frühjahr/Sommer 1989 fest, zunächst nicht, um sie zu veröffentlichen, sondern um das niederzuschreiben, was mich jahrzehntelang sehr bewegt hat.

Es freut mich, dass mein Erinnerungsbericht heute noch soviel Interesse erweckt und nun – zwanzig Jahre nach der Erstveröffent­lichung – wieder erscheinen kann.

Ludwig A. Rehlinger

Juni 2011

»Dass einer an mich gedacht hat.« Der Häftlingsfreikauf beginnt

Am 19. Mai 1988 verließ ich mein Amt als Staatssekretär des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen, um einem Ruf nach Berlin als Senator für Justiz- und Bundesangelegenheiten zu folgen. Mit diesem Wechsel nahm ich zum zweiten Mal Abschied von einer Aufgabe, die mir in vielen Jahren ans Herz gewachsen war und die völlig ungewöhnlich und ohne Vorbild im ministeriellen Bereich gewesen ist. Es handelte sich um den Einsatz für politische Häftlinge in der DDR und darum, die Menschen, die die DDR – sei es aus familiären, sei es aus politischen Gründen – verlassen und in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln wollten, in ihrem Anliegen zu unterstützen. Die »Akte« trug den Namen: »Besondere Bemühungen der Bundesregierung im humanitären Bereich«.

Viele frohe Stunden hat es in dieser Arbeit nicht gegeben. Dem Erfolg standen stets mehr offene Wünsche gegenüber. Aus wohl nur wenigen Dokumenten hier im Westen lassen sich tiefere Einblicke in die jeweilige innenpolitische Situation in der DDR von 1963 bis 1989 gewinnen als aus diesen Vorgängen.

Die Tatsache, dass Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung verhaftet und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden und dass eine Vielzahl von Bürgern aus politischen Gründen das Land verlassen wollte, ließ wie kaum ein anderes Faktum Rückschlüsse auf die gesellschaftspolitischen Verhältnisse, auf das System selbst zu, zeigte die Erbarmungslosigkeit, mit der um einer Ideologie willen das Recht von Menschen mit Füßen getreten wurde, und bewies mit aller Deutlichkeit, dass aus der früheren sowjetischen Besatzungszone mit dem Staat DDR kein Rechtsstaat, keine Demokratie hervorgegangen war.

Von Anfang an stand auf der anderen Seite als Beauftragter der Regierung der DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Wir sind uns in den Jahren oft begegnet und haben nahezu unzählige Male, manchmal täglich, miteinander gesprochen. Hieraus erwuchs eine enge und intensive Verbindung. Über die politisch sich unversöhnlich gegenüberstehenden Gegensätze hinweg kam es zu einer einzigartigen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepu­blik Deutschland und der DDR. Die Aufgabe wurde von meinem Nachfolger im Amt, Staatssekretär Walter Priesnitz, fortgeführt.

In meiner Zeit als Senator in Berlin habe ich mich dann noch um die »Berliner Fälle« gekümmert. So blieb die Verbindung mit Rechtsanwalt Vogel im beschränkten Umfang zunächst erhalten.

Ende Januar 1989 wurde im Land Berlin das Parlament neu gewählt. Die bisherige Koalition aus CDU und FDP wurde durch ein Bündnis von SPD und der Alternativen Liste abgelöst. Mit der Wahl des neuen Senats schied ich aus der Regierung des Landes Berlin aus. Es galt auch, mich von dem Auftrag zu lösen, der mich am meisten in meinem Leben bewegt hat.

Und so begann sie, die Geschichte der besonderen humanitären Bemühungen der Bundesregierung: Am 14. Dezember 1962 bildete Bundeskanzler Konrad Adenauer sein Kabinett um. Auf Ernst Lemmer folgte als neuer Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Rainer Barzel. Der Wechsel rief bei den Deutschlandpolitikern der CDU, besonders in Berlin, einen erheblichen Unmut hervor. Die Entscheidung Adenauers wurde deutlich kritisiert, denn mit Barzel war ein Mann auf diesen wichtigen Posten berufen worden, der sich zuvor auf dem Gebiet noch nicht hervorgetan und einen Namen gemacht hatte. Lemmer hingegen hatte nach dem Zusammenbruch die CDU in Berlin mitgegründet und seine ganze Energie, seine Tatkraft und sein Engagement den Fragen der Teilung Deutschlands gewidmet.

Lemmer hatte zunächst, wie sein Vorgänger, Minister Jakob Kaiser, ein Büro im »Bundeshaus Berlin« gehabt, in dem die Vertretungen der Bonner Ressorts untergebracht waren. Dort fühlte er sich jedoch eingeengt, und er beklagte, dass der Charakter des rein ministeriellen Bürohauses ihn in seinen Aktivitäten behindere und ihm nicht die gewünschte Freiheit im Umgang mit den Bürgern gestatte. Im Hintergrund stand, dass Lemmer, der durch sein politisches Wirken auch in der DDR weithin bekannt war und Ansehen genoss, unauffällig und unbeobachtet Landsleute von drüben empfangen und sprechen wollte.

Bis zum Bau der Mauer in Berlin – 1961 – gab es einen regen Verkehr über die Grenze hinüber und herüber. Ein Gespräch mit dem Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hätte aber, wenn es den Behörden der DDR bekannt geworden wäre, empfindliche Folgen, bis zu einer Strafverfolgung, für den Besucher nach sich ziehen können. Eine zwanglose Begegnung war in dem Amtshaus mit seiner Pförtnerkontrolle jedoch nicht möglich. So richtete sich Lemmer, sehr zum Missfallen seines Staatssekretärs Franz Thedieck, ein eigenes »Ministerbüro Berlin« in der fünften Etage eines anonymen Bürohauses am Kurfürstendamm/Ecke Uhlandstraße ein. Er genoss es sehr, dort unbeobachtet – wie er glaubte – walten zu können. Zum Leiter des Büros bestellte er den ihm aus seiner politischen Arbeit in Berlin her vertrauten Rolf May. Dieser, ein höchst aktiver Herr, war dem gesamtdeutschen Anliegen leidenschaftlich verbunden. 1962 schied er aus dem Bundesdienst aus und wechselte zum Verleger Axel Springer, für den er Stabs­aufgaben in dessen unmittelbarer Umgebung übernahm.

Ich war am 1. Januar 1957 in die Berliner Abteilung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen eingetreten und, wie es bewährter Brauch ist, zunächst in den verschiedenen Referaten des Hauses »herumgereicht« worden, um mich einzuarbeiten. Dann war ich als Referent in das politische Referat eingegliedert worden. Die Tätigkeit dort entsprach meinen Neigungen. Ich hatte meinen Anwaltsberuf aufgegeben, nicht, um im öffentlichen Dienst zu sein, sondern weil mich die Aufgabe mit Macht anzog. Aus dem Erlebnis der Nazi-Zeit heraus fühlte ich mich verpflichtet, mit dabei zu helfen, dass nicht erneut die politische Willkür in Deutschland Boden oder gar Oberhand gewann.

Für die freie Stelle wurde nun ein neuer Mann ausgeguckt. Ohne dass ich mich beworben hatte, machte mir Ernst Lemmer das Angebot, die Nachfolge von May anzutreten. Ich nahm gern an. Diese schicksalhaft bedingte Konstellation trug dazu bei, dass ich über die humanitären Bemühungen der Bundesregierung berichten kann – ja sie war vielleicht durch den Wechsel von May zu Axel Springer eine Voraussetzung dafür, dass die Dinge überhaupt ins Rollen kamen. Ich komme darauf zurück.

Die Geschichte der humanitären Bemühungen für politische Häftlinge in der DDR reicht weit in die Jahre vor 1963 zurück. Sie entwickelte sich aus der Sorge um die Kriegsgefangenen und der Betreuung von Deutschen, die von der sowjetischen Siegermacht verurteilt worden waren. Viele Faktoren kamen schließlich zusammen, um die besondere Hilfe für politische Häftlinge in der DDR zu ermöglichen.

Bereits zwei Jahre nach dem Krieg, 1947, begann die evangelische Kirche sich um das Schicksal von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten zu kümmern. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland übernahm das Auswärtige Amt die Betreuung wegen sogenannter Kriegsverbrechen verurteilter Deutscher. Das Auswärtige Amt schaltete hierzu den Rechtsanwalt Behling ein. Dieser hatte sich in der Nazi-Zeit als Pflichtverteidiger vor dem »Volksgerichtshof« tatkräftig und unerschrocken für seine Mandanten eingesetzt. Sein Mandat wurde später um den Auftrag erweitert, sich des Schicksals der Deutschen, die kurz nach dem Krieg aus der sowjetischen Besatzungszone in die Sowjetunion verschleppt worden waren, anzunehmen und den in der DDR aus politischen Gründen verurteilten Menschen, so weit es ging, Rechtsschutz zu gewähren.

Die Erkenntnisse über das Schicksal von Personen, die betreut werden sollten, erhielt das Büro Behling auf vielfältige Weise. In der damaligen Zeit – Anfang der fünfziger Jahre – beschäftigten sich eine Fülle von Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland mit den Problemen in der DDR. Die Wiederver­einigung wurde als ein politisches Ziel begriffen, das konkret erreichbar schien. Die Verbindungen zwischen den verschiedensten Gruppen innerhalb der Gesellschaft waren durch die Wirren des Kriegsendes zwar unterbrochen worden, lebten aber bald wieder auf. Die politische Teilung des Landes war ja keineswegs komplett; man kommunizierte über die Demarkationslinien hinweg, hielt alte Beziehungen aufrecht und knüpfte neue Gemeinsamkeiten. Zeitweise gab es über hundert gesamtdeutsche Gesellschaften, die eng zusammenarbeiteten. Überall fielen Erkenntnisse über die Situation in der DDR an.

Die Errichtung der totalitären Herrschaft der SED in der DDR zeigte ihre Auswirkungen besonders im Bereich der Strafjustiz. Die Justiz wurde rigoros als Instrument zum Umbau der Gesellschaft eingesetzt, denn »Recht ist eine spezifische Form der Machtausübung« der »herrschenden Klasse«, wie es das DDR-Rechtslexikon definiert. Eine Fülle von Verurteilungen aus poli­tischen Gründen war die Folge. Über diese Prozesse, über das Schicksal der Inhaftierten, flossen zahlreiche Nachrichten und Mitteilungen in den Westen, die von den verschiedenen Organisationen gesammelt und ausgewertet wurden. Da gab es die Befragung der Heimkehrer und der Flüchtlinge, Erkenntnisse beim Deutschen Roten Kreuz, der Caritas, der Inneren Mission, beim »Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen«, bei der »Vereinigung der Opfer des Stalinismus«, bei den Gewerkschaften und nicht zuletzt bei den politischen Parteien, die eigene sogenannte »Ostbüros« unterhielten.

Alle diese Stellen pflegten eine enge Zusammenarbeit mit Rechtsanwalt Behling, so dass sein Büro bald über alle politisch bedingten Verhaftungen und Verurteilungen genau unterrichtet war. Behling schied später aus Altersgründen aus. An seiner Stelle führten andere Anwälte die Tätigkeit fort. Im Ministerium wurde die Anwaltskanzlei unter der Bezeichnung »Rechtsschutzstelle« geführt.

Die Einschaltung eines Anwaltsbüros, um in politischen Strafverfahren in der DDR den Menschen Beistand zu leisten, erwies sich als überaus erfolgreich. Das Büro wurde rein auf dem anwaltlichen Weg tätig. Es sammelte keine Nachrichten und verfolgte keine politische Aufgabe, sondern half den Menschen, so gut es bei den Verhältnissen möglich war, wie jeder normale Anwalt seinem Mandanten auf der Basis des geltenden Rechts durch Beratungen und mit Gesuchen vor Gerichten hilft. Ab 1955 ging die Rechtsschutzstelle auch dazu über, Rechtsanwälte in der DDR als Korrespondenzanwälte einzuschalten. Sie wurden gebeten, die Verteidigung zu übernehmen und sich nach einer Verurteilung im Gnadenverfahren um die Mandanten zu kümmern. Für die Verhafteten oder Verurteilten in der DDR bedeutete dieser Beistand, der aus dem Westen vermittelt war, eine große Hilfe.

Einer der Rechtsanwälte in der DDR, die von der Rechtsschutzstelle in Strafverfahren als Korrespondenzanwalt hinzugezogen wurden, war Wolfgang Vogel. 1925 in Niederschlesien geboren, hatte er nach dem Krieg in Jena und Leipzig Jura studiert und seine Ausbildung 1952 mit beiden juristischen Staatsexamen abgeschlossen. Von 1952 bis 1953 war er als Hauptreferent der Strafrechtsabteilung im DDR-Justizministerium tätig. 1954 trat er in das Rechtsanwaltskollegium in Ostberlin ein. Später durfte er eine eigene Praxis eröffnen. 1957 wurde er auch in Westberlin, für den Bezirk des Kammergerichts, als Rechtsanwalt zugelassen. Er gehörte damit zu einem der wenigen Rechtsanwälte, die in Ost- und Westberlin zugleich arbeiten und vor Gericht auftreten konnten.

Der Bau der Mauer am 13. August 1961 zerriss Berlin. Der freie Verkehr in der Stadt wurde unterbrochen. Westberliner konnten nicht mehr in den Ostteil der Stadt fahren. Nur Bundesbürger oder, genauer, diejenigen, die einen westdeutschen Ausweis vorweisen konnten, durften ohne weitere Formalitäten die Grenze überschreiten und Ostberlin betreten. Die Kommunikation der Rechtsschutzstelle mit Rechtsanwälten in Ostberlin wurde damit auf den Briefwechsel eingeengt. Dies erschwerte den Verkehr miteinander erheblich, denn gerade in prozessualen Angelegenheiten ist der ungestörte mündliche Austausch, die persönliche Verhandlung mit dem anderen Anwalt, für die Bearbeitung einer Sache von hohem Wert. Um sich aus dieser Verlegenheit zu helfen, bediente sich die Rechtsschutzstelle, wie viele damals in Berlin, eines Mittelsmannes. Einer der in der Rechtsschutzstelle tätigen Anwälte kannte aus gemeinsamer Referendarzeit in Braunschweig Rechtsanwalt Jürgen Stange. Dieser hatte sich ebenfalls in Westberlin als Anwalt niedergelassen, besaß aber noch einen westdeutschen Ausweis, weil seine Mutter in Braunschweig lebte. Er konnte deshalb jederzeit Ostberlin betreten.

Stange wurde nun von der Rechtsschutzstelle gebeten, in den Fällen, in denen eilige Botschaften mit Anwälten in Ostberlin auszutauschen waren, unmittelbar einzuspringen. Es war sehr freundlich von ihm, dass er sich für diesen Dienst zur Verfügung stellte. Auf diese Weise lernte er Rechtsanwalt Vogel kennen, hier­aus entwickelte sich eine langjährige Zusammenarbeit und auch eine enge persönliche Beziehung.

In allen Zeiten in der Geschichte hat man sich bemüht, gefangene Landsleute aus der Hand des Gegners wieder auszulösen. Geld hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Niemand hatte grundsätzliche oder gar moralische Bedenken, sich auf einen derartigen Handel einzulassen. Die Geschichte ist voll von Übereinkünften dieser Art. Den Verabredungen liegt der Gedanke zugrunde, dem Landsmann, der in Not geraten ist, zur Hilfe verpflichtet zu sein. Mit der Schärfung des Gewissens hat sich schließlich die Einsicht durchgesetzt, dass jedem Menschen, der unverschuldet aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen in Bedrängnis geraten ist, die Zuwendung gebührt. Der Moralbegriff hat sich erheblich verfeinert. Im Geist dieser Idee der Humanitas haben dann auch sehr bald nach dem Krieg viele Menschen, sei es allein oder in Organisationen, sich des Schicksals von Verfolgten und Unterdrückten in Deutschland angenommen. Es verwundert nicht, wenn neben den im engeren Sinn karitativen Organisationen sich besonders die Kirchen in den Dienst dieser Aufgabe für den Menschen gestellt haben. Es ist nicht meine Aufgabe, diese Werke aus christlicher Nächstenliebe hier nachzuzeichnen. Mir fehlen dazu die nötigen Detailkenntnisse; auch würde mir wohl das Recht nicht zustehen. Es ist die Sache der Kirchen, hierüber zu sprechen oder wie bisher weiter zu schweigen. Nur soviel sei gesagt, dass sich die Kirchen schon vor der Bundesregierung in besonderer Weise um politische Häftlinge gesorgt haben. Auch sie wählten den Weg über Rechts­anwälte. Zu ihnen gehörte Wolfgang Vogel. Die ersten Schritte waren bereits getan. Als sich dann aber größere Möglichkeiten eröffneten, stießen die Kirchen an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit.

Mir ist ebenfalls berichtet worden, dass der Senat von Berlin sich vor 1962 in einzelnen Fällen um Menschen, die ein besonders schweres Los in der DDR erdulden mussten, auf besonderem Wege bemüht hat. Die Fäden liefen damals bei dem Bürgermeister Pastor Heinrich Albertz und dem späteren Senator Dietrich Spangenberg zusammen. Überliefert und verbürgt ist desgleichen, dass vor 1962 ebenso über Anwälte für zwei Deutsche, die in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert waren, die Freiheit gegen Geld durch Bemühungen von anderer Seite erreicht worden ist.

Der Gedanke, politischen Häftlingen in der DDR gegen materielle Leistungen zu helfen, wurde auch in Bonn vorgetragen. Er stieß dort im damaligen Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen bei dem zuständigen Abteilungsleiter, Ministerialdirektor Müller, und Staatssekretär Franz Thedieck jedoch auf brüske Ablehnung. Für Thedieck kam ein solcher »Handel« nicht in Frage. Menschen gegen Geld, das trug den Stempel des Unmoralischen, das tat man nicht. Ein Geschäft mit dem Unrechtssystem zu machen, sich mit der SED einzulassen, nein, zu diesem Vorgehen wollte er die Hand nicht reichen.

Wenige Tage nach seinem Amtsantritt als neuer Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen stattete Rainer Barzel Berlin seinen ersten offiziellen Besuch ab. Die Stadt war ihm aus seiner Jugend wohl vertraut. Ich empfing ihn an der Gangway auf dem Flughafen Tempelhof. Viel Presse hatte sich eingefunden, denn die Kritik der Berliner CDU an der Berufung Barzels zum Minister war nicht verborgen geblieben. Für Berlin war er zudem politisch noch weitgehend ein unbeschriebenes Blatt. Genug Gründe, um die Neugier zu wecken und sich »News« zu versprechen.

Offenkundig bester Laune und strahlend stieg Barzel, begleitet von seiner ersten, früh verstorbenen Frau Kriemhild und seiner Tochter Claudia, aus der Maschine. Ich ging auf ihn zu und stellte mich vor. Er sagte nur: »Ach, Sie sind der Herr Rehlinger.« Ein freundlicher Blick, ein kräftiger Händedruck, dann wurde er von den Medien vereinnahmt.

So lernten wir uns kennen. Aus der rein dienstlichen Begegnung entwickelte sich bald eine vertraute Bekanntschaft, die später, nach 1973, in ein freundschaftliches Verhältnis mündete. Wir sind immer wieder im Leben zusammengetroffen und haben einen engen Gedankenaustausch gepflegt. Sicher haben die Bemühungen der Bundesregierung um die politischen Häftlinge in der DDR, die mit Rainer Barzel ihren Anfang nahmen und in die er mich als seinen Vertrauten und Beauftragten eingeschaltet hatte, mit dazu beigetragen, eine enge und persönliche Verbindung zwischen uns entstehen und wachsen zu lassen.

Barzel hatte bei seinem Amtsantritt im Dezember 1962 keinerlei Kenntnisse von den Schritten, die andere unternommen hatten, um politischen Häftlingen in der DDR ihr Los zu erleichtern. Auch ich, der ich mit der Rechtsschutzstelle in Berlin laufend dienstlich in Kontakt stand, hatte von diesen Übereinkünften bislang nichts gehört. Alle Abreden mit der DDR waren strikt unter der Decke gehalten worden.

Um diese Zeit brachte Rechtsanwalt Stange von seinen Gesprächen mit Wolfgang Vogel aus Ostberlin die Nachricht mit, dass die DDR bereit sei, in größerem Umfang politische Häftlinge gegen materielle Leistungen freizulassen. In der Rechtsschutzstelle wurde von den Anwälten hin und her überlegt, wie sie die Botschaft auf den richtigen Weg bringen könnten. Eine private Organisation kam wohl nicht in Frage, denn wenn sich die Idee tatsächlich verwirklichen ließe, mussten sicher erhebliche Beträge aufgebracht werden. Die Sache musste zudem politisch abgesichert sein, auch konnten Rechtsakte notwendig werden, die nur von staatlicher Seite vollzogen werden konnten. In Bonn, im Ministerium, waren die Anwälte mit dem Gedanken auf Ablehnung gestoßen. Hier erneut nachzubohren, schien zwecklos. So sann man nach einem anderen Weg, auf dem dieses Angebot, das für ernst gehalten wurde, an die richtige Stelle – die Bundesregierung – herangetragen werden konnte.

Zu dieser Zeit war Rechtsanwalt Helmut Sehrig für die Rechtsschutzstelle tätig. Aus gemeinsamer politischer Arbeit in Berlin war er mit dem früheren Leiter des Ministerbüros von Ernst Lemmer, Rolf May, verbunden. Sie kannten sich gut. May, der – wie ich oben vermerkt habe – zum Springer-Konzern gewechselt war, hatte aufgrund seines Aufgabenkreises im dortigen Haus jederzeit die Möglichkeit, den Verleger persönlich und vertraulich sprechen zu können.

Das Engagement von Axel Springer in allen deutschlandpolitischen Angelegenheiten stand außer jedem Zweifel. Er, und mit ihm sein Konzern, tat alles, um eine Deutschlandpolitik, die zu einer Einheit in Freiheit führen könnte, zu fördern. Wenn Axel Springer von der Idee überzeugt werden konnte, würde er kraft seines poli­tischen Gewichts und seines Einflusses schon Mittel und Wege finden, die Sache auf den Weg zu bringen. Man beschloss deshalb, May einzuweihen und ihn zu bitten, bei Axel Springer vorstellig zu werden. Springer griff die Nachricht sofort bereitwillig auf und sagte seine Unterstützung zu. Er ließ Bundesminister Barzel eine Botschaft zukommen, dass er ihn gern in einer wichtigen und vertraulichen Angelegenheit sprechen würde. Die Begegnung kam schnell zustande, und Springer setzte Barzel von dem Angebot ins Bild. Rainer Barzel schreibt über die Unterredung: »So reagierte ich positiv, aber ungläubig und skeptisch, als Axel Springer mir im Frühjahr 1963 bei einem Gespräch im 13. Stockwerk seines Hamburger Verlagshauses – selbst ebenso skeptisch wie ich – ­einen Hinweis auf einen Rechtsanwalt Stange gab, der Gefangene aus der DDR gegen Geld herausholen wolle.«*

Bei seinem nächsten Besuch in Berlin unterrichtete Barzel mich über das Gespräch. Mir war aus der Zusammenarbeit mit der Rechtsschutzstelle die Not der politischen Häftlinge in der DDR bekannt. Die Rechtsschutzstelle führte rund 12 000 Akten über politische Verurteilungen. Hinter jeder stand ein Mensch, der nach unseren Moralbegriffen und unserer Ordnung zu Unrecht in Haft gehalten wurde. In den Zuchthäusern der DDR saßen damals rund 4 000 Deutsche ein, die schon von sowjetischen Militärtribunalen, häufig in Gruppenprozessen, verurteilt worden waren – unter ihnen ehemalige Kriegsgefangene wegen sogenannter Kriegsverbrechen, die bereits in der Gefangenschaft regelmäßig pauschal zu 25 Jahren oder lebenslänglicher Haft verurteilt worden waren. Hinzu kamen Zivilisten, die wegen »antisowjetischer Hetze«, »Diversion« – was immer man darunter verstand – oder »Spionage« von sowjetischen Tribunalen hohe Strafen erhalten hatten. Keines der Verfahren war öffentlich durchgeführt worden. Die Tatvorwürfe waren pauschal zusammengestellt worden. Es gab keine ordentliche Verteidigung. Anklage, Verfahren und Urteil verstießen fundamental gegen die Normen, die in einem Rechtsstaat gelten.

Neben dieser Gruppe von Gefangenen befanden sich in den Strafanstalten der DDR die in den sogenannten Waldheimer Kriegsverbrecherprozessen Verurteilten.

Ab 21. April 1950 waren vor einer Sonderstrafkammer des Landgerichts Chemnitz 3 400 Deutsche wegen angeblichen Verstoßes gegen das Kontrollratsgesetz Nr. 10 unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Die Verfahren hatten durchweg nur fünfzehn Minuten gedauert. Von einem ordentlichen Prozess konnte nicht die Rede sein. Es handelte sich klar um Unrechtsurteile.

Der Präsident des Bundesgerichtshofes, Weinkauff, charakterisierte diese Urteile am 24. Oktober 1957 bei der Enthüllung einer Gedenktafel folgendermaßen: »Warum enthüllen wir heute hier im Bundesgerichtshof diese schlichte Gedenktafel, die das Geschehen an die Opfer eines mörderischen Regimes wachhalten soll? Gewiss kann man sagen: Hier wurden die namenlosen Gräuel des nationalsozialistischen Regimes mit ebenso namenlosen Gegen­gräueln beantwortet, die mit den nationalsozialistischen Gräueln auch das gemeinsam hatten, dass sie ebenso blind, gefühllos und rechtlos zuschlugen wie jene.«

Dann büßten Tausende ein Vergehen aufgrund der sogenannten »Boykottgesetze« nach Art. 6, Abs. 2 der Verfassung der DDR von 1949. Artikel 6 bestimmte: »Boykottgesetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordgesetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass, militärische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches«. Dieser Verfassungssatz bildete bis zum Inkrafttreten des Strafrechtsergänzungsgesetzes am 1. Januar 1958 die Grundlage für das politische Strafrecht in der DDR. Der Artikel wurde als ein Strafgesetz angesehen, obwohl die Strafandrohung nicht präzisiert war und es an einer klaren Bestimmung der Tatbestandsmerkmale mangelte.

Die pauschale Charakterisierung der Taten nach Artikel 6 als Verbrechen ließ als Strafen die Todesstrafe, lebenslängliches Zuchthaus und andere Zuchthausstrafen zu. Nach dem Erlass des Strafrechtsergänzungsgesetzes wurde mit Artikel 6 auch dann eine Bestrafung gerechtfertigt, wenn das Strafgesetz selbst eine Lücke offengelassen hatte, die Ahndung der Tat jedoch aus politischen Gründen für opportun gehalten wurde.

Nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« regten sich auch in der sowjetischen Besatzungszone sehr bald Kräfte, die aus den Trümmern ein neues demokratisches Deutschland aufbauen wollten. Aus Moskau waren mit der Gruppe Ulbricht deutsche Kommunisten zurückgekehrt, die das Ziel verfolgten, ein kommunistisches System wie in der Sowjetunion zu errichten. Sie hatten die absolute Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht, des obersten Trägers aller Gewalt in der damaligen sowjetischen Besatzungszone Deutschlands.

Demokratisierung hieß das Schlagwort jener Tage. Doch schnell stellte sich heraus, dass die Kommunisten in der sowjetischen Besatzungszone unter Demokratie nicht politische Vielfalt, Meinungsfreiheit, selbstständiges Wirtschaften und Selbstbestimmung verstanden, sondern die kommunistische Diktatur anstrebten. Die demokratischen Kräfte wehrten sich heftig dagegen, dass auf die alte, mit soviel Elend endlich zu Ende gegangene Diktatur der Nazis nun eine neue Zwangsherrschaft folgen sollte.

Über das Ringen in den ersten Jahren nach dem Krieg in der sowjetischen Besatzungszone ist viel geschrieben worden. Ich brauche die Vorgänge deshalb hier im Einzelnen nicht nachzuzeichnen. Gestützt auf die Macht der sowjetischen Truppen, ohne Hilfe aus dem Westen, musste sich die Gewalt durchsetzen. Der »Aufbau des Sozialismus« wurde proklamiert, die radikale Umwandlung der Gesellschaft in Angriff genommen. Es galt, alle kapitalistischen und bürgerlichen Strukturen, wie man das nannte, zu zerschlagen. Da die Gesetzgebungsbefugnis in der Hand der SED lag, bedurfte es nur des konsequenten Einsatzes der Sicherheitsorgane und der Justiz, um das ins Auge gefaßte Ziel zu erreichen. Tausende wurden politisch mundtot gemacht, wirtschaftlich ruiniert, an der freien Entfaltung gehindert und in die Zwangsjacke einer neuen Diktatur gepresst. Wer sich nicht freiwillig beugte oder das Land verließ, wanderte in die Gefängnisse.

So darbten denn in den Zellen Sozialdemokraten, die sich gegen die kommunistisch gesteuerte Einheitsfront gewehrt hatten, Christen, die um der christlichen Überzeugung willen sich gegen die Einführung des atheistischen Kommunismus gestemmt hatten, Liberaldemokraten, die ähnlich wie die Gruppe um Arno Esch poli­tischen Widerstand geleistet hatten, Demokraten aus der Weimarer Zeit sowie junge Menschen, Studenten und Akademiker, die sich nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit nicht einer neuen Diktatur unterwerfen wollten, Gewerkschaftler, die die unabhängige Gewerkschaftsbewegung verraten sahen, Künstler, die sich nicht in das Korsett des sogenannten sozialistischen Realismus pressen lassen wollten und das vorgegebene Aufbaupathos missachteten, Bauern, Handwerker und Gewerbetreibende, die der Zwangskollektivierung oder der Enteignung zum Opfer gefallen waren.

Die SED verfolgte rücksichtslos jeden, der gegen den politischen Kurs Widerstand leistete, aufmuckte und sich nicht duckte und einpassen ließ. Es war eine bittere Zeit. Ich habe sie als junger Student an der Humboldt-Universität selbst miterlebt. Auch ich hatte mich zusammen mit Freunden politisch engagiert und versucht, das Erstarken des Kommunismus, die Alleinherrschaft der SED zu verhindern. Wir hatten gesehen, wie Kommilitonen spurlos verschwanden und nicht mehr auftauchten, wie alle Mühen, eine echte pluralistische Demokratie aufzubauen, an der brutalen Gewalt scheiterten. Dieses Bild vor Augen und mit der Erfahrung aus den vergangenen Jahren elektrisierte mich der Gedanke, dass sich hier eine Möglichkeit eröffnen konnte, diesen leidgeprüften und in Wahrheit unschuldigen Landsleuten helfen zu können.

Gewiss, es wäre ein höchst unschöner Handel: Menschen gegen Geld. Ein Geschäft mit den Unterdrückern, mit denen, die für die Not der Menschen verantwortlich waren. Unter dem moralischen Aspekt sicher keine feine Sache, wenn es denn zu Verabredungen käme. Aber gab es nicht die Verpflichtung dem Nächsten gegenüber, der unschuldig leidet? Wer verstieß denn gegen die Moral – der, der Menschen gegen Geld freiließ, oder der, der bezahlte, um politisch Verfolgten zu helfen? Für mich gab es keinen Zweifel und hat es durch all die Jahre hindurch nie gegeben. Solange die Gegenleistung nur in schnödem Mammon bestand, wenn keine poli­tischen Falltüren eingebaut waren, dann musste man sich diese Sache – höchst vorsichtig zwar und mit großem Misstrauen – ansehen. Die gebotene Hand einfach zurückzuweisen, ohne zu prüfen, ob sie nicht wirklich etwas hergibt, hielt ich nicht für richtig.

Die Bundesregierung hatte sich stets in der Pflicht gefühlt, den Menschen im anderen Teil Deutschlands, wenn nötig, beizustehen. Hier zeigte sich eine Gelegenheit, eröffnete sich eine konkrete Aussicht: Diese Chance durfte man nicht ungenutzt vorübergehen lassen. Als mir deshalb Rainer Barzel von der Sache erzählte, trat ich spontan und leidenschaftlich dafür ein, den Faden aufzugreifen. Meines Zuspruchs hat es allerdings nicht bedurft. Barzel hatte sich bereits entschieden, hatte das politische Risiko, das Für und Wider abgewogen und war entschlossen, zu handeln. Er sprach mit Bundeskanzler Adenauer, dem Chef des Kanzleramts, Hans Globke, und Staatssekretär Thedieck. Später weihte er Heinrich von Brentano, den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, den Bundesminister der Finanzen, Rolf Dahlgrün, und auch Herbert Wehner, damals Vorsitzender des zuständigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, ein. Barzel hat über die Gedanken, die ihn damals bewegten, über seine Überlegungen, die er anstellte, in seinem Buch »Es ist noch nicht zu spät« berichtet.

Der Stein war ins Rollen gekommen. Als nächsten Schritt sah Barzel vor, sich selbst sachkundig zu machen, auszuloten, wie die Nachricht zu werten sei, welchen Gehalt sie hatte. Dazu gab es nur einen Weg. Man musste mit dem Überbringer der Meldung, Rechtsanwalt Stange, sprechen. So kam es zu der denkwürdigen Begegnung, mit der im eigentlichen Sinn das begann, was als die »besonderen Bemühungen der Bundesregierung im humanitären Bereich«, als ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der Nachkriegszeit in Deutschland verzeichnet sein wird.

Barzel und Rechtsanwalt Stange trafen sich in der Karwoche 1963 im Hotel »Deutscher Kaiser« in München. Der Ort hatte sich rein zufällig, diktiert von anderen Terminen, ergeben. Die Begegnung erfolgte zunächst zu dritt: Barzel, Stange und ich. Dann zog sich Barzel mit Stange zu einem Gespräch unter vier Augen zurück. Er wollte in dieser heiklen Situation aus verständlichen Gründen keinen weiteren Zeugen dabeihaben.

Eine Vorbereitung auf die Begegnung war schlecht möglich gewesen. Es hing alles davon ab, was Rechtsanwalt Stange berichten würde. Ich hatte mich selbstverständlich in Berlin über ihn erkundigt, aber nicht mehr erfahren, als dass er ein junger Anwalt sei, der mit einer renommierten Kanzlei in der Stadt verbunden wäre. Einen eigenen Namen hatte er sich in der juristischen Welt noch nicht gemacht. So konnte man, um »warm« zu werden oder um sich ein Bild von der Persönlichkeit zu machen, weder auf irgendeine Begebenheit in der Vergangenheit zurückgreifen noch über gemeinsame Bekannte einen Faden spinnen. Wegen der totalen Geheimhaltung, die gewahrt werden musste, konnten schließlich keine großen Recherchen angestellt werden.

Nun, Rainer Barzel war bereit, das Risiko einzugehen. Rechtsanwalt Stange hätte ein Hasardeur, ein Wichtigtuer sein können, seine Nachricht mehr erfunden als fundiert. Barzel hätte sich fürchterlich lächerlich machen können, hätte sich den Hohn und Spott der »erfahrenen« Deutschlandpolitiker anhören müssen – tödlich für einen Politiker. Ebenso war nicht auszuschließen, dass die DDR politische Fallgruben bereithielt, schließlich herrschte zwischen Ost und West der »Kalte Krieg«. Barzel sagte mir nach dem Gespräch nur, er habe Stange bedeutet, dass er grundsätzlich bereit sei, ein klares Angebot zu prüfen, und er habe mich als seine Vertrauensperson benannt, über die der Kontakt gehalten werden könnte. Mehr war an dem Tag im Grunde auch nicht zu besprechen. Die andere Seite war nun am Zuge, musste konkret werden.

Kurze Zeit später meldete sich Stange bei mir und teilte mit, er habe die Antwort von Bundesminister Barzel in Ostberlin überbracht. Man habe die Bereitschaft Barzels, sich einzuschalten, mit großem Interesse aufgenommen. Er denke, man werde sich in Ostberlin bald endgültig klar werden und eine Offerte auf den Tisch legen. Sie kam dann auch einige Tage später. Tausend Häftlinge sollten gegen Geld freigelassen werden. Man erwartete eine Namensliste mit den Vorstellungen von unserer Seite. Jetzt musste Farbe bekannt werden. Barzel beauftragte mich – selbstverständlich unter strikter Geheimhaltung –, eine derartige Liste vorzubereiten. Der anderen Seite wurde erklärt, wir wären grundsätzlich zu einer Vereinbarung in einer derartigen Größenordnung bereit und würden unsere Wünsche, das heißt die Namen der Häftlinge, die wir einzubeziehen wünschten, zusammenstellen.

Für mich persönlich begann eine Zeit, die mich sehr belastete. Ich habe weiter oben dargelegt, dass in unserer Rechtsschutzstelle rund 12 000 politische Häftlinge in der DDR registriert waren. Über jeden einzelnen dieser Häftlinge gab es eine Akte mit dem Schriftwechsel mit Verwandten und Organisationen, aus dem sich sein Schicksal abzeichnete. Genau und sorgfältig waren alle Angaben, soweit man ihrer habhaft werden konnte, notiert: wann verurteilt, zu welcher Strafe, aus welchen Gründen, wo sitzt der Häftling ein, wer kann Auskunft geben, wie alt ist er und wie ist es gesundheitlich um ihn bestellt. Aus diesem Kreis nun tausend Häftlinge auszusuchen, gewissermaßen Schicksal zu spielen – denn vielleicht handelte es sich nur um einen einmaligen Vorgang –, abzuwägen, wessen Schicksal schwerer wog, wer den größeren Anspruch auf Freilassung hatte – diese Entscheidung bedrückte mich sehr. Gern hätte ich den Rat und die Mithilfe von anderen mit dem Problem der politischen Häftlinge Vertrauten eingeholt, aber die völlig ungewisse Situation und die Notwendigkeit zur absoluten Geheimhaltung verboten es, mit Dritten über die Aktion zu sprechen. Einer musste schließlich die Auswahl treffen, daran führte kein Weg vorbei. So blieb, sich an das alte Gebot zu halten: die Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen zu fällen.

Ich setzte mich mit der Rechtsschutzstelle in Verbindung und bat, sich darauf einzurichten, mir alle Akten vorzulegen. Ich wollte einmal alle Vorgänge mit ihnen durchgehen. Mein Anliegen war völlig ungewöhnlich. Das hatte es noch nicht gegeben, dass sich das Ministerium so intensiv einschaltete. Aus der Vorgeschichte ahnten die Herren dann aber – sie haben es mir später bestätigt –, dass hinter meinem Wunsch sich mehr verbarg als nur das Interesse, einen aktuellen umfassenden Überblick über den Aktenstand der Rechtsschutzstelle zu gewinnen.

In langen Stunden ließ ich mir dann jeden einzelnen »Fall« vortragen und traf zunächst eine grobe Auswahl. Rund fünftausend Akten waren so »übrig« geblieben. Aus ihnen mussten nun tausend herausgefiltert werden. Immer wieder musste zwischen den denkbaren Kriterien – Grund der Verurteilung, Höhe der Strafe, Gesundheitszustand, familiäre Verhältnisse, bisheriger Lebensweg und andere in der Person des Einzelnen liegende Umstände – abgewogen und entschieden werden.

Ich werde die Gesichter der Anwälte der Rechtsschutzstelle nicht vergessen, wenn ich eine Akte auf den größeren Haufen, der nur die Ablehnung bedeuten konnte, legte. Ihre Mienen wurden immer abweisender und bitterer, da ich offenkundig mich so wenig von dem Schicksal dieser schwer geprüften Häftlinge rühren ließ. Aber ich konnte ihnen schließlich keine Erklärung geben, nicht sagen, dass nur tausend Häftlinge zur Verhandlung anstanden. Niederdrückende Stunden und immer wieder der bohrende Zweifel: Hast du auch an alles gedacht, kein Merkmal übersehen und niemand bevorteilt oder zu Unrecht zurückgesetzt? Ich konnte ja nicht ahnen oder gar damit rechnen – niemand konnte es zu dieser Zeit –, dass sich aus diesem ersten Auftakt eine Aktion über Jahre entwickeln würde, in der am Ende für alle politischen Häftlinge, die wir zu Anfang kannten, die Freiheit erwirkt werden konnte.

Die Liste stand, die Namen waren notiert und festgehalten. Rechtsanwalt Stange bekam den Auftrag, zu übermitteln, dass unsere Seite zu konkreten Verhandlungen bereit sei, wir hätten eine Auswahl getroffen, die wir in die Gespräche einbringen könnten. Nach einigen Tagen brachte er als Antwort: Man habe zur Kenntnis genommen, dass unsere Seite tatsächlich über den Komplex verhandeln wolle, man schätze diese Offenheit für neue Gedanken, sei aber noch im höchsten Maße misstrauisch, ob unsere Seite sich auch wirklich auf konkrete, ernsthafte Verhandlungen einlassen wolle und nicht einen propagandistischen Schachzug zum Nachteil der DDR im Auge habe.