Cover

Über dieses Buch:

Wie schießt man seinen Chef auf den Mond? Diese Frage stellt sich Linda mehrmals täglich. Wenn es mal wieder besonders turbulent in der Werbeagentur wird, hilft nur eins: eine große Tafel Schokolade, die zuverlässig jedes Alltagschaos versüßt. Doch dann bekommt Linda einen neuen Kunden. Mike ist ein Bild von einem Mann. Eine Versuchung, süß und köstlich wie tausend Tafeln Nougat … nur leider so arrogant, dass er Linda komplett zur Verzweiflung bringt. Zum Glück hat sie beste Freundinnen, die ihr in allen Lebenslagen beistehen – und weibliche Waffen, denen kein Kerl lange widerstehen kann!

Über die Autorin:

Tina Grube, geboren in Berlin, studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, arbeitete in renommierten Werbeagenturen und begann schließlich, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Ihre turbulenten Komödien wurden in mehrere Sprachen übersetzt, die beiden Bestseller Männer sind wie Schokolade und Ich pfeif auf schöne Männer erfolgreich verfilmt. Tina Grube pendelt heute zwischen ihren Wohnsitzen in New York und Mailand und arbeitet bereits an ihrem nächsten Roman.

Bei dotbooks erscheinen außerdem Tina Grubes Romane Ich pfeif auf schöne Männer, Lauter nackte Männer, Schau mir bloß nicht in die Augen, Das kleine Busenwunder und Ein Mann mit Zuckerguss.

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Neuausgabe Dezember 2014

Copyright © der Originalausgabe 1995 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung einer Illustration von Shutterstock/Leeremy

ISBN 978-3-95520-798-4

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Tina Grube

Männer sind wie Schokolade

Roman

dotbooks.

Präsentation

Und da war es wieder, dieses Gefühl, daß sich alles um einen Margarinetopf und um die neueste Anzeige für die besonders glanzversprechende Schuhcreme drehte.

Wie lange kann man wohl in einer Werbeagentur arbeiten, ohne daß man leicht bekloppt wird? fragte ich mich und starrte auf den immer höher werdenden Stapel unbearbeiteter Aufträge. Mein Magen begann unruhig zu kribbeln. Ein deutliches Zeichen nahender Überforderung, das sich in Anbetracht des heutigen Tagespensums noch intensivierte.

»Linda, dein Fax ist durch«, sagte meine Sekretärin und klatschte mir diesen ach so wichtigen Kostenvoranschlag auf den Tisch.

»Na ja, wenn unser Kunde ihn in den nächsten zwei Stunden unterschreibt, kann das Fotoshooting doch noch losgehen«, sinnierte ich laut. Wenn nicht, hatte ich ein Problem. Eines dieser Probleme, über die normale Menschen nur grinsen können. Meine Eltern würden staunen, was ihr Töchterchen heute so alles ins Schleudern brachte. Früher waren es die Lehrer in der Schule, die gebrochene Nase, der mißglückte Flirt mit dem schönen Jungen von nebenan. Heute ging's um Job, zu enge Termine, Panikanfälle und einen Papierstau im Fotokopierer zu nächtlicher Stunde.

Mein Boß stand übermächtig groß und breit in der Tür: »Komm doch mal eben mit. Wir möchten dir was zeigen.«

Wer verdammt war ›wir‹? Und da saßen sie nun: der Boß Peter, König von allem mit leichten Ambitionen zum Kaiserdasein, der Grafiker Hans, Texter Tom und der schon leicht senile Karl, der seine letzten Karriereklimmzüge als Werbeberater abturnte. Hübsche kleine Männerrunde. Eine neue Werbekampagne war geboren mit Drehbüchern für einen Film, Anzeigen und allem Tuttifrutti drumherum. Alle vier Herren der Schöpfung quatschten wild durcheinander, erklärten mir nervös das Produkt – eine neue, witzig designte Armbanduhr –, die Aufgabe und schließlich ihre kreativen Ergüsse.

Karl zog mich zum Fenster und zeigte auf die nebeneinanderstehenden Entwürfe: »Hier, schau. Das sind die wesentlichen Motive für die Doppelseiten und die einzelnen Filmszenen.«

Hans unterbrach ihn, indem er mir voller Stolz eine Pappe mit einem aufgeklebten Foto unter die Nase hielt: »Ist das nicht geil?«

Tom las derweil laut tönend seine Headlines vor. Ich schluckte. Chaos totalos. Etwas irritiert blickte ich umher und versuchte, mich zu konzentrieren.

»Was hältst du davon?« fragte mich Tom mit einem so begeisterten Unterton, daß ich merkte, er hatte so richtig Herzblut investiert.

»Also, wenn ich alles richtig verstanden habe, ist der Clou an der Sache, daß dieses wunderschöne Mädchen das Produkt, also diese Uhr, unüblicherweise als Strumpfband benutzt, ja? Okay, wirklich mal was Neues. Man kann zwar die Zeit auf der neuen Flippy-Uhr nicht besonders gut ablesen, wenn man sie unter dem Rock trägt, doch ... schon originell. Aber, ihr Süßen, die ganze Nachtclubatmosphäre in eurem Film ist nicht sehr teenagermäßig. Wir jungen Mädels von heute ...«, Tom kicherte unverschämterweise, »... wollen zwar sexy und raffiniert sein, aber nicht nuttenmäßig. So wie hier mit den Netzstrümpfen und den lackroten High-Heels. Zarte weiße Seidenstrümpfe und Seidenboxershorts wären der bessere Stil. War's das?« beendete ich meinen Kommentar und stand auf.

»Nein«, sagte der Boß, »da ist noch was. Morgen ist die Präsentation, und wir überlegen noch, wer mit nach Frankfurt fliegt.«

»Nachtigall, ick hör dir trapsen«, rutschte es mir heraus.

»Tja, wie du schon sagst, Linda, ist diese Uhr ein Produkt für junge Frauen. Da sieht's vielleicht komisch aus, wenn wir dort als Männerclub auftauchen«, meinte Tom.

»Und deshalb dachten wir an dich«, sagte mein Boß.

Nun war ich aber doch leicht verdutzt: »Aber ich kenne das Konzept doch gar nicht richtig – und überhaupt, wollt ihr mich etwa als schweigende Galionsfigur mitnehmen?«

»Nein. Du präsentierst mit. Schließlich fliegen wir doch erst in sechzehn Stunden. Bis dahin ...«, sagte Tom.

So, also noch ein Problem. Andere Leute hatten Kinder mit Windpocken und ich die ausgeprägte Form von Arbeitspest am Hals. Es wurde mal wieder die Nacht der Nächte. Wir bastelten unsere Präsentationsunterlagen zusammen, sortierten Dias und übten unsere Vorträge.

»Hui, Linda, deine Augen sind so knallrot wie bei 'nem Albinokarnickel. Solltest Augentropfen nehmen«, riet mir Hans charmant. Er seinerseits hatte sich seine Mähne so komplett zerrauft, daß er der regionalen Punkclique Konkurrenz machen konnte.

»Und du besorg dir lieber einen Kamm«, ärgerte ich ihn retour.

***

Im Morgengrauen blieb dann gerade noch genügend Zeit zum Duschen und Schönmachen. Punkt sieben Uhr stand ich artig angezogen und aufrecht am Flughafen. Die Herren trudelten aufgeregt ein und gaben sich Mühe, cool zu sein. Ich hoffte, alle seien nicht nur gut rasiert, sondern hätten sich auch mit der Extraportion Deo versorgt. Im Flieger tobten wir alle auf unsere Art die kleinen Ängste aus. König Peter aß gleich vier Brötchen, sicher ohne es so richtig zu merken, denn sonst kriegte er um diese Uhrzeit gerade eins runter. Der alte Karl gab sich vorsichtshalber »ein Sektchen«, wie er der Stewardeß leise zuflüsterte. Wir hatten es aber trotzdem gehört. Ich wettete insgeheim, wenn er das nicht befürchtet hätte, hätte er glatt noch ein weiteres Pikkolöchen gezischt. Tom schwieg sich aus und starrte ein dekoratives Riesenloch in die Luft, während Hans sich ganz offensichtlich bemühte, die Schlagzeile der Bild-Zeitung auswendig zu lernen. Ich tat, was ich in solchen Situationen immer zu tun pflegte. Ich rauchte. So ziemlich eine nach der anderen.

Mein Boß grummelte: »Hör doch endlich auf zu paffen.«

Geduldig erklärte ich ihm: »Erstens paffe ich nicht, ich inhaliere, und zwar kräftig. Zweitens: Wer früh aufstehen muß, darf jetzt auch schon rauchen«, und zündete mir aus Protest und vorsichtshalber gleich noch eine an.

Als wir aus dem Flugzeug ausstiegen, hatte ich es geschafft: Mir war schlecht.

Im Taxi fing ich mit meiner Macke an, ›Gnadenzeiten‹ zu berechnen. Also, wir brauchten bis zur Höhle des Löwen bestimmt eine halbe Stunde. Bis wir alles aufgebaut hatten, vorn Dia-Projektor bis zum Overheadfolien-Gerät, vergingen sicher zehn weitere Minuten. Folgen würden die gegenseitige Vorstellung und höfliche Floskeln à la: »Haben Sie einen guten Flug gehabt?« Das dauerte mindestens fünf Minuten. Summa summarum machte das ab sofort fünfundvierzig Minuten Gnadenfrist, bis der Kampf losging. Sozusagen noch ewig.

»Haben Sie einen guten Flug gehabt?« fragte ein mittelgroßer Fremder in dezentem Outfit meinen Boß. Der Mann war der sogenannte »Zentralmanager Kommunikation« des Unternehmens, wie er uns aufklärte. Ein Typ, so Mitte Dreißig; er hatte einen unverschämt widerlich arroganten Mund und hieß Mike Badon. Danach schüttelten wir wichtig, wichtig die Hand des Vorstandsvorsitzenden, des Marketingleiters und des Product Managers. Es war mir schon etwas peinlich, mitten im Winter mit heißen, schweißnassen Händen bei dieser Aktion dabeizusein. Aber viel mehr beschäftigte mich die Misere mit dem Dia-Projektor. Der war zwar, wie versprochen, bereits angeschlossen, aber die Fernbedienung war unauffindbar. Nun hatte das Gerät ja obendrauf noch diese Bedienungsknöpfchen. Die hätte ich allerdings von meinem Sitzplatz bis zur Mitte des überdimensional breiten Konferenztisches nur mit Hilfe der Wunderpille erreichen können, die meinen Arm blitzartig um zwei Meter verlängern würde.

Der Vorstandsvorsitzende wußte Rat, weil Herren in solchen Positionen und mit der Weisheit ihrer mindestens fünfundfünfzig Jahre einfach immer wissen, was zu tun ist: »Frau Lano, kommen Sie doch rüber auf unsere Seite und setzen Sie sich einfach auf den Tisch!«

Das könnte dir so passen, Alter, dachte ich und verfluchte die morgendliche Idee, entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten einen engen, kurzen Rock angezogen zu haben. Doch was blieb mir übrig? Mit meinem verbindlichsten Werberlächeln setzte ich mich zwischen meine grinsenden Kollegen tatsächlich mit seitlich leicht angewinkelten Beinen auf den Tisch. Wenn meine Eltern wüßten, daß ich mich durch mein Studium gekämpft hatte, um auf Konferenztischen thronend zu enden, hätten sie mir sicherlich eher die Lehre zur Friseuse gegönnt.

Das Licht ging glücklicherweise aus, meine Hände konnten unbeobachtet im Dunkeln weiterzittern, und die Präsentationsdias strahlten, meinem emsigen Drücken gehorchend, von der Leinwand. Alles rollte ab wie geplant. Wir Werber waren wieder mal großartig. Als das Licht anging, rutschte ich erleichtert und so lässig wie möglich auf meinen Stuhl zurück. Schweigen. Beeindrucktes Schweigen? Betretenes Schweigen? Nein, die Knaben schienen erfreut. Eine heftige Diskussion entbrannte.

Ich fühlte wohlige Entspannung, bis Mike Badon mich direkt ansprach: »Frau Lano, in bezug auf das Outfit des Mädchens in dem Kinofilm haben Sie kurz angerissen, daß die Wäsche dem aktuellen Trend junger Frauen entspricht. Können Sie mir das bitte genauer erläutern?«

Das hatte mir noch gefehlt. Wäre ich doch nur schon zu Hause bei meiner Mutter unterm Tannenbaum.

»Ja also, wir sind der Meinung ...«, begann mein Boß.

»Nein«, hörte ich Mike Badon sagen, »ich möchte das von Frau Lano hören.«

Betont langsam fügte ich mich also in mein Schicksal: »Wissen Sie, schöne Seidenunterwäsche ist heute so ›in‹ wie nie zuvor. Wir stellen uns ein Seidenunterhemd mit einem Hauch Spitze vor, lässige weiße Boxershorts und in keinem Fall peinliche oder hocherotische Strapse.«

O Gott, was erzählte ich da. Die Jungs rutschten ja schon unruhig auf ihren Stühlen herum. Das mit den Strapsen mußte ich jetzt in den Griff bekommen.

»Insgesamt streben wir eine sinnliche Atmosphäre an, die aber auch Reinheit ausstrahlt«, setzte ich fort.

»Welche Art von Strumpfhaltern meinen Sie denn nun?« fragte Badon dreckig grinsend.

Nun gab es für mich kein Halten mehr: »Zart, seidig, feminin und weiß. Und wenn Sie es noch genauer wissen wollen, bringe ich Ihnen gern, wenn wir diese Präsentation gewinnen, zu unserem ersten Arbeitsmeeting eine kleine Kollektion davon mit«, pampte ich ihn wütend an. Verdammt, jetzt verzog er auch noch leicht amüsiert seine Mundwinkel. Hoffentlich verlieren wir. Mit dem will ich nicht mal einen Tag zusammenarbeiten, ging es mir durch den Kopf.

***

Auf dem Rückflug tranken wir alle ordentlich einen. Gleich im neuen Jahr wollten sich die Kunden melden und uns erzählen, ob wir den Auftrag bekommen würden. Wir philosophierten noch ein wenig. Ich regte mich über Mike Badon auf, fand, er habe einen Mund wie Klaus Kinski und mache überhaupt den Eindruck eines abgedrehten Mistkerls. Meine werten Kollegen machten noch ein paar wohl unvermeidliche dreckige Sprüche über meinen Wäschevortrag. Und Tom meinte, Badons Mund sehe eher so aus wie der von Belmondo. Egal, bald ist Weihnachten.

Weihnachten

Ich fand mich ziemlich genial, als ich am 23.Dezember kurz nach Geschäftsschluß mit den knisternden Plastiktüten in meine Wohnung stolperte. Alles geschafft, kein Geschenk vergessen, selbst aus dem durchwühlten Geschenkpapiersortiment hatte ich einer unentschlossenen anderen Kundin glatt noch die dekorativsten Bögen weggeschnappt. Leicht echauffiert und voller Stolz holte ich Klebeband und Schere, um die Präsente geheimnisvoll zu verhüllen.

Das Telefon klingelte. »Hallo Linda«, zwitscherte meine herzallerliebste Freundin Simone. »Ich wollte mit dir noch die Christmas-Taktik besprechen.«

Ich mußte lachen, denn alljährlich fuhren wir zwei aus unserem Hamburger Exil in die Berliner Heimat zum Familienfestgenuß – und um die Stadt unsicher zu machen, sobald der erste Feierschwung gelaufen war.

Simone plante laut: »Also, Heiligabend und der erste Weihnachtsfeiertag sind wieder mal nicht möglich. Was hältst du davon, wenn wir am zweiten Feiertag abends unser Lieblingsrestaurant beehren?«

»Schatzi, genau das werden wir tun. Ich habe zwar keine Ahnung, wie großzügig meine Eltern so sein werden, aber ich tippe mal, Champagner wird schon drin sein. Nur für uns zwei im ›Fofi‹. Die Zeiten sind auch wirklich vorbei, in denen wir uns dort an einer miesen Schorle festhalten mußten.«

Ich hörte Simone kichern: »Wenn du wüßtest, wie pleite ich wieder mal bin. Du erinnerst dich an das sündhaft teure Kleid, das ich mir vor zwei Wochen für diesen Schuft Andreas gekauft habe? Der Typ ward nie wieder gesehen, aber die Abbuchung von meinem Konto treibt mir heute noch die Tränen in die Augen. Ich hoffe auch, daß ein Finanzzuschuß von zu Hause kommt. Also alles klar, überübermorgen geht's rund!«

»Prima, laß dir bis dahin die Plätzchen gut schmecken«, schloß ich und widmete mich wieder dem Einpacken.

***

Am nächsten Vormittag klingelte ich bei Mami in Berlin. Während ich noch betrübt auf das Pflaster an meinem Zeigefinger schaute – Mordspapierschnitt an dem ergatterten Geschenkbogen –, öffnete meine Mutter die Tür.

»Horch, was kommt von draußen rein«, trällerte sie mir fröhlich entgegen.

Innerlich verdrehte ich die Augen und bekam die leise Ahnung, daß ich mich wieder ziemlich zusammenreißen müßte. Unglaublich, woher meine Mutter immer dieses Jubilieren nahm. Gestreßt, wie ich war, ging mir soviel Frohsinn erst mal mächtig auf den Keks. Ich schalt mich undankbare Tochter und ließ die Begrüßungsumarmungen und diverse Küßchen über mich ergehen.

»Lindachen ist da«, flötete meine Mutter meinem Vater zu.

»Ach, das Lindachen«, sagte mein Vater, als er von seiner Briefmarkensammlung aufblickte. Während er sich erhob, um mir den väterlichen Kuß auf die Wange zu drücken, mußte ich nun doch lächeln. Herrlich, die starke Power-Werbe-Linda durfte für ein paar Tage mal wieder »das Lindachen« sein. Entspannt ließ ich mich aufs Blümchensofa plumpsen.

»Hast du Hunger?« fragte meine Mama.

Entschieden schüttelte ich den Kopf. Hier war jede Diät sowieso hoffnungslos. Die einzige Chance, der weihnachtlichen Tönnchenfigur entgegenzuwirken, war, allen Mahlzeiten und Naschereien neben den üblichen Freßgelagen aus dem Wege zu gehen. Zur Not mit kleinen Lügen.

»Nein, ich hatte gerade ein üppiges Frühstück im Flugzeug«, antwortete ich, während vor meinem geistigen Auge das Glas Orangensaft der Lufthansa auftauchte.

»Vielleicht ein Stück Obst? Du weißt doch, wie wichtig Vitamine sind«, sagte Mama. Und schwups, hatte sie auch schon einen Apfel samt Obstmesserchen auf dem Tisch plaziert.

»Ja, ich weiß, aber ich bin wirklich satt«, versuchte ich entgegenzuhalten.

»Frische Brötchen haben wir auch noch. Du kannst natürlich auch einen Toast essen«, zählte sie weiter auf.

Stark bleiben, ganz stark bleiben, nahm ich mir vor. Als mein Vater mir wenig später ein besonders interessantes Wasserzeichen auf einer uralten jugoslawischen Briefmarke zeigte, biß ich herzhaft in eine Honigsemmel und bemühte mich, das Wort Kalorien vorerst mal aus meinem Gedankengut zu verbannen.

Meine Mutter rettete mich vor weiteren philatelistischen Vorträgen, indem sie meine Aufmerksamkeit auf den Tannenbaum lenkte. »Schau mal, ist der nicht ausgesprochen hübsch geworden?« fragte sie.

»Äh ...«, zögerte ich, »... meinst du nicht, wir könnten das Plastikmodell mal wieder durch einen echten Baum ersetzen?«

Meine Mutter runzelte die Stirn: »Kind, du weißt doch, wie der letzte unseren ganzen Teppich ruiniert hat!«

O ja, daran konnte ich mich noch erinnern. Der sogenannte letzte ›echte‹ war das Prachtexemplar vor gut sechs Jahren. Eigentlich ein Zusammentreffen unglücklicher Ereignisse. Der Teppichboden war neu. Wie üblich nicht nach meinem Geschmack. Aber meine Eltern waren davon überzeugt, daß es absolut nichts Praktischeres gab als Teppichfliesen. Ich hörte Mama noch sagen: »Weißt du, Kind, wenn es mal einen Fleck gibt, kann man die Fliese ganz unkompliziert gegen eine andere austauschen.«

Im Grunde noch einzusehen, abgesehen davon, daß sie sich leider dieses widerliche Dunkelbraun ausgesucht hatten. Mein Traum ging zu dieser Zeit mehr dahin, auf blauen Wogen zu wandeln, nur meine Eltern sahen das eher bodenständiger. Außerdem mußte die mahagonifurnierte Schrankwand doch auch farblich passen ... Na ja, das zweite Übel war, daß mein Vater erst am letzten Tag losgegangen war, um ein Bäumchen zu besorgen.

»Da kann ich ein Schnäppchen machen«, hatte er getönt, »je länger man wartet, desto günstiger werden die Dinger.«

Geld zu sparen ist ihm dann allerdings nur gelungen, weil er von den immer noch nicht reduzierten Tannenbäumen den billigsten kaufte. Das hätte er auch früher haben können. Stolz stellte er den Baum auf, der dann in den nächsten Tagen nichts Besseres zu tun hatte, als protestmäßig auf unsere Zentralheizung zu reagieren: Er schmiß temperamentvoll alle Nadeln von sich. Leider gruben die sich so tief in die Fliesen ein, daß sie nicht mehr herauszupolken waren. So hätte nun ja der lässige Austauscheffekt – alte Fliese gegen neue – einsetzen können. Wie das Leben aber eben so spielt, hatten wir nur fünf Ersatzfliesen für Ernstfälle dieser Art, die beileibe bei dem Nadelschaden nicht ausreichten. So war der Ruin des Teppichbodens nicht mehr zu verhindern. Zum nächsten Fest erstand meine Mutter im Kaufhaus einen wundervollen Baum: sehr grün, sehr aus Plastik und zum Zusammenstecken.

Diese Pracht stand nun vor mir. Geschmückt mit einigen Strohsternen und Holzäpfelchen nebst einer künstlichen Lichterkette.

»Weißt du, ich mag diesen natürlichen Look.« Meine Mutter zupfte an einem der Strohsterne. »Und die Sterne haben meine Schulkinder zu Dutzenden in der Bastelstunde gemacht«, erklärte sie.

Ich konnte mir so ungefähr vorstellen, wie die dreißig Kleinen, die von meiner Mutter Lesen und Schreiben lernten, nun alle mit glühenden Gesichtern vor ähnlichen Musterexemplaren in der Stube saßen.

»Ist ja schon gut«, murmelte ich und schob die Vision eines üppigen, prachtvoll mit Lametta, dicken Kugeln und tropfenden Kerzen geschmückten Bäumchens resigniert weg.

***

Zum Mittagessen gab's eine Tiefkühlpizza.

»So richtig lecker essen wir ja heute abend«, entschuldigte sich Mama.

Mein Vater interviewte mich kauend, ob ich denn in den letzten Wochen auch fleißig war. Beim Kampf mit dem zugegebenermaßen krossen, wenn auch steinharten Pizzaboden erzählte ich ein bißchen. Die Szene auf dem Konferenztisch ließ ich weg, regte mich dafür über Hektik und Überstunden auf.

»Hauptsache, dein Chef ist mit dir zufrieden«, entgegnete mein Vater.

»Klar«, sagte ich. »Sklavenarbeit ist zwar verboten, aber in meiner Branche immer erwünscht«, versuchte ich meinen Einsatz zu beschreiben.

»Viel arbeiten müssen doch alle«, erwiderte Papa, der nach seiner Beamtenlaufbahn nun die wohlverdiente Pension kassierte. Widerspruch wurde in mir wach, obwohl die mächtige Pizza mich bereits reichlich müde machte. »Kannst du dir vorstellen, wie es ist, nachts um halb zwei erschöpft und heulend vor dem Kopierer zu hocken mit der Aussicht, fünf Stunden später frisch geduscht und gekämmt vor einer Präsentation am Flughafen stehen zu müssen?« fragte ich ihn aggressiv.

»Ja, sicher«, antwortete er und konnte es sich garantiert nicht im entferntesten vorstellen.

Ich beschloß, diese Diskussion erst mal aufzugeben, und spekulierte auf ein köstliches Nachmittagsschläfchen.

Das ahnte Mama: »Willst du dich nicht ein bißchen hinlegen?« fragte sie zärtlich, während sie bereits meine Lieblingskuscheldecke auf dem Sofa drapierte. Schwups, legte ich mich hin und genoß die Ruhe des Nachmittags.

***

Kaffeeduft weckte mich. Apfelkuchen hatte sicher weniger Kalorien, nein, dieses Wort durfte ich nicht denken, also weniger Joule als Sahnetorte. Lecker, mit diesen kleinen Butterstreuselchen. Und wie traumhaft die kleinen Plaudereien mit Mama und Papa.

»Heinz, jetzt reicht es aber«, protestierte meine Mutter, als Papa unauffällig das dritte Stückchen Kuchen nehmen wollte. Schuldbewußt schaute er auf die kleine Kugel seines Bauches, die an den Knöpfen seines Hemdes arbeitete.

»Es ist doch Weihnachten«, protestierte er und war so flink wie noch nie beim Balancieren mit dem Tortenheber.

Meine Mutter schüttelte böse den Kopf: »Der Mann wird sich noch totessen.«

Schnell wechselte ich das Thema: »Wann kommt Babs?« fragte ich.

»So gegen sechs«, meinte Mama. »Sie hat heute nachmittag noch Bereitschaftsdienst in der Klinik.«

Meine Schwester, die Ärztin, immer im Einsatz. Sie hilft Menschen, ich gaukele ihnen Werbeträume vor.

***

Unpünktlich um halb sieben kam Babs. »Bärbelchen« heißt sie in unserem trauten Heim. Wie üblich war sie total hektisch und kriegte die erste Krise, als sie mich genüßlich eine Zigarette rauchen sah.

Meine Mutter schaute irritiert, als Babs zielsicher auf den Kühlschrank zulief, ihn öffnete, einen schnellen Schluck aus der Apfelsaftflasche nahm, mit ihrem Finger im Kuchen herumpolkte, um dann auch noch die sorgfältig umhüllenden Frischhaltefolien auf den großen Platten alle mal kurz anzuheben.

»Was gibt's denn heute abend so?« fragte sie. Ich irrte mich nicht, ihr Ton war etwas bösartig, fast lauernd.

»Eine ganz leckere Fischplatte«, sagte unsere Mutter voller Stolz.

»Ich krieg gleich das Kotzen. Kalter, toter Fisch«, flüsterte Babs mir heimlich zu.

Mein Ellenbogen traf ihre Rippen. »Reiß dich gefälligst zusammen«, raunzte ich sie an.

»Hoffentlich nicht auch noch diese gräßlichen Schillerlocken«, meinte Babs leise.

»Ich habe Lachs gekauft, Heringssalat, geräucherte Forelle – und ganz besonders schöne Schillerlocken«, sagte Mama.

Babs stöhnte und attackierte kratzend ihre Hautallergie an den Händen. »Desinfektionsmittel«, meinte sie.

»Hast du wieder was zu meckern?« fragte Mama streng, plötzlich ganz Lehrerin.

»Nein, nein, hast du auch Sahnemeerrettich für den Lachs?« lenkte Babs schnell ab.

»Aber sicher, im Gläschen aus dem Kühlregal«, sagte Mama.

»Schon mal was von Selbermachen gehört?« murmelte Babs.

Na klasse, dachte ich. Das war kein Déjà-vu, sondern schlicht und ergreifend die Neuauflage der Vorjahre. Wir sind nämlich eine prima aufeinander eingespielte Familie. Plastiktannenbaum und Fischplatte mit Schillerlocken am Heiligabend. Das Ganze nennt man wohl liebevoll Tradition.

Also, meine Schwester hat das Dinner tatsächlich überlebt. Verfressen, wie sie war, langte sie dann doch reichlich zu, selbst beim Meerrettich. Ihre Rache nahm den üblichen Verlauf, indem sie überaus plastisch von ihrem Job erzählte. Wir lernten, wie man eine klaffende Platzwunde auf der Stirn näht und auch die neuesten Erkenntnisse über einen kosmetisch akzeptablen Luftröhrenschnitt. Sie hatte diesen resoluten Tonfall drauf, bei dem sich niemand traute, sie zu unterbrechen. Schließlich hatten wir ja alle gewollt, daß sie Ärztin wurde, und mußten ihrer Meinung nach ihre Storys in allen Lebenslagen abkönnen.

»Sollten wir jetzt nicht doch die Weihnachtsplatte hören?« fragte meine Mutter.

»Hilft ja alles nichts«, sagte Papa, als er die bereits von Mama herausgesuchte Schallplatte auf den Plattenteller legte. Papa, Babs und ich haßten aus irgendeinem Grunde die Rührseligkeit, die uns beim »O du fröhliche, o du selige« überfiel.

Mama genoß es sichtbar und in vollen Zügen. »Wie schön«, sagte sie und begann mitzusingen.

Wir anderen schauten uns vielsagend an und sandten Stoßgebete zum Himmel, daß sie nach dem ersten Lied ein Einsehen haben würde. Hatte sie aber nicht.

»Kling, Glöckchen, klingelingeling«, »Ave Maria« und »O Tannenbaum« ließen uns schon verzweifelt und lautstark mit den Stühlen rücken. Schließlich standen Babs und ich auf, um die Weihnachtsgeschenke zu holen. Da erhob sich auch Mama, wenn auch immer noch summend, denn immerhin war jetzt Bescherung.