Bernd Kaufholz

Authentische Kriminalfälle

mitteldeutscher verlag

Für S.

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Vorwort

Der gebildete Herr T

Der Tote vorm Lokal

Der Tote im Kartoffelkeller

Drei Schlingen

Der Mord nach dem Unfall

Die mörderische Rabenmutter

Der „Lustmord“ im Glacis

Die Leiche im Teppich

Verhungert

Die Tote an der Dumme

Ramona

Der Tod der Geliebten

Der Muttermörder mit dem Schal

Abkürzungen

… weitere authentische Kriminalfälle

Impressum

Vorwort

Der Muttermörder mit dem Schal“ knüpft an den vorausgegangenen Band mit authentischen Kriminalfällen „Der Beilschlächter von Osterwieck“ (2007) an, der sich mit Kapitalverbrechen zwischen dem Frühjahr 1949 und dem Spätherbst 1961 beschäftigte.

Diesmal möchte ich gemeinsam mit Ihnen, liebe Leser, die blutige Spur von 13 Tätern verfolgen, die zwischen 1959 und 1972 in der DDR Menschen getötet haben. Ganz gleich, ob Sexual-, Gatten- oder Kindermord versucht das vorliegende Buch erneut einen kleinen Einblick in die Arbeit der Mordermittler im Bezirk Magdeburg zu geben. Stellvertretend für die Spezialisten stehen wiederum der Chef der Morduntersuchungskommission des Bezirkes Adalbert Winter und seine Mitarbeiter sowie das renommierte Rechtsmedizinerduo Dr. Wolff und Dr. Laufer, das jahrzehntelang die „Sprache der Toten“ übersetzte. Sie trugen zur hohen Aufklärungsquote bei Mord und Totschlag bei.

Ich werde oft gefragt, welche Fälle mich besonders betroffen gemacht haben. Es sind Tötungsdelikte, bei denen Kinder die Opfer sind. Kinder, die sich nicht wehren können, die ihren Mördern hilflos ausgeliefert sind.

In diesem Buch ist es der Fall der neun Jahre alten Monika aus dem Vorwerk Emersleben bei Halberstadt. Ein Mord, der – wenn man solche Kategorien im Zusammenhang mit der Tötung eines Menschen überhaupt gebrauchen darf – das Paradebeispiel einer völlig sinnlosen Tat ist.

Wer das Buch „Der Ripper von Magdeburg“ (2001) kennt, wird auf einen bekannten Mordfall stoßen, der sich im Mai 1965 in Magdeburg ereignete und für große Aufregung sorgte, weil die Kripo mit einem für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich großen Aufwand an Öffentlichkeitsarbeit nach dem Täter fahndete. Beschränkte sich die Darstellung des sogenannten Glacis-Mordes im „Ripper“ nur auf knapp vier Seiten, lag mir für dieses Buch weitaus mehr Recherchematerial vor, das mich veranlasste, diesen Mord noch einmal aufzugreifen – mit all seinen Facetten. In diesem Fall waren es besonders die Fingerabdruckexperten, die zur Aufklärung beitrugen.

Zum Schluss noch eine ganz persönliche Bemerkung: Das Buch entstand in einer für mich privat sehr schwierigen Situation. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die mich darin bestärkten, weiter alte Fälle „auszugraben“ und über die Menschen, die damit zu tun haben, zu schreiben. Besonders bei meinen Eltern, meinen Kindern, aber auch beim Mitteldeutschen Verlag Halle und meinen Kollegen der „Volksstimme“.

Und ganz besonders bei Ihnen, liebe Leser, die mir seit über zehn Jahren die Treue halten.

Ihr

Lostau, Februar 2008

Hinweis: Mit Sternchen (*) versehene Namen in den Geschichten wurden geändert.

Der gebildete Herr T.

Ernst Ocker* sitzt am 24. Dezember 1959 in der Stube seiner Wohnung in der Olvenstedter Straße von Magdeburg. Sein Blick streift die Fichte mit den bunten Glaskugeln, dem Lametta und den Kerzen. Der Expedient vom Baustoffwerk freut sich auf das bevorstehende Weihnachtsfest im Kreis der Familie. Ocker steht auf und beginnt, die Kerzen anzuzünden.

Die Ehefrau des 55-Jährigen bereitet in der Küche gerade das Abendessen vor, da klingelt es an der Wohnungstür. Ernst Ocker hört die Stimme seiner Frau und die eines Mannes. „Ernst, kommst du mal, Herr Tylle ist hier“, ruft ihn seine Frau Sekunden später.

Walter Tylle* und dessen Ehefrau Irmgard wohnen seit einem Jahr auf derselben Etage wie die Ockers zur Untermiete. Man wünscht sich guten Tag und guten Weg. Hin und wieder tratschen die Frauen mal auf dem Treppenabsatz. Doch besonders eng ist die Beziehung zwischen den Nachbarn nicht.

Ocker geht zur Wohnungstür. Zuerst glaubt er, seine Frau habe sich geirrt. „Das ist doch nicht der Tylle“, denkt er, als er die Gestalt im grüngrauen Übergangsmantel mit hochgeschlagenem Kragen und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut sieht. Doch als er vor dem Mann steht und dieser den Kopf hebt, erkennt er seinen Flurnachbarn.

Das Erste, was ihm auffällt, ist das wachsbleiche Gesicht mit den beinahe schwarzen Augenringen. Tylle streckt ihm die rechte Hand durch den übergehängten Mantel entgegen und sagt mit kaum vernehmbarer Stimme: „Kommen Sie, helfen Sie mir.“

„Was ist denn los? Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt der Wohnungsinhaber. Doch noch leiser als beim ersten Mal flüstert Tylle nur: „Mein Gott, mein Gott, helfen Sie mir. Rufen Sie eine Taxe an.“ Ob denn seine Frau nicht zu Hause sei, will Ocker wissen. Sein Gegenüber winkt nur ab.

Für Ocker ist klar, dass sein Nachbar schwer krank ist und unbedingt einen Arzt braucht. „Kommen Sie erst einmal herein“, sagt er und will Tylle dabei stützen. Denn es sieht so aus, als würde der Mann jeden Augenblick zusammenbrechen. Doch als Ocker ihn am linken Arm berührt, verzieht der 56-Jährige schmerzvoll das Gesicht und wehrt ab. Er stützt ihn deshalb am rechten Arm. „Warten Sie hier, ich hole Hilfe“, sagt Ocker, nachdem er ihm auf einen Stuhl im Korridor geholfen hat.

Dann läuft er zur Ecke Immermann-/​Olvenstedter Straße. Doch der Apparat in der Telefonzelle funktioniert nicht. Ocker kehrt ins Haus zurück und klingelt bei Tischlermeister Grote*, der ein Telefon besitzt. Der Taxidienst ist hoffnungslos überlastet, innerhalb der nächsten Stunde sind alle Wagen belegt, so die Auskunft. Auch beim DRK und bei der Unfallstelle hat er kein Glück. Da er keinen Einweisungsschein in ein Krankenhaus besitzt und auch kein Unfall vorliegt, fühlen sich beide Stellen nicht zuständig.

Wieder zurück in seiner Wohnung, teilt er dem Nachbarn mit, dass er keinen Erfolg hatte. „Ich versuche es selbst“, Tylle steht schwankend auf. „Können Sie mir die Treppen hinunter helfen“, bittet er. Ocker fasst ihn erneut unter den rechten Arm und stützt ihn von der zweiten Etage bis vor die Haustür. Tylle will von der Immermannstraße aus ein Taxi rufen. „Der Apparat ist gestört“, klärt ihn Ocker auf. „Dann versuche ich es beim Tischlermeister“, antwortet Tylle.

Sie gehen über den Hof zum Hinterhaus. Doch bevor sie die Treppe zur ersten Etage nehmen können, verlassen den Nachbarn die Kräfte. Er sinkt auf die Stufen: „Es geht nicht mehr.“

Während sich Tylle ausruht, klingelt Ocker zum zweiten Mal an der Tür von Tischler Grote. Als ihm geöffnet wird, erklärt er, dass sein Nachbar noch einmal selbst telefonieren wolle. Wenig später kommt Tylle. „Bitte rufen Sie Frau Doktor Rackowicki* an. Die Nummer steht im Telefonbuch“, bittet er Ocker. Doch nur der Ehemann der Ärztin meldet sich: „Meine Frau ist nicht zu sprechen“, sagt er kurz angebunden, offensichtlich verärgert über die Störung am Heiligabend. Tylle nimmt Ocker den Hörer aus der Hand: „Herr Doktor, bitte, bitte, bitte, holen Sie Ihre Frau an den Apparat.“ Weil er zu schwach ist, gibt er den Hörer erneut seinem Nachbarn. „Herrn Tylle geht es sehr schlecht“, sagt dieser. „Bitte holen Sie Ihre Frau an den Apparat.“ Doch der Gesprächspartner meint, dass für solch einen Fall die Ärztebereitschaft zuständig sei und legt auf.

Bevor sie auf die Straße gegangen waren, hatte Ocker seinem Sohn Eberhardt und seiner Tochter Heide aufgetragen, ein freies Taxi anzuhalten. In jenem Moment, da das Telefongespräch beendet ist, ruft der 17-Jährige über den Hof: „Vati, ich habe ein Auto.“ Vor dem Hauseingang wartet ein schwarzer EMW vom VEB Taxi.

Tylle steigt in das Auto. „Können Sie mich in die Klinik begleiten?“, fragt er seinen Nachbarn. Doch der lehnt ab. „Der Fahrer hilft Ihnen schon weiter. Ach, übrigens, haben Sie genug Geld einstecken?“, will Ocker wissen. Der Gefragte nickt.

Der Taxifahrer bringt Tylle zur Medizinischen Akademie in der Leipziger Straße. Dort schaut sich der diensthabende Arzt den linken Arm des 56-Jährigen an. In der Ellenbeuge stellt er eine sechs Zentimeter lange und einen Zentimeter tiefe, stark infizierte Schnittwunde fest. Der Bereitschaftsarzt will wissen, wie sich Tylle die Verletzung zugezogen hat. Doch der Angesprochene schüttelt nur den Kopf. Erst als der Mann in Weiß nicht locker lässt, gibt der Patient an, dass er sich die Verletzung mit einem Messer selbst zugefügt habe. Dem Mediziner ist klar, dass die Wunde schon zwei bis drei Tage alt ist und Tylle eine Menge Blut verloren hat. Da der Mann einen verstörten Eindruck macht und sein Gesicht laufend hinter dem Arm des Pflegers verbergen will, stellt der Chirurg den Verletzten in der Nervenklinik vor. Tylle wird stationär aufgenommen.

Am zweiten Weihnachtstag wollen Doris Klose* und Marlis Sirr* Familie Tylle besuchen. Die 19 Jahre alte Doris ist die Tochter von Irmgard Tylle*, die 16-jährige Marlis die Nichte.

Sie klingeln mehrmals an der Tür der Tylles, doch niemand öffnet. Da den beiden die Sache seltsam erscheint, fragen sie im Haus nach, ob jemand weiß, wo sich das Ehepaar befindet. Dabei erfahren sie, dass eine Mieterin im Besitz eines Ersatzschlüssels ist. Zu dritt gehen sie wieder die zwei Etagen zur Wohnung der Tylles hinauf. Die Frau schließt die Tür auf, und sofort verschlägt ihnen ein beißender Geruch den Atem. Schon vom Flur aus sehen sie durch die offen stehende Tür zum Zimmer der Tylles eine Tote im Doppelbett liegen.

Die Frauen laufen entsetzt auf die Straße und dann zum Olvenstedter Platz. Dort treffen sie auf den Verkehrspolizisten Domagalla. „Meine Mutter ist tot“, spricht Doris Klose den Polizeimeister atemlos und völlig aufgelöst an. „Sie liegt tot im Bett. Kommen Sie schnell mit.“

Domagalla informiert um 15.30 Uhr das Magdeburger Polizeikreisamt. Wenig später ist Polizeimeister Röpke von der Kriminalabteilung AK/​1 vor Ort. Er schaut sich im Zimmer um. Die Tote liegt, bis zum Hals zugedeckt, im Bett. Das Bettzeug, besonders das Kopfkissen, ist völlig mit Blut überzogen. Neben dem Bett steht eine Waschschüssel voller Blut. Auf dem Tisch sieht der Polizist eine weiße Kunststoffschachtel mit blutigen Fingerabdrücken. In der Schachtel sind Rasierklingen – ebenfalls blutig.

Während er auf die Morduntersuchungskommission der Bezirkspolizeibehörde wartet, befragt der Kriminalist bereits eine erste Mieterin des Hauses. Ilse Vorndran* erinnert sich, dass sie den Ehemann der Toten, Walter Tylle, am 23. Dezember gegen 18.30 Uhr das letzte Mal gesehen hat. „Er hat bei mir geklingelt und sich nach der Uhrzeit erkundigt“, sagt sie. Etwas Besonderes sei ihr nicht aufgefallen. „Frau Tylle habe ich schon längere Zeit nicht gesehen.“

Gegen 17 Uhr treffen Mordkommissionschef Oberleutnant Winter und Sachbearbeiter Oberleutnant Schmidt am Tatort ein. Sie sehen sich sorgfältig um, besonders auffällig scheint ihnen ein tellergroßer „dicker Blutkuchen“ in einer Emailleschüssel unter dem Stuhl neben dem Bett. Der hinzugezogene Arzt hält es für möglich, dass die Unmengen von Blut im Zusammenhang mit einer illegalen Abtreibung stehen könnten.

Auch in dem 16 Quadratmeter großen Raum, mit den Fenstern zum Hinterhof, findet sich Blut, wohin die Ermittler auch blicken: zwischen Bett und Stuhl dick gewordenes, fast schwarzes Blut – an der oberen Seitenkante des Holzbetts, am blauweißen Kopfkissen, das neben dem Bett liegt, am Bettlaken.

Auf dem Tisch entdecken die Polizisten einen karierten Schreibblock. Auf der ersten Seite steht mit blauer Tinte geschrieben: „Fresko Sonett an Christine S.“

Es folgen einige Strophen und das Gedicht endet mit den Worten:

Aus dem gebrochenen Herzen fühl ich fließen,

mein heißes Blut, ich fühl mich ermatten,

und vor den Augen wird’s trüb und trüber.

Und heimlich schauernd sehn’ ich mich hinüber

nach jenem Nebelreich, wo stille Schatten

mit weichen Armen liebend mich umschließen.

„Was will der Schreiber damit sagen?“, fragen sich die Ermittler. „Ist das ein verklausulierter Abschiedsbrief? Und wenn ja, wer hat ihn geschrieben? Und wo ist eigentlich der Ehemann der Toten?“

Die Männer der Mordkommission fahren zur Zerbster Straße. Dort wohnt die Mutter der Toten. Frieda Sirr* weiß nichts von einer Schwangerschaft ihrer Tochter. Mit ihrer Meinung über den Schwiegersohn hält sie nicht lange hinterm Berg. „Das war doch keine Ehe“, winkt sie ab. „Walter ist aus Westdeutschland gekommen. Er ist jähzornig und grundlos eifersüchtig. Er war schon vier Mal verheiratet, bevor er mit Irmgard zusammenkam. Anfang des Jahres hat Irmgard die Scheidung eingereicht. Aber weil Walter meine Tochter so sehr angebettelt hat, hat sie das wieder rückgängig gemacht.“

Wo der Schwiegersohn sein könnte, wisse sie nicht. „Vielleicht bei einer Familie in der Immermannstraße 34. Dort verkehrt er manchmal.“

Als Polizeimeister Röpke schon die Wohnung verlassen will, sagt Frieda Sirr noch: „Ach, übrigens, meine Tochter hat mir mal erzählt, dass Walter bei einem Streit zu ihr gesagt hat: ‚An dir werde ich mich noch mal vergessen.‘“

Die Kriminalisten fahren weiter zur Immermannstraße. Doch die Eheleute Stör* haben Walter Tylle schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Die Polizisten erfahren, dass Familie Tylle einmal in der Nachbarwohnung gewohnt hat.

Aufgrund der vorgefundenen Lage in der Wohnung der Tylles und dem Verschwinden von Walter Tylle sehen die Ermittler vorläufig in ihm den Hauptverdächtigen. Das Kreisgericht Magdeburg-Süd erlässt am 27. Dezember Haftbefehl, der 56-Jährige wird zur Fahndung ausgeschrieben. In der Nervenklinik der Medizinischen Akademie findet die Polizei den Gesuchten. Um 22 Uhr an diesem Sonntagabend sitzt Tylle bereits vor seinen Vernehmern.

Von Blankenburg, wo er in den Harzer Werken gearbeitet habe, sei er 1952 nach Hamburg gegangen und dort bis zum Sommer 1956 auf der Deutschen Werft tätig gewesen, erzählt Tylle zu Beginn des Verhörs über seine berufliche Entwicklung. Im Herbst des Jahres sei er wieder in die DDR zurückgekommen. Seine Stationen seien dann das Getriebewerk Wernigerode und der VEB Erdgas Gommern gewesen. „Seit April 1957 bin ich in Magdeburg“, schließt er.

Dann spricht Tylle über seine Ehe: „Meine Frau war Serviererin. Sie trank sehr viel. Deshalb hat es oft Streit zwischen uns gegeben. Am 18. April ist Irmgard deshalb ausgezogen.“

Um Staatsanwalt Witter und Polizeimeister Röpke vom Magdeburger Polizeiamt klarzumachen, wen sie vor sich haben, brüstet sich Tylle mit seiner politischen Vergangenheit: „1931 bin ich in Hamburg in die Kommunistische Partei eingetreten, und nachdem ich aus der Kriegsgefangenschaft gekommen bin, habe ich mich sofort bei der KPD Hamburg-Harvestehude Rothenbaum gemeldet und wurde Leiter einer Straßenzelle.“ Nach seiner Übersiedlung nach Leipzig 1948 sei er in die SED aufgenommen worden. „Zwei Jahre später wurde ich durch die Quedlinburger Kreisparteikontrollkommission aus der SED ausgeschlossen. Ich war mit der Entwicklung, die die Partei nahm, nicht einverstanden.“

Dann schildert der Tatverdächtige das Zusammenleben mit seiner Ehefrau ausführlicher. Wild mit den Händen gestikulierend und mit Wut in der Stimme sagt er: „Ich will gar nicht so weit zurückblicken. Damit sie sich ein Bild machen können, will ich nur darauf aufmerksam machen, dass sich meine Frau an Volkseigentum vergriffen hat.“ Sie habe als Serviererin in der Gaststätte „Herrenkrug“ 20 Flaschen Wein für 6,75 Mark die Flasche gestohlen und verkauft. „Ich habe es als meine Pflicht angesehen, diese Tat bei der Polizei anzuzeigen.“

Aufgefallen sei ihm der Diebstahl, weil seine Frau 50 Mark im Portemonnaie gehabt hatte, deren Herkunft sie ihm nicht hatte erklären können. „Irmgard hat immer Geldsorgen gehabt, weil sie ihr Geld gleich in Zigaretten und Alkohol umgesetzt hat.“ Auf Nachfragen der Vernehmer gibt Tylle zu, bei Streitigkeiten mehrmals „tätlich“ gegen seine Frau geworden zu sein.

Aufgrund der Diebstahlsanzeige ihres Mannes war Irmgard Tylle Mitte Dezember 1959 von der Polizei vorgeladen worden. Die zweite Vorladung war am 22. Dezember mit der Post gekommen. Walter Tylle hatte das Schreiben geöffnet und seiner Frau spätabends unter die Nase gehalten. „Es gab wieder Streit“, berichtet der Verhörte. Als sie im Bett lagen, habe seine Frau gesagt: „Morgen werde ich dir einen Grund geben, damit du dich scheiden lässt.“

„Ich habe sofort verstanden, was Irmgard meinte, sie wollte sich einen Liebhaber anlachen. Das konnte ich doch nicht auf mir sitzen lassen.“ Es habe eine „längere Aussprache“ gegeben. „Dabei wurde ich recht erregt und ich habe das erste Mal daran gedacht, meine Frau und mich umzubringen“, sagt Tylle.

Nach dem Streit im Ehebett hatte der Verhörte weiter wach gelegen. Seine Frau lag auf dem Rücken, das Gesicht nach rechts, ihm abgewandt. „Ich hatte das Gefühl, dass meine Frau eingeschlafen war, und bin leise aufgestanden. Dann ging ich in die Toilette mit dem Werkzeugkasten an der Wand. Von dort holte ich mir einen Hammer, der unserer Hauptmieterin Frau Rilke* gehört, die seit einigen Tagen verreist war.“

Er habe sich wieder ins Bett gelegt und den Hammerstiel mit der rechten Hand fest umklammert. „Im Liegen habe ich zum Schlag ausgeholt und meiner Frau einen kräftigen Hieb auf den Kopf gegeben.“ Irmgard Tylle habe daraufhin instinktiv die Hände auf den Kopf gelegt, um sich zu schützen. Ihr Ehemann schlug noch zweimal zu.

„Meine Frau hat stark geröchelt und ich hatte den Eindruck, dass sie sehr schwer starb. Das konnte ich nicht mit anhören und zog ihr deshalb das Kissen unter dem Kopf hervor, legte es ihr über den Hals und drückte ihr gleichzeitig die Kehle zu. Sie sollte endgültig tot sein.“

Nachdem die 40-Jährige „völlig still geworden“ war und „nicht mehr atmete“, habe er ihr das Kissen wieder unter den Kopf gelegt. „Dann habe ich ihre Hände mit einem Waschläppchen sauber gemacht und sie ordentlich über Kreuz auf ihre Brust gelegt.“ Anschließend habe er die Bettdecke wieder „geordnet über sie ausgebreitet“.

Tylle war an den Tisch getreten, der rechts vom Doppelbett stand, und hatte aus dem weißen Kästchen einige Rasierklingen genommen. Damit legte er sich wieder ins Bett an die Seite seiner ermordeten Frau. Seinen linken Arm stützte er auf dem Stuhl neben seiner Bettseite ab und schnitt mehrmals mit den Klingen in seine linke Ellenbeuge. Um das Blut aufzufangen, hatte er zuvor eine Emailleschüssel daneben gestellt. „Um das Bett nicht zu sehr mit Blut zu verschmutzen, habe ich noch eine Schlafanzughose unter meinen Arm gelegt.“

Durch den Blutverlust sei er in eine Ohnmacht hineingedämmert und erst zwei Tage später, am 24. Dezember, wieder aufgewacht – auf dem Fußboden. „Ich habe sehr gefroren und bin wieder ins Bett gegangen. Abends bin ich wach geworden, habe mir einen Mantel übergezogen und bin zu meinen Nachbarn, Familie Ocker, gegangen.“

Am nächsten Tag, dem 28. Dezember, erlässt das Kreisgericht im Stadtbezirk VI um 14.45 Uhr Haftbefehl wegen Totschlags. Haftrichter Gartmann fragt den Beschuldigten noch einmal eindringlich, ob bei dessen Ehefrau vielleicht doch eine Schwangerschaftsunterbrechung vorgelegen habe. Der Jurist bezieht sich mit dieser Frage sowohl auf den „Blutkuchen“ in der Schüssel als auch auf die Tatsache, dass Irmgard Tylle aus dem Unterleib geblutet hat, wie der Arzt festgestellt hatte. Eine Abtreibung habe nicht vorgelegen, sagt Tylle. Dann wiederholt er, dass seine Frau eine „Trinkerin“ gewesen sei, die sich „an Volkseigentum vergriffen“ habe, um sich dadurch „Geld für Alkohol zu beschaffen“.

Am selben Tag, an dem Walter Tylle ins Magdeburger Untersuchungsgefängnis einzieht, untersuchen ein paar Straßen weiter die Rechtsmediziner der Medizinischen Akademie die Leiche Irmgard Tylles auf dem Seziertisch.

Der Tod ist durch Ersticken eingetreten, stellen die Obduzenten fest, wahrscheinlich durch einen „strangulierenden Vorgang“. Im Gutachten halten sie fest: „Der zur Erstickung führende Mechanismus konnte, allein anhand der Sektion, nicht festgestellt werden. Es ließen sich am Hals keine entsprechenden Spuren nachweisen. Deshalb muss es sich um ein sogenanntes weiches Strangulierwerkzeug gehandelt haben, das keine Spuren hinterlassen hat.“ Ein Kissen sei geeignet, bei entsprechend langem Strangulieren, den Tod herbeizuführen und hinterher keine oder nur sehr geringe Spuren zu hinterlassen.

Die beiden Wunden an der linken Kopfseite könnten von Hammerschlägen herrühren. Sie hätten jedoch „lediglich zum Platzen der Kopfschwarte geführt“ und seien keinesfalls tödlich gewesen. Allerdings könnten sie „Benommenheit oder gar die Betäubung“ des Opfers ausgelöst haben. Der Vergleich mit dem sichergestellten Hammer habe ergeben, dass es sich dabei um das Tatwerkzeug handelt.

Um sich ein genaues Bild vom Charakter Tylles machen zu können, werden von den Ermittlern der Mordkommission Verwandte und Bekannte der Familie als Zeugen vernommen. Frieda Sirr, die Schwiegermutter Walter Tylles, sitzt am 29. Dezember erneut vor Polizeioberleutnant Winter.

Die Serviererin berichtet, dass sie seit der Hochzeitsfeier ihrer Tochter am 24. Januar 1959 keinen Kontakt mehr zum Schwiegersohn gehabt habe. „Ich habe ihm verboten, je wieder mein Haus zu betreten.“ Als sie den Grund dafür nennt, gerät sie sichtlich in Erregung. „Ich wollte mit meiner Tochter das Essen besprechen, das am Hochzeitsabend serviert werden sollte. Deshalb sollte Irmgard zu mir in die Küche kommen. Als sie nicht kam, habe ich ihr vor den versammelten Hochzeitsgästen zugerufen: ‚Kommst du nun endlich, oder was?‘“ Daraufhin habe sich der Bräutigam „eingeschaltet“ und ihr in den eigenen vier Wänden den Mund verboten. Jetzt habe er über Irmgard zu bestimmen, nicht mehr die Mutter. „Scher dich in die Küche, du Dreckputtel“, habe er sie beschimpft. „Da habe ich ihm augenblicklich die Tür gewiesen.“

Später habe sie erfahren, dass ihre Tochter „ein unerträgliches Eheleben führt“. Aufgrund seiner Eifersucht habe ihr Schwiegersohn ständig versucht, Irmgard aus ihrem Beruf als Kellnerin zu drängen. So habe die Tochter häufig die Arbeitsstätten wechseln müssen. Sie sei im „Gewerkschaftshaus“ und in der „Hansa-Gaststätte“ in Magdeburg-Neustadt beschäftigt gewesen.

Als Irmgard ihren Mann nach einem erneuten „Eifersuchtsanfall“ verlassen hatte, habe die Tochter einige Tage bei ihr gewohnt. „Als sie nach Hause zurückkam, hatte Walter Tylle ihre gesamte Kleidung und Wäsche verbrannt“, erzählt die 64-Jährige aufgebracht. Sie habe Irmgard zwei Wochen vor Weihnachten das letzte Mal gesprochen.

Am Schluss der Vernehmung fügt Frieda Sirr noch hinzu, dass Tylle ein großes Messer besitze. „Davor hat meine Tochter regelrecht Angst gehabt.“

Die Aussage der Hauptmieterin Beate Rilke*, die gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt ist, wird zu einem weiteren Mosaiksteinchen, das dazu beiträgt, ein klares Bild des Mordfalls Tylle bei den Kriminalisten entstehen zu lassen.

Seit dem 16. Juni 1959 wohne Walter Tylle in ihrer Wohnung, gibt Frau Rilke an. Als er sich um das Zimmer beworben hatte, habe sie erfahren, dass er mit seiner Frau in Scheidung lebt. „Eigentlich wollte ich lieber eine Untermieterin. Bei Tylle habe ich befürchtet, dass irgendwann mal eine Frau erscheint und meine Wohnung auf den Kopf stellt.“ Doch hatte sie sich von Tylle überzeugen lassen. Schon im ersten Gespräch habe sie festgestellt, dass er „über reichliches Wissen verfügt“. Das habe sie schließlich umgestimmt, worauf sie das Zimmer an ihn vermietete.

Vier Wochen lang habe der „gebildete Herr Tylle“ allein gewohnt, und sich während dieser Zeit oft Bücher aus ihrer Bibliothek entliehen. „Insbesondere studierte er Heine und Hegel.“

Sie habe von ihm erfahren, dass seine Frau als Serviererin arbeitet und dem Alkohol verfallen ist. In diesem Zusammenhang erinnert sich die Rentnerin an einen Brief, den ihr Untermieter an seine Frau geschrieben hatte. „Angeregt durch das Buch ‚Heine und Mathilde‘ hatte er ihr einen rührenden Brief geschrieben. Er hat ihn mir vorgelesen.“ Wenig später sei Antwortpost gekommen. Darin habe seine Frau eingeräumt, Mitschuld an dem Zerwürfnis zu tragen, und ein Treffen vorgeschlagen.

Dieses hatte dann in Tylles Zimmer stattgefunden. „Ich war zwar erst dagegen, weil er mir seine Frau als so schlecht beschrieben hat“, sagt sie, „aber zuletzt habe ich dann doch zugestimmt.“

Das Paar hatte sich nach dem Gespräch wieder vertragen. Beide seien zum Gericht gegangen und hätten die Scheidung widerrufen. Wenig später zog Irmgard Tylle mit in das Zimmer ein. „Ich lernte die Ehefrau kennen und war sehr überrascht: Sie war anständig, arbeitsam, aufgeschlossen, überaus ehrlich, lebenslustig und hilfsbereit. Ich habe nicht festgestellt, dass sie ständig betrunken nach Hause kommen würde.“

Lediglich einmal habe sie ihre neue Untermieterin „angetrunken“ nach der Nachtschicht als Serviererin erlebt. Ein riesiger Krawall sei die Folge gewesen. „Herr Tylle hat seine Frau in mein Zimmer gestoßen und geschrien: ‚So sieht ein besoffenes Weib aus.‘ Ich habe ihr jedoch kaum etwas angemerkt. Sie schwankte nicht und hat auf mich nur einen verweinten, ängstlichen Eindruck gemacht.“

Die Auseinandersetzung zwischen dem Ehepaar sei dann im Zimmer der Tylles weitergegangen. „Ich habe gehört, wie die Frau rief: ‚Fräulein Rilke, Fräulein Rilke, so helfen Sie mir doch … ‘“ Nachdem sie ins Zimmer gegangen war, habe sie gesehen, dass Tylle seine Frau kräftig auf das Bett gedrückt und ihr brutal den Mund zugehalten hat. „Am nächsten Tag war ihr Gesicht grün und blau.“ Sie habe Angst gehabt, dass ihr Untermieter seine Frau umbringen könnte.

Marianne Reck* hatte Tylle im Januar 1957 während ihres Urlaubs in Wernigerode kennengelernt. Sie wird am 4. Januar 1959 von Winter verhört, um den Charakter des Tatverdächtigen näher zu beleuchten. Ihr Verhältnis sei „intim“ geworden und er habe sie mehrfach in Magdeburg besucht, gibt die Zeugin an. „Walter ist sehr jähzornig. Er hat mich mehrfach geschlagen. Als ich mich daraufhin von ihm trennen wollte, hat er mich bei der Kaderabteilung auf meiner Arbeit schlechtgemacht. Ich sei ‚kein Marxist‘. Meine Taten und Worte würden nicht übereinstimmen“, berichtet die 43-Jährige. Tylle habe sie immer weiter belästigt, so dass sie ihn beim Schiedsmann verklagt hatte. „Beim Sühnetermin hat er sich dann bei mir entschuldigt. Damit war die Sache für mich erledigt.“

Doch am Morgen des 11. September 1957 habe ihr Tylle vor der Wohnungstür aufgelauert, sie in ihre Wohnung zurückgedrängt, sie dort am Hals gewürgt und ihr den Mund zugehalten. „Er hat gedroht, mich zu töten und sich dann selbst umzubringen, wenn ich nicht mit ihm zusammenbleibe.“ Dann habe er sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Danach sei es ihr gelungen, die Wohnung zu verlassen und die Polizei zu alarmieren. „Als ich mit einem Polizisten zurückkam, hatte Tylle die Tür mit Möbeln verrammelt und sich mit einem Küchenmesser am Hals verletzt. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert.“

Am Schluss ihrer Aussage erzählt Marianne Reck, dass Tylle immer den Eindruck vermitteln wollte, dass er sehr gebildet sei und über großes Wissen verfüge – besonders auf mathematischem Gebiet.

Hildegard Schmidt* kennt Irmgard Tylle aus der Zeit, als die Familie noch in der Immermannstraße wohnte. Auch sie bezeugt, dass Frau Tylle von ihrem Ehemann geschlagen wurde. „Einmal musste sie sich sogar im Altstädtischen Krankenhaus behandeln lassen“, untermauert sie ihre Aussage. Außerdem ließ Tylle seine Frau „geschlechtlich keine Nacht in Ruhe. Das alles könne sie nicht mehr ertragen. Sie wolle zu ihrer Mutter ziehen.“ Nachdem Frau Tylle die Wohnung verlassen hatte, habe ihr Mann noch ein paar Wochen in der Immermannstraße gewohnt und sei dann zur Olvenstedter Straße gezogen.

Auch die politische Vergangenheit des Beschuldigten, mit der Tylle hausieren geht, wird untersucht. Ein früherer Hamburger KPD-Angehöriger, der inzwischen in Leipzig lebt, wird dazu befragt. Von einer KPD-Zugehörigkeit Tylles vor 1933 wisse er nichts, und nach 1945 habe Tylle nur wenig Vertrauen genossen, da er sich zu sehr mit der britischen Besatzungsmacht abgegeben und für die Engländer „sogar als Dolmetscher gearbeitet“ habe. Nach Leipzig sei Tylle seiner Meinung nach nur gegangen, weil er sich arbeitsmäßig und finanziell verbessern wollte – nicht aus politischer Überzeugung.

Nach den Zeugenbefragungen und der Auswertung der medizinischen Gutachten sind sich die Kriminalisten sicher, dass Tylle ihnen nicht die volle Wahrheit gesagt hat. Am 10. Januar 1960 wird gegen Walter Tylle ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der gebürtige Hamburger stehe „im dringenden Verdacht, gemeinsam mit einer bisher noch unbekannten Frau eine Schwangerschaftsunterbrechung bei seiner Ehefrau vorgenommen zu haben, an deren Folgen sie verstarb“.

Zwei Tage später wird Tylle zum dritten Mal vernommen. Nach wie vor wirft er seiner Frau vor, schuld an der schlechten Ehe gewesen zu sein, besonders ihr „leichtfertiges Verhalten Männern gegenüber“ habe der Beziehung geschadet. Angezeigt habe er sie aus „persönlichem Rechtsempfinden“. Außerdem beschuldigt er nun seinerseits seine Frau, in sexuellen Dingen „maßlos“ gewesen zu sein. Auch am Tatabend habe sie „in eindeutiger Form“ den Beischlaf von ihm gefordert. „Ich bitte darum, auf das Wie nicht näher eingehen zu müssen“, drückt er sich vor einer detaillierten Aussage.

Nachdem er die Mordtat erneut geschildert hat, klärt er auch das Rätsel des „Fresko Sonetts an Christine S.“ auf. „Ich habe es acht bis zehn Tage vor dem schlimmen Vorfall geschrieben. Ich habe das Werk in einem Heine-Buch gefunden und wörtlich abgeschrieben. Mit der Tat hat das Schreiben überhaupt nichts zu tun“, beteuert er.

Nachdem die Morduntersuchungskommission den Fall so gut wie abgeschlossen hat, bittet Tylle Anfang Februar 1960 die Gefängnisleitung um eine weitere Unterredung mit den Kriminalisten. Doch was er am 8. Februar Oberleutnant Schmidt mitzuteilen hat, ist für das Verfahren kaum von Bedeutung. Es geht ihm darum, „seine Person in das richtige Licht zu rücken“. Deshalb schildert er dem Polizisten ausführlich seine Kriegs- und Nachkriegserlebnisse.

Zum Schluss fällt ihm noch eine „Kleinigkeit“ ein: „Der Hammer lag nicht im Werkzeugschrank, sondern auf einem Schränkchen in unserem Zimmer.“ Nach der Tat habe er ihn jedoch in den Werkzeugkasten im Klo zurückgelegt.

Das nervenfachärztliche Gutachten spricht auf 23 Seiten von einer „gemütslosen, bindungslosen, brutal-rücksichtslosen, des Mitleids unfähigen und expansiven Persönlichkeitsstruktur“. Außerordentlich bemerkenswert sei im Zusammenhang mit der Tat, dass Tylle zwei Tage neben der Leiche seiner Frau im Bett liegen geblieben ist.

„Der anfängliche Verdacht, dass schizoide Züge vorliegen könnten, hat sich nicht bestätigt.“ Ebenso wenig die Annahme eines krankhaften Eifersuchtswahns. Die Voraussetzungen des Paragraphen 51 (Schuldunfähigkeit oder eingeschränkte Schuldfähigkeit) liegen daher nicht vor.

Am 5. Mai 1960 beginnt vor dem II. Senat des Bezirksgerichts Magdeburg der dreitägige Prozess gegen Walter Tylle. Fünf Zeugen und vier Sachverständige werden gehört.

Dabei geht es auch noch einmal um die angebliche Alkoholsucht des Opfers. Doris Klose, die Tochter der Toten, schildert, wie sie von Tylle auf dem Weg zur Arbeit „abgefangen“ worden war. „Er beeinflusste mich, mit ihm zur Trinkerfürsorge zu gehen.“ Ihre Mutter habe zwar ab und zu getrunken, „aber nicht stark. Sie konnte nur nichts vertragen.“

Heinrich Moll* von der Alkoholikerberatungsstelle, der am 25. November 1959 von Tylle und seiner Stieftochter aufgesucht worden war, hatte kurz darauf ein Gespräch mit Irmgard Tylle geführt und auch Erkundigungen über sie eingezogen. „Wir haben nicht feststellen können, dass Frau Tylle Trinkerin ist.“

Auch Kurt Raps*, Abteilungsleiter der HO-Gaststätten, stellt Irmgard Tylle ein gutes Zeugnis aus. Getrunken habe sie nur in dem Maße, wie es alle tun, die im Gaststättengewerbe arbeiten, lautet seine nicht ganz eindeutige Aussage.

Am 9. Mai 1960 spricht Richterin Krug den Angeklagten schuldig und verurteilt ihn zu lebenslangem Zuchthaus. Im vorliegenden Falle sei von der Todesstrafe abzusehen, führt sie aus, weil „in unserem Arbeiter- und Bauernstaat feste gesellschaftliche Verhältnisse bestehen und unsere Gesellschaft stark genug ist, derartige Verbrecher so zu isolieren und sie durch eine lebenslange Zuchthausstrafe von weiteren Verbrechen abzuhalten“.

Tylle legt gegen das Urteil Berufung ein, es solle ihm Gelegenheit gegeben werden, „Entlastungszeugen“ ausfindig zu machen, die aussagen, was er bisher geleistet habe und was er für ein Mensch sei. „Außerdem liegt mir daran, den Tathergang richtig zu schildern.“ Das Oberste Gericht der DDR lehnt den Antrag am 31. Mai 1960 als „offensichtlich unbegründet“ ab.

Am 31. Januar 1978 wird der nunmehr 75-Jährige nach seiner Begnadigung durch den Staatsrat der DDR in ein Magdeburger Pflegeheim entlassen.

Der Tote vorm Lokal

Verwerfliche Tat“, unter dieser Schlagzeile berichtet die Magdeburger „Volksstimme“ am 28. Dezember 1962 über ein Kapitalverbrechen, das sich eine knappe Woche zuvor im Altmarkdorf Fleetmark ereignet hatte. Zu diesem Zeitpunkt sitzt der 29 Jahre alte Täter bereits in Untersuchungshaft und hat die Messerstiche gegen einen 22-Jährigen gestanden. Doch war es Totschlag oder Körperverletzung mit tödlichem Ausgang? Eine Frage, die die Instanzen vom Kreisgericht Salzwedel bis zum Obersten Gericht der DDR zwei Jahre lang beschäftigen wird.

Sonnabend, der 22. Dezember 1962. Walter Buckow* beginnt seine Arbeit im Volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetrieb für landwirtschaftliche Erzeugnisse (VEAB) in Fleetmark. Der 29-Jährige schaufelt Getreide um – bis 9.30 Uhr, dann ist Frühstückspause. Im Aufenthaltsraum drehen sich die Gespräche der Sieben-Mann-Runde hauptsächlich um Fußball und Filme.

Als Buckow eine halbe Stunde später gerade seine Brotbüchse wieder einpacken will, kommt der Erfassungsstellenleiter in den Frühstücksraum. Er hat eine große Flasche Weinbrand in der Tasche und lädt die VEAB-Mitarbeiter zum Schnaps ein. Draußen sind es zwölf Grad unter Null und die Arbeiter lassen sich nicht lange bitten.

Als die Flasche um 12 Uhr leer ist, geht ein Kollege los, um Nachschub zu holen – zwei kleine Flaschen Weinbrand. Eineinhalb Stunden später sind auch diese Flaschen geleert. Das „verlängerte Frühstück“ mündet übergangslos in die Mittagspause. Der Lagerarbeiter fährt mit dem Fahrrad nach Hause in den Mühlenweg. Seine Frau hat Spinat mit Spiegelei gekocht.

Da sein Durst noch nicht gelöscht ist, bricht er anschließend zur Bahnhofsgaststätte auf. Sie liegt auf dem Weg zum VEAB. Dort trifft er Hans Büntje*, der im Mantel am Tresen steht. Der junge Mann ist um 14.15 Uhr mit dem Zug aus Stendal angekommen. Die beiden Männer kennen sich vom Sehen und nicken sich zu. Buckow bleibt eine gute halbe Stunde im Lokal und trinkt vier Schnäpse.

Dann fährt er zum VEAB und hilft bis gegen 17.30 Uhr zwei Waggons mit Getreide zu entladen. Das macht eine trockene Kehle. Deshalb zieht es den 29-Jährigen nach Arbeitsschluss erneut in die Bahnhofsgaststätte. Und ihm fällt auf, dass Büntje immer noch an der Theke steht. Buckow trinkt in der Bahnhofswirtschaft zwei Bier und vier, fünf Schnäpse. Dabei kommt er mit dem Stendaler ins Gespräch.

Der 22-Jährige will seine Eltern im Nachbarort Lübbars, einem Ortsteil von Kerkau, besuchen, ist jedoch in der Kneipe hängen geblieben. Der junge Mann, der im Reichsbahn-Bauzug in Stendal arbeitet, gilt als „gut erzogen“, aber auch als Mensch, der „öfter mal tief ins Glas schaut“, wie der Kerkauer Bürgermeister später einschätzt. In angetrunkenem Zustand werde Büntje „reizbar und anzüglich“. Doch nüchtern gebe es an ihm „nichts auszusetzen“.

Da es im Bahnhof nichts Ordentliches zu essen gibt, schlägt Walter Buckow gegen 19 Uhr vor, in die nicht weit entfernte Konsumgaststätte zu wechseln. „Ich will zwar nach Hause“, sagt Büntje mit schwerer Zunge, „aber ich komme noch mit.“ Die Männer gehen von der Bahnhofstraße den Weg, der über eine kleine Böschung führt, zum Platz vor der Gaststätte.

Buckow betritt den Gastraum als Erster, setzt sich an den dritten Tisch am Fenster und bestellt einen Kaffee und einen Schnaps.

Kurz darauf kommt auch Hans Büntje, der sich draußen noch erleichtert hat, in die Gaststube, mit den drei Vierer- und zwei Achtertischen. Der Angetrunkene knallt seinen Koffer laut auf den ersten Tisch, an dem bereits ein Gast sitzt. Gastwirt Fritz Selm* zieht die Stirn in Falten und ruft Büntje zur Ordnung: „So was gibt’s hier nicht. Benimm dich anständig!“

Doch der Bahnarbeiter scheint die Worte gar nicht aufgenommen zu haben. Er ruft: „Bring mal ’nen Schnaps!“ Doch der Wirt schüttelt den Kopf: „Du hast genug, Junge. Kaffee oder Brause kannste haben.“

Während des Wortwechsels ist Buckow an die Theke gegangen und hat für seine Frau eine Schachtel Pralinen sowie eine Tafel Schokolade gekauft. Fritz Selm wickelt ihm die Süßigkeiten ein.

Buckow, der ebenfalls nicht mehr nüchtern ist, trinkt an der Theke weiter – drei Schnäpse. Dabei beginnt er Streit mit Kurt Olaf*, der am Tresen sein Bier trinkt. Beide stehen sich mit geballten Fäusten gegenüber und es hat den Anschein, als wollen die Männer gleich aufeinander los gehen. Doch der Wirt tritt dazwischen und schlichtet die Auseinandersetzung.

Buckow setzt sich an den Tisch von Hans Büntje – nun geht es um eine neue Runde, die bestellt werden soll. Buckow hat kein Geld mehr und Büntje gibt ihm einen Fünfmarkschein. Doch Buckow holt kein Bier und Schnaps von der Theke. Das ärgert Büntje. Besonders deshalb, weil er ein gebranntes Kind ist. Er hatte einem Kollegen in Stendal 40 Mark geliehen, sie jedoch nicht wiederbekommen. Erst als er geklagt hatte, zahlte der Kollege seine Schulden.

Dem will Büntje diesmal von vornherein aus dem Wege gehen. Er verlangt von der Wirtin Gertrud Selm* einen Zettel und schreibt auf das Stück liniiertes Papier: „Am 22. 12. 62 habe ich dem Walter Buckow 5 DM geborgt und bitte diese zurückzubekommen. Unterschrift:“

Doch Buckow denkt gar nicht daran, den „Schuldschein“ zu unterschreiben. Er zerreißt das Papier und wirft es in den Aschenbecher. Doch Büntje schreibt einen neuen Schein und hält ihn Buckow wenig später unter die Nase. Darüber geraten die beiden in Streit. Erst schreien sie sich an, dann schubsen sie sich gegenseitig. Büntje fällt dabei vom Stuhl. Buckow will sich auf den Liegenden stürzen, aber er bekommt einen Tritt in den Unterleib. Zum zweiten Mal an diesem Abend geht der Wirt zwischen zwei Kampfhähne: „Hier wird sich nicht geprügelt! Habt ihr das verstanden? Wenn ihr was miteinander auszumachen habt, geht auf die Straße!“, schreit Selm. Das scheint die Männer zur Besinnung zu bringen. Der Stendaler klopft dem Fleetmarker auf die Schulter und sagt: „War nicht so gemeint.“

Doch kurz darauf flammt erneut ein Streit auf. Walter Buckow legt sich mit zwei anderen Gästen an. Wieder droht eine Schlägerei. „Jetzt ist aber Schluss!“, so der Wirt. „Du kriegst jetzt auch nichts mehr“, knöpft sich Selm den Betrunkenen vor. Das ärgert Buckow. Er zieht sein Taschenmesser und hält es dem Gaststättenleiter mit der abgewandten, achteinhalb Zentimeter langen Klinge vors Gesicht. Doch der sagt nur: „Steck das Ding weg!“, wendet sich ab und geht in den Nebenraum, um Abendbrot zu essen.

In der Zwischenzeit bedient seine Ehefrau weiter. Und erneut gibt es Streit um den „Schuldschein“. „Was willste, 5 Mark von mir?“, hört Gertrud Selm vom Tresen aus Buckow blubbern. „Du kriegst gleich 5 Mark. Komm mit raus, da kriegst du 5 Mark. Aber frag nich wie.“ Dann gehen Buckow und Büntje aus dem Lokal.

Was sich in den nächsten drei Minuten im Schummerlicht vor dem Fachwerkbau zuträgt, ist bis heute nicht hundertprozentig sicher. Die Einzigen, die den Hergang der Bluttat aufhellen könnten, sind dazu nicht in der Lage: Hans Büntje stirbt auf der dünnen Schneedecke vor der Eingangstür der Konsumgaststätte, und Walter Buckow will oder kann sich später aufgrund seiner Trunkenheit an Einzelheiten nicht mehr genau erinnern. Doch mit großer Wahrscheinlichkeit kommt der Tathergang, so wie er vom Magdeburger Bezirksgericht Mitte 1965 dargestellt wird, der Wahrheit am nächsten.

Büntje, mit über 1,80 Metern größer als Buckow und betrunkener als der 29-Jährige, öffnet die Tür des Gastraums und bedeutet Buckow mit einer Geste, dass er vorangehen soll. Dann taumelt er selbst in den Flur des Hauses. Dort lässt Buckow dem Dunkelblonden den Vortritt ins Freie. Doch kaum ist er über die zwei niedrigen Eingangsstufen hinweggestolpert, geht er auf Büntje zu. Der greift ihn am Kragen und fragt: „Was willst du denn von mir?“ Buckow stößt ihn zurück, aber der Stendaler geht erneut auf ihn zu. Bukow hält den 22-Jährigen mit der rechten Hand fest, greift mit der linken in die Hosentasche, holt sein Taschenmesser heraus und öffnet es zwischen Daumen- und Zeigefinger ein Stückchen. Dann streicht er mit der Waffe an seinem linken Filzstiefel entlang und klappt sie so völlig auf. Unmittelbar danach sticht er dreimal in die rechte Seite des Stendalers. Ein Stich verletzt die Lunge. Büntje krümmt sich nach rechts. Diese Gelegenheit nutzt Buckow, um ihm einen kräftigen Stich in die linke Halsseite zu versetzen. Der Stendaler bricht zusammen und fällt in die Knie. Er ist auf der Stelle tot. Der Täter hält sein Gegenüber unter den Achseln fest, schüttelt ihn und ruft „Hansi, Hansi! Steh auf! Was ist denn …?“ Dann wird ihm klar, dass er einen Toten in den Armen hält. Er lässt ihn langsam zu Boden gleiten und läuft nach Hause.

Im Lokal geht die Frau des Wirtes in den Nebenraum, wo Fritz Selm Abendbrot isst: „Komm doch mal rüber“, fordert sie ihn auf, „Buckow und Büntje sind nach draußen gegangen. Wenn man da nichts passiert.“

Als er die Gaststube betritt, hört er gerade, wie seine Ehefrau dem Grenzsoldaten Herbert Off* bittet: „Geh doch mal raus nachsehen, was die beiden treiben.“ Und der Angehörige des 23. Grenzregiments in Gardelegen, der auf Urlaub in Fleetmark weilt, geht aus dem Gastraum. Es ist gegen 22.45 Uhr, als der Grenzer Büntje auf dem Rücken liegen sieht – direkt vor dem Eingang, gleich neben der Seuchenmatte mit den Sägespänen.

Off fühlt den Puls des Mannes, kann ihn jedoch nicht finden. Auch ein zweiter Gast, Wilfried Fließ*, bemüht sich um Büntje. Sie schütteln den Leblosen. Ohne Erfolg. Inzwischen ist auch Gastwirt Selm nach draußen gekommen. Er hört, wie der Grenzer sagt: „Das hat keinen Zweck.“

Dann laufen die drei wieder in die Gaststätte. Off ruft schon von der Tür: „Der Büntje ist tot. Alles ist voller Blut!“ Fließ telefoniert mit dem Abschnittsbevollmächtigten der Polizei und dem Roten Kreuz.

Gerda Buckow* hat an diesem Abend nicht mit dem Abendbrot auf ihren Mann gewartet. Er hatte ihr schon beim Mittagessen gesagt, dass es später werden kann, weil noch Getreidewaggons zu entladen seien. Die 29-Jährige war bei ihren Eltern zum Fernsehen gewesen und hat sich gerade hingelegt, als jemand an der Türklinke rüttelt. Gerda Buckow wundert sich, denn ihr Mann weiß, dass der Schlüssel im Fenster liegt, damit er aufschließen kann, wenn er später nach Hause kommt.

Sie geht an die Tür und öffnet. Ihr Mann steht zitternd und weinend in der Veranda: „Das habe ich nicht gewollt. Das nicht. Das habe ich nicht gewollt“, sagt er immer wieder. Gerda Buckow fragt: „Um Gottes willen, was ist denn passiert?“ Doch ihr Ehemann stammelt nur: „Ich konnte mich doch nicht erwürgen lassen. Und jetzt ist er tot.“ Wer denn tot sei, will seine Frau wissen. „Der Büntje aus Lübbars.“

Die Hausfrau ahnt, dass etwas Schreckliches passiert sein muss und ihr Mann darin verwickelt ist. Ihr wird schwarz vor Augen und sie muss sich am Tisch festhalten. Als sie sich wieder etwas gefangen hat, fällt ihr auf, dass der blaue Schlosseranzug ihres Mannes auf dem Rücken voller Straßenschmutz und Sägespäne ist.