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Band 189

 

Die Leiden des Androiden

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: Der Nexus

1. Synchrofark: Struktur und ihr Zerbrechen

2. MAGELLAN / Drohne 845: Das Aufplatzen von Raum

3. Synchrofark: Kosmischer Wind

4. MAGELLAN: Anamnese

5. Synchrofark: Das Flimmern darunter

6. MAGELLAN: Ableitungen

7. Synchrofark: In Bewegung

8. MAGELLAN: Gespräche mit einem Unsichtbaren

9. Synchrofark: Die Bestie vor Ort

10. MAGELLAN: Eine Unmöglichkeit

11. Synchrofark: Tödlicher Bote

12. MAGELLAN-SD 34: Gekonntes Anschleichen

13. Synchrofark: Geschenke erhalten die Freundschaft

14. Synchrofark: Der Emissär

15. Synchrofark: Dazwischen

16. Synchrofark: Das Auslösen von Wut

17. Synchrofark: Brennpunkte und ihre Wirkung

18. Synchrofark: Bombenstimmung

19. MAGELLAN-SD 34: Kleine Geschenke

20. Synchrofark: Exit

21. MAGELLAN-SD 34: Abflug

22. Synchrofark: Der Fremde

23. MAGELLAN: Ähnlichkeiten und Unterschiede

24. MAGELLAN: Fernwarnung

Epilog: ... terminus!

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – ein Abenteuer, das den Menschen kosmische Wunder offenbart, sie aber auch in höchste Gefahr bringt. Zeitweilig muss sogar die gesamte Erde evakuiert werden.

2058 ist die Menschheit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt und findet mehr zu einer Gemeinschaft zusammen. Die Terranische Union, Motor dieser Entwicklung, errichtet bereits Kolonien auf dem Mars und dem Mond.

Auf Luna tauchen mysteriöse Fremdwesen auf. Sie können sich unsichtbar machen, werden deshalb Laurins genannt und sind extrem gefährlich. Kurz darauf bläht sich die Sonne auf, ihre Glut bedroht die inneren Planeten.

Perry Rhodan verfolgt die Laurins bis zum Rand der Milchstraße. Dort stößt er auf eine feindliche Flotte, die von einem erbitterten Feind der Menschheit kommandiert wird. Rhodan will die Pläne des Gegners vereiteln – und beendet DIE LEIDEN DES ANDROIDEN ...

Prolog

Der Nexus

 

Der externe Strukturierungswächter zog Bilanz.

Der Bau würde die für einen Probelauf notwendigen 95 Prozent konstruktiver Vollständigkeit bald erreicht haben. Das Synchrofark näherte sich der Vollendung.

Der Wächter beobachtete die hyperphysikalische Umgebung, besonders im unmittelbaren Umfeld des Nexus. Die interdimensionale Verschränkung war etabliert und wartete auf die Aktivierung. Der Durchgang war zurzeit passiv, aber ein Transfer war grundsätzlich bereits möglich. Noch nicht in dem Umfang, den die Bestien unter der Leitung des Statthalters Masmer Tronkh anstrebten, aber beide Dimensionen waren verzahnt.

Der Wächter fühlte wenig, aber diesen Erfolg genoss er. Der Bau eines Synchrofarks war eine absolute Ausnahme – die Technik zum Teil uralt, teilweise brandneu. Wie lange die Eminenz ANDROS daran gearbeitet hatte, wusste der Strukturierungswächter nicht. Der Zeitraum war derart gewaltig, dass es seinen Horizont überstieg. Er kontrollierte die dezentralisierten Subeinheiten, deren Gesamtheit ihn als externen Strukturierungswächter ausmachten. Er war ein Hochleistungssystem.

Ein Protokoll des internen Strukturierungswächters erreichte ihn. Die konstruktive Abdeckung war auf 86 Prozent gestiegen. Eine erfreuliche Meldung.

Der Wächter registrierte Unruhe an der interdimensionalen Membran. Diese war im Bereich des Nexus grundsätzlich sehr viel durchlässiger als anderswo. Für den Strukturierungswächter stellte sie sich wie die sanft gekräuselte Oberfläche einer dichten Flüssigkeit dar, darauf schwamm eine hauchdünne Trennschicht, die jederzeit reißen konnte. Dem Wächter gefiel diese Vorstellung, obwohl das Bild der Realität kaum gerecht wurde.

Die Quantenfluktuation nahm zu – eine Aktivität, die durchaus von der Passivverzahnung ausgelöst werden konnte. Es existierten so gut wie keine Referenzen oder Erfahrungswerte für den Durchbruch. Dies war das erste Synchrofark seiner Art. Die damit verbundene Unsicherheit ließ sich nicht vermeiden. Sie störte den Wächter trotzdem. Er war für die Sicherheit der Struktur verantwortlich – Unsicherheit konnte er aufgrund seiner Konstruktion nicht leiden.

Die Kräuselung verstärkte sich. Der Strukturierungswächter war alarmiert. Er kontrollierte den Zugriff der Maschinerie auf die interdimensionale Membran ... und fand nichts! Nichts, bis auf die Verzahnung an sich.

Egal was sich im Nexus abspielte: Es hatte seine Ursachen nicht auf dieser Seite. Das war beunruhigend und irritierend zugleich. Der Zeitplan sah für diese Phase keinen aktiven Einsatz vor.

Konstruktive Abdeckung 87 Prozent.

Üblicherweise wäre das ein Grund für eine positive Empfindung gewesen. Derzeit indes hätte sie den Wächter sogar verstört. Die zwei Aktivitäten hatten nichts miteinander zu tun – obwohl genau das der Fall sein sollte. Der Nexus reagierte selbsttätig. Der Wächter war auf sonderbar synthetische Weise ratlos.

In diesem Moment brach der Nexus an einer winzigen Stelle auf. Es geschah derart schnell, dass der externe Strukturierungswächter nicht reagieren konnte. Etwas schoss aus der interdimensionalen Bruchstelle hervor und raste auf das Synchrofark zu.

Es war klein. Sehr klein. Aber es hätte nicht geschehen dürfen!

1.

Synchrofark: Struktur und ihr Zerbrechen

 

Seka Ow betrachtete seine Umgebung mit großer Zufriedenheit. Die Bauphase trat in ihr letztes Stadium. Die segmentierten Anlagen der Sektion 989, die er betreute, folgten dem Leitstrahlnetz und positionierten sich selbstständig. Damit würde Sektion 989 in etwa fünfzehn mittleren Zeiteinheiten ihre Aufgaben komplett übernehmen können.

Ow kontrollierte die Statusanzeigen eher lässig. Hinweise darauf, dass noch etwas schiefgehen würde, fand er nicht. Die Prozedur war ausgefeilt und derart häufig simuliert worden, dass sie einer Standardroutine glich. Er war ein Androide und seine Wahrnehmung war umfassend.

Amüsiert sah er, dass der Baufortschritt des Außenrings dem Zeitplan etwas hinterherhinkte. Dimensionsverwerfungen hatten die Kopplungssegmente zwischen drei Sektionen beschädigt.

Seka Ow empfand keinen Triumph. Dabei war sein Gefühlsleben recht ausgeprägt. Die Goldenen hatten ihn vor langer Zeit geschaffen. Als Test, als Probelauf ... Es spielte keine Rolle. Er hatte bei der Entwicklung anderer Androiden geholfen, die nach ihm konzipiert worden waren. Bessere Androiden ohne Frage, aber sie waren universeller ausgerichtet als er. Er hingegen war ein hochspezielles Werkzeug. Daraus zog er Befriedigung und Selbstbewusstsein.

Die Goldenen waren Geschichte, und Ow trauerte ihnen nicht nach. Ihn jedoch hatten die Kalfakter in ihre Dienste übernommen. Er war ein gutes Werkzeug. Aus einer sonderbaren Anwandlung von Nostalgie heraus verwendete Ow die Bezeichnung Kalfakter für die am Synchrofark arbeitenden Bestien weiter, mit der sein vormaliger Besitzer diese Wesen gern abfällig tituliert hatte. Es fühlte sich richtig an.

»Kopplung steht«, meldete die Stimme des positronischen internen Strukturierungswächters. »Die Prozesse zur Angleichung und Kalibrierung starten in drei Einheiten. Bitte geben Sie die Abläufe gemäß Ihrer Autoritätsstufe frei. Vollzug im Zeitfenster zwölf.«

Ow aktivierte das holografische Sensorfeld seines linken Arms und gab seinen Kode ein. Er war Ingenieur und Techniker – für diesen Teil der Prozedur war das eine der höchsten Autoritätsstufen überhaupt.

Wir werden den alten Nexus endgültig reaktivieren, sagte er zu sich selbst. Der erste Teil der Herausforderung ...

Ein dimensionaler Nexus ins Creaversum war immer heikel – und eine Gefahr. Dieser spezielle Transfernexus allerdings war in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes. Verursacht durch die Kauhriir-Katastrophe, waren die ersten Rijaal genau an diesem Ort ins große Universum gelangt. Es war ein Unfall gewesen, ein gewaltiger Unfall. Ow versuchte, sich die Verwirrung, die Angst und die Unsicherheit vorzustellen, die die Herren der Allianz damals empfunden hatten. Das war lange, sehr lange her; lange bevor man ihn erschaffen hatte.

»Dennoch bin ich hier«, murmelte der Androide. »Ich bin hier ... und sie sind es nicht mehr. So vieles hat sich verändert. In so kurzer Zeit.«

»Kalibrierung abgeschlossen«, informierte der Strukturierungswächter. »Alle für diese Phase notwendigen Parameter sind erfüllt. Die letzten Teile der Anlage verankern sich an den dafür vorgesehenen Stellen im Strukturverband des Innenrings. Die Testphase beginnt sofort im Anschluss.«

Ow bestätigte. Ein Flackern am Kinn blendete ihn kurz. Er war den Goldenen nachempfunden; auch das hatte sich bei späteren Exemplaren geändert.

Eine Stelle am unteren Kiefer zeigte Hautschäden. Die Membran der isolierenden Glashaut war porös. War Seka Ow angespannt, vergrößerte sich die Permeabilität, und einzelne Cäsiumatome diffundierten nach draußen. Wie alle Alkalimetalle reagierte der körpereigene Kaliumersatz mit Sauerstoff und Wasser sehr heftig. Es kam zu einer Art Verpuffung, die nicht schädlich, aber spektakulär war. Ow hatte in seinem langen Leben genügend dieser Ausbrüche gesehen. Es sah aus, als säße für ein, zwei Momente ein seitlicher Kinnbart aus Feuer in seinem Gesicht.

Es ist unwichtig, sagte er zu sich selbst, dann flackerte die nächste Entladung auf.

»Es muss mich stärker beschäftigen, als ich dachte«, murmelte er. Eine gewisse Distanz zu sich selbst war ihm wichtig. Das erleichterte solche Analysen ungemein. Immerhin war der Bau des Synchrofarks ein Meilenstein. Dennoch war Ow ein empfindendes Wesen. Warum er so und nicht anders konzipiert worden war, war ihm ein Rätsel. Die Nachteile schienen zu überwiegen. Zumindest war es nicht hilfreich, was die Konzentration anging.

Der Alarm traf ihn unvorbereitet. Die Infraschallsignale konnte er nicht ignorieren. Seka Ow spürte sie in seinem reduzierten Verdauungstrakt. Wie andere Lebewesen dies wohl empfunden hätten? Schließlich besaßen zumindest viele der humanoiden Formen im Bereich das Bauchs etwas, was man mit etwas Großzügigkeit als zweites Gehirn bezeichnen konnte. Welche Auswirkungen die starken Infraschallsignale darauf hatten, stellte sich der Androide nur ungern vor.

Den Kalfaktern um Masmer Tronkh waren solche Empfindungen naturgemäß fremd. Ihr extrem variabler Organismus würde die Signale wahrnehmen, mehr aber wohl kaum.

»Was ist?«, fragte Ow unruhig. Der Alarm bezog sich nicht auf die ablaufende Integrationsprozedur. Defekte konnte er nicht erkennen.

Die Intensität nahm zu. Er spürte einen Anklang von Übelkeit.

»Warnung. Quantenwelle!«, plärrte eine verzerrte Stimme. »Nexusaktivität!«

Das ist unmöglich, widersprach Ow in Gedanken. Das Synchrofark stabilisiert den Übergang bisher lediglich, es öffnet ihn nicht. Es kann nichts durchkommen ...

»Aufschlag im Gange ... keine Vorwarnzeit.«

Seka Ows Reaktionsgeschwindigkeit war enorm, dennoch schaffte er es kaum, sich zu sichern. Das Sperr- und Haltefeld baute sich auf, als die Welle das Synchrofark mit großer Gewalt traf. Ows Wahrnehmung vibrierte förmlich. Die Töne schwollen an und ab, die Bilder wackelten, und sogar sein Tastsinn fabrizierte lediglich ein Gefühl von Taubheit in den Fingerspitzen.

Dann schüttelte der Aufschlag die gewaltige Maschine, die den gesamten Nexus umschloss: zwei senkrecht zueinander stehende Ringe von unterschiedlichem Durchmesser. Reine Maschinensektionen wechselten mit Bereichen, die begehbar oder sogar bewohnbar waren. Nun zitterte alles. Ein Knattern füllte die Luft. Bläulich weiß zuckte ein Überschlagsblitz aus einer Bündelungskopplung und hinterließ auf der anderen Seite eine geschwärzte Stelle. Die Akutwarnung beschränkte sich nicht auf Infraschall: Sie schrie den Alarm grell und mit maximaler Lautstärke durch die Sektion. Die Vibration nahm zu.

Ow übergab sich. Die Narben über seinem Kinn, die sich links beinahe bis zu den Augen zogen, brannten. Er zog den Kopf ein, als ein Schmelzschlüssel durch die Luft flog. Er prallte am Schutzfeld ab, aber die Adrenalinausschüttung war kräftig. Sein Kinn flackerte wie eine Magnesiumfackel. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis die Vibrationen endlich abflauten. Ow holte tief Luft. Er roch Spuren von Ozon, dazu erhitztes Metall.

Dann erlosch das Haltefeld. Offenbar war die Gefahr vorüber. Ow kippte nach vorn und fing sich elegant ab.

Schäden!, dachte er sofort. Das muss Schäden hinterlassen haben. Die Kopplung war gerade erst abgeschlossen – die Verbindungselemente können unmöglich komplett stabilisiert sein.

»Schadensprotokoll!«, forderte er laut. »Defekte nach Funktionspriorität. Sofort!«

Ihm wurde beinahe erneut schlecht, als die Stimme des Strukturierungswächters kratzig und schlecht moduliert eine ganze Liste von Schäden aufzählte.

Die Kalfakter werden uns atomisieren, dachte er panisch. Sein Selbsterhaltungstrieb funktionierte ausgezeichnet, auch wenn er die anderen Funktionsparameter nicht überlagern konnte. Nicht zum ersten Mal fragte sich Ow, warum man ihm ein derart störendes Empfindungspaket nicht erspart hatte. Nicht nur die Kalfakter unter Masmer Tronkh besaßen einen Hang zum Sadismus. Das war keine neue Erkenntnis, aber wie jedes Mal war sie schwer auszuhalten.

»Konstruktive Integrität bleibt gewahrt«, sagte die Stimme des Strukturierungswächters, diesmal sehr viel deutlicher.

Ow atmete auf. Das würde Strafen nicht automatisch verhindern. Aber wenn die Schäden nicht irreparabel waren, würde sogar eine Bestie die Techniker und Ingenieure nicht unnötig drangsalieren. Er aktivierte sofort sämtliche Selbstreparaturprozesse, auf die er Zugriff hatte. Die Rückmeldungen kamen schnell; die meisten davon waren positiv. Die Sektion stabilisierte sich.

Erfreulich schnell, dachte Ow beruhigt. Er aktivierte eine Gesamtschau. Die Leitungsübersicht zeigte lediglich drei beschädigte Stellen. Schäden der Klasse zwei. Das war lästig, aber kein Grund zur Besorgnis. Die Funktion von Sektion 989 war nicht beeinträchtigt. Da die Vollendung des Außenrings ohnehin im Verzug war, würde es keine Auswirkungen haben. Die Stabilisierungsfunktion, die den Nexus sozusagen aufwärmte, war nicht betroffen – ohnehin hatte seine Sektion mit dieser Prozedur nichts zu tun. Dafür war Ow in diesem Moment dankbar. Er hatte bei ein oder zwei Gelegenheiten einen der Kalfakter wüten sehen. Es war keine Erfahrung, die er wiederholen wollte.

»Was genau ist geschehen?«, wollte er wissen. Er sah einen stabförmigen Roboter. Die Welle hatte ihn in eine Kalibrierungskanüle hineinkatapultiert. Sowohl die Maschine als auch die Eicheinheit waren wohl nicht zu retten. Heller Rauch waberte aus der Hülse. Die Notklimatisierung sprang an. Dann platzte der hintere Teil des Roboters auf und brannte in greller Weißglut. Der Gestank war atemberaubend, dessen war sich Ow sicher.

»Ein Transfer hat den teilpassiven Nexus wohl in Unruhe versetzt«, antwortete die Stimme der Positronik. »Das übliche Quantenflimmern hat sich sprunghaft ausgeweitet. Es besteht keine unmittelbare Gefahr. Das Quantenflimmern ist lediglich ein Sekundärsymptom. Der Impaktor hingegen zeigt eine Vollsignatur auf.«

Seka Ow horchte auf. Sein Kinn flackerte unruhig. Der Lichtreiz irritierte ihn zusätzlich. »Impaktor? Was für ein Impaktor?«

»Einschlag in zwei Zeiteinheiten ...«, teilte die Stimme sachlich mit. »In einer Zeiteinheit ... Jetzt!«

Dieser Schlag war mörderisch. Er fegte Ow von den Beinen und schleuderte ihn gegen die Wand. Das Prallfeld entstand mit Verzögerung, eine Folge der Flimmerwelle. Einem empfindlicheren Wesen als Seka Ow wäre das zum Verhängnis geworden und hätte jeden Knochen gebrochen. Der Androide gab lediglich ein dumpfes »Ummpff« von sich. Er fiel zu Boden und benötigte für seine Verhältnisse recht lange, bis er optimal konfiguriert war: fünf Nanozeiteinheiten ... eine Ewigkeit. Die Autoanalyse zeigte nur marginale Beschädigungen.

Ich bin ein robustes Werkzeug!

Etwas hatte die Sektion getroffen, begriff Ow. Das waren keine Vibrationen, die sich von weit her durch die Hülle fortpflanzten. Der Einschlag war nahe, und er war überaus heftig gewesen.

»Atmosphärenverlust!«, schrie das Warnsystem. »Sperrfelder bauen sich verzögert auf. Vorsicht, Quantenflimmern!«

Ow reagierte nicht. Er war auf eine künstliche Atmosphäre nicht angewiesen. Seine eigene Integrität war beinahe wiederhergestellt. Er aktivierte sofort die Notkommunikationskanäle. Egal was die Sektion getroffen hatte, diese Ausweichstruktur würde funktionieren. Die Schadensmeldungen strömten über das Komholo wie eine Springflut.

»Ordnen nach Schadenskatalog vier«, forderte er. »Mit Korrektur- und Reparaturkapazitäten korrelieren. Nach Prioritätsvorgaben abarbeiten. Die Abweichung vom Zeitraster muss minimalisiert werden!«

Die Stimme der Positronik kratzte. Das würde auf absehbare Zeit so bleiben. Wie sie klang, war ein unwichtiger Faktor; reine Bequemlichkeit, nicht mehr. Ow konnte alle notwendigen Fakten ebenso gut mit seinen internen Systemen direkt abrufen.

Ein hochkompatibles Werkzeug, dachte er ohne Ironie oder Bitterkeit. Es war die Wahrheit, und genau die forderte ihn nun heraus. Er koordinierte die ersten Selbstreparaturroutinen. Sie würden zunächst die eigenen Fähigkeiten instand setzen und optimieren. Im zweiten Schritt würden sie die grundsätzlich notwendigen Leistungsparameter von Sektion 989 wiederherstellen. Feinheiten, Kalibrierungen oder Redundanzen mussten warten. Solange die Hauptfunktionen zur Verfügung standen, würde es keine Rückfragen geben. Dieser Einschlag war überall bemerkt worden – die Analysen liefen bereits, und wahrscheinlich wusste die Zentralpositronik besser als er selbst, was sich gerade eben ereignet hatte.

Erleichtert registrierte der Androide, dass sich die Schäden auf einen recht kleinen Bereich beschränkten. Die Ausfälle darüber hinaus waren erträglich.

Ein leises Zischen war zu hören. Die Atmosphäre wurde wieder aufgebaut. Nebel bildete sich. Der Druck war bereits so groß, dass er Schallwellen trug. Seka Ow benötigte diese zusätzlichen akustischen Informationen nicht, aber es war für ihn ein Zeichen, dass sich die Umstände normalisierten. Ringsum verließen die größeren, mobilen Technoeinheiten ihre Klausen und machten sich an die Arbeit. Die kleineren Schwärme und Nanoverbände taten das längst. Er stand mitten in einem Meer aus winzigen, herumwuselnden Robotern.

Er bemerkte die Dichte der Atmosphäre auch daran, dass es zu einigen Verpuffungen kam. Das Cäsium diffundierte im Zustand der Anspannung verstärkt durch die etwas poröseren Hautstellen. Auch an seinem Kinn flackerte es kurz auf.

»Das Zentrum des Einschlags befindet sich drei Entfernungskreise entfernt«, krächzte die Positronik. »Der Bereich ist isoliert. Ich habe nach Protokoll dreiundzwanzig eine partielle Quarantäne verhängt.«

»Quarantäne?«, wunderte sich Ow. »Gibt es einen organischen oder biologischen Faktor?«

»Das ist nicht sicher«, gab die Positronik zurück. »Wir haben starke Flimmerphänomene, die eine endgültige Beurteilung zurzeit noch unmöglich machen. Aber es ist durchaus möglich. Ich rate zu einer direkten Überprüfung. Die Leitungsebene hat das bestätigt. Sie erhalten Zutritt.«

Die Aussicht, den isolierten Bereich betreten zu müssen, gefiel Seka Ow kein bisschen. Er wusste nur zu gut, was Quantenflimmern anzurichten vermochte – sogar bei Hochleistungssystemen wie ihm selbst. Die unterschiedliche Quantensignatur der beiden Dimensionen würde sich nur langsam angleichen. Bis dahin konnte sie großes Unheil anrichten.

2.

MAGELLAN / Drohne 845: Das Aufplatzen von Raum

 

Conrad Deringhouse sah alles. Die Televerbindung zu einer Drohne ermöglichte ihm, das Geschehen im Umfeld der Fernerkundungssonde so mitzuerleben, als befände er sich vor Ort statt weiterhin an Bord der MAGELLAN. Das terranische Expeditionraumschiff verbarg sich währenddessen weit genug vom Transfernexus entfernt, um nicht aufzufallen. Ein kleines Asteroidenfeld bot der MAGELLAN Schutz und Deckung. Zwar waren die ringsum schwebenden Felsbrocken ebenso durchlöchert und porös wie die Planetenruinen des Kriiyr-Doppelpulsars und glichen eher Schwämmen als echten Asteroiden, aber sie genügten als Tarnung.

Was am Nexus vor sich ging, war schwer zu sagen. Die Fernortung wurde durch die eminent hohe Pulsarstrahlung behindert. Die Bestien unter der Führung von Masmer Tronkh errichteten dort eine Konstruktion, deren Sinn und Funktion bisher nicht hatte bestätigt werden können. Dass es mit dem Transfernexus zu tun haben musste, durch den die Naiir vor langer Zeit dieses Universum erreicht hatten, war allerdings unzweifelhaft.

Deringhouse glaubte, die allgegenwärtige Kälte des Weltalls zu spüren ... bis in die Knochen. Dass es eine psychologische Täuschung war, wusste er zwar, aber am Gefühl änderte das nichts.

Außerdem ist der Weltraum per definitionem nicht kalt. Kälte ist wie Wärme eine Beschreibung der Molekülbewegung. Im Vakuum gibt's nicht genug, was sich bewegen könnte. Deringhouse, der Kommandant der MAGELLAN, hatte sich das von Physikern schon des Öfteren anhören müssen. Er grinste gedanklich. Einem Wissenschaftler klarzumachen, dass Umgangssprache auch mit wissenschaftlichen Fakten großzügiger umging als ein Fachbuch, blieb wahrscheinlich völlig aussichtslos.

Vor seinem virtuellen Auge zog in einiger Entfernung einer jener bösartigen Sucherschwärme vorbei, die den Kollegen seiner Drohne das Leben zur Hölle machten. Ein grelles Aufblitzen vor ihm alarmierte ihn. Dann ein zweites.

Schon wieder zwei weniger!, dachte er. Sie schießen uns ab wie die Hasen.

Die robotischen Wacheinheiten, die den Bereich der kosmischen Baustelle kontrollierten, waren gnadenlos. Sie hielten den Raumsektor um die Doppelringkonstruktion von potenziell schädlichem Weltraummüll frei, der bei Bauarbeiten in der Schwerelosigkeit ständig anfiel. Die an sich gute Tarnung der Drohnen als vermeintliche Asteroiden oder Metallschrott bedeutete somit gleichzeitig deren Untergang. Die gegnerischen Jägereinheiten erinnerten Deringhouse an technische Mollusken. Er mochte sie schon allein ihres Aussehens wegen nicht.

Er konnte in die Steuerung der Fernsonde nicht eingreifen – dazu hätte ein Aktivkontakt etabliert werden müssen, der in aller Regel verräterisch war. Er war ein Beobachter, mehr nicht.

Immerhin war das Rendezvous zwischen der MAGELLAN, der FERNAO und der DOLAN ohne Störung abgelaufen. Auf der Layl und dem Transfernexus gegenüberliegenden Seite des Kriiyrsystems, ortungstechnisch durch die mörderischen Energieemissionen der beiden Pulsare von der Wahrnehmung der Bestienflotte abgeschirmt, hatten sich die drei Raumschiffe getroffen. Das sehr spezielle Rendezvoussignal hatte seinen Zweck erfüllt. Auf einer festgelegten Frequenz, die jedes irdische Raumfahrzeug im Kriiyrsystem kannte, hatte man die typischen Radioimpulse der Pulsare rhythmisch modifiziert und einen Treffpunkt kommuniziert.

Die FERNAO hatte vor einigen Minuten das Kopplungsmanöver abgeschlossen; die DOLAN parkte auf Taravats Wunsch zunächst außen am Rumpf der MAGELLAN. Einen Grund dafür hatte die Schiffsintelligenz nicht genannt. Sie hatte merkwürdig distanziert gewirkt. Ganz im Gegensatz zur Besatzung der FERNAO. Sogar Kommandant Cel Rainbow hatte seine Erleichterung über das Auftauchen des Mutterschiffs nicht verbergen können.

Deringhouse grinste verhalten. Schön, wenn man vermisst wird!

Gucky und Icho Tolot hatte man sofort von der DOLAN in die Medosektion der MAGELLAN verlegt. Was genau ihnen fehlte, wusste Deringhouse bisher nicht, aber bei Julian Tifflor und Sud waren diese sehr speziellen Patienten in guten Händen. Beunruhigt war er dennoch.

Ein Signal erreichte ihn, das ungewöhnlich war. Er spürte es wie einen Hornissenstich, gefolgt von einem widerwärtigen Brennen. Die Drohne hatte etwas entdeckt, was völlig außerhalb der normalen – und erwartbaren – Messroutinen lag.

Vergrößerung!, dachte Deringhouse. Mach schon! Ich will sehen, was sich da tut. Er verfluchte seinen passiven Status, aber keine Sekunde lang tat die Drohne, was er sich gewünscht hatte. Der Erfassungsfokus verengte sich, und Deringhouse sah den Nexus direkt vor sich.

Der matte Wirbel, der bislang eher träge vor sich hin rotiert hatte, war in der Mitte plötzlich aufgebläht. Blasen aus blutigem Rot formten eine eigenartig schaumartige Fläche.

Hyperspektrum, begriff Deringhouse aufgeregt. Wahrscheinlich sieht man im Normaloptischen nichts davon. Eine Falschfarbendarstellung, die psychologisch basiert ist. Was dort abläuft, ist gefährlich – und außergewöhnlich.

Wie durch ein dickes, nasses Tuch drang Mischa Petuchows Stimme gedämpft zu ihm. »Sehen Sie das, Sir? Meine Geräte drehen gerade durch. Eine Aufrissflut ... aber eine, wie ich sie nie zuvor gesehen habe. Das ist ... unfass... Oh!« Der Ortungschef der MAGELLAN unterbrach sich kurz. »Eine gewaltige Energiespitze – und bereits wieder vorbei.«

Deringhouse sah es live. Die Blasen kollabierten, bis auf eine. Diese schien die Substanz der anderen in sich aufzusaugen. Dann platzte sie auf und entließ etwas in den freien Raum, von dem Deringhouse nicht sagen konnte, was es wohl sein mochte.

Eins aber war ihm sofort klar. Das bedeutete Ärger!

Nur Sekunden später brach der Kontakt zur Beobachtungsdrohne ab, und Conrad Deringhouse fand sich in der Realität der MAGELLAN wieder.

3.

Synchrofark: Kosmischer Wind

 

Seka Ow erschauderte. Etwas fuhr durch ihn hindurch wie ein Windstoß durch eine Baumkrone. Für Gefühlslagen wie diese war Ow nur unzureichend ausgestattet. Er registrierte lediglich einen extrem unangenehmen Reiz.

Der Nexus ist aktiver, als er sein sollte, dachte er irritiert. Das war eine Schattenwelle, die dürfte es nicht geben ... nicht jetzt!

Gravitation wirkte interdimensional. Masse in diesem Universum erzeugte unter Umständen einen Masseschatten im Creaversum. Die Gravitationswelle von eben war ähnlich: Sie kam aus der anderen, durch das Synchrofark verbundenen Dimension. Eine Schattenwelle.

»Kontaktanforderung«, meldete die Positronik.

Ow horchte alarmiert auf. Dass sich die Führungsebenen über Schadensereignisse informierten, war an sich nicht überraschend. Dass sie es im direkten Kontakt taten, fand er auffällig. Er rechnete damit, das wütende Gesicht von Statthalter Masmer Tronkh zu sehen oder wenigstens das von Kelwor Moxx, Tronkhs Stellvertreter in diesem Sektionsverbund. Moxx war ebenso unausstehlich wie Tronkh, aber berechenbarer. Ow wusste auch nach all der Zeit nicht, ob das positiv war.

Aber er hatte sich geirrt. Vor ihm entstand die fremdartige Physiognomie des Sitarakh Akluth Ran-Berkh. Sie erinnerte Ow an die offenbar überall im Universum vorkommenden Tardigrada – ein nur grober Vergleich, zudem sehr oberflächlich. Vom Geschlecht her war der Sitarakh, wie sein Name verriet, ein Ran. Was genau das bedeuten mochte, war Ow egal. Sexualität in jeder Form schien ihm etwas durch und durch Absurdes zu sein. Dass die der Sitarakh weitaus komplizierter war als die anderer Organismen – speziell der Humanoiden –, nahm er einfach zur Kenntnis. Ob die Sexualität Auswirkungen auf Leistungsfähigkeit oder Kommunikationsverhalten hatte, wusste er nicht. Er hatte etwas Derartiges nie festgestellt, sich aber auch nie darum gekümmert, obwohl ihm klar war, dass ihm damit ein psychologisches Moment der Motivation fehlte.

Der Sitarakh pfiff leise und wirbelte mit den vorderen vier Extremitäten ein kompliziertes Muster in die Luft. Die feinnervigen Pseudopodien am Ende der Gliedmaßen erzeugten verwirrende Submuster.

Der Trichtermund wies direkt auf Seka Ow. Es war beinahe, als richte der Sitarakh eine Waffe auf sein Gegenüber. Eine bizarre Vorstellung. Der Androide wusste, dass viele Lebewesen diese Situation als bedrohlich empfanden; er selbst nicht. Zumal es sich um ein Hologramm handelte.

Wie können Lebewesen eigentlich überleben, deren Reaktionsmuster derart ... unlogisch sind?, fragte er sich. Sogar die Goldenen – und die Bestien ungleich stärker – waren nur Sklaven ihrer Reflexe. Diese waren allzu häufig von beeindruckender Primitivität.

Ran-Berkhs Rolle war die eines privilegierten Beobachters. Er stand nicht direkt in der Hierarchie, aber Ow hatte schnell bemerkt, dass sein Wort Gewicht hatte. Der Sitarakh bezeichnete seine Position als die eines Abriters. Dass gerade die Bestien ihn meist ohne Widerspruch anhörten und seinen Standpunkt nach Möglichkeit berücksichtigten, erstaunte den Androiden immer wieder.

Vielleicht ist etwas dran an den Gerüchten, überlegte Ow. Sie haben mit der Erschaffung der Bestien zu tun ... irgendwie. Vielleicht sind sie tatsächlich die Träger von Teilen ihres Genoms, wie es immer wieder heißt. Die Bestien erweisen ihnen Respekt, und die Sitarakh verhalten sich bisweilen beinahe elterlich. Aber ich nehme an, dass zu deutlich gezeigtes Interesse nicht gern gesehen wird. Und Ärger will man weder mit einem Sitarakh haben ... noch mit einer Bestie.

Ein sonderbar strukturiertes Summen drang aus den Akustikfeldern. Ow kannte das Geräusch. Hierfür war kein Defekt verantwortlich. Die Sitarakh schienen, bevor sie zu sprechen begannen, die lautbildenden Organe vorzuwärmen. Ein eigenartiges Verhalten, aber Ow ignorierte solche Eigenheiten, so gut er eben konnte.

»Seka Ow, Sie sind Sektionswalter für 989, Innenring.« Das war keine Frage, und Ow nickte nicht mal.

Akluth Ran-Berkh machte einen ruhigen Eindruck. Die Pseudopodien der vorderen, linken Extremität formten einen Knoten. Ob die Geste etwas bedeuten sollte, wusste Ow nicht. Die Übersetzungsmatrix reagierte nicht. Vielleicht war es lediglich eine emotionale Manifestation – und die Emotionen eines Sitarakh waren niemandem zugänglich.

»Sie haben gut und schnell auf das Impaktereignis reagiert, Seka Ow«, sagte Ran-Berkh langsam. »Ich erkenne in dem Report eine deutliche Rekonfiguration der behobenen Schäden, und die Projektion ist vielversprechend. Sie sind achtsam, das ist erfreulich.«