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Meg

Freitag, 9. Januar, 19 Uhr

Meditation zu Psalm 131

Ein Gebet der Ruhe

1. Becca. Herr, bitte nimm mir alle meine Ängste und Befürchtungen, die ich wegen ihr habe. Ich bringe dir meine Sehnsucht, dass du sie erretten, ihr deine Liebe offenbaren und sie erlösen mögest. Ich habe das Gefühl, ständig nur meine Ängste vor dich zu bringen und viel zu selten zur Ruhe zu kommen. Ansonsten fallen mir gerade keine „wichtigen“ Dinge ein, die mich umtreiben.

2. Ein Kind, das gestillt wird, braucht Nahrung. Ich habe diese intensive Zeit mit Becca sehr genossen. Doch nachdem sie erst einmal „entwöhnt“ worden war, hat sie nicht mehr oft still gesessen. Manchmal, wenn ich ihr vorgelesen habe, hat sie eine Zeit lang auf meinem Schoß gesessen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie einfach nur mal zum Kuscheln zu mir gekommen wäre. Ich durfte sie nur halten, wenn sie müde war, sich verletzt hatte oder traurig war. Sucht ein entwöhntes Kind also vielleicht Trost bei seiner Mutter? Becca wollte nur bei mir sein, wenn sie wirklich etwas dringend brauchte. Ich denke oft, dass auch ich nur zu dir komme, wenn ich etwas von dir brauche, Herr – Hilfe, Kraft oder Frieden. Aber ich komme selten zu dir, weil ich einfach nur bei dir sein möchte, und das tut mir leid. Bitte zeig mir, wie ich still bei dir sitzen und mich damit zufriedengeben kann, einfach nur bei dir zu sein.

3. Meine Seele ist wie ein …

Megs Hand verharrte über der Seite ihres Notizbuches.

Meine Seele ist wie …

Wie war ihre Seele denn? Sie suchte nach den richtigen Worten, nach einem passenden Bild, das beschrieb, wie sich ihre Seele gerade fühlte. Als ihr Hals zu schmerzen begann, kam ihr plötzlich eine Erkenntnis.

Meine Seele ist wie ein vernachlässigtes Kind, das voller Verzweiflung versucht, auf den Schoß seiner Mutter zu klettern, dabei aber immer wieder weggescheucht wird. Wie ein Kind, das sich selbst trösten muss, weil kein Erwachsener da ist, der es in den Arm nimmt und ihm sagt, dass alles wieder gut wird. Keine Umarmung, kein Trost und kein liebevolles Beruhigen.

Sie wusste nicht, ob es die anderen mehr störte, wenn sie den Raum verließ oder wenn sie vor ihnen in Tränen ausbrach, darum griff Meg schnell nach einem Papiertaschentuch und bemühte sich, ihre aufgewühlte Seele wieder zu beruhigen.

* * *

„Entschuldigung“, sagte Meg, als das Gespräch in der Gruppe begann. „Ich hoffe, ich habe euch nicht gestört, aber ich konnte mich einfach nicht mehr zusammenreißen.“

Mara reichte ihr ein weiteres Taschentuch. „Du bist nicht allein damit. Die Fragen waren ja auch nicht leicht zu beantworten, mir persönlich hat die vierte ziemlich zugesetzt. Aber entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht unterbrechen, Meg.“

Meg trocknete ihre Augen. „Schon okay, Mara. In der vergangenen Woche hat es mich einfach tief getroffen, dass ich als Kind, und sogar dann, wenn ich krank war, ziemlich einsam gewesen bin. Ich werfe das meiner Mutter aber nicht vor. Sie hatte nach dem Tod meines Vaters viel um die Ohren und außerdem musste sie sich wegen jeder Kleinigkeit mit Rachel auseinandersetzen. Aber sie war einfach keine liebende Mutter und es war nichts Warmes oder Tröstendes an ihr.“

Meg versuchte tief durchzuatmen, aber ihre Brust fühlte sich noch immer ziemlich eng an, und sie bekam einen Hustenanfall. Als sie sich vom Tisch wegdrehte, um die anderen vor ihren Keimen zu schützen, blieb ihr Blick an dem alten Schaukelstuhl in ihrem Wohnzimmer hängen. Sie konnte sich nicht an eine einzige Gelegenheit erinnern, bei der ihre Mutter in diesem Stuhl – oder in irgendeinem anderen Stuhl – mit ihr gesessen und gekuschelt hätte. Eigentlich konnte sich Meg überhaupt nicht daran erinnern, jemals bei ihrer Mutter auf dem Schoß gesessen zu haben oder von ihr umarmt worden zu sein.

„Also“, sagte Hannah, nachdem Meg sich ihnen wieder zugewandt hatte, „wenn wir deine Mutter jetzt mal ganz außer Acht lassen, bist du dann in der Lage, mit diesem Bild zu beten, oder hast du gar keinen Zugang dazu?“

Doch, dachte Meg. Sie hatte einen Zugang dazu, wenn sie sich vorstellte, wie Jesus sie in die Arme nahm. Sie erzählte Mara und Charissa von dem Wandgemälde in ihrer Gemeinde. „Ich habe vor Kurzem mit der Geschichte gebetet, wie Jesus die Kinder segnet, und mir vorzustellen versucht, dass ich Becca zu Jesus bringe und sie ihm auf den Schoß setze. Aber es kam gar nicht erst dazu, weil Becca sich sträubte, und als ich es noch einmal probiert habe, sah ich mich selbst als kleines Mädchen, allein und verloren in der Menge, und es war niemand da, der mich zu Jesus brachte.“

Während sich betende Stille ausbreitete, wanderte Megs Blick erneut zurück zu dem Schaukelstuhl im Wohnzimmer, und plötzlich erinnerte sie sich.

Mrs Anderson hatte sie in diesem Stuhl gewiegt.

Wenn ihre Mutter länger hatte arbeiten müssen oder geschäftlich unterwegs gewesen war, war Meg normalerweise zu den Andersons gegangen. Doch einmal war Mrs Anderson aus irgendeinem Grund zu Meg rübergekommen, und Meg hatte sich an sie gekuschelt und ihr zugehört, wie sie ihr aus einer Kinderbibel mit bunten Bildern vorgelesen hatte. Mrs Anderson hatte sie im Arm gehalten, und sie war es auch gewesen, die Meg zu Jesus gebracht hatte.

Gott sei Dank, dass er Mrs Anderson in ihr Leben geschickt hatte!

Die antike Standuhr im Wohnzimmer schlug zur vollen Stunde und die tiefen Töne hallten nach dem letzten Gongschlag nach. Meg putzte sich die Nase, Charissa starrte auf ihre Hände, Hannah hatte die Augen geschlossen und Mara rutschte auf ihrem Stuhl herum und fragte schließlich: „Hast du deiner Mutter eigentlich schon mal einen Brief geschrieben?“

Die Frage brachte Meg dermaßen aus dem Konzept, dass sie sich an ihrem Wasser verschluckte und erneut einen Hustenanfall bekam. Sobald sie wieder Luft holen konnte, schüttelte sie den Kopf.

„Ich habe gerade daran gedacht, dass du ja vor ein paar Monaten einen Brief an Jim und auch einen an deinen Vater geschrieben hast“, führte Mara weiter aus, „und du hast uns erzählt, dass es dir geholfen hat, sie loszulassen. Und dann dachte ich daran, wie gut es mir getan hat, einigen Menschen, die ich nie wiedersehen werde, Briefe zu schreiben und ihnen zu vergeben. Dadurch konnte ich den Ballast abwerfen, den ich mit mir herumgetragen habe, und ich konnte offen und ehrlich über den Schmerz schreiben, den sie mir zugefügt haben.“ Mara zuckte mit den Achseln. „Nur so ein Gedanke.“

Und es war ein guter Gedanke, wie Meg fand. Aber sie war nicht bereit dazu, Maras Vorschlag in die Tat umzusetzen, zumindest noch nicht.

„Entschuldige, Meg“, sagte Hannah, nachdem Mara und Charissa sich verabschiedet hatten. „Ich habe nicht daran gedacht, was du in letzter Zeit durchgemacht hast, sonst hätte ich einen anderen Text gewählt.“

Meg lächelte sie trocken an. „Und dadurch verhindert, dass der Heilige Geist mir etwas klarmacht, was ich dringend erkennen musste? Dann hätte er bestimmt einen anderen Weg gefunden, Hannah, das garantiere ich dir!“

Hannah lachte. „Da hast du wohl recht. Wahrscheinlich kommt gerade mal wieder mein übergroßes Verantwortungsbewusstsein zum Vorschein.“ Sie spülte die Kaffeebecher im Waschbecken aus. „Vermutlich hat mich dieser Text so sehr angesprochen, weil ich mich gerade gedanklich mit dem Besuch bei meinen Eltern auseinandersetze.“

„Bist du denn bereit dazu?“, fragte Meg.

„Ich weiß es nicht. Sie gehen davon aus, dass das ein fröhlicher und entspannter Besuch wird, aber ich fahre mit einer ganz bestimmten Absicht dorthin. Und ich will ehrlich sein: Ich hoffe sehr, dass die Gespräche, auf die ich so sehr hoffe, auch wirklich zustande kommen, denn sonst wäre ich wirklich sehr enttäuscht.“

„Auf jeden Fall bist du sehr mutig“, sagte Meg. „Schau mich doch mal an, ich bin nicht einmal dazu bereit, ein einseitiges Gespräch zu führen, indem ich einen Brief an eine Person schreibe, die mir keine Widerworte mehr geben kann.“ Meg gab ihren Hustensaft auf einen Löffel und schluckte ihn mit einer angewiderten Grimasse hinunter.

Eine Woche. Sie würde sich eine Woche geben und sich dann dazu zwingen, all die Dinge aufzuschreiben, die sie niemals auszusprechen gewagt hatte. Auch sie würde mutig sein. Mutig wie Hannah. Und Mara. „Ich gehe dann mal lieber ins Bett“, sagte Meg. „Oder hast du was dagegen? Ich bin vollkommen erledigt.“

„Nein, ich gehe auch gleich nach oben. Ich muss noch packen.“

Meg schaltete das Licht über dem Küchentisch aus. „Ich werde während deines Besuchs bei deinen Eltern um Weisheit für dich beten, Hannah, und darum, dass du erkennst, was du sagen sollst und wann der richtige Zeitpunkt dafür ist.“

„Danke.“ Hannah wischte die Arbeitsfläche ab und hängte den feuchten Lappen über den Wasserhahn. „Ich weiß nicht genau, ob ich mit beiden darüber sprechen soll, was passiert ist und warum es so schwer für mich war. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob meine Mutter ein solches Gespräch verkraften würde. Und ich möchte auf gar keinen Fall riskieren, dass meine Eltern Schuldgefühle bekommen, aber ich will Gott die Gelegenheit geben, auch sie zu heilen und frei zu machen, indem ich das, was damals passiert ist, laut ausspreche. Ich muss einfach weiter beten und darauf vertrauen, dass Gott dabei ist, etwas Neues zu schaffen – was auch immer das sein mag.“

Ja, dachte Meg, als sie kurze Zeit später die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging. Das schien nicht nur ein guter Weg für Hannah und ihre Eltern, sondern für sie alle zu sein.

Mara

Mara legte ihre Bibel und einen Notizblock auf ihren Nachttisch und holte ihren Lieblingsschlafanzug aus der Kommode. Nachdem sie die Möbel umgestellt und Vorhänge in kräftigen Farben vor die Fenster gehängt hatte (die Tom garantiert hassen würde), hatte sie das Gefühl, einen wichtigen Schritt getan zu haben, um ihr Schlafzimmer zurückzuerobern. Etwas frische Farbe, ein paar neue Kissen und neue Bilder an den Wänden würden die Umgestaltung abrunden. Sie wollte allerdings noch warten, bis etwas Gras über die Sache gewachsen war, bevor sie erneut einkaufen ging.

Sie zog sich um und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis der wütende Anruf von Tom kam. Sie hatte gehofft, dass die Matratze angeliefert werden würde, wenn die Jungen in der Schule waren, doch der Lastwagen war leider genau in dem Moment vorgefahren, als sie gerade ihre Sachen für das Wochenende mit ihrem Vater packten. Mara hatte zwar für alle hörbar betont, wie dankbar sie für die neue Matratze sei, weil ihre Rückenschmerzen inzwischen schier unerträglich seien – dazu hatte sie dann auch noch ihr Gesicht verzogen und ihren Rücken durchgedrückt –, doch sie war sich sicher, dass die Jungs Tom trotzdem davon erzählen würden. Eigentlich wunderte sie sich, dass ihr Handy noch nicht geklingelt hatte.

Bailey trottete ins Zimmer und ließ sich schwanzwedelnd zu ihren Füßen nieder. Sie starrte ihn an. „Was?“

Er sprang auf, drehte sich im Kreis und bellte.

„Komm nur nicht auf die Idee, auf mein neues Bett zu springen.“

Eigentlich hatte sie darauf bestehen wollen, dass Brian Bailey am Wochenende mitnahm, damit Tom die Unannehmlichkeiten am eigenen Leib erfahren würde, die es mit sich brachte, wenn man einen Hund mit ins Hotel nehmen musste. Aber das wäre dem kleinen Tier gegenüber nicht fair gewesen, das schließlich nichts dafür konnte, dass es in diese Auseinandersetzung geraten war. Außerdem war Brian ihr gegenüber seit dem nächtlichen Vorfall noch feindseliger als sonst („Was hast du denn gedacht, was ich in deinem Schlafzimmer mache, du Freak? Ich habe nur nach meinem Hund gesucht!“), und Mara wollte nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. Aber natürlich hatte sie damit jetzt einen Präzedenzfall für die kommenden Wochenenden geschaffen: Tom hatte keinerlei Mühe mit dem Hund, und Brian würde in Zukunft machen, was er wollte, und Bailey einfach ihr überlassen. Tom hatte also genau das erreicht, was er beabsichtigt hatte: Er war Brians Held, während er Mara noch mehr Arbeit aufgehalst hatte. Und sie hatte gleichzeitig genau das getan, wovor ihre Therapeutin Dawn sie seit Jahren warnte: Sie hatte ihrer Familie die Möglichkeit gegeben, sie als Person zu missachten und sie stattdessen wie eine Dienerin zu behandeln.

„Tom gewinnt also schon wieder“, sagte sie laut vor sich hin, worauf Bailey den Kopf zur Seite legte und sie anschaute, als versuche er, sie zu verstehen. „Man sollte doch meinen, dass ich inzwischen dazugelernt hätte. Nach allem, was ich mittlerweile über mich und Gott erkannt habe, sollte man doch meinen, dass ich einen Weg finden würde, meine Erkenntnisse auch in die Tat umzusetzen.“

Meine Seele ist wie –

Sie war nicht in der Lage gewesen, den Satz zu Ende zu bringen.

Vor ein paar Monaten wäre es ihr noch leichtgefallen, die Lücke auszufüllen. „Ein zurückgewiesenes Kind“ hätte sie dorthin geschrieben, denn schließlich hatte sie jahrelang in jedem Bereich ihres Lebens Zurückweisung erlebt. Aber jetzt? Sie kannte die „richtige“ Antwort, und sie wusste, was Gott ihr durch ihre Reise mit den anderen Frauen klarmachen wollte: Ihre Seele war wie ein umarmtes, gewolltes, auserwähltes und geliebtes Kind.

An manchen Tagen war sie so sehr von der Liebe Gottes erfüllt, dass sie sich gut vorstellen konnte, auf Gottes Schoß zu sitzen und sich so an ihn zu kuscheln, wie sie sich früher oft an Nanas weiche Brust gekuschelt und dabei den Duft von Zitronenverbenen eingeatmet hatte.

Aber es gab auch viele Tage, an denen es ihr schwerfiel, auf die Liebe Gottes zu vertrauen, und sie würde noch herausfinden müssen, wie sie ihre Seele an solchen Tagen zur Ruhe bringen oder sich von Gottes Gegenwart beruhigen lassen konnte. Das war ihr im Laufe der Reflexions- und Gebetszeit klar geworden. Sie hatte ein Flüstern gehört, als ob Gott zu ihr sagen würde: Sch, mein Kind. Ich bin bei dir.

Diesen Augenblick der Nähe hatte sie mit der Gruppe geteilt, doch die Geschichte von Tom hatte sie lieber für sich behalten, weil sie noch immer Charissas Reaktion vor Augen hatte und Meg nicht unnötig aufregen wollte, die noch von ihrer Krankheit geschwächt war, oder Hannah, die morgen zu ihren Eltern reisen würde. Während der letzten Minuten ihres Treffens, in denen sie Gebetsanliegen zusammengetragen hatten, hatte Mara Charissas bedeutungsvollen Blick wahrgenommen, doch glücklicherweise hatte Charissa nichts gesagt. Erst als sie später in Megs Einfahrt standen, hatte Charissa sie noch einmal darauf angesprochen. „Hast du dich mit deiner Therapeutin in Verbindung gesetzt?“

„Ich habe in der Praxis angerufen, aber sie ist momentan nicht in der Stadt.“

„Hast du denn einen Termin vereinbart?“

„Noch nicht.“

„Und wie wäre es, wenn du mit Katherine darüber sprichst?“

„Vielleicht.“

Charissa zog die Augenbrauen in die Höhe.

„Es geht mir gut“, erwiderte Mara. „Mach dir keine Sorgen um mich, ich habe schon Schlimmeres durchgemacht.“

Und außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie momentan die Kraft hatte, um ihre Beziehung zu Brian aufzuarbeiten, was Dawn ganz sicher würde beleuchten wollen. Ein feindseliges Kind, das nicht in Liebe, sondern durch Missbrauch gezeugt worden war? Das wäre garantiert ein gefundenes Fressen für Dawn, und sie würde Mara erneut darauf hinweisen, dass Brian dringend eine Therapie machen musste – und nicht nur er, sondern auch Kevin –, weshalb Tom zuerst wieder mit ihr streiten und ihr vorwerfen würde, dass sie ihre Söhne zu sehr „verhätschelte“, bevor er schließlich behaupten würde, dass sie die Verrückte in der Familie sei und dass sie doch bitte die Jungen nicht mit ihren eigenen Problemen belasten solle. Und wenn sie Tom damit konfrontieren würde, was er ihr damals angetan hatte, würde er sie nur auslachen und sagen: „Dann beweise es doch.“

Bailey bellte erneut.

„Was ist denn los? Du warst doch gerade erst draußen.“

Er trottete zur Tür und schaute Mara erwartungsvoll an.

„Na gut, dann machen wir eben noch einen Spaziergang.“

Und damit hatte sie ihr Bild endlich gefunden. Meine Seele ist wie ein kleines Kind, das gern still werden und Gott zuhören möchte, dabei aber immer wieder durch bellende Hunde gestört wird.

Sie zog sich ihren Mantel an und ging, mit einer Taschenlampe bewaffnet, mit Bailey nach draußen. Er zerrte an der Leine, und als sie versuchte, ihn zurückzuziehen, hielt er kräftig dagegen, während seine Vorderbeine in der Luft baumelten. Mara war erstaunt darüber, wie viel Kraft der kleine Kerl doch hatte. „Ich sollte dich in einer Hundeschule anmelden“, sagte sie, woraufhin er nur noch stärker an der Leine zog. Hoffentlich brauchte er nicht zu lange für sein Geschäft.

Um sie herum war es vollkommen still. Der gelbe Schein der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem Asphalt, und die dicken Schneemänner in den Vorgärten ihrer Nachbarn ließen darauf schließen, in welchen Häusern Kinder lebten, die um diese Zeit natürlich bereits schliefen. Mara fragte sich, ob Madeleine wohl auch schlief. Sie hatte den jungen Eltern immer wieder angeboten, auf die Kleine aufzupassen, aber Abby wollte jede Minute mit Madeleine genießen, bevor sie wieder arbeiten ging.

Für Mara war es damals eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sie zu Hause bei den Jungen bleiben konnte. Nicht, dass ihre Anwesenheit den Kindern viel bedeutet hätte. Na ja, Kevin vielleicht schon. Er hatte zwar noch immer seine bockigen Momente, in denen er leicht reizbar war, aber wenigstens ging er nicht auf sie los.

Im Garten eines Nachbarn spielte der Wind mit einem Schild, das erst seit Kurzem dort stand und die Aufschrift „Zu verkaufen“ trug. Die Bewegung und das Klimpern der Ketten, mit denen es befestigt war, lenkten Bailey ab. „Komm schon, Hund. Erledige dein Geschäft. Ich friere“, sagte Mara, bevor sie sich umschaute, um sicherzustellen, dass sie nicht beobachtet wurde, und einen Flyer aus der Box nahm, die unter dem Schild angebracht war. Sie las ihn durch und stieß einen leisen Pfiff aus. „Na dann viel Glück damit“, murmelte sie, zerknüllte das Papier und steckte es in ihre Manteltasche. Wobei sie natürlich zugeben musste, dass das Haus etwas größer war als ihres und zudem auch sehr gepflegt. Mara war dort einmal zu einer Verkaufsparty eingeladen gewesen, bei der teure Küchenutensilien angeboten wurden. Sie hatte damals nur einen Gewürzständer gekauft.

Sie hoffte wirklich, dass sie hier wohnen bleiben konnte, denn ihr graute regelrecht vor einem Umzug; das wollte sie sich auf keinen Fall antun.

Ihr Anwalt hatte ihr erklärt, was der vorübergehende Gerichtsbeschluss bedeutete: Während des Scheidungsverfahrens und der Klärung ihrer finanziellen Situation durften keinerlei Wertgegenstände veräußert werden. Wertgegenstände, von denen Sie vielleicht gar nichts wissen, hatte er noch hinzugefügt. Mit anderen Worten: Geldanlagen und Wertgegenstände, die Tom vielleicht vor ihr geheim gehalten hatte. Und falls Tom davon ausging, dass der Unterhalt für die Kinder auf Basis seines früheren Einkommens festgelegt werden würde, wartete eine böse Überraschung auf ihn. Mara wäre zu gern die Fliege an der Wand, wenn ihm mitgeteilt wurde, dass nach seiner Beförderung das höhere Gehalt bei der Festlegung der Unterhaltszahlungen als Grundlage diente.

Hab dich!

Und trotzdem konnte man nicht genau sagen, was die „gerechte Verteilung von Werten“ wirklich bedeuten würde, nachdem alles offengelegt worden war. Obwohl Maras Anwalt der Meinung war, dass auch sie, zumindest vorübergehend, berechtigten Anspruch auf Unterhaltszahlungen habe, hatte er sie dennoch darauf hingewiesen, dass es das Beste wäre, eine Weiterbildung oder einen höheren Bildungsabschluss anzustreben. Sie müssen an Ihre Zukunft denken und für alle Eventualitäten gerüstet sein, hatte er gesagt.

Bailey schnüffelte an einem Ständer mit mehreren Briefkästen, die alle gleich aussahen. Überall in der Straße funkelten helle Lichter in den Gärten, weil die Nachbarn einstimmig beschlossen hatten, die Lichterketten an den Büschen und Bäumen auch noch im Januar brennen zu lassen, um die trübe Winterlandschaft ein wenig aufzuhellen. Auch das Tannengrün in den Blumenkästen sollte regelmäßig erneuert werden, damit es nicht austrocknete. Und bla, bla, bla …

Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn Mara von hier wegziehen würde, denn dann wäre endlich Schluss mit den ständigen Klagen über ihre Verstöße gegen die Nachbarschaftsstatuten: Ihr Rasen war zu hoch, unter ihrer Hecke wucherte das Unkraut, von der Straße aus konnte man die Mülltonnen sehen …

Es hat sich nichts geändert, dachte Mara. Sie und ihre Familie waren immer noch Außenseiter, sie passten einfach nicht in die Nachbarschaft. Früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, war es ganz ähnlich gewesen. Weißes Gesindel, hatten ihre Nachbarn geflüstert, wenn sie dachten, dass sie und ihre Mutter es nicht mitbekamen. Ihre Mutter hatte dann immer ihren Schritt beschleunigt, sich ein wenig aufgerichtet und Mara hinter sich hergezerrt. Hör nicht auf das, was sie sagen, Liebling, hatte Nana immer gesagt. Klasse hat nichts mit Geld zu tun.

Bailey bellte eine Plastiktüte an, die vom Wind davongetragen wurde, und sein Bellen veranlasste die anderen Hunde in der Straße, in sein Kläffen einzustimmen. Mara zerrte an der Leine. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ohne Handschuhe nach draußen zu gehen? Ihre Finger kribbelten bereits vor Kälte. Sie rieb ihre Hände aneinander und pustete in die Handflächen, wobei ihr Atem wie eine Rauchwolke in der eiskalten Luft hängenblieb.

Auch in ihrem Elternhaus hatte es einige Abende gegeben, an denen sie ihren Atem hatte sehen können, und Nächte, in denen sie und ihre Mutter sich unter von Motten zerfressenen, stinkenden Decken aneinandergekuschelt hatten, um sich gegenseitig zu wärmen. Nächte, in denen der Wind durch das Dachgesims und die Ritzen und Löcher, die sie mit Zeitungspapier gestopft hatten, gepfiffen hatte.

Hey, hast du schon mal gesehen, wo sie wohnt? Die spottenden, verächtlichen Stimmen ihrer Mitschülerinnen hallten in Maras Kopf wider. Sie würden sie vermutlich ihr ganzes Leben begleiten, obwohl sie den Mädchen inzwischen vergeben hatte.

Über ihre Schulter hinweg betrachtete sie ihr Haus. Selbst in ihren wildesten Träumen hätte sie sich als kleines Mädchen nicht vorstellen können, einmal in einem Viertel wie diesem und in einem so großen Haus zu leben. Doch der Preis dafür war hoch gewesen, denn sie hatte es mit Tom teilen müssen. Der Kauf einer neuen Matratze war vielleicht der erste Schritt zu einer umfassenden Säuberungsaktion gewesen. Vielleicht brauchte sie tatsächlich einen Neuanfang in einem anderen Haus, dessen Räume nicht mit der Erinnerung an seine Stimme verseucht waren. Vielleicht würde auch den Jungen eine Veränderung guttun – falls sie eine Wohnung hier in der Gegend fand, damit sie nicht auch noch die Schule wechseln mussten.

Vielleicht –

Plötzlich schoss eine Katze über die Straße. Bailey sprang zuerst nach links, dann nach rechts und schließlich hinter Mara, wodurch sich seine Leine um ihre Knöchel wickelte. Sie stolperte, stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden und landete mit einem gewaltigen Plumps auf dem Asphalt. Bailey rannte davon, während die Leine hinter ihm über den Boden schleifte.

Mara blieb reglos liegen, denn sie war zu betäubt, um sich zu rühren. Als sie langsam den Kopf zur Seite drehte, war der Hund längst über alle Berge.

Verflixt noch mal –

Sie versuchte zu pfeifen, doch sie hatte keine Luft dazu, und auch ihr Versuch, sich auf die Seite zu rollen, blieb ohne Erfolg, weshalb sie schließlich in ihre Manteltasche griff. Doch diese war leer. Sie hatte ihr Handy in der Küche neben ihren Schlüsseln liegen lassen.

So ein –

Sie konnte die Schlagzeile schon vor sich sehen: Fette Frau rutscht auf dem Eis aus, kommt nicht wieder auf die Beine und wird von einem Auto überfahren.

Bitte, Gott. Hilf mir!

Wenn sie nur an ihre Taschenlampe kommen würde, dann könnte sie sie schwenken und vielleicht jemanden auf sich aufmerksam machen.

Gott, bitte!

Sie hob den Kopf und versuchte, sich auf ihrem rechten Ellbogen abzustützen – was ihr schließlich auch gelang. Mit einem weiteren Ruck schaffte sie es, sich auf der Straße in die Seitenlage zu hieven. Sie bewegte vorsichtig ihre Handgelenke, aber glücklicherweise schien nichts gebrochen zu sein. Auf den Ellbogen gestützt, gelang es ihr dann sogar, in den Vierfüßlerstand zu kommen. Der Asphalt war bitterkalt unter ihren Handflächen und der Schmerz pochte in ihrem Rücken und ihrem Hinterteil. Morgen früh würde ihr ganzer Körper bestimmt mit grünen und blauen Flecken übersät sein.

Konnte sie vielleicht sogar aufstehen?

Nein.

Gott, hilf mir!

Vielleicht konnte sie an den drei Häusern vorbei bis zu ihrer Einfahrt kriechen, die Treppenstufen zur vorderen Veranda hochkrabbeln und dann Jeremy anrufen, damit er Bailey suchte. Brian würde sie umbringen, falls seinem Hund etwas zustieße.

Sie fischte die Taschenlampe aus dem Gully, steckte sie in ihre Tasche und kroch langsam nach Hause.

* * *

„Tut mir leid, Mama“, sagte Jeremy und klopfte den Schnee von seinen Stiefeln. „Ich habe ihn nicht gefunden.“

Mara lag auf der Couch und drückte mehrere, in Handtücher eingewickelte Tüten mit gefrorenem Gemüse an ihren Körper.

Jeremy setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. „Aber er trägt doch sein Halsband mit der Adresse, nicht? Irgendjemand wird ihn finden und hier anrufen.“

Sie schloss die Augen und massierte ihren Nasenrücken. „Ich habe noch keine neue Hundemarke besorgt, an seinem Halsband hängt immer noch die alte mit dem Namen und der Adresse seines früheren Besitzers.“

„Dann wird sich eben jemand bei dieser Nummer melden, keine Sorge!“

„Aber ich kenne den ehemaligen Besitzer doch gar nicht und habe mir weder seinen Namen noch seine Telefonnummer notiert. Ich weiß auch gar nicht, ob er unsere Adresse und Telefonnummer hat – vermutlich eher nicht. Und wer weiß, ob Tom die Kontaktdaten aufbewahrt hat. Ich bin vollkommen aufgeschmissen!“ Und darüber hinaus hockte irgendwo dort draußen in der Kälte gerade ein kleiner Hund, der ihr anvertraut worden war, ein Hund, der in der Dunkelheit leicht von einem Auto angefahren und am Straßenrand liegen gelassen werden konnte.

„Hey“, sagte Jeremy, kniete sich neben sie und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. „Alles wird gut, Mama. Ich fahre noch mal los, okay?“

Sie nickte und die Tränen liefen über ihre Wangen.

Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss und sein alter Pick-up ratterte aus ihrer Einfahrt. Ihr Telefonanruf musste ihn geweckt haben, denn als er behauptet hatte, dass es ihm überhaupt nichts ausmache und er gern vorbeikommen würde, hatte sie die künstliche Fröhlichkeit in seiner Stimme bemerkt. Sie hoffte nur, dass sie nicht auch noch Abby oder sogar Madeleine geweckt hatte.

Sie nahm eine Tüte gefrorener Erbsen und legte sie auf einen anderen Teil ihres Körpers. War Eis überhaupt die richtige Behandlungsmethode? Sie konnte sich nie merken, wann man Wärme anwenden sollte und wann Kälte. Aber im Augenblick tat ihr die Kälte jedenfalls gut.

Im Haus war es unheimlich still. Es war zwar erst eine Woche vergangen, aber sie hatte sich schon an die Geräusche des Hundes gewöhnt – sein Wasserschlürfen, sein Schmatzen beim Kauen des Trockenfutters und sein Jaulen, wenn er nach draußen wollte. Was würde sie nur tun, wenn der Hund bei Brians Rückkehr am Sonntag immer noch nicht zu Hause war? Brian würde einen Tobsuchtsanfall bekommen. Sie musste unbedingt dafür sorgen, dass Jeremy hier war, falls Brian ihr gegenüber gewalttätig werden sollte.

Nein, ich habe meine Seele beruhigt und gestillt –

Vielleicht könnte sie sich bis zu Jeremys Rückkehr damit ablenken, dass sie für andere betete. Für Charissa und ihren Schwiegermutter-Stress, für Meg und ihre Gesundheit und für Hannah und ihre Reise nach Oregon.

Mara war noch nicht viel in der Welt herumgekommen. Als die Jungen noch klein gewesen waren, waren sie einmal nach Kalifornien geflogen und hatten Disney World besucht. Und einmal hatte Tom, als bester Verkäufer der Firma, eine Kreuzfahrt nach Mexiko geschenkt bekommen. Mara hatte den größten Teil der Reise seekrank in ihrer winzigen Kabine gelegen, aber Tom und die Jungen hatten viel Spaß beim Tauchen, Parasailing und Reiten gehabt. Als er im folgenden Jahr wieder ausgezeichnet worden war, hatte sie die drei allein auf die Reise geschickt und war lieber gleich zu Hause geblieben. Das war einer der schönsten Urlaube gewesen, den sie je erlebt hatte.

Sie versuchte, sich ein Stück höher auf der Couch zu schieben, zuckte jedoch direkt vor Schmerz zusammen. Die Uhr auf dem Kamin zeigte an, dass Jeremy nun schon fast eine halbe Stunde fort war. Das Gemüse in den Tüten begann langsam aufzutauen und ihre Kleidung war feucht und kalt. 35 Minuten. Sie war nicht in der Lage, von der Couch aufzustehen, um sich weitere Eispackungen zu holen. 45 Minuten. Vermutlich würde sie Tom anrufen müssen, ihn über das Geschehene informieren und ihn fragen, ob er die Nummer des Vorbesitzers hatte. Aber vielleicht sollte sie doch lieber Kevin eine SMS schicken und ihn fragen, ob er etwas über den Vorbesitzer wusste. Flugblätter zu verteilen wäre auch eine Möglichkeit, allerdings hatte sie kein Foto von Bailey. Vielleicht hatte die Redaktion der Anzeigenseite ja eines in ihrem Archiv.

Nein, ich habe meine Seele beruhigt und gestillt –

Sie holte tief Luft und ein scharfer Schmerz zog durch ihren Rücken. Nun gut, sie würde ihre Seele also ohne einen tiefen Atemzug zur Ruhe bringen müssen.

Sie stellte sich vor, wie sie auf Gottes Schoß saß und von ihm umarmt wurde, ohne dass es ihr Schmerzen bereitete. Und plötzlich vernahm sie ein Flüstern: Sch, ich bin bei dir. Sch, mein geliebtes, auserwähltes und gewolltes Kind.

Sie schloss ihre Augen, kam zur Ruhe und schwebte langsam davon … in die Stille … und in einen tiefen Schlaf.

* * *

Eine Autotür wurde zugeknallt, Stiefel kratzten auf der Fußmatte und schließlich ging die Haustür auf. Ein Hund – ein Hund! – winselte. „O Jeremy! Gott sei Dank! Wo hast du ihn gefunden?“

„Er kauerte bei einem deiner Nachbarn unter dem Gebüsch.“ Sobald Jeremy ihn auf den Boden gesetzt hatte, brachte Bailey sich hinter der Couch in Sicherheit. „Ich bin mit einer Taschenlampe durch die Gärten geschlichen und habe immer wieder seinen Namen gerufen, bis ich die Leine im Schnee entdeckt habe. Zum Glück hing sie immer noch an seinem Halsband.“

„Vielen Dank, Jeremy, ich bin dir so dankbar.“ Sie schaffte es, ein wenig zur Seite zu rutschen. „Ich hole dir etwas Warmes zu trinken, eine Tasse Tee oder eine heiße Schokolade, du musst doch ganz durchgefroren sein.“

Doch er bedeutete ihr, liegen zu bleiben. „Mir geht’s gut. Ich wäre schon früher zurückgekommen, aber ich wurde von einem Streifenwagen aufgehalten. Scheinbar ist einer deiner Nachbarn davon ausgegangen, dass ich nichts Gutes im Sinn habe, und –“

„Was um alles –“

Er knackte mit seinen Fingergelenken, eine Angewohnheit, die er seit seiner Kindheit hatte und die immer ein Zeichen für Stress war. „Nun ja, wenn ich mit einem zerbeulten Pick-up die Straße entlangfahre und in dunkler Kleidung mit einer Taschenlampe durch die Gärten schleiche …“ Jeremy sprach es nicht aus, aber Mara wusste, dass sie beide das Gleiche dachten: Niemand in dieser Straße hatte seine Hautfarbe.

Ihr Pulsschlag beschleunigte sich und ihre Nasenflügel blähten sich auf. Das war bestimmt Alexis Harding gewesen. Alexis lauerte nämlich immer hinter ihren Jalousien.

Wenn sie sich nur bewegen könnte, würde sie augenblicklich die Straße überqueren, an ihre Tür klopfen und diese Frau nachdrücklich dazu auffordern, sich bei ihrem Sohn zu entschuldigen. „Jeremy, ich –“

„Schon gut, Mama. Mach dir keine Sorgen.“ Er lächelte gezwungen und seine Stimme war angespannt. „Der Polizist ist sehr nett gewesen und hat sich sogar entschuldigt, nachdem er mir jede Menge Fragen gestellt hat. Zum Glück hatte ich Bailey gerade gefunden, als er anhielt, es war also ein guter Zeitpunkt.“ Er deutete zur Küche hinüber. „Was kann ich dir noch bringen? Eis? Oder eine Schmerztablette?“

Mara rappelte sich langsam hoch, doch ihr Körper protestierte heftig. „Ich mach das schon selbst, mein Lieber. Etwas Bewegung wird mir sicher guttun.“

Er griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen. „Bist du sicher, dass du dir nichts gebrochen hast?“

„Ich denke, ich habe noch mal Glück gehabt. Es hätte auch schlimmer kommen können.“ Sie schleppte sich langsam zur Küche und Jeremy hielt vorsichtig und mit zitternder Hand ihren Ellbogen. „Jeremy, es tut mir so leid. Diese Nachbarn, sie sind –“

„Ja, ich weiß … so sind sie eben.“

Sie korrigierte ihn nicht, obwohl sie eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen. Doch nachdem ihr Sohn nach Hause gefahren war, sank Mara erschöpft auf die Couch und ließ ihrem Zorn freien Lauf. In ihrer Seele wütete ein regelrechter Sturm, der sich erst legte, als ein kleiner Hund aus seinem Versteck gekrochen kam und ihre Hand abschleckte.

Hannah

Nathan wuchtete Hannahs Koffer in den Kofferraum. Meg stand auf der obersten Treppenstufe, um ihr zum Abschied zu winken. „Geh lieber wieder ins Haus“, rief Hannah ihr von der Einfahrt aus zu. „Du sollst dich nicht wieder erkälten.“

„Es ist alles gut“, erwiderte Meg. „Schick mir eine SMS, wenn du angekommen bist.“ Um mit Becca kommunizieren zu können, hatte Meg nämlich in der vergangenen Woche endlich gelernt, wie man eine SMS verschickte.

„Das mache ich“, versprach Hannah. „Pass gut auf dich auf, okay? Wir sehen uns dann am Donnerstag.“

Meg warf ihr eine Kusshand zu und ging, begleitet vom Glockengeläut ihrer Klingel, wieder ins Haus zurück.

Hannah ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. „Ich habe ihr gesagt, dass ich sie zum Arzt schleppe, falls ihr Husten nicht weg ist, wenn ich wiederkomme.“

Nathan legte seine Hand in ihren Nacken. „Im Augenblick schwirren jede Menge Bazillen durch die Luft“, sagte er. „Du nimmst doch dein Vitamin C, oder?“

Sie lachte. „Jawohl, Dr. Allen.“

Sie musste an Charissa denken. Trotz Hannahs Versicherung, dass Meg fieberfrei war und sie das ganze Haus mit Desinfektionsmittel geschrubbt hatte, war Charissa spürbar beunruhigt gewesen, wann immer Meg einen Hustenanfall bekam, und hatte immer wieder die Hände in ihre Handtasche gesteckt, in der sie vermutlich eine Flasche Desinfektionsmittel verstaut hatte.

„Wie ist euer Treffen gestern Abend gelaufen?“, fragte Nathan und fuhr rückwärts aus der Einfahrt.

„Ganz gut.“

„Nur ganz gut?“

Hannah zuckte mit den Schultern. „Ich wusste nicht so richtig, welche Rolle ich einnehmen sollte, verstehst du? Die der Leiterin, Moderatorin oder einer Teilnehmerin? Ich will nicht, dass die anderen sich darauf verlassen, dass ich unsere Gesprächsrunde leite. Darum haben wir uns gestern Abend darauf verständigt, uns mit der Leitung abzuwechseln. Mara hat angeboten, die Übung für unser nächstes Treffen auszusuchen.“

„Das klingt doch gut.“

Auf der Fahrt zum Flughafen beschrieb Hannah Nathan die Gebetsübung zu Psalm 131. „Ich habe früher häufig auf dem Schoß meiner Mutter gesessen“, berichtete sie. „Ich habe viele schöne Kindheitserinnerungen an zärtliche Umarmungen von meinen Eltern. Dieses Bild von Gott bereitet mir also keine Probleme, ich kann mir gut vorstellen, mich in Gottes Arme zu legen. Schwierig für mich ist nur, in seiner Umarmung tatsächlich auch zur Ruhe zu finden.“

Nathan nickte. „Das ist ein wunderschönes Bild für ein Gebet. Du hast eine gute Wahl getroffen.“

Sie hoffte es zumindest. Während Meg immer wieder betont hatte, dass es eine wichtige Übung für sie sei, obwohl sie starke Emotionen in ihr hervorrief, hatten Mara und Charissa kaum etwas zum Gespräch beigesteuert. Noch ein guter Grund, sich bei der Auswahl der Texte abzuwechseln, denn auf diese Weise kam Hannah nicht in Versuchung, darüber nachzugrübeln, welche Übungen für die anderen wohl gut wären.

„Mir ist gestern Abend klar geworden“, fuhr sie fort, „wie vieles sich nach der Geburt meines Bruders im Leben meiner Familie verändert hat. Nachdem er auf der Welt war, habe ich immer mehr Verantwortung zugeschoben bekommen. Ich hatte dafür zu sorgen, dass zu Hause alles reibungslos lief, wenn mein Vater unterwegs war.“

„Wie alt warst du damals?“

„Ungefähr zehn.“

„In dem Alter darf man doch eigentlich noch nicht einmal babysitten.“

„Das stimmt. Aber wenn mein Vater zu einer seiner Reisen aufbrach, sagte er immer zu mir, er verlasse sich darauf, dass ich während seiner Abwesenheit auf Mama und Joey aufpasse. Es kam mir vor, als wäre ich die Erwachsene und meine Mutter das Kind, das gehalten, umsorgt und beschützt werden musste. Als säße ich als kleines Mädchen in einem Schaukelstuhl mit einem Erwachsenen auf dem Schoß, der mich förmlich zerquetscht.“

Er ließ langsam die Luft entweichen. „Das ist eine ernste Sache, Shep.“

„Ich weiß.“

Aber wie sollte sie das ihrem Vater klarmachen, ohne Schuldgefühle in ihm zu wecken? Hey, Papa, als du mich damals darum gebeten hast, auf Mama und Joey aufzupassen und dich als Familienoberhaupt zu vertreten, wenn du unterwegs warst, hat mich das sehr belastet. Die Last dieser Verantwortung hat Auswirkungen auf mich gehabt, die ich heute erst ansatzweise erkennen kann.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gestand Hannah. „Und lohnt es sich überhaupt noch, darüber zu reden, jetzt, wo ich erkannt habe, dass Gott in mir wirkt, um mich zu heilen und frei zu machen? Muss ich wirklich mit meinem Vater über diese Sache reden? Oder soll ich ihn lieber fragen, wie es für ihn war, als Mama damals ihren Nervenzusammenbruch hatte?“ Das wäre doch eine Lösung, oder? Hey, Papa, wir haben zwar nie darüber geredet, und ich weiß ja, dass du sowieso nicht gern über deine Gefühle sprichst, aber erzähl mir doch mal, wie es damals für dich gewesen ist, als Mama eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat. Wie war es für dich, mit einer psychisch kranken Frau verheiratet zu sein?

Nathan schwieg einen Augenblick, bevor er sie schließlich fragte: „Was wünschst du dir von deinem Vater?“

Das war eine gute Frage. Was wünschte sie sich von ihm? Eine Entschuldigung? Verständnis? Offenheit und Verletzlichkeit? All das hatte es bis jetzt nicht zwischen ihrem Vater und ihr gegeben, und es war höchst unwahrscheinlich, dass es noch entstehen würde.

Und was wünschte sie sich von ihrer Mutter? Eine Entschuldigung dafür, dass sie in Hannahs Teenagerzeit emotional nicht für sie erreichbar gewesen war? Ein Gespräch darüber, welche Auswirkung ihre Depression auf die Familie gehabt hatte? Ein „Es tut mir leid, dass ich nie mit dir darüber gesprochen habe und dass ich dir nie gesagt habe, dass es nicht deine Schuld war“? War es das, was sich Hannah von ihr wünschte?

„Ich weiß nicht, was ich mir wünsche, Nate.“ Sie faltete ihre Hände und schaute zum Fenster hinaus. Die Sonne stand wie eine große weiße Kugel am blauen Himmel und warf lange Schatten auf den Schnee. „Als ich zuerst Meg und schließlich auch dir von unserem Familiengeheimnis erzählt habe, habe ich ein unerwartetes Gefühl der Befreiung und Erleichterung empfunden, so, als würde eine Last, die ich jahrelang mit mir herumgeschleppt habe, von mir abfallen. Wir beide haben darüber gesprochen, dass mein übergroßes Verantwortungsbewusstsein in dieser Last begründet liegt, die so sehr mit mir verschmolzen ist, dass ich nicht einmal gemerkt habe, dass ich sie mit mir herumtrage. Ich will meinen Eltern keine Schuldgefühle aufbürden. Ich habe meine Last auf Gott geworfen, und er hat sie mir abgenommen, denn er ist derjenige, der damit umgehen kann. Ich will sie ihm nicht wieder abnehmen und sagen: ‚Oh, warte mal – vielleicht sollten meine Eltern sie eine Weile tragen, damit sie wissen, wie es damals für mich gewesen ist.‘“

Hannah wusste, dass ihre Eltern unter einer solchen Last zusammenbrechen würden. Vielleicht reichte es ja, dass sie mit ihren Freundinnen und mit Gott darüber sprach und dass es Menschen gab, die ihr in dem Lernprozess, die Vergangenheit loszulassen und Gottes Geschenk der Freiheit zu empfangen, zur Seite standen? Doch sollte sie Gott nicht vielleicht auch die Chance geben, den Schmerz zu lindern und die Tradition der Scham und des Versteckens in ihrer Familie zu durchbrechen, indem sie offen über ihre Vergangenheit sprachen? Was war damit?

Nathan legte seine Hand an ihre Wange, wobei seine Handfläche für einen kurzen Moment den goldenen Knopf in ihrem Ohr berührte. „Lass es langsam angehen, Shep. Du hattest Zeit, das alles zu verarbeiten und es im Gebet vor Gott zu bringen, aber deine Eltern sind sich dessen überhaupt nicht bewusst. Halte Ausschau nach einer guten Gelegenheit und überlass Gott den Rest.“

Richtig, dachte sie, als sie nicht mehr weit vom Flughafenterminal entfernt waren. Aber das war leichter gesagt als getan.

* * *

„Hannah Shepley!“

Verwirrt drehte sich Hannah um. Sie und Nathan tranken vor ihrem Abflug im Flughafenterminal gerade noch einen Kaffee, als sie plötzlich eine gut gekleidete Frau Mitte 30 ansprach. Sie kannte sie, aber im Augenblick konnte sie dem Gesicht keinen Namen zuordnen. Schnell ließ Hannah Nathans Hand los.

„Sie sehen toll aus, Hannah! Wie schön, Sie zu sehen!“

„Ich freue mich auch, Sie zu sehen!“ Wer immer Sie auch sein mögen. Komm schon, Gehirn. Denk nach. Der Blick der Frau fiel auf Nathans linke Hand, die auf dem Tisch ruhte, und sie schien darauf zu warten, dass Hannah sie einander vorstellte oder ihr zumindest erklärte, wer der Mann an ihrer Seite war. Eine äußerst peinliche Situation!

„Was machen Sie denn in Kingsbury?“, fragte die Frau lächelnd. „Ich dachte, Sie würden gerade im Ferienhaus der Johnsons wohnen.“

Okay, es war also jemand aus der Westminster Church, was den Personenkreis auf etwa 800 Leute eingrenzte. „Das tue ich auch. Aber ich will für ein paar Tage zu meinen Eltern nach Oregon fliegen.“

„Wie schön! Dann genießen Sie also Ihre Sabbatzeit?“ Noch ein fragender Blick in Richtung Nathan. Das Ganze wurde aus unterschiedlichen Gründen zunehmend peinlich für Hannah.

„Ich genieße die Zeit sehr“, erwiderte Hannah. „Es ist ein großartiges Geschenk.“

„Wie schön! Pastor Steve und die Gemeindeältesten hatten auch sehr darauf gehofft.“

Ach ja. Der Gemeindeälteste Bill De Graaf. Und das hier war Sally De Graaf-Haan, Bills Tochter. Hannah kannte Sally seit 15 Jahren, hatte sie getraut und ihre Kinder getauft. Also ehrlich, scheinbar hatte sich ihre Totaloperation negativ auf ihr Erinnerungsvermögen ausgewirkt. Selbst bei einer so unerwarteten Begegnung wie dieser sollte ihr Gehirn doch eigentlich besser funktionieren.

Nathan erhob sich und streckte seine Hand aus. „Nathan Allen“, stellte er sich in einem Versuch vor, Hannah vor weiteren Peinlichkeiten zu bewahren, wie dieser sehr wohl bewusst war.

„Entschuldigung! Nathan, das ist Sally De Graaf-Haan aus der Westminster Church.“

„Schön, Sie kennenzulernen“, begrüßte Sally ihn, bevor sie eine bedeutungsvolle Pause einlegte. Hannah merkte, dass sie auf weitere Informationen über diesen Mann wartete, Informationen, die sich zweifellos in der Gemeinde verbreiten würden, sobald Sally nach Chicago zurückkehrte.

Im Stillen stieß Hannah mehrmals hintereinander ein Schimpfwort aus, das sie normalerweise nicht in den Mund nahm.

Sie hatte nicht einmal Nancy von Nathan erzählt. Ihre Beziehung zu einem Mann aus Kingsbury sollte in der Westminster Church nicht bekannt werden, da das unweigerlich zu Spekulationen über ihr Privatleben führen würde, für die sie einfach noch nicht bereit war.

Was sollte sie jetzt also tun? Einzelheiten liefern oder es Sally überlassen, eine Geschichte über den Mann zu erfinden, der am Flughafen Pastorin Hannahs Hand gehalten hatte?

Und warum war ihr diese Begegnung überhaupt so peinlich? Wie armselig sie sich doch verhielt!

Hannah tätschelte Nathans Arm. „Nathan ist ein alter Freund aus Studientagen“, erklärte sie betont beiläufig. Vielleicht ging Sally ja davon aus, sie gerade beim gemeinsamen Gebet gestört zu haben. „Es war schön, Sie zu sehen, Sally“, fuhr Hannah fort, woraufhin Nathan sie eindringlich anschaute. „Bitte grüßen Sie Ihre Familie von mir. Ich bin so froh, dass Steve und die Gemeindeältesten mir diese Sabbatzeit ermöglicht haben. Im Juni werde ich erfrischt und voller Tatendrang in die Gemeinde zurückkehren!“

Mit einem „Schön, Sie gesehen zu haben“ verabschiedete sich Sally und ging weiter zu ihrem Flugsteig. Gut, dann würde sie Hannah wenigstens nicht noch mal über den Weg laufen, während sie auf ihren Flug wartete.

Nathan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und grinste sie an.

„Was ist?“ Wie in Zeitlupe trank sie einen Schluck Kaffee.

„Du hättest dein Gesicht sehen müssen, Shep! Unbezahlbar! Ich war kurz davor, dich vor ihren Augen zu küssen.“

„Ja, nun –“

„Wenn sie ein wenig länger geblieben wäre, hätte ich ihr am Ende noch von unserer gemeinsamen Reise ins Heilige Land erzählt.“ Er beugte sich vor und fügte leise hinzu: „Dann hätten sie wenigstens etwas gehabt, worüber sie reden können …“

Sie lachte und stieß ihn gegen die Schulter. „Hör auf, du weißt doch, wie es in Gemeinden läuft.“

„Das Geheimnis ist jetzt ohnehin gelüftet“, meinte er mit funkelnden Augen. „Du bist aufgeflogen, Shep. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“ Er ergriff ihre Hände und schaute sie ernst an.

Kein Zurück mehr.

„Hör zu“, sagte er, „bisher haben wir das Thema ‚gemeinsame Zukunft‘ ausgeklammert, aber ich habe viel über uns nachgedacht.“ Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. „Ich liebe dich, Hannah.“

Sie starrte ihn an, und ihr Atem stockte aufgrund des bewussten Schrittes, nein, es war eher ein Sprung nach vorn, den er gerade gemacht hatte.

„Ich liebe dich sogar noch mehr als damals“, fuhr er fort. „Das sollst du wissen. Ich will dich keinesfalls unter Druck setzen, sondern dir offen und ehrlich sagen, was ich für dich empfinde. Ich liebe dich und nehme die Sache mit dir, nein, mit uns wirklich sehr ernst. Was auch immer das bedeutet.“ Seine Hände fühlten sich kalt an. „Würdest du in den kommenden Tagen bitte auch einmal darüber nachdenken und beten, was das bedeuten könnte?“

Inmitten der unzähligen Reisenden, die sich um sie drängten, sah Hannah nur Nathans Gesicht, und in seinem Blick lagen dieselben intensiven Gefühle, die sie damals in die Flucht getrieben hatten. Sie blendete alles andere aus und hörte nur seine Stimme und die Frage – zwar nicht die Frage, aber eine Vorstufe davon –, die sie als ein vorsichtiges Austesten verstand, ob sie in ihren Wünschen übereinstimmten, ob sie dieselbe Sehnsucht und dieselbe Liebe füreinander empfanden.

„Ja“, antwortete sie. „Und –“

Kein Zurück mehr.

„Ich liebe dich auch.“

Der Kuss, den er sich in Sallys Gegenwart verkniffen hatte, ließ sich nun nicht mehr länger unterdrücken und war so zärtlich, dass er ihr den Atem raubte. Wenn Sally oder irgendjemand anderes aus der Westminster Church Pastorin Hannah und ihren „alten Freund“ in diesem Augenblick gesehen hätten, hätten sie sehr viel Grund zum Tratschen gehabt.