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Inhalt

The woods are lovely dark and deep.
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.

Robert Frost

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NOVEMBER

Mein Vater ist tot.

Und gestern habe ich einen Elch erlegt.

Was soll ich sagen?

Entweder er oder ich, so war das eben. Ich war ausgehungert. So langsam falle ich vom Fleisch. In der Nacht davor war ich unten in Maridal und holte Heu von einem der Höfe. Ich schnitt einen Heuballen mit dem Messer auf und stopfte meinen Rucksack voll. Dann schlief ich eine Weile, und in der Morgendämmerung ging ich hinunter zu dem Hohlweg östlich meines Lagers und legte das Heu als Lockmittel an einer Stelle aus, die mir schon immer als der perfekte Hinterhalt erschienen war. Dann legte ich mich oben an den Rand und wartete ein paar Stunden. Ich wusste, dass es hier Elche gibt. Ich habe sie gesehen. Sie waren sogar oben an meinem Tipi. Sie stapfen überall auf dem Hügel herum, ihren mehr oder weniger rationalen Eingebungen folgend. Stets unterwegs, die Elche. Sie sehen aus, als würden sie denken, woanders sei es besser. Und vielleicht haben sie recht. Am Ende kam trotzdem einer vorbei. Und hinter ihm her zockelte ein Kalb. Mir wäre es lieber gewesen, dass es nicht da gewesen wäre. Aber es war da. Und die Windrichtung stimmte. Ich klemmte mir das Messer in den Mund, also nicht das kleine, sondern das große, das Jagdmesser, und wartete. Die beiden Tiere wanderten langsam, aber sicher auf mich zu. Knabberten unten im Hohlweg ein wenig am Heidekraut und an ein paar Birkenschösslingen. Und schließlich standen sie da. Direkt unter mir. Wahnsinnig groß. Elche sind groß.

Man vergisst nur allzu leicht, wie groß sie sind. Und dann sprang ich dem Elch auf den Rücken. Natürlich hatte ich die Situation Dutzende Male in Gedanken durchgespielt. Ich hatte vorhergesehen, dass das dem Elch nicht gefallen und er fliehen würde. Und genau so war es. Aber bevor er loslaufen konnte, hatte ich ihm bereits das Messer in den Kopf gestoßen. Mit einem einzigen Hieb war das Messer durch den Elchschädel tief ins Hirn gedrungen und stak jetzt darin wie ein merkwürdiges kleines Hütchen. Ich sprang ab und brachte mich auf einem großen Stein in Sicherheit, während der Elch dastand und sein Leben Revue passieren ließ: all die guten Tage mit genug Futter, die sonnigen faulen Sommertage, die kurzfristige Verliebtheit in den Elchbullen im Herbst und die Einsamkeit danach. Die Geburt, die Freude darüber, die Gene weiterzugeben, aber auch die widrigen Wintermonate vergangener Jahre, und die Rastlosigkeit, dieses ruhelose Element, von dem befreit zu werden, jedenfalls stellte ich mir das so vor, ihm als Erlösung erscheinen musste. All das ging der Elchkuh im Lauf weniger Sekunden durch den Kopf, dann fiel sie um.

Ich stand eine Weile da und sah sie mir an. Das Kalb, das nicht weggelaufen war, sondern neben seiner toten Mutter stand, begriff nicht ganz, was passiert war. Ich verspürte einen unbehaglichen, befremdlichen Stich im Herzen. Obgleich ich schon eine Zeitlang hier draußen lebte, war dies das erste Mal, dass ich getötet hatte, und jetzt hatte ich ein großes Tier getötet, vielleicht das größte, das in Norwegen lebt; im strikten Gegensatz zu meinen guten Absichten hatte ich die Natur auf eine brutale Weise aus gebeutet und ihr wahrscheinlich mehr genommen, als ich ihr würde wiedergeben können, jedenfalls auf absehbare Zeit, und das missfiel mir. Es soll ja möglichst ein Gleichgewicht zwischen den Dingen herrschen. Aber Hunger ist Hunger, also muss ich der Natur eben nach und nach etwas zurückgeben, dachte ich, sprang von dem Stein hinunter und verjagte das Kalb, um der toten Elchkuh das Messer aus dem Schädel zu ziehen und ihr den Bauch aufzuschlitzen. Große Mengen Eingeweide quollen heraus, und ich säbelte ein kleines Stück vom Bauch ab und aß es roh. An Ort und Stelle. Nach Indianerart. Danach schnitt ich so viele handliche Stücke ab, wie ich auf einmal tragen konnte, und schaffte sie zum Tipi, wo ich die Axt holte, um den Rest meiner Beute zu zerteilen. Bis zum Abend hatte ich das ganze Tier in mein Lager hinauftransportiert. Ich briet große Fleischstücke überm Feuer und aß mich zum ersten Mal seit Wochen richtig satt. Das restliche Fleisch hängte ich in einen primitiven Räucherofen, den ich in den letzten Tagen gebaut hatte. Dann schlief ich ein.

Und als ich vorhin aufgewacht bin, habe ich vorm Zelt das Kalb gehört. Ich höre es immer noch. Ich traue mich nicht ganz aufzustehen. Ich glaube, ich kann ihm nicht in die Augen schauen.

Aber liegen bleiben kann ich auch nicht. Ich brauche Milch. Magermilch. Wenn ich keine Milch kriege, funktioniere ich nicht richtig. Dann bin ich gereizt und werde schnell aggressiv. Und ich weiß genau, wenn ich Milch besorgen will, muss ich hinunter zu den Menschen. Darum mache ich das ungern, aber Milch muss einfach sein. Es kommt also vor, dass ich wie ein ganz gewöhnlicher Mensch zum Ullevaal-Stadion hinuntergehe. Früher kam das tatsächlich sehr viel öfter vor, um nicht zu sagen tagtäglich, aber nachdem ich, wie soll ich sagen, nachdem ich in den Wald gezogen bin, denn genau das ist passiert, genau das habe ich getan, ich lebe im Wald, seitdem war ich immer seltener dort. Einmal, weil ich kein Geld habe. Und dann, weil ich keine Menschen sehen möchte. Sie sind mir zuwider. Zunehmend. Aber ich brauche Milch. Mein Vater trank auch Milch. Aber jetzt ist er tot.

Ich kann das Kalb immer noch vorm Zelt hören. Es macht mir aktiv, ja lärmend Vorwürfe. Es will mich psychisch fertigmachen. Aber ich krieche tiefer in den Schlafsack hinein und ziehe ihn oben zu, bis mich nur noch ein Loch mit der Welt verbindet. Ich kann nicht raus, die Welt kann nicht rein, und für eine Weile liege ich mucksmäuschenstill da und tue so, als ob nichts wäre, wie ein Kind. Aber das Kalb gibt nicht auf. Es bleibt einfach draußen stehen. Und ich muss pinkeln. Herrgott, das ist doch nur ein Kalb, sage ich mir. Warum sollte ich, ein erwachsener Mann, ein schlechtes Gewissen haben, weil ich einen Elch getötet habe? Das ist der Lauf der Natur. Das muss das Kalb lernen, soll es sich freuen, dass ich, Doppler, es ihm beibringe und nicht ein skrupelloserer Mensch, der das Kalb bei der Gelegenheit vielleicht gleich noch mit erlegt hätte.

Ich gehe raus und pinkele. An der üblichen Stelle. Bei dem flachen Stein ein Stück unterhalb des Zelts. Von dort habe ich sonst einen Blick über die ganze Stadt und den Fjord, aber jetzt nicht, jetzt ist Nebel. Das Kalb ignoriere ich vollkommen. Ich tue einfach so, als ob es nicht da wäre. Es steht da und schaut mir gespannt beim Pinkeln zu. Ich versuche, ihm den Rücken zuzudrehen, aber es hat wohl einen Blick erhascht, und jetzt will es mehr sehen. Es macht ein paar Schritte zur Seite und betrachtet mich aus einem neuen Winkel. Ich wende mich ab, aber das Kalb folgt. Als wollte es abchecken, dass es recht gesehen hat. Wie alle anderen. The story of my life. Jaja, verflucht nochmal, sage ich und drehe mich zu ihm um, die Hose auf den Knöcheln, die Arme erhoben. Sieh ihn dir in Ruhe an, sage ich. Ist es jetzt gut? Genug gesehen? Zufrieden?

Aber der freche kleine Strolch ist nicht zufrieden. Er starrt. Ich lasse mir von Elchen nun nicht jeden Scheiß gefallen, irgendwo gibt es Grenzen. Ich schnappe mir die Axt, die in Reichweite an einem Baumstamm lehnt, und schleudere sie mit aller Kraft nach dem Kalb. Es hopst zur Seite und läuft in den Wald.

Die Lebenserfahrung hat mich gelehrt, dass es mir schlecht bekommt, wenn ich die Wahrheit zu verbergen versuche, also kann ich es gleich erzählen: Ich habe einen großen Penis.

Was soll ich sagen?

Ich habe ein auffallend, um nicht zu sagen extrem großes Geschlechtsteil.

Kurz gesagt, einen Riesenschwanz.

Schon immer. Er ist groß. Ein treffenderes Wort gibt es nicht. Lang und schwer ist er. Und dick. Mithin groß.

In der Schule haben sie mich immer Doppler mit dem Monsterschwanz genannt.

Das ist zum Glück viele Jahre her. Ich denke nur noch selten daran. Aber es war verletzend. Ich hatte schließlich auch andere Eigenschaften und wünschte mir, dass die Leute sie bemerkten.

Doppler mit dem Monsterschwanz.

Es macht mich ziemlich wütend, daran erinnert zu werden. Ich hatte schon länger nicht mehr daran gedacht. Verfluchter Elch. Wenn er zurückkommt, schlage ich ihm den Schädel ein.

Gestern wurde es nichts mehr mit der Milch. Ich verbrachte den ganzen Tag auf der Jagd nach dem verdammten Elchkalb. Natürlich kam es relativ rasch wieder zurück, nachdem ich es in den Wald gejagt hatte. Zu meinem Ärger hing es stundenlang vor dem Zelt rum. Nicht ganz unähnlich den Schülern unten in der weiterführenden Schule. Das Gebäude sieht aus, als sei es entworfen worden, um irgendeinen Gulag zu ersetzen. Ich bin jahrelang daran vorbeigeradelt. Und jetzt kann ich es durchs Fernglas sehen, wenn ich Lust habe und kein Nebel ist. Die Schüler hängen immer in rührend unbequemen Stellungen an den Ecken herum, sie versuchen, möglichst viel zu rauchen, bis die Pausenklingel geht. Hätte das Kalb Zugang zu Rauchwaren, es würde keinen Moment zögern. Es ist allein im Leben, und allmählich dämmert ihm, dass die Welt brutal ist, es kann keine Zukunft und keinen Sinn in irgendetwas mehr erkennen. Dass es seine Frustration an mir auslässt, ist natürlich eine unreife Reaktion, aber was soll man anderes erwarten? Schließlich ist es ein Kind.

Aber Kind hin, Kind her, nach einer Weile hatte ich trotzdem genug. Still und heimlich zog ich mich jagdbereit um, dann stürmte ich aus dem Zelt, die Axt zum Schlag erhoben, aber der kleine Schlingel entkam mir erneut. Stundenlang verfolgte ich ihn durch den Wald. Wir waren auf dem Vettakollen, unten am Sognsvann, dem See, und fast bis oben zur Ullevaal-Alm. Laut GPS hatten wir am Ende fast fünfzig Kilometer zurückgelegt, bei einem Durchschnittstempo von über zwölf Kilometern pro Stunde. Durch den Wald und bergauf, bergab. Das Zelt erreichte ich erst wieder bei Einbruch der Dunkelheit, restlos erledigt. Und als kurz danach das Kalb wieder auftauchte, war ich völlig ausgepumpt. Ich kapitulierte. Die Nacht verbrachten wir gemeinsam im Zelt, wobei das Kalb überraschend viel Wärme beisteuerte. Große Teile der Nacht hindurch verwendete ich es als Kopfkissen, und als ich heute aufwachte, lagen wir da und blickten einander auf eine fast intime Weise in die Augen, so wie ich es mit Menschen nur selten erlebt habe. Ich glaube, nicht einmal mit meiner Frau. Auch nicht zu Beginn unserer Beziehung. Es war fast überwältigend. Ich drückte ihm mein Bedauern darüber aus, dass ich seine Mutter getötet hatte, und sagte, es brauche keine Angst mehr zu haben und könne von nun an kommen und gehen, wie es wolle.

Das Kalb sagte natürlich nichts. Es schaute mich nur mit großen, vertrauensvollen Augen an.

Es ist wunderbar, Zeit mit jemandem zu verbringen, der nicht reden kann.

Gestern lagen wir den ganzen Tag im Zelt und plauderten. Ich gab dem Kalb Wasser zu trinken und holte ihm Zweige mit saftiger Rinde, während ich für mich selbst über der Glut meines Feuers große Fleischstücke briet. Ich striegelte ihm das Fell mit meinem Kamm und erklärte pädagogisch, dass Menschen ja schließlich seit Tausenden von Jahren Elche jagen, aus reiner Lebensnotwendigkeit, nicht aus Jux und Tollerei. Wenn der Bestand sich ungehemmt vermehren dürfte, würde das außerdem zu katastrophalen Zuständen führen, sagte ich, ohne genau zu wissen, worüber ich da redete, aber ich glaube, ich hab irgendwas darüber gelesen, also sagte ich es, und ich sagte, wenn es zu viele Elche gäbe, dann würden Krankheiten ausbrechen, sowohl körperliche wie auch psychische, und am Ende hätten wir im Wald eine ganz und gar ungemütliche Situation. Stell dir das mal vor, sagte ich zu dem Kalb, das übrigens einen Namen bräuchte, ich muss mir einen Namen ausdenken, aber ich sagte, stell dir das mal vor: Der ganze Wald voll von degenerierten, gemütskranken Elchen, die sich um das Fressen zanken, brüllend hin und her rennen und sowohl den Regeln des Waldes als auch der Elchetikette auf demütigende Weise zuwiderhandeln. So was will doch keiner. Darum jagten meine Vorfahren Elche, und darum jagen wir sie auch heute noch, sagte ich. Auch wenn wir heute weder Fleisch noch Felle zum Überleben brauchen, fügte ich leise hinzu, wir tun es trotzdem. Wir finden es eine feine Sache, in den Wald zu ziehen und auf Elche zu schießen. Soweit ich weiß, herrscht unter den Jägern eine tolle Kameradschaft, sagte ich, es ist einfach eine Gewohnheit geworden. Wir tun es aus alter Gewohnheit. Und außerdem, damit der Bestand nicht unkontrolliert wächst, wie bereits erläutert. So ist das. Aber deine Mutter habe ich nicht aus alter Gewohnheit getötet. Das tat ich aus Not. Ich hatte seit Tagen nichts mehr gegessen, seit der Blaubeerzeit war ich nicht mehr richtig satt gewesen. Und es tut mir leid, dass ich es mit einem Messer getan habe, sagte ich. Das war unnötig brutal, aber ich habe kein Gewehr, und schießen kann ich auch nicht. Ich verstehe es nur zu gut, wenn du mir Vorwürfe machst und dich in deinem Verhältnis zu mir zwischen emotionalen Extremen hin- und hergerissen fühlst, sagte ich. Das ist okay. Du musst selbst herausfinden, wie du mit diesen Gefühlen umgehen willst, und die Grenze dort ziehen, wo sie für dich angemessen ist. Aber du sollst wissen, dass ich bereit bin, dich in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen, sagte ich, und außerdem, fügte ich nach einer kleinen Pause hinzu, außerdem hätte deine Mutter schon bald das Band zwischen euch brutal durchtrennt. Sie hätte dich weggeschoben und dir klargemacht, dass du abhauen sollst. So seid ihr Elche nämlich. Ihr seht so nett aus, aber eure Kinder behandelt ihr wie Scheiße. Bestien. Ihr macht Kinder und gebt ihnen Milch und ein bisschen Unterricht, und dann, wenn die Kinderlein keinen Unrat wittern, schwups, weg mit ihnen. Schon bald, vielleicht schon nächste Woche, hätte sie darauf bestanden, dass du deines Weges gehst und sie ihres, und das wäre ein schrecklicher Tag für dich gewesen, ein Tag, über den die meisten Elche ihr Leben lang nicht hinwegkommen, und der bleibt dir jetzt dank mir erspart, weil ich sie getötet habe, und statt dass du sie als eine Mutter in Erinnerung behältst, die mit gespaltener Zunge spricht, wird sie dir nunmehr als eine im Gedächtnis bleiben, die immer für dich da war und dann jäh und sinnlos von deiner Seite gerissen wurde, sagte ich zu dem Kalb, während ich es mit meinem Kamm striegelte.

Übrigens habe ich kürzlich auch jemanden verloren, sagte ich. Meinen Vater. Ich kannte ihn kaum. Ich wusste nie so genau, wer er war. Und jetzt ist er fort. Also sitzen wir sozusagen im selben Boot. Du hast deine Mutter verloren, ich meinen Vater. Statt deine Wut auf mich zu richten, solltest du eher Herrn Düsseldorf unten im Planetvei damit bedenken. Ich hatte lange ungehindert Zugang zu Nahrungsmitteln aus seinem Keller, erklärte ich. Seine verstorbene Frau hat vor ihrem Tod so viele Beeren eingemacht, dass es für ein Menschenleben reichen würde, außerdem ist seine Tiefkühltruhe bis oben hin gefüllt mit Schinken und anderen Fleischwaren, und nachdem ich mehrere Wochen lang aufmerksam die Nachbarschaft beobachtet hatte, stellte ich fest, dass Düsseldorfs Haus dasjenige war, in das man am leichtesten eindringen konnte, wozu Düsseldorf das seinige beitrug, indem er unaufmerksam war und allgemein träge und überdies dem Alkohol zugeneigt; wenn er also abends an seinen ewig blöden Modellautos baute, Kriegsmodelle, immer nur Fahrzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg im Maßstab 1:20 oder so, natürlich übertrieben genau und mit korrekten Farben, betrat ich sein Haus durch die fast den ganzen Sommer über unverschlossene Hintertür und ging in den Keller, wo ich mich ungeniert an den Köstlichkeiten bediente, hopp, in den Rucksack damit und wieder raus, durch den Garten, zurück in den Wald. Meinem Eindruck nach waren sowohl Herr Düsseldorf als auch ich mit diesem System hochzufrieden. Er hat ja alles, was er auf Erden braucht. Ein großes Haus, ein wohlgefülltes Essenslager, Geld in Hülle und Fülle – laut den Kontoauszügen auf der Kommode neben der Kellertür – und noch dazu ein Hobby, das offenbar sein Leben ausfüllt und bereichert. Ich kann mir nicht vorstellen, was Düsseldorf sonst noch begehren sollte, sagte ich zu dem Kalb. Ich war fast so weit zu glauben, wenn ich an seiner Tür klingeln und ihn ganz direkt fragen würde, ob es in Ordnung ist, wenn ich dann und wann mal sein Haus betrete und mir was von dem Überfluss im Keller nehme, dass er dann lächelnd ja sagen würde. Aber dann hat er seine Meinung wohl geändert, denn vor kurzem war die Hintertür auf einmal abgesperrt, und alles war voller Schilder und Aufkleber und Alarmsysteme und Elektronik und Verbrechen und Strafe.

So weit sind wir gekommen. Die Leute verbarrikadieren sich in ihren vier Wänden und fürchten sich voreinander.

Da stand ich nun mit leeren Händen, und nach ein paar Tagen wurde ich begreiflicherweise hungrig. Ich wurde immer hungriger, und schließlich sah ich keinen anderen Ausweg mehr, als deine Mutter in einen Hinterhalt zu locken und ihr mein großes Jagdmesser in den Schädel zu rammen. So ist das passiert. So ist das, wenn man Hunger hat. Alles andere wird unwesentlich. Man muss einfach was zu essen kriegen, sagte ich zu dem Kalb. Vielleicht kennst du das selbst, vielleicht auch nicht. Hoffentlich nicht.

Mittlerweile herrscht akuter Milchbedarf, also stopfe ich fünfzehn, zwanzig Kilo Elchfleisch in meinen Rucksack und mache mich auf den Weg hinunter zum Ullevaal-Stadion. Das Kalb stolpert hinter mir her, aber ich sage streng, dass das nicht geht. Du musst hier warten, sage ich. War-ten, wiederhole ich wie zu einem Kind, das ein bisschen schwer von Begriff ist. Ich falle auch so schon genug auf, unrasiert und abgerissen, da brauche ich nicht noch mit einem Elch aufzukreuzen. Entspann dich, sage ich, ich bleibe nicht lange. Aber es entspannt sich nicht. Es will, dass ich dableibe. Armer kleiner Elch, sage ich. Du denkst, ich will dich verlassen, aber das will ich gar nicht. Ich muss nur ins Geschäft und Milch und ein paar andere Sachen besorgen, die wir brauchen. Zwischen uns bleibt alles beim Alten. Die Trennungsangst leuchtet aus seinen Augen, und ich bin bekümmert, dass es so dämlich ist. Ich hätte Elche für selbstständiger gehalten. Es ist dabei, sich an mich zu klammern, und ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin. Ich ertappe mich dabei, dass ich seiner verstorbenen Mutter Vorwürfe mache, weil sie es neulich zu ihrem Spaziergang mitgenommen hat, mitten in der Jagdsaison. Wie kann man nur so gedankenlos sein?

Ich halte an und nehme den Rucksack ab und kuschele ein bisschen mit dem Kalb. Versuche es hochzuheben, aber dafür ist es zu schwer, also rubbele ich ihm neckisch-kameradschaftlich mit den Fingerknöcheln über den Schädel. Rubbelschrubbel, so nennen wir das in meiner Familie. Dann nehme ich mir Zeit, ihm die Situation geduldig zu erklären. Ich bin ein großer Anhänger des Erklärens. Auch bei meinen Kindern. Ich meine, Kinder spüren einfach, dass etwas nicht stimmt, wenn man versucht, sie anzulügen oder etwas vor ihnen zu verbergen. Darum erkläre ich pantomimisch, dass ich jetzt zu den Menschen hinuntergehe und es dort für einen kleinen Elch viiiiiel zu gefährlich ist. Da gibt es Autos und Busse und Krach und viele verwirrende Signale. Das ist eigentlich die charakteristischste Eigenschaft der Menschen, sage ich, sie sind Meister im Aussenden von verwirrenden Signalen, da sind sie unübertroffen, du kannst tausend Jahre weit zurückgehen, aber nie wirst du Signale finden, die so verwirrend sind wie die von den Menschen.

Und wenn Elche sich zu den Menschen verirren, sage ich, dann werden sie erschossen, und ich mime einen verirrten Elch, der erschossen wird und jämmerlich stirbt. Darum, sage ich, ist es für dich das Beste, hier zu warten. In ein paar Stunden komme ich zurück, dann sind wir wieder zusammen und können was Schönes machen.

Ich warte auf ein Zeichen des Verstehens und des Einverständnisses, aber es kommt keins. Und trotz aller Erklärung läuft mir das Tier weiter nach. Schließlich binde ich es an einen Baum. Schluss, aus.

Der Geschäftsführer des Supermarkts ist voller Zweifel. Ich lese in ihm wie in einem offenen Buch. Der Zweifel sickert ihm aus allen Poren. Hilf einem armen Jäger und Sammler, sage ich, aber ich sehe, er ist absolut nicht überzeugt.

Wir stehen in seinem Lager. Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen, doch trotz aller Lächelkurse und Theorien, denen zufolge der Kunde groß und wichtig ist, strahlt er Zweifel aus. Das, was ich ihm vorschlage, liegt jenseits aller Regeln und üblichen Geschäftsabläufe: Ich biete ihm Elchfleisch im Tausch gegen Milch und eine Handvoll anderer Waren aus seinem reichen Sortiment, und das widerstrebt ihm.

Ich weiß, sage ich, die meisten Leute denken, die Zeit für diese Wirtschaftsform ist vorbei, aber jetzt stehe ich trotzdem hier, das Elchfleisch ist gut, und außerdem ist es eine gute Wirtschaftsform. Man tauscht. Man kümmert sich umeinander. Das wird ein Comeback haben, da bin ich sicher, sage ich. Es kommt wieder, und wenn du auf meinen Vorschlag eingehst, kannst du dich später brüsten, dass du ein Pionier warst. Ein Trendsetter, denn die Tauschwirtschaft ist wieder im Kommen, ohne Zweifel. In zehn Jahren wird man tauschen wie nur was, das ist sonnenklar, sage ich. So wie jetzt kann es schließlich nicht weitergehen. Unmöglich. Egal, in welche Zeitung oder Zeitschrift du derzeit guckst, kein Mensch, der was werden will, bezweifelt, dass wir unsere Konsumgewohnheiten ändern müssen, wenn wir das nächste Jahrzehnt überstehen wollen. Und ich kann sehen, dass du überlegst. Du denkst nach. Ich stelle fest, du hast noch nicht nein gesagt.

Er ist Mitte dreißig und eigentlich ganz zufrieden mit sich. Er verfügt wahrscheinlich über eine verhältnismäßig solide Ausbildung und freut sich, beim Aufbau der ICA–Filiale am Ullevaal-Stadion mitzuwirken. Der Laden ist frisch renoviert und all das. Einer der modernsten Supermärkte des Landes. Frischwarentresen, so weit das Auge reicht, mit Parmaschinken für Tausende von Kronen und Käselaiben, so groß wie Häuser, und sicher herrscht ein wunderbares Betriebsklima, in dem man aufeinander Rücksicht nimmt und sich engagiert. Er überlegt hin und her. Er hat viel zu verlieren, andererseits dürfte wohl kaum jemand etwas davon mitkriegen, außerdem mag er Elch. Bei Elch diskutiert man irgendwie nicht lange.

Er sieht sich um, zur Versicherung, dass auch keiner seiner Angestellten nahe genug ist, um mitzubekommen, was er jetzt sagt. Was willst du dafür?, fragt er.

Ich sage, ich will mehrere Dinge, das Wichtigste sei jedoch, eine Milchvereinbarung zu treffen. Eine Milchvereinbarung?, fragt er. Ich nicke. Ich, also meine Zellen und Organe, kurz gesagt, mein Körper, brauche täglich rund einen Liter Magermilch, sage ich. Darum würde ich gern jeden Montag und Donnerstag kurz vor Öffnung des Supermarktes um sieben Uhr früh drei beziehungsweise vier Liter Magermilch bei der Wareneingangstür finden, zum Beispiel zwischen Abfallcontainer und Wand.

Warum ausgerechnet Magermilch?, fragt er.