Über Paolo Maurensig

Paolo Maurensig, geboren 1943 in Norditalien, hat verschiedene Berufe ausgeübt, bevor er das Schreiben für sich entdeckte. Publikum und Presse begeisterte er mit seinem ersten Roman Die Lüneburg-Variante (1994), mit dem Nachfolgeroman Spiegelkanon (1997) gelang ihm der internationale Durchbruch. Er lebt nahe Udine in Italien.

Ihre Unverfrorenheit erwacht augenblicklich wieder, obwohl sie keineswegs aus einer höheren Schicht stammt und keine Erziehung genossen hat, die ihr eine ausgeprägte Fähigkeit zur Heuchelei vermittelt hätte. Sie beherrscht alle Schattierungen der professionellen Galanterie, die ihre eigentliche Bestimmung ist. Zur Kurtisane berufen, versteht sie, sinnliche Begierde zu wecken und sich in sie mit einer erstaunlichen Kunst hineinzuversetzen. Sie weckt die Verdorbenheit des Mannes und fesselt ihn durch klugen Einsatz der Unkeuschheit. Und man liebt sie bis zur Selbstaufgabe und verachtet sie bis hin zum Mord …

J. Péladan

1

Im alten Wohnviertel unserer Stadt gibt es eine von Bäumen gesäumte Allee, die von allen begangen wird. Es ist eine stille, abseits des Verkehrs gelegene Straße unter Platanenreihen. Buchsbäume und Liguster wechseln sich mit schmiedeeisernen Gittern ab, und jenseits der Hecken, die zu hoch sind, um einen Blick hinüberwerfen zu können, gehen uns die Wachhunde leise voraus und wittern unsere Gestalten, um uns im geeigneten Augenblick dort zu überraschen, wo einige Lücken im Blätterwerk es ihnen ermöglichen, die Schnauze durch den Zaun zu strecken. Hinter ihrem Schweigen verbirgt sich eine verhaltene Drohung, eine Spannung, die bei unserem Näherkommen wächst und allmählich erlischt, sobald unsere Schritte sich entfernen.

Villen, wie sie in diesen Gegenden zu sehen sind, werden nicht mehr gebaut: Häuser im späten Jugendstil, mit Türmen, Oberlichtern und mit Fialen gespickten Dächern, im Schutze zahlloser Schornsteine von noch bizarreren Formen. Die schönsten Mauern dieser Behausungen bergen noch Farbschattierungen in Rosa und Indigoblau. Andere hingegen verwittern in Grau, ersticken manchmal unter einer abnormen Pflanzenfülle.

Unter diesen Häusern ist eines besonders hervorzuheben, vielleicht das älteste an dieser Straße, das auf der Spitze des Daches seines Türmchens eine inzwischen zerstörte Sternwarte trägt, heute nur noch Wohnung von Turteltauben, die sich hin und wieder in die Luft erheben wie ein Applaus von behandschuhten Händen. Es ist eine massive Konstruktion mit bauchigen schmiedeeisernen Balkonen. Auf seinem Putz sind noch Reste eines, unter dem Dachsims leuchtenderen, Blumenschmucks erhalten geblieben. Ansonsten verfallen die Mauern, und alle Fenster sind hinter Läden verborgen, würden nicht einige der Läden schief in den Angeln hängen und die Sicht auf die schwarzen Spiegel der Scheiben freigeben.

Das Haus ist auf drei Seiten von einem großen Park umgeben. Hinter der ungepflegten Buchsbaumhecke erkennt man noch von Brombeeren und Gestrüpp überwucherte Wege, die das Unterholz teilen, das von perlfarbenen Kugeln einiger geisterhafter Hortensien belebt wird. Jener wuchernde Lorbeerstrauch, der heute ein Öffnen der Gartentür verhindert, wurde einst regelmäßig von einem Gärtner beschnitten, damit er nicht mit der Überfülle seiner Zweige den Durchgang behinderte.

In diesem Haus verbrachte ich vor vielen Jahren einen Frühling und einen Sommer. Sehen Sie, dort oben wohnte ich. Das war das Fenster meines Zimmers, das Observatorium der neuen Existenz, die ich an der Schwelle zu meinen vierziger Jahren begonnen hatte. Einige Episoden unseres Lebens scheinen unvollendet zu sein, und deshalb zwingen wir uns fast, sie unzählige Male wieder aufleben zu lassen auf der Suche nach einem Abschluss oder vielleicht nur in der Hoffnung, dass die Gewohnheit uns Erleichterung verschafft. Jahrelang habe ich im Traum dieses Haus immer wieder besucht. Ich sah deutlich die Oberfläche seiner Wände, jeden kleinsten Riss im feinen Putz, die winzigen Schimmelausblühungen oder den hartnäckigen Druck der darunter liegenden Farbe, die auf die Dauer wieder auftauchte und undeutliche Nebelflecken zeichnete. Das alles stand wie ein großes Gemälde vor meinen Augen, gemalt, möchte ich sagen, mit einem Pinsel aus groben Borsten, der feine Streifen und tiefe Furchen ähnlich einer großen metaphysischen Tafel hinterlassen hatte.

2

Doch sehen wir uns das Haus an, wie es einst war. Kehren wir zurück zu einem Spätsommernachmittag vor fünf Jahren. Treten wir durch die noch von einem kurzen Sommerregen mit Perlen besetzte Gittertür. Über den Himmel streifen strahlend weiße Wolken, die einer zerrissenen Montgolfiere ähneln. Es ist eine geizige Jahreszeit, die die Sonne in kleinen Schlückchen trinkt wie ein kostbares Gläschen Apfelwein. Jetzt wird das Licht im dichten Laubwerk fransig, durch das Stimmen – und ein Kläffen – zu uns dringen. Aber haben Sie keine Angst, trotz seines Furcht einflößenden Anblicks tut der Bluthund, der uns in Kürze entgegen kommen wird, niemandem etwas. Da bricht er auch schon aus dem Gebüsch hervor, und nachdem er einige Scherze versucht hat, um uns zum Spiel aufzufordern, trottet er vor uns her zu einer Stelle, die in dem grünen Komplex des Gartens heller zu leuchten scheint. Es ist eine Trauerweide, unter deren Laube aus herabfallenden Zweigen ein runder Steintisch steht, mit einer eingegrabenen Bank, die ihn wie ein Saturnring umgibt. Auf ihr sitzt ein Mann, der uns den Rücken zukehrt. Weiter hinten, jenseits seiner Gestalt, sehen wir einige Menschen, die auf einem frisch geschnittenen Grasbelag Tennis spielen.

Der vor uns sitzende Mann hält in der Hand eine Filmkamera, die er hin und wieder auf die Spieler richtet. Dann dreht er den Oberkörper, streckt den rechten Arm aus und stellt sie an den Rand des Tisches. Sobald er uns bemerkt, steht er auf und kommt uns entgegen.

Während er näher kommt, können wir erkennen, dass er ein grauhaariger Mann mittleren Alters ist, der eine Brille mit einer dicken Fassung aufhat. Er trägt ein ausgeblichenes grünes Lacostehemd und kurze Hosen aus weißem Stoff, die seine etwas zu schmächtig geratenen Beine entblößen, welche seinen massigen Oberkörper kaum tragen können. Er läuft etwas gebeugt, aber man bemerkt sofort, dass er es aus einer Art Geziertheit tut. »Guten Tag! Ich bin Ermes Deravines … Professor Deravines«, fügt er gleich danach mit einem fast entschuldigenden Lächeln hinzu. »Mein Vater hat mir immer geraten, nicht den Titel wegzulassen. Für Freunde bist du Ermes, hat er zu mir gesagt, aber wenn du den Nachnamen zufügst, denke immer daran, dass du ›Professor‹ bist. Mein Vater … Sie hätten ihn kennen sollen! Er legte großen Wert auf diese Dinge: Titel, Auszeichnungen, akademische Laufbahn, Tradition, den guten Namen … Er nannte mich Professor oder besser Professorchen, als ich noch zur Volksschule ging. ›Was hat unser Professorchen denn heute gemacht?‹, hat er mich jedes Mal gefragt, wenn ich von der Schule mit der Schultasche unter dem Arm und dem Rotz an der Nase nach Hause kam. ›Zeig mir deine Hefte. Hm, hm, nicht schlecht unser Professorchen, nicht schlecht.‹ Er wollte um jeden Preis einen würdigen Nachfolger haben, einen, der seine Forschung fortführte, seinen Namen verewigte, ihn nach dem Tod an all diesen schrecklichen Orten repräsentierte, die er für gewöhnlich aufsuchte. Wenn einer der Verwandten bei uns zu Gast war und mir die übliche dumme Frage gestellt wurde: ›Was willst du werden, wenn du groß bist?‹, eine Frage, die, da bin ich mir sicher, jeder Wahlfreiheit ein Ende setzte und jeden schöpferischen Impuls im Keim erstickte, dann verlor das Gesicht meines Vaters jenen autoritären Ausdruck, und er starrte mich flehentlich an. Ich weiß, dass er in diesen langen Augenblicken, bevor ich die von ihm erwartete Antwort geben konnte, den Atem anhielt. Aber ich wollte ihm damals in keinster Weise widersprechen, und wenn ich jemals einige Sekunden mit der Antwort zögerte, so war es, weil ich sie gut formulieren wollte, selbst wenn mir die Bedeutung keineswegs klar war.

Nun, ich vermute, Sie haben bereits erraten, dass ich der Sohn des berühmten Biologen bin. Nach dem Willen meines Vaters habe auch ich diese Karriere eingeschlagen, doch wenn ich frei hätte wählen können, hätte ich mich anderen Tätigkeiten gewidmet: dem Gesang zum Beispiel. Ich muss jedoch gestehen, dass der Wunsch meines Vaters mir keine Alternative gelassen hat. Im Übrigen habe ich mich ihm, solange er am Leben war, auch nicht zu widersetzen versucht. Ich folgte einem bereits vorgezeichneten Kurs. Ich bin ihm sogar gleichgekommen. Heute unterrichte ich also im Fachbereich Biologie der Universität. Vermutlich sitze ich auf demselben Stuhl, fülle dieselben Listen aus … Aber die Materie hat mich im Grunde immer zu Tode gelangweilt, und ich kann mich nur bei dem Gedanken freuen, dass ich mich nächstes Jahr von der Lehrtätigkeit zurückziehen werde. Noch heute bleibe ich allerdings hin und wieder stehen und betrachte die wunderschön zusammengesetzten Gebilde der Zellenstrukturen. In ihnen findet sie Ordnung, Vollkommenheit und ein fein austariertes Gleichgewicht. Alles im organischen Leben bewegt sich in einem außerordentlich präzisen Rhythmus; und diese Erkenntnis gab mir einst einen unvergleichlichen Trost. Ich glaubte jene Kraft zu erkennen, die unser Leben aufrechterhält und organisiert. Ich habe mich immer gefragt, wie ich sie nennen soll. Vielleicht wäre die richtige Definition: das Verlangen.

Oh, entschuldigen Sie, dass ich mich mit Ihnen unterhalte, aber wie Sie sehen, ist der Hausherr im Augenblick damit beschäftigt, gegen meine Frau zu spielen, die, kann ich Ihnen versichern, keine einfache Gegnerin ist.«

3

Von der Stelle, an der wir uns befinden, kann man durch die herabhängenden Weidenäste ein Mädchen sehen, das einen weißen Baumwollanzug trägt. Gerade erstarrt sie in einem Augenblick der Konzentration, der dem Aufschlag vorangeht. Der pelzige Ball fliegt in Richtung ihres Spielpartners, den wir nicht sehen, und der ihr gutgeschriebene Punkt gibt der Spielerin Anlass zu einem Freudentanz. »Meine Frau sehen Sie dort unten«, erläutert Professor Deravines. »Ich sage das nur, um unangenehme Missverständnisse zu vermeiden. Tatsächlich fällt bei uns beiden sofort ein gewisser Altersunterschied auf. Und, als ob das nicht schon genug wäre, hält sie sich auch blendend, während ich … Nun, ich muss zugeben, dass ich einige Jahre älter aussehe als achtundfünfzig. In der ersten Zeit unserer Ehe hat mir das ständig wiederkehrende Missverständnis, für ihren Vater gehalten zu werden, nicht missfallen, es gab mir sogar eine leise Befriedigung. Jetzt beginnt es mir hingegen auf die Nerven zu fallen.

Ich vergaß, meine Frau heißt Angèle. Sie ist Belgierin. Und sie ist meine zweite Frau. Von der ersten bin ich vor vielen Jahren geschieden worden, doch das ist eine lang zurückliegende Geschichte, von der ich nicht gern spreche. Wie ich sagte, das ständige Missverständnis, für ihren Vater gehalten zu werden, missfiel mir nicht. Übrigens kann einen Mann von vierzig Jahren – so alt war ich damals – die Eroberung einer Achtzehnjährigen nur mit Stolz erfüllen. Für Gleichaltrige bist du Grund zu Neid und Klatsch. Und wenn einer dich in gutem Glauben oder in böser Absicht mit ihrem Vater verwechselt oder verwechseln will, kann dich das nur mit Stolz erfüllen. In der umgekehrten Situation könnte für den, der jung Vater geworden ist, die Tatsache, dass seine jetzt herangewachsene Tochter manchmal für eine junge Geliebte gehalten wird, eine Befriedigung sein.

Kurz und gut, ich war für Angèle auch ein Vater, zumal ihrer starb, als sie noch ein Kind war. In ihren Augen war ich der reife, verantwortungsbewusste Mann, eine Zufluchtsstätte, von der sie, die so unsicher war, sich niemals hätte entfernen können. Der Altersunterschied war in unserem Fall vielleicht die einzige Garantie für die Stabilität unserer Ehe.

Sie war nach Italien gekommen, um an einem Pianistenwettbewerb teilzunehmen. Die Enttäuschung, weit hinter ihren Erwartungen eingestuft worden zu sein, hatte sie veranlasst, als Gast von Freunden und Bekannten von einer Stadt zur nächsten zu ziehen. Als ich sie kennen lernte, sprach Angèle nur mit Mühe unsere Sprache, so konnte ich mit meinem perfekten Französisch glänzen. Sie hatte sich in die Orte, die Menschen verliebt und schließlich in den verzweifelten Mann, der ich damals war, auch wenn ich es nicht zu erkennen gab. Ich hatte sie umworben, das ist wahr, aber nur aus Scherz. Nie hätte ich gedacht, dass sie sich für mich interessieren könnte. Wie groß war dann meine Überraschung, als sie mir eines Abends gestand, dass sie nicht mehr zu ihrer Mutter, Witwe in einem trostlosen Dorf in der Eisenhüttenregion von Charleroi, zurückkehren werde. Es war ein Skandal. Meine Scheidung war noch nicht durch, und sie war sehr jung. Auf diese Weise hatte ich ein Mädchen, das verhätschelt und verwöhnt werden wollte.

Vielleicht wird man Ihnen erzählen, dass wir keine treuen Ehegatten waren. Oder auch, dass ich ihr zu viel Freiheit gelassen habe, doch zu jener Zeit hatte ich dem Problem gegenüber eine ganz andere Haltung. Angèle war noch ein Mädchen, und ich hätte es nie gewagt, ihr die ihrem Alter eigene Fröhlichkeit und die Begeisterung zu nehmen. Sie betrachtete den Sex als etwas völlig gesondertes, für sie war die Liebe ein Synonym für Freiheit, und ich nahm sehr schnell ihre Lebensauffassung an. Jedoch unter der Bedingung, dass sich alles – wie soll ich sagen – mit meinem Einverständnis und unter meiner Bewachung abspielte. Vielleicht bestürzt Sie die Billigung eines derartigen Verhaltens. Die Wahrheit ist, dass ich befürchtete, sie könnte mich verlassen, der Zauber plötzlich zerbrechen und mich in ihren Augen als denjenigen enthüllen, der ich in Wirklichkeit war. Sie zu verlieren, war für mich undenkbar. Ich wäre aus dem Leben geschieden. So hatten wir die Vereinbarung getroffen, dass es zwischen uns keine Geheimnisse geben dürfe. Wir sollten ohne falsche Scham über alles offen sprechen. Angèle hielt sich an die Abmachung. Erst waren es nur Kleinigkeiten: Gedanken, Wünsche, Neigungen … und schließlich die Taten, die detaillierte Chronik ihrer Seitensprünge. Wenn ich sie aufforderte, war sie gehalten, mir bis ins kleinste Detail alles zu erzählen. Und ich staunte damals über mich selbst, über meine Objektivität. Es war, als hätte sie mich verändert, als hätte sie mich in einen Zustand der Unschuld zurückversetzt. Trotzdem war ich immer davon überzeugt, dass allein ich die Fäden in der Hand hielt und immer in der Lage war, sie zurückzuholen, um von ihr zu hören, wie langweilig doch die anderen Männer seien und wie tröstlich es für sie war, in meine Arme zurückzukehren. Jedes Mal schien es, als würde das Leben wieder von vorn beginnen. Ihre Seitensprünge vergrößerten schließlich unser Glück. Ich habe darunter gelitten, das ist wahr, vor allem die ersten Male. Mit der Zeit jedoch begann ich ein eigenartiges Vergnügen daran zu empfinden, das über das Leidenschaftliche der durch die krankhafte Neugier erweckten Sinne hinausging, um in das Geheimnis der Liebe selbst einzudringen, über die ich meine Macht ausüben konnte, sowohl über den im Schatten als auch den im Licht befindlichen Teil. Ich spielte die Rolle des Mephistopheles: Ich gab ihren Körper frei und reservierte mir ihre Seele. Doch wurde ich mir meiner Anmaßung nicht bewusst. Denn wie alle Dinge unterliegt die Liebe gegensätzlichen Kräften, die sich in einem perfekten Gleichgewicht befinden und niemals in Unordnung gebracht werden dürfen: Sie besteht aus Schlafen und Wachen. Der eine wacht, der andere schläft; auf diese Weise bleibt die Liebe jahrelang, sogar ein ganzes Leben erhalten. Aber wenn der, der die Pflicht zum Wachen hat, dem Schlaf nachgibt oder, noch schlimmer, versucht, den anderen zu wecken, um ihn nach seiner Vorstellung und Ähnlichkeit leben zu lassen, dann entschwindet die Liebe unerklärlicherweise. Wenn die Schöne durch den Kuss ihres Prinzen schließlich aufwacht, der nach Jahrzehnten vergeblicher Versuche ergraut ist, wird zuerst ihr Blick von dem rüstigen Reitknecht angezogen, der in diesem Augenblick vorbeikommt. In meiner Anmaßung hätte ich also niemals daran gedacht, dass es Angèle eines Tages ernst sei und sie unsere Vereinbarung brechen würde; und das alles geschah durch meine Schuld, Jahre später, als jede Gefahr gebannt schien. Ich hätte nie gedacht, dass ihre Seele dem armen Teufel entfliehen könnte, der sich, verhöhnt, mit dem Körper zufrieden geben musste. Auch wenn sie schließlich zu mir zurückkehrte, hat sie mir seitdem, glaube ich, nicht mehr gehört.«

4

Da kommt auch schon Angèle. Ihr reizender Tennisanzug bringt ihre perfekten Beine – die einer echten Turnerin – zur Geltung. Während sie sich uns nähert, schnaubt sie etwas und wischt sich das erhitzte Gesicht ab. Sie hat blonde Haare und grüne Augen (oder ist es vielleicht nur das Blätterwerk, das sich in ihnen spiegelt), doch von nahem sieht sie nicht mehr aus wie ein Mädchen. Dennoch bewahrt sie ein zartes Lächeln, ein Wunder des Gleichgewichts zwischen Ausdruck und Gefühl.

Wie es scheint, hatte Angèle Ermes auf einem Fest bei Freunden kennen gelernt. Nach ihrer Aussage saß er, als sie ihn zum ersten Mal sah, auf einem am Boden liegenden Kissen, im Schatten – man könnte sagen – einer Säulenreihe steifer Frauenknie. Er hielt eine alte Gitarre in den Händen und stimmte etwas gewagte Lieder an, die das Lächeln der Hausherrin erstarren ließen und dem männlichen Publikum Gelächter entlockten, was er im Übrigen nicht bemerkte. Trotz dieser Schaustellung studentischer Fröhlichkeit war er das Abbild der Verzweiflung.

»Ich habe Ermes vor achtzehn Jahren kennen gelernt«, bestätigt uns Angèle. »Zu jener Zeit schien er mir ein wunderbarer Mann zu sein. Er hatte eine schöne Stimme und eine Art, die Brille abzunehmen und aufzusetzen, die mir sehr verführerisch erschien. Es ist merkwürdig, dass uns oft eine einfache Geste erobert, als öffne sich plötzlich wie durch Zauberhand der harte Panzer, der uns umgibt.

Er war einem Schiffbruch entgangen, und ich war eine blühende Insel. Vielleicht hat er Ihnen gesagt, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Allenfalls das Gegenteil ist wahr: Es war Ermes, der mich anflehte zu bleiben, und ich hatte sicher keine Absicht, nach Belgien zu meiner Mutter zurückzukehren. Aber das war nicht der einzige Grund. Er war für mich ein Mensch, der mir Schutz bot. Er konnte mir etwas geben, was mir zuvor keiner gegeben hatte. Darum zögerte ich keinen Augenblick, als er mich bat, ihn zu heiraten. Wie lange ich ihm eine gute Frau war? Ich frage mich, ob ich es überhaupt jemals gewesen bin. In dieser Hinsicht können Sie an alle Boshaftigkeiten glauben, die man über mich erzählt: Ich muss gestehen, dass ich mich nicht einmal daran erinnere, wie oft ich Ermes betrogen habe. Sogar vor wenigen Tagen, während seiner Abwesenheit, ist es passiert. Es geschah mit einem Freund, den wir seit langem kennen, und nie hätte ich gedacht, es je mit ihm zu machen. Aber mein Körper wollte es so, er entscheidet darüber. Und ich verlasse mich auf den Körper. Manch einem scheint er einengend, anderen zu weit zu sein, aber für mich ist er ein Gewand, das genau auf mich zugeschnitten ist. Ich spüre, dass er mir gehört und ich ihm bis zur letzten Zelle gehöre. Der Tastsinn ist bei mir äußerst ausgeprägt: Zuerst berühre ich, und dann sehe ich, und für einen Mann ist es einfacher … me draguer, als mir direkt in die Augen zu blicken. Ich spiele Klavier, aber es ist so, als würde ich die Musik durch die Glätte der Tasten wahrnehmen. Dennoch ist dieser Sinn, so ausgeprägt er auch sein mag, in kurzer Zeit befriedigt und hat sich erschöpft. Das ist bis jetzt Ermes’ Glück gewesen.

Manchmal habe ich jedoch mit den Männern auch meinen Spaß. Mir gefällt es, die Wirkung meines Körpers auf sie zu sehen. Für mich ist es eine Bestätigung, aber in keinem Augenblick, glauben Sie mir, hasse ich das männliche Geschlecht mehr. Ich erinnere mich, dass ich schon als Mädchen oft unter meinem Rock nackt herumlief, auch wenn meine Mutter mich ausschimpfte und dafür bestrafte. Aber sie konnte mich nicht überzeugen, ich liebte es, mich zu zeigen. Auf einer Treppenstufe sitzend, tat ich so, als ob ich mich für die Spiele meiner Gefährten interessierte. Ich genoss es, die Röte zu sehen, die wie eine Flut auf ihren Gesichtern hochstieg, bis sie die Hand in ihre Tasche stecken und gegen ihr Tierchen kämpfen mussten, um dann in eine Ecke zu laufen. Ich wusste sehr wohl, was sie dort machten. Wenn es etwas gibt, das ich am Mann hasse, selbst wenn es sich um den Inbegriff seiner Männlichkeit handelt, so ist es die Geste, bei einem dringenden Bedürfnis – vor der Wand eines Pissoirs, wie vor dem Körper einer Frau – mit einem kleinen humpelnden Schritt, der das Herausholen erleichtert, sein Ding aus der Hose zu ziehen.«

»Angèle!« Eine männliche Stimme ertönt von der Lichtung, und Angèle läuft davon.

»Gib acht, dass du dich nicht zu sehr erhitzt!«, rät ihr Ermes mit einer dezenten Rührung. Und, indem er sich uns zuwendet, sagt er: »Ich muss immer darauf achten, was sie tut. Ich will nicht, dass sie zu sehr ermüdet. Durch den Schläger kann es darüber hinaus zu einer Versteifung des Handgelenks kommen, und für sie, die das Klavierspielen liebt und einen so zarten Anschlag auf der Tastatur hat …«

5

Professor Ermes Deravines hat erneut die Filmkamera in der Hand und richtet sie von Zeit zu Zeit auf die Spieler, ohne sie dabei jedoch laufen zu lassen. Auf einmal spricht er mit kaum verhohlenem Stolz über sie: »Mein Vater hat sie mir hinterlassen. Nicht zu vergleichen mit den 8-Millimeter-Kameras, die heute im Handel erhältlich sind. Linsen wie diese kann sich heutzutage nur die Raumforschung leisten. Ich habe selbstverständlich immer Schwarzweißfilme benutzt. Das sind die Farben, die der Erinnerung am nächsten kommen.

Hin und wieder liebe ich es, einige vor vielen Jahren gedrehte Szenen auf die Hauswand zu projizieren, die uns, Angèle und mich zeigen, wie wir uns im Garten haschen. Ich tue das nicht in einem dunklen Zimmer, sondern am helllichten Tag mit geöffneten Fenstern. Am Anfang sieht man nur wenig, weil auf der hellen Projektionswand nur blasse Schatten erscheinen wie die vom Wind bewegten Blätter und Lichter, die der Wasserspiegelung gleichen. Beim genauen Hinsehen sind wir jedoch zum Leben zurückgekehrt, geheilt von den Seelenqualen, befreit von der Besessenheit der Zeit, zurückgekehrt zu unserer Unschuld.«

»Oft«, gesteht er uns, »habe ich mich sogar gefragt, welches Bild von uns überleben wird; welcher Filmausschnitt uns in der Ewigkeit darstellen wird: eine Szene, die in Zeitlupe genau diese seltenen Augenblicke wieder erstehen lässt, in denen die Frage nach dem Sinn der biologischen Existenz eine Antwort zu finden scheint. Wenn das Leben eines Menschen nichts anderes als ein unendlicher Film ist, der in der Zeit abgespult wird, an welchem Punkt – frage ich mich –, in welchem Alter, an welchem Augenblick unseres Lebens können wir uns wirklich als vollkommen betrachten? Sicher nicht im Tod, würde ich sagen. Zu diesem, zum biologischen Tod gelangt man aus purer Trägheit …«

Mit einem Mal unterbricht er sich und richtet die Kamera auf das Haus. Irgendetwas hat seine Aufmerksamkeit erweckt. In diesem Augenblick öffnet sich die Glastür, die in den Garten hinausführt, und lässt den Hund herbeilaufen, der voller Verspieltheit vor der bevorstehenden Erscheinung winselnd herumzuspringen beginnt: Ein Mädchen erscheint, das rückwärts läuft. Wir verstehen gleich warum: In den Händen trägt sie ein Tablett mit klingenden Gläsern und farbigen Getränken. Bei der Bewältigung dieses dreifachen Unterfangens – das Eldorado aus Kristall zu balancieren, zu gleicher Zeit die Tür mit dem Absatz aufzustoßen und dabei zu vermeiden, dass der Hund ins Haus gelangt – macht sie uns zu Teilhabern eines aufregenden Geschicklichkeitsspiels.

»Das ist die kleine Flora«, ruft Ermes, ohne auch nur einen Moment den Sucher vom Auge zu nehmen. »Finden Sie nicht, dass sie auf eine beeindruckende Weise einem Bild von Munch ähnelt? Die gleichen zerzausten Haare, das gleiche bleiche Gesicht …«

Ermes fährt fort: »Flora ist … die Verlobte Giulio Colombis, der Besitzer dieses Hauses. Wenn man die mehr oder weniger langen Trennungszeiten unberücksichtigt lässt, würde ich sagen, dass sie über zwei Jahre zusammen sind. Jetzt scheint das Datum der Hochzeit kurz bevorzustehen. Dennoch glaube ich nicht sehr an diese Ehe. Oh, nicht ihretwegen, sie ist davon begeistert, aber was Giulio angeht, so stehen die Dinge anders. Nicht dass er sie betrügen will, das nicht, letztendlich wird er auch in der Lage sein, das Versprechen zu halten, nur dass er sie dann teuer dafür bezahlen lässt. Flora verdiente wohl etwas anderes, aber sie ist nun mal hingerissen von diesem Mann, der absolut nichts für sie empfindet. Sie ist wie einer dieser an der Windschutzscheibe eines fahrenden Autos platt gedrückten Schmetterlinge: Die Flügel bewegen sich noch, aber es ist nur die Wirkung des Windes. Ihm gefällt es, mit Menschen zu spielen, sie nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Bis er müde wird, dann schafft er sie sich vom Halse, und zwar ohne jedes Taktgefühl, ohne jede Rücksicht auf die Feinfühligkeit anderer. Als bewunderter Dichter wurde er wegen seines Talents, der Schönheit, seiner männlichen Zartheit, ein Leben lang von Frauen umworben. Flora ist nur die Letzte dieser Reihe und völlig ahnungslos, was sie erwartet. Ich habe mehrmals versucht, sie mit größtmöglicher Behutsamkeit zu warnen, doch wissen Sie, was sie mir geantwortet hat? Es sei nur meine dumme Eifersucht. Ich kann ihr nicht Unrecht geben. Vielleicht ist meine Art, die Situation zu beurteilen, keineswegs objektiv, das gebe ich zu. Noch heute wirft mir Angèle vor, bei diesem Mädchen den Verstand verloren zu haben. Aber nicht einmal ich selbst vermag mir zu erklären, wie das geschehen konnte. Ich hätte nie geglaubt, dass ein klarsichtiger und vernünftiger Mann wie ich in einen solchen Zustand geraten kann. Dennoch gehört Liebeskummer in die Annalen der täglichen Pathologie. Das unkontrollierbare, unvorhergesehene Ereignis, der biomagnetische Meteor, der schließlich mit einem Schlag deinen ganzen Besitz zerstört. Erst jetzt habe ich begriffen, dass die Liebe, mit ihrem Korollar von gegensätzlichen Gefühlen, nichts als eine subjektive, private, nicht zu vermittelnde Angelegenheit ist wie der Schmerz. Nun bin ich aber zu mir gekommen, bin wieder der klarsichtige und vernünftige Mann von einst. Ich scheine vor jedem Rückfall gefeit, doch von diesem falschen Standpunkt der Überlegenheit aus erkenne ich um mich herum nichts anderes als Einsamkeit.«

Jetzt ist Ermes an der Reihe zu spielen. Er scheint verärgert über diese Unterbrechung zu sein. Schließlich rennt er auf seinen dünnen Beinen zum Platz.

6

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