Cover

Über das Buch:

Joscha ist der Neue in der Klasse. Und seine sanften Teddybäraugen haben es Pauline gleich angetan - sie ist total verknallt! Doch wie soll sie nur an diesen Typen herankommen? Ihre beste Freundin Helma ist ihr da Hilfe und Konkurrenz zugleich, denn auch sie hat sich in den süßen Joscha verliebt.

Titlepage

Fußballgroupie

Eines der schwierigsten Dinge im Leben ist, in der Badewanne zu liegen und seinen Bauchnabel zu fotografieren. Man muss sich dabei ziemlich krümmen und aufpassen, dass das Objektiv keinen Badeschaum abbekommt, und wenn der Apparat sowieso nicht eins a ist, kriegt man mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit nur undeutliche Bilder, die ebenso gut auch auf dem Mond geschossen sein könnten. Aber was bleibt einem anderes übrig, wenn man vorhat, als weitbeste Fotografin in die Geschichte einzugehen? Rein ins Wasser, Augen auf und Auslöser drücken! Sich bloß nicht von Leuten irritieren lassen, die meinen, man habe einen Knall.

Mummi hatte sich vor Urzeiten mal ihr Horoskop aus der Zeitung geschnitten und an den Kühlschrank geklebt: »Lassen Sie sich durch ein bisschen Mühe nicht abschrecken! Denken Sie immer nur an Ihr Ziel und streben Sie vorwärts!« Genau das war mein Lebensmotto, auch wenn Mummi sich den Spruch zuerst auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Alles in allem war Mummi ganz prima, aber trotzdem rasselten wir ziemlich oft aneinander. Thema Hausarbeit: Während Mummi unser Badezimmer täglich mehrere Stunden zwecks diverser Schönheitsbehandlungen besetzte, war unsere Wohnung immer total unaufgeräumt und überall lagen Staubflusen herum. Wie gerne hätte ich mal einen picobello gewischten Fußboden vorgefunden, von dem man Pizza hätte essen können, wenn man wollte. Ich hätte meine Freundin Helma eingeladen und vielleicht noch ein paar andere aus meiner Klasse. Anne-Marie zum Beispiel, die wie eine Fleisch fressende Pflanze aussah und wegen ständiger Petzerei hinterher die Krümel hätte vom Boden klauben müssen. Oder die Makkaroni, ihres Zeichens Englischlehrerin und derart in die italienische Küche vernarrt, dass sie kalte Pasta mit in die Schule brachte und sich wie eine aufgequollene Nudel durch die Gänge rollte...

Ach ja, Joscha! Der hätte natürlich ebenfalls bei meinem Fußboden-Pizza-Essen mitmachen dürfen, auch wenn er es vielleicht nicht verdient hatte. Joscha war in diesem Jahr als Sitzenbleiber in unsere Klasse gekommen und benahm sich wie ein Ochse, wenn’s donnert. Er war muffig und blöd, und wenn irgendeiner es wagte, »Hallo!« oder »Na, du?« oder »Schönes Wetter, was?« zu sagen, schlug er mit den Hinterbeinen aus oder ging, falls er ganz mies drauf war, gleich mit den Hörnern auf einen los. Trotzdem fand ich ihn süß. Joscha hatte braune Teddybärenaugen und auf dem Kopf ein meliertes Teddybärenfell und aß in jeder Pause Paprikaschoten. Und ob er eine Freundin hatte, wussten nur die Götter.

Ich schoss also ein paar Bauchnabelfotos, stieg dann aus der Wanne und zog mich schnell an. Schließlich hatte ich heute noch viel vor. Wenn man’s genau nahm, hatte ich eigentlich immer viel vor. Viel zu viel. Ich wollte nämlich immer alles und am liebsten zur gleichen Zeit. Eine berühmte Fotografin werden und die Welt ergründen, und außerdem wollte ich wissen, warum manche Menschen siebenmal die Woche Makkaroni in sich reinstopften, warum andere bei Vollmond auf dem Fenstersims spazieren gingen und warum die Katzen nicht eines Tages zu sprechen anfingen und den Menschen die Meinung sagten.

Helma fand das sturzlangweilig – abgesehen davon, dass ich sie oft zu Exkursionen mitschleppte, die einen gewissen körperlichen Einsatz verlangten. Um Fotos zu schießen, kletterte ich nämlich auf Zäune und auf Berge, legte mich in Gräben und kroch in Rohre und es interessierte mich dabei nicht die Bohne, wenn meine Klamotten mal dreckig wurden. Helma begriff einfach nicht, warum ich für ein gutes Foto sozusagen über Leichen ging. Und wenn ich ihr meine Theorie eintrichterte, dass man durch genaue Beobachtung der Menschen und der Dinge, die einen unmittelbar umgeben, automatisch ein besseres Verständnis für die Welt bekommt, sah sie mich nur bleichgesichtig an. Was gehen dich die anderen Leute an, sagte sie immer und guckte stattdessen mit ihrem Fernglas in den Himmel. So war das nämlich: Wenn Helma nicht gerade schlief, was sie oft und gerne tat, betätigte sie sich als Astronomin und versuchte zu ergründen, was hinter unserem Sonnensystem lag. Das wiederum fand ich blödsinnig. Denn was nützte es, das Nichts und die Unendlichkeit zu wollen, wenn man das Naheliegende, nämlich die Erde und was darauf vor sich ging, noch nicht mal kapiert hatte.

Und ich kapierte immer noch so einiges nicht. Heute wollte ich zum Beispiel einfach nicht begreifen, warum Mummi sich (ausnahmsweise!) in der Küche betätigte und ein kompliziertes Vollwertsonntagsessen fabrizierte, wenn man doch viel einfacher eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben konnte, die zudem auch noch besser schmeckte. Aber das blieb wohl das ewige Geheimnis aller Menschen, die das Alter meiner Eltern erreicht hatten. Ständig taten sie absolut seltsame Dinge, wie zum Beispiel ihre Kinder in puncto Essen als Resteverwerter zu missbrauchen, mit den Nachbarn freudestrahlend über den Jahrhundertsommer zu palavern und hinterher über dieselben Nachbarn abzulästern: »Total rechts sind die und eine Putzneurose haben sie auch.« Und dabei hätte ich es so gern gesehen, wenn wenigstens eines meiner Elternteile ein bisschen von dieser Krankheit befallen gewesen wäre! Mit angesäuerter Miene setzte ich mich an den Tisch und spießte lustlos eine ziemlich al dente gekochte Möhre auf die Gabel. Mein ganzer Schluckmechanismus war derart auf Pizza programmiert, dass ich das Teil einfach nicht runterbekam.

Ich guckte Mummi und Dad an. Die guckten relativ finster zurück. Anscheinend hatte es keinen großen Sinn, die so genannte Essensverweigerungstaktik zu fahren. Der Sonntagmittag war ihnen eben heilig – der einzige Tag, an dem wir alle zusammen aßen. Dabei hätte es mir nicht das Geringste ausgemacht, mir in meinem Zimmer einen Hamburger reinzuschieben.

Genau genommen aß ich am liebsten allein (und möglichst kein Gemüse!), dann hatte ich die nötige Ruhe, um mir neue Fotoserien auszudenken.

Und was konnte ich im Übrigen dafür, dass meine Eltern beide rund um die Uhr ackerten? Okay, Dad verstand ich noch einigermaßen. Als Geologe kratzte er merkwürdig lebloses Gestein auseinander. Aber Mummi – die hatte mit ihrer dämlichen Kindermode wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank! Sie kaufte kurze Röcke ein und lange Röcke und im nächsten Jahr mittellange Röcke und das Gemeine an der Sache war, dass der ganze Krempel an mir (!), Pauline, dem Versuchskaninchen, ausprobiert wurde. Es verging kaum ein Tag, an dem Mummi nicht irgendein neues Mäntelchen, Pullöverchen oder T-Shirtchen anschleppte, wovon mir schon beim bloßen Hinschauen übel wurde. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich in diesen Klamotten vor der ganzen Klasse lächerlich machen würde. Ehrlich gesagt trug ich am liebsten Jeans und Kapuzenpullover, und wenn’s kälter wurde, kam Paps’ abgelegte Lederjacke drüber, was Mummi ganz besonders schrecklich fand. »Du könntest so niedlich aussehen«, kam es dann immer wie das Amen in der Kirche und ich verdrehte die Augen und nahm das Wort »niedlich« mit in meine geheime Wort-Hass-Liste auf, und wenn ich später vielleicht mal Kultusministerin wäre, dann würde ich all diese Hasswörter einfach aus dem Wörterbuch schmeißen.

Also, die Möhren. Sie schmeckten mit ganz viel Sahnesoße und einem kleinen Stück paniertem Tofu dazu.

»Bist du nachher da?«, fragte Mummi und hatte ihr übelstes Klamotten-Attentat-Gesicht aufgelegt.

Ich schüttelte entschieden den Kopf.

»Helma kann doch auch zu uns kommen. Ich hole uns Kuchen.«

Ich fand es albern, dass Mummi immer noch glaubte, uns mit simplem Kuchen locken zu können, der noch nicht mal selbst gebacken war. Einmal in der Woche machte sie auf Glucke und Superhausfrau und alle Welt sollte dann gefälligst mit ihr um den trauten Wohnzimmertisch springen.

»Helma kann nicht«, sagte ich ohne es für nötig zu halten, eine weitere Erklärung abzugeben.

»Der tut’s doch nur gut, wenn sie mal aus ihrem Laden rauskommt«, mischte sich Paps ein.

Blödsinn. Helma lebte in einem klasse »Laden«. Auch wenn sie zwei Väter und keine Mutter hatte.

Also, streng genommen hatte sie natürlich eine Mutter, aber die war vor weiß der Himmel wie viel Jahren abgehauen, als Helmas Vater eines Tages seinen Freund Franz angeschleppt hatte (so geht die Sage), mit dem er plötzlich auf große Liebe machen wollte.

Franz und Tom. Eigentlich konnte man überhaupt nicht sagen, dass Helma mit ihren zwei Daddys benachteiligt wäre – im Gegenteil. Und falls irgendjemand der Meinung war, Väter seien strenger, im Allgemeinen und überhaupt, dann war das der reinste Quatsch. Ich zum Beispiel hatte mindestens tausendmal weniger Freiheiten als Helma. Das fing beim frühen Nachhausekommen an und hörte bei der Auswahl meiner Klamotten auf. Außerdem durfte Helma an manchen Tagen zwei Eis essen und hatte immer noch Zähne im Mund und sie konnte ihren CD-Player so laut stellen, wie sie wollte, und umsonst ins Musical, weil Franz dort als Maskenbildner arbeitete, und mit Gummistiefeln in die Schule gehen und Türklinken mit Schokoküssen einschmieren und bis tief in die Nacht den Mond angucken.

»Tom hilft uns bei Mathe«, log ich und wunderte mich, dass meine Eltern auf so was reinfielen.

Lernen war okay. Wenn man lernte, konnte man nicht auf blöde Gedanken kommen und dann spielte es auch keine Rolle, dass Helma von zwei Männern gemanagt wurde. Aber ich wollte Mummi und Dad nicht unterstellen, dass sie grundsätzlich was gegen Franz und Tom hatten, dass sie wie die meisten fanden, zwei Schwule hätten nicht das Recht, ein Kind großzuziehen, weil sie eben zwei schwule Männer seien und nicht ein Mann und eine Frau.

Bevor ich zu Helma rüberging, verschwand ich noch schnell in meiner Dunkelkammer, um den letzten Film mit den Bauchnabelkunstwerken ans Tageslicht zu fördern. Ich konnte mich nicht beschweren – Mummi und Dad waren immerhin so nett gewesen und hatten mir den kleinsten Raum in unserer Wohnung als Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt, wo ich jetzt schon seit ungefähr einem halben Jahr völlig ungestört meine Fotos entwickeln konnte.

Ich machte mich an die Arbeit, zog die ersten Bauchnabelfotos aus dem Wasser. Eine irrsinnige Fleischlandschaft waberte in einem schwarz-grau-weiß schattierten Schaummeer von einem Bildrand zum anderen – der Wahnsinn! Ich würde eines der Fotos ausschnittweise als Poster vergrößern und in meinem Zimmer aufhängen. Anschließend kamen die letzten Schulfotos dran. Normalerweise schoss ich jeden Tag in der Schule so genannte Routine-Arbeits-Fotos, das heißt, ich hielt in der Pause die Kamera einfach in die Menge und drückte ab. Später sah ich die Bilder dann in Ruhe durch und fertigte den einen oder anderen Ausschnitt an. Diesmal kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus. Ohne dass es mir aufgefallen wäre, hatte ich mit absoluter Treffsicherheit fast immer Joscha mit auf dem Bild. Joscha an der Milchausgabe. Joscha beim Verlassen der Schule. Joscha in der Raucherecke mit Paprikaschote – ehrlich, ich hatte ihn nicht absichtlich fotografiert!

Ich ging in mein Zimmer, setzte mich an den Schreibtisch und kreiste mit einem Rotstift die Ausschnitte ein, die ich bei entsprechender Gelegenheit vergrößern würde. Es war ein Gefühl, als hätte mir der Himmel oder von mir aus Helmas Universum ein Zeichen geschickt. Ich, Pauline, sollte nicht aufgeben und weiterhin alle Anstrengungen unternehmen, um Joscha zu knacken. So gesehen fing alles mit den komischen Fotos von meinem Bauchnabel an.

Eine Stunde später war ich gefühlsmäßig wieder so weit hergestellt, dass ich zu Helma rübergehen konnte. Ich sagte Mummi und Dad Bescheid, die auf dem Balkon saßen und lasen. Dann düste ich raus, einmal quer über die Straße und durch den schwül stickigen Sommer, und nachdem ich die vier Treppen in dem Wohnblock gegenüber hochgerannt war, klingelte ich bei Helma. Franz öffnete. Er trug nur Shorts und hatte eine irrsinnig bepelzte Brust. Sicher war er früher mal so dumm gewesen und hatte aus Versehen Haarwuchsmittel draufgeschüttet. »He, ich hab einen Job für dich. Magst du Babys?«

»Hm«, machte ich nur, weil ich Babys ziemlich mittelmäßig fand und mich im Übrigen fragte, ob Franz wohl seine Haare kitzelten.

»Eine Freundin von Toms Kollegin sucht ‚nen Babysitter. Da hab ich gleich an dich und Helma gedacht.«

»Nett von dir.«

Seit ein paar Wochen durfte ich Franz und Tom duzen, was ich praktisch fand, weil die beiden für mich sowieso eher Klassenkameraden als Väter von Klassenkameraden waren. Trotzdem wusste ich nicht, ob es mir Spaß machen würde, bei irgendwelchen sabbernden und krakeelenden Würmchen Wache zu schieben. Andererseits war ich immer knapp bei Kasse, und da ich schon seit Menschengedenken auf einen neuen Fotoapparat mit Superobjektiv, Lichtempfindlichkeit 2,5, hin sparte und dabei bislang nicht annähernd auf einen grünen Zweig gekommen war, sollte ich mich vielleicht überwinden.

»Kann die mich überhaupt bezahlen?«, fragte ich und knipste Franz’ Brusttoupet.

»Schätze schon. Sofern sie mit zwei Händen ausgestattet ist.«

»Hahaha!« Manchmal waren mir Franz’ Sprüche wirklich zu blöd. Also sagte ich ihm, ich würde es mir überlegen, und ging zu Helma. Die hockte vor ihrem Minifernseher und sah sich einen alten Doris-Day-Film an. Ich wollte von ihr wissen, was sie von der Sache mit dem Babysitten hielt.

»Ist doch super«, meinte sie.

»Ich mach da mit.«

»Und wenn das Baby Gift spuckt oder ihm Mörderzähne wachsen, während du es wickelst?«

»Da tritt die Bond-Abwehr 1345 in Kraft. Augen zu und durch.« Helma lachte wie blöd und wollte wissen, ob ich morgen Nachmittag nicht die erste Schicht übernehmen könne.

»Wenn’s sein muss«, sagte ich gedehnt und schrieb mir brav die Adresse auf.

Dann fragte mich Helma nach meiner Fotografiererei aus. Das war so ein Ritual zwischen uns: Wir erkundigten uns jede bei der anderen, wie sie mit der Arbeit vorankam, und fanden es dabei absolut unbegreiflich, dass die meisten aus unserer Klasse nachmittags zum Sport gingen, einfach nur im Schwimmbad rumhingen oder vor der Glotze saßen – eben kein richtiges Ziel im Leben hatten, wofür sie jetzt schon anfingen zu arbeiten. Stolz präsentierte ich Helma meine neuesten Fotos. Bei den Bauchnabelaufnahmen geriet sie völlig aus dem Häuschen.

»Die sehen aus wie von einem anderen Stern«, meinte sie, um dann für ein paar Sekunden in ehrfürchtiges Schweigen zu versinken.

Der Wahnsinn! Wenn Helma Komplimente verteilte, konnte man erstens davon ausgehen, dass sie wirklich echt waren, und sich zweitens tausendmal auf die Schulter klopfen.

»Krieg ich auch einen Abzug?«

Ich nickte und merkte, wie meine Wangen zu glühen begannen.

Eigentlich hatte ich schon vorher gewusst, dass Helma meine Mondlandschaftsbilder gefallen würden. Sie hatte da nämlich so ihre eigene Theorie. Dass jedes – und sei es noch so ein kleines – Ding seine kosmische Entsprechung hatte. Kein Wunder also, dass ein Bauchnabel, der in Großaufnahme wie die Oberfläche des Mondes aussah, ihren Beifall fand. Dann kamen die Joscha-Fotos an die Reihe. Joscha bei der Milchausgabe. Joscha isst eine rote Paprikaschote. Joscha verlässt allein die Schule. Joscha kauft sich eine Cola. Joscha kaut grüne Paprika... Alles in allem ziemlich langweiliger Kram für jemanden, der an dem Kerl weniger Interesse als an einer Glühbirne hatte. Joscha-Winzpunkte, aus tausendundeinem Kilometer Entfernung aufgenommen.

Helma legte die Fotos kommentarlos beiseite, alles klar. Trotzdem gehörten sie zu meiner Arbeit dazu und ich wollte sie ihr nicht vorenthalten.

»Glaubst du, dass er vielleicht eine Freundin hat?«

»Heiliger Strohsack! Bei dem Gesicht, das er ständig zieht? Ich kenne wirklich niemanden sonst, der immer so beleidigt in der Gegend rumguckt.«

»Und ich kenne niemanden, der niedlicher aussieht.«

»Und ich kapier absolut nicht, was du an dem findest«, sagte Helma und hatte eine steile Falte zwischen den Brauen.

Schnell drückte ich auf den Auslöser meiner Kamera; schließlich wollte ich der Nachwelt Helmas bösesten aller bösen Gesichtsausdrücke nicht vorenthalten.

»Lass das jetzt!«, schrie sie. »Entweder wir reden sachlich darüber oder du ärgerst mich mit deinem Apparat! Beides gleichzeitig geht nicht.«

»Okay, okay.«

Ich verstaute das Ding in meinem Rucksack und fragte Helma, ob sie mit zum Fußball komme.

Sonntags spielte unsere Schulmannschaft immer auf dem Hühnerfeld, das wäre eine klasse Gelegenheit, Joscha zu bespitzeln. Irgendwie musste doch rauszukriegen sein, ob er solo war oder vielleicht doch irgendein Mädchenklotz an seinem Bein hing.

»Willst du im Ernst auf der Tribüne sitzen I und ihn fotografisch anhimmeln? Wie peinlich!«

»Quatsch! Natürlich gehen wir in Deckung.«

»Und was kann interessant daran sein, einen Haufen Jungs anzugucken, die hinter einem rollenden Etwas herrennen, als ob ihr Leben davon abhängt?«

»Das Vorher und das Hinterher.«

»Mensch... « Mehr sagte Helma nicht dazu. Vielleicht dachte sie ja wirklich, dass ich total am Durchdrehen sei. Oder aber sie glaubte, ich könne meine Arbeit zu Gunsten eines blödsinnigen Klassenkameraden verraten – was ich natürlich niemals tun würde!

Es war noch brütender und stickiger geworden, als wir nach draußen kamen. Ich rannte schnell zu uns rüber und schleppte mein Fahrrad aus dem Keller. Dann radelten wir durch die Gasofenstadt zum Hühnerfeld. Helma fuhr vor mir her. Das weiße T-Shirt mit der Aufschrift »La luna e le stelle« blähte sich an ihrem Rücken zu einem riesigen Ballon auf. Am Hermannsplatz machten wir Halt. Besser die Räder hier schon anketten und das letzte Stück zu Fuß gehen.

Natürlich kamen wir viel zu spät, um das »Vorher« beobachten zu können. Die Jungs waren schon längst dabei, nach einem dieser schwarzweißen Dingsbumse zu treten.

Auf allen vieren robbte ich durchs Gebüsch. Hauptsache, wir kamen so nahe wie möglich ans Spielfeld ran. Helma krabbelte ungeschickt hinter mir her, ächzte und stöhnte.

»Pauline Karmann! Du kannst dich wirklich freuen, dass ich so eine Engelsgeduld habe!«, maulte sie.

»Pssst!« Ich stoppte, weil mir der Rucksack mit dem Fotoapparat halb von der Schulter gerutscht war und weil ich außerdem fand, dass wir fürs Erste dicht genug am Fußballfeld waren. Ich starrte mir die Augen aus dem Kopf, keiner sah aus wie Joscha, keiner war Joscha! Helma starrte ebenfalls – oder tat zumindest so als ob – und konnte auch keinen Joscha erkennen.

»Dein Schatz macht heute blau.« Helma grinste auf grausame Weise. »Der liegt faul mit seinen Haremsdamen am Pool und lässt sich einen Drink servieren.«

Sehr lustig! Wahrscheinlich hatte sie den Spruch von Franz geerbt. Entnervt ließ ich mich ins Gras plumpsen. Die ganze Aktion war also umsonst gewesen und der Sonntag quasi futsch.

Es war schier zum Wahnsinnigwerden! In ein paar Wochen waren Ferien. Wenn ich bis dahin nichts in Erfahrung gebracht hatte, würde ich die kommenden sechs Wochen in Franz’ Pfeife rauchen können! Sechs Wochen ohne Joscha. Keine Bärenaugen, kein Kopfhaarfell, nur blöd verschwommene Fotos mit Joscha-Punkten drauf. Wenn ich wenigstens seine Adresse und Telefonnummer gekannt hätte – ihm zu schreiben, wäre mir vielleicht leichter gefallen –, aber nicht mal das. Mindestens tausendmal hatte ich schon das Telefonbuch durchgekämmt, aber es gab nicht einen einzigen Hützl, nicht mal einen klitzekleinen, und in unserer Klasse wusste auch niemand, wo er wohnte. Natürlich hätte ich Joscha direkt ansprechen können, klar, aber in diesem Fall war das nicht so einfach. Erstens hatte ich schon die Hosen gestrichen voll, wenn ich auch nur in seine Nähe kam – er, der legendäre Sitzenbleiber mit der Aura des Unnahbaren! –, zweitens, und das war eigentlich der Grund, machte er tatsächlich immer ein mürrisches Gesicht und ließ nicht mal die Jungs aus unserer Klasse dichter als einen Meter an sich rankommen – es sei denn, man spielte gerade Fußball. Trotz Teddybärenaugen sah Joscha manchmal Furcht einflößend aus und gerade das machte ihn zu einem Magneten, an den ich ständig wieder ranflog.

»Komm, gehen wir.« Ich stand auf und rannte durch das Gestrüpp zurück ohne mich darum zu kümmern, dass mir stachelige Gräser die Beine zerkratzten.

»Bist du wahnsinnig?« Helma kam hinter mir hergerast. »Wenn die uns jetzt gesehen haben!«

»Na und?« Einen kurzen Moment lang dachte ich darüber nach, ob es nicht doch das Beste wäre, am Sonntagnachmittag mit Mummi und Paps und Helma und frisch abfotografiertem Bauchnabel bei Kaffee und Kuchen zu sitzen und hinterher zu Franz zum Matheüben rüberzugehen.

O Shit! Shit! Shit! Es gab Tage, an denen ich es wirklich vorgezogen hätte, eine Ameise zu sein. Wenigstens kriegten diese Viecher keine Sommerferien und waren auch nicht in Paprika essende Bärenfelljungs verliebt. Sie hatten festgelegte Aufgaben: Hölzchen von A nach B transportieren, Mittagessen besorgen, sich fortpflanzen und so weiter und so fort, und das taten sie dann auch ohne groß zu murren.

»Es wäre mir echt peinlich, als Fußballgroupie entlarvt zu werden.« Helma kam hinter mir hergepoltert, als hätte sie ein Holzbein. »Schließlich will ich nicht, dass später in meiner Biographie steht, Helma Schütze sei als Vierzehnjährige Jungenbein-Fetischistin gewesen und habe jeden Sonntag hinter piksigen Sträuchern gelauert, um den Jungs ihrer Klasse heimlich beim Fußballspielen zuzusehen.«

Das wollte ich natürlich auch nicht. Zur Beruhigung lud ich Helma auf ein Eis bei ›Mario‹ ein, was sie zumindest für eine gute Idee hielt.