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Erster Band des Monolith-Zyklus

 

Planet der Silberherren

 

von Uwe Anton

 

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Kleines Who is Who

 

 

Atlan – der Lordadmiral sucht sich selbst und daher muss er sterben

Atog’Mar ~ ein Händler wird zu neugierig

Christina Gabrielle – das Wunderkind ist verunsichert

Coal’ha – eine schöne Frau, die einen Mann den Kopf kostet

Cockney »Rooster« Faucet – der Unberührte hat keine Lust mehr

Geriok Atair – der Ara muss ein Machtwort sprechen

Gucky – der Mausbiber findet den richtigen Dreh – aber nicht ganz

Malcher – ein Mächtiger trauert seinem toten Hund nach

Naileth Simmers – die Kommandantin der IMASO hat es nicht leicht mit ihrem Chef

Perry Rhodan – der Großadministrator hat eigentlich keine Zeit

Ramit Claudrin – so stellt man sich einen Epsaler vor

Rion Parth – der USO-Spezialist hört einfach nur zu

Safira Pandolus – eine Wissenschaftlerin macht eindeutige Angebote

Santjun – der Risiko-Agent hat mit Atlan mehr gemeinsam, als er ahnt

Tarber Moonk – ein Ertruser spielt auf der Feuerorgel der IMASO

Te’pros – ein Junge, der will, aber nicht kann

Terry Ulcarach – ein gesprächiger Mann mit einem geduldigen Zuhörer

Tipa Riordan – die Piratin in der Besenkammer

Winer Melher – was macht ein Gourmetkoch an Bord eines Explorers?

 

 

Für Rainer Castor, der mich, seitdem wir uns kennen, selbstlos an seinem umfassenden Wissen über das gesamte PERRY RHODAN-Universum teilhaben lässt. Auch in diesem Roman steckt ein Teil davon. Vielen Dank, du alter Grantler!

Erster Teil: Der Aufstieg

 

Prolog

 

 

Warum sieht das Wunderkind mich so seltsam an?

Verstohlen schaut es zu mir herüber, wendet den Blick aber sofort wieder ab. Es scheint peinlich berührt zu sein, dass ich es von oben bis unten mustere. Ich habe den Eindruck, dass es am liebsten überall wäre, nur nicht hier. Dass es ihm unangenehm ist, mir zu begegnen.

Dass es Angst vor mir hat.

Aber Christina Gabrielle, Erster Wissenschaftlicher Offizier der IMASO, wagt es nicht, das Wort an mich zu richten. Schließlich bin ich ihr oberster Vorgesetzter. Sie sagt kein Wort, räuspert sich lediglich kurz, nickt und wendet sich ab, erleichtert, dass ich sie nicht anspreche.

Die Situation kommt mir seltsam vertraut vor. An Bord der EX-2714 hat man mich auch so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen. Aber dort war ich ein Niemand; hier bin ich immerhin der Regierende Lordadmiral der USO.

Ich sehe Christina nach, bis sie in einer Biegung des Korridors aus meiner Sicht verschwindet, und gehe weiter.

Die IMASO ist kein großes Schiff, ein leichter Kreuzer der STAATEN-Klasse mit einem Durchmesser von lediglich 100 Metern. Ein schnelles Aufklärungsschiff, nicht zu verwechseln mit den schwerer bewaffneten, ebenfalls 100 Meter durchmessenden Angriffskreuzern der STÄDTE-Klasse. Aber beide haben eins gemeinsam: Die Wege sind kurz.

Ich nähere mich dem Antigravschacht. Auch wenn das Wunderkind sich zurückgezogen hat, fühle ich mich weiterhin beobachtet. Natürlich; man misstraut mir hier.

Wahrscheinlich aus gutem Grund. Ich hätte mir auch misstraut, hätte ich das Kommando über das Schiff. Naileth Simmers wird es nie verstehen. Es gibt Dinge, die sind wichtiger als das eigene Leben. Ich muss die IMASO zerstören. Der Kreuzer darf sein Ziel nicht erreichen.

Ich werfe einen Blick zurück über die Schulter, halte Ausschau nach Robotsonden, kleinen Spionen, die mich auf Schritt und Tritt überwachen, kann aber keine entdecken. Das überrascht mich nicht. Naileth hat vielleicht keinen Einblick in das Gesamtbild, begreift nicht, worum es wirklich geht, aber sie ist nicht dumm. Sie hat Zeit genug gehabt, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Den Antigravschacht betrete ich mit gebotener Vorsicht; meine unliebsamen Erfahrungen mit ihm sind mir noch gut in Erinnerung. Aber sie haben es damals nicht geschafft, mich zu töten, und sie werden es auch jetzt nicht schaffen.

Unauffällig taste ich nach dem Kombistrahler unter meiner Jacke. Die Waffe wird mir ermöglichen, mein Ziel zu verwirklichen.

Ich schwebe hinab, vorbei an der kleinen hydroponischen Anlage auf Hauptdeck 4 unterhalb des Ringwulstes, und sehe auf die Uhr. In zwei Minuten werde ich den Maschinenraum erreicht haben. Niemand wird es wagen, mich aufzuhalten, sollte mir überhaupt jemand begegnen. Niemand weiß, was ich vorhabe. Und selbst wenn: Ich bin der Regierende Lordadmiral der USO.

Im Maschinenraum werde ich vielleicht noch eine Minute benötigen. Also werde ich in drei Minuten tot sein.

Dieses Wissen erfüllt mich mit tiefer Befriedigung. Über 11.000 Jahre bin ich alt geworden. Das muss genügen. Was ist schon mein Leben gegen das Wohlergehen einer ganzen Kultur?

Als ich den Antigravschacht wieder verlasse, verspüre ich trotzdem ein gewisses Bedauern. Die IMASO ist ein gutes Schiff. Sie steht zwar im Dienst der USO, wurde aber 2956 auf Luna erbaut, hat bereits mehrere Kampfhandlungen erlebt und sich dabei trotz – oder gerade wegen – einiger Beschädigungen einen sehr guten Ruf erworben. Der Raumer und die Besatzung gelten als zäh.

Um die Besatzung tut es mir leid. Sie hätte etwas anderes verdient, als für eine höhere Sache zu sterben, ohne die Hintergründe zu kennen.

Aber es gibt keine andere Möglichkeit. Manchmal muss man eben Opfer bringen.

Vor mir öffnet sich die Tür zum Maschinenraum. Ich mache noch zwei, drei Schritte und halte dann überrascht inne.

Damit habe ich, wie ich eingestehen muss, nicht gerechnet.

Major Naileth Simmers wartet zehn Meter vor mir auf mich, sieht mich mit festem, ja schon starrem Blick an.

Und sie ist nicht allein.

Fünf Kampfroboter bilden einen Halbkreis vor ihr. Vier davon gehören der Modellreihe GLADIATOR an, stählerne Kolosse, deren Körper entfernt an das Skelett eines Humanoiden erinnern, aber mit Waffen in den Händen, die kaum ein Mensch tragen kann, sofern er nicht von einer Extremwelt stammt. Der fünfte ist sogar ein neuartiger TARA II UH, ein kegelförmiges, bis an die Zähne bewaffnetes Monstrum mit ausfahrbaren Waffenhalterungen, die mit jeweils einer schweren Waffe armiert sind. Das Arsenal umfasst einen Desintegrator, einen Impulsstrahler, einen Paralysator und eine kleine Transformkanone – Waffen, die der Roboter an Bord dieses Schiffes kaum einsetzen kann. Geschützt wird er durch einen vierfach gestaffelten HÜ-Schirm. Außer einer schweren Panzerung zählen ein Deflektorschirm, ein Traktorstrahl und ein Prallschirmgenerator zu seinen Defensivsystemen. Allein dieses Ungetüm könnte mich in Sekundenbruchteilen liquidieren. Ich bin, gelinde gesagt, überrascht, dass die IMASO solch ein hochmodernes Gerät überhaupt an Bord hat.

Die Energieschirme der anderen Roboter flimmern, die Mündungen ihrer Waffen leuchten, unnatürlich hell, wie es mir vorkommt.

Es ist vorbei, Beuteterraner, meldet sich nach langer Zeit endlich wieder mein Extrasinn. In letzter Zeit verstehen wir uns nicht besonders gut. Nach allem, was vorgefallen ist, kann ich es ihm nicht verübeln. Sieh es ein. Wie ich dir gesagt habe, du hast keine Chance. Gib auf, sonst stirbst du.

»Und eine ganze Kultur stirbt?«, flüstere ich. »Geht unter, als hätte sie nie existiert?«

Wer bin ich, dass ich dir Ratschläge ertei…

Der Logiksektor verstummt mitten im Wort.

Der Grund dafür wird mir einen Sekundenbruchteil später klar. Plötzlich flimmern nicht nur die Schutzschirme der Roboter, sondern auch die Luft neben Naileth Simmers gerät in Bewegung. Dann, abrupt, ohne Vorwarnung, steht das Wesen aus meinen Träumen neben dem Major. Ja, es ist dieses Geschöpf, eindeutig. Vielleicht einen Meter groß, mit seidigem, rotbraunem Pelz, soweit ich es feststellen kann. Es trägt die lindgrüne Uniform eines Soldaten des Solaren Imperiums.

Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte ich grinsen müssen. Ein übergroßer Biber mit einem übergroßen Schwanz, dem Kopf einer Maus und einem einzigen übergroßen Nagezahn!

Und mit nicht unerheblichem Übergewicht, wie ich nun eindeutig feststelle. Die Uniform muss eine Spezialanfertigung sein, kann einige übermäßig ausgeprägte Rundungen aber nicht verbergen.

Ob das Geschöpf – wie in meinen Träumen – eher watschelt als geht, kann ich nicht feststellen. Es steht reglos neben der Kommandantin und schaut mich an.

So putzig es aussieht, sein Blick könnte Lava zu Eis gefrieren lassen.

Wie nennt es sich noch? Bedrückt muss ich feststellen, dass ich seinen Namen nicht kenne.

Naileth Simmers räuspert sich. »Ich weiß, was Sie vorhaben, Lordadmiral. Und ich kann das nicht zulassen.«

»Treten Sie zur Seite, Major, und desaktivieren Sie die Kampfroboter. Haben Sie mich verstanden? Das ist ein Befehl, Major.«

Simmers schüttelt den Kopf. »Sir, nein, Sir. Es tut mir leid, Atlan. Lordadmiral.«

»Sie wissen nicht, was Sie tun, Major. Ich habe Ihnen einen direkten, unmissverständlichen Befehl erteilt.«

»Sie wissen nicht, was Sie tun, Lordadmiral. Es tut mir leid, aber ich muss Sie aufhalten, Sir. Und ich habe die Mittel dazu. Bitte geben Sie auf, Sir.«

»Das kann ich nicht.« Das Schicksal einer ganzen Welt steht auf dem Spiel. Ich bewege langsam, unendlich langsam, die rechte Hand, schiebe sie unter meine Jacke.

Ich würde viel für einen Rat des Logiksektors geben, doch er schweigt. Ihm gefällt auch nicht, was ich vorhabe.

Noch sechs, sieben Zentimeter und ich berühre den Griff meiner Waffe. Dann ist wieder alles möglich. In elftausend Jahren lernt man so manchen Trick.

»Ich weiß, dass Sie unter ihrer Jacke einen Kombistrahler versteckt haben, Sir.«

Ich halte in der Bewegung inne, nur zwei, drei Zentimeter vom Griff der Waffe entfernt. Damit habe ich die Option verloren, den Strahler zu ziehen, ihn auf die Kommandantin zu richten und ein Patt herbeizuführen, bevor die Kampfroboter mich paralysieren können.

Ich kneife die Augen zusammen, als ich bemerke, dass die Kampfroboter nicht ihre Paralysatoren aktiviert haben, sondern die Desintegratoren und Thermostrahler.

Das verwirrt mich zusätzlich. Naileth Simmers will mich nicht außer Gefecht setzen, betäuben, sie will mich töten. Damit hätte ich niemals gerechnet. Mein ganzer Plan ist nun hinfällig.

Meine Gedanken rasen. Warum will sie mich töten?

Normalerweise würde der Extrasinn diese Frage stellen und darüber spekulieren, doch da er die Zusammenarbeit verweigert, muss ich selbst nach einer Antwort suchen.

Was läuft hier falsch? Längst hätte Major Simmers mich paralysieren lassen können, doch sie will mich töten. Warum?, denke ich erneut. Es muss einen Grund dafür geben.

»Sir, ziehen Sie langsam den Kombistrahler unter Ihrer Jacke hervor und lassen Sie ihn dann fallen. Das ist die letzte Warnung. Befolgen Sie augenblicklich diese Anweisung, Sir, oder ich befehle den Robotern, das Feuer zu eröffnen. Bitte, Sir«, fügt sie fast beschwörend hinzu.

Aus. Vorbei.

Ich schreie auf, greife nach der Waffe, und die Roboter schießen, und ich fühle einen Schmerz, der meinen gesamten Körper zerreißt, und alles wird dunkel, und dann ist nichts mehr …

Die erste Ebene

 

 

Ich erwachte von einem Augenblick zum anderen.

Die Dunkelheit, aus der ich so abrupt aufgetaucht war, verharrte noch einen Augenblick am Rand meines Bewusstseins, ohne dass ich sie fassen konnte. Ihre Oberfläche war nicht glatt, nicht einförmig. Es schien darunter zu brodeln; sie kam mir vor wie eine Sphäre, in der sich etwas Lebendiges befand, das daraus zu entkommen versuchte und sich mit ungezügelter Wut gegen die Begrenzung warf, mal hier, mal dort, jedoch ohne die geringste Aussicht, die Hülle zu durchbrechen.

Hoffte ich unwillkürlich. Ich wollte gar nicht wissen, was dort eingesperrt war.

Als ich die Augen öffnete, verschwand der Eindruck vom Rand meines Sichtfelds. Oder meiner Gedanken?

Ich stellte fest, dass meine Augen tränten; eindeutig ein Zeichen meiner Erregung. Oder lag es an dem grellen Licht, das mich blendete? Instinktiv schloss ich die Lider wieder, zwang mich zur Ruhe und versuchte nachzudenken, mich zu erinnern.

Wie kam ich hierher? Und überhaupt: Wo war ich? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Was war hier los? Was hatte das alles zu bedeuten?

Ich zögerte kurz, als erwartete ich, dass jemand mir antwortete, eine Hilfestellung gab, mir erklärte, was mit mir geschehen war. Aber alles blieb still.

Womit hatte ich gerechnet? Mit einer Stimme in meinem Kopf, die mir gute Ratschläge erteilte?

So absurd dieser Gedanke auch anmutete, er kam mir seltsamerweise gar nicht so abwegig vor.

Ich riss mich zusammen. Die Situation war völlig undurchsichtig. Litt ich unter Gedächtnisverlust? War ich entführt worden? Meine Ausbildung setzte sich durch, die Erfahrung von Jahrtausenden. Was auch immer geschehen war, vielleicht war es besser, wenn noch niemand bemerkte, dass ich wieder bei Bewusstsein war.

Falls sich überhaupt jemand in der Nähe befand … Aber ich konnte nicht darauf vertrauen, allein und unbeobachtet zu sein.

Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder einen Spalt breit, und diesmal war ich besser auf die Helligkeit vorbereitet. Ich drehte den Kopf und sah mich um.

Ich lag ausgestreckt auf einer Liege. Gefesselt war ich nicht; zumindest konnte ich keine Bänder sehen oder spüren. Ich täuschte ein leises Stöhnen vor, bewegte einen Arm, ein Bein. Nichts hinderte mich daran. Sollte ich von einem Fesselfeld umschlossen sein, ließ es mir jedenfalls einen gewissen Spielraum. Freiheiten sozusagen, die ich nutzen konnte.

Die Umgebung kam mir fremd und vertraut zugleich vor.

Fremd, weil ich an diesem Ort selbst noch nie gewesen war; jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern.

Vertraut, weil es sich um ein Labor handelte, um einen Raum vollgepackt mit technischen Einrichtungen. Ich sah zahlreiche Positronik-Terminals, spezielle Analysegeräte, mit denen mannigfaltige Untersuchungen vorgenommen werden konnten, Projektoren zur Erzeugung von Stasis- und Fesselfeldern.

Eine Einrichtung, wie sie typisch ist für die Technische Abteilung in einem Raumschiff, dachte ich. Stark komprimierte Hightech auf engstem Raum.

Wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, konnte es kein besonders großes Schiff sein. Ich hatte schon wesentlich geräumigere Technische Abteilungen gesehen.

Ich lauschte konzentriert, vernahm aber nicht das geringste Geräusch. Keine Stimmen, aber auch nicht das Summen von Geräten. Die Geräuschlosigkeit war geradezu unnatürlich.

Warum war es in dieser verdammten Technischen Abteilung so still?

Langsam setzte mein Denkvermögen wieder ein. Ich musste mir nichts vormachen. Wenn ich mich wirklich in einem modernen Raumschiff befand, würden diejenigen, die mich hierher verschleppt hatten, längst wissen, dass ich aus meiner Bewusstlosigkeit erwacht war. Individualtaster, Überwachungsgeräte, die wesenlose Aufmerksamkeit einer Positronik – wen wollte ich täuschen? Bislang war mir das höchstens bei mir selbst gelungen.

Ich atmete tief durch und setzte mich auf.

Nichts geschah. Offensichtlich gab es kein Fesselfeld, das mich hielt. Man hatte mich nicht in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

Langsam schwang ich die Beine von der Liege, blieb eine Weile sitzen, horchte in mich hinein. Aber mit mir schien alles in Ordnung zu sein; mir war nicht schwindlig, wie es oftmals der Fall war, wenn man lange gelegen hatte und sich dann wieder bewegte. Ich ging das Risiko ein und stand auf.

Meine ersten, noch zögernden Schritte waren völlig sicher. Anscheinend hatte ich nicht monatelang in einem Regenerationstank gelegen, sondern nur ganz kurz auf dieser Pritsche.

Als ich mich noch einmal zu ihr umdrehte, um sie genauer zu betrachten, war sie verschwunden.

 

Ich kniff die Augen zusammen, aber am Ergebnis änderte sich nichts. Mein Ruhelager schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Ich trat einen Schritt vor, und noch einen, streckte die Hand aus, ertastete aber keinerlei Widerstand. Unten schimmerte im schwachen Licht der kahle Stahl des Bodens, dahinter der Kunststoff einer Konsole.

Wie war das möglich? Wie konnte sich ein Gegenstand einfach in nichts auflösen?

Was wurde hier gespielt? Wie war ich hierher gekommen? Und … die vielleicht wichtigste Frage … wer war ich eigentlich?

Ich konnte mich nicht an meinen Namen erinnern.

Genau genommen konnte ich mich an gar nichts erinnern. Weder daran, wie ich hieß, noch an irgendetwas, was meine Person und Vergangenheit betraf.

»Dafür kann es viele Erklärungen geben«, murmelte ich. Nicht, um mich zu beruhigen – an meiner Lage konnte ich kurzfristig wahrscheinlich nichts ändern, und eine direkte Gefahr für mein Leben schien nicht zu bestehen – sondern um mich zu logischem Nachdenken zu zwingen. Es konnte nicht schaden, mir zuerst eine Waffe zu besorgen, die so wirksam war wie möglich. Ich sah mich um, fand auf Anhieb aber nichts, was mir hilfreich erschien.

Ich trat zu einer der Konsolen, studierte sie. Es schien sich um ein Standardmodell terranischer Bauart zu handeln, wie es bei praktisch allen modernen Raumschiffen verbaut wurde. Ich legte die Hand auf eine Schaltfläche, um sie zu aktivieren, doch nichts geschah. Es floss keine Energie.

Ich versuchte es an einem zweiten Pult, mit demselben Ergebnis. Nachdenklich strich ich mit der Hand über die Bauteile. Einen Moment lang befürchtete ich, dass es sich lediglich um Attrappen handelte, doch sie fühlten sich ganz normal an.

Vielleicht etwas kalt …

Welchen Sinn ergäbe es, die Technische Abteilung eines Raumschiffs mit Attrappen nachzubauen? Hatte man mich entführt und wollte mir eine Umgebung bieten, die mir vertraut war, in der ich mich wohlfühlte? War ich Wissenschaftler?

Ich schüttelte den Kopf und ging langsam weiter.

Sämtliche Geräte waren tot – bis auf eins. Ein schwaches silbernes Schimmern verriet, dass es aktiviert war.

Es handelte sich um ein Spektralanalysegerät auf atomarer Basis. Das obere, scheibenförmige Element wurde von vier schmalen Verstrebungen gestützt; unter dem Metall flimmerte ein Energiefeld. Ich streckte die Hand aus, zog sie aber schnell wieder zurück; man hatte mir schon als Kind beigebracht, weder eine Kochfläche anzufassen noch die Finger in Flammen zu halten.

Einen Moment lang lauschte ich in mich hinein, als erwartete ich erneut, eine innere Stimme zu hören, die mit mir erörterte, wie ich nun am besten vorgehen sollte. Aber da war natürlich nichts; wie kam ich nur auf solch verrückte Ideen?

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Analysegerät. Das Energiefeld endete nahtlos an der unteren Objektscheibe, auf der der zu untersuchende Gegenstand lag. Transparente rote und milchig weiße Strahlen erfassten ihn vollständig und durchdrangen ihn teilweise.

Stirnrunzelnd trat ich näher und betrachtete das Objekt. Es war ein unscheinbares Schmuckstück, offenbar aus Silber, ein Armreif mit einem primitiven Klappverschluss. Es war schlicht gearbeitet, wies keine Verzierungen auf, abgesehen von einer kleinen Gravur, die man mit viel Phantasie als Symbol für eine Flamme deuten konnte.

Eine Antiquität?

Doch weshalb sollte jemand im Labor eines Raumschiffs ein Schmuckstück untersuchen?

Da niemand da war, der mich einen Narren schimpfen konnte, tat ich es selbst. Es gab durchaus Gründe, solch ein Objekt zu analysieren. Vielleicht war es ein Artefakt, Überrest einer untergegangenen Kultur. Vielleicht sollte es als Bezahlung bei einem Tauschhandel dienen. Vielleicht war der Kommandant des Schiffes oder der Leiter der Technischen Abteilung einfach ein Schmucksammler und wollte seine Neuerwerbung taxieren.

Vielleicht gab es aber auch einen ganz anderen Grund für solch eine Untersuchung.

Auf einem Monitor flimmerten die bisherigen Ergebnisse der Analyse, Datenkolonnen, die rasend schnell herabrollten. Seltsamerweise bereitete es mir nicht die geringst Mühe, die Zahlen und Buchstaben zu lesen und zu behalten. Es hatte den Anschein, dass ich das, was ich einmal gesehen hatte, nicht mehr vergessen konnte.

Welch ein Hohn! Wieso konnte ich mich dann nicht mehr an meine Vergangenheit erinnern, nicht einmal an meinen Namen?

Das Schmuckstück bestand nicht aus glänzendem Metall, wie ich auf den ersten Blick vermutet hatte, sondern aus einem silbrigen, leicht nachgiebigen, offensichtlich organischen Material. Es wies eine gitterförmige Struktur auf, und darin eingelagert waren ultraschwere Atome mit einem durchschnittlichen Atomgewicht von über 1000.

Ich kniff die Augen zusammen. So etwas hatte ich noch nie gesehen; diese Substanz war mir völlig fremd.

Ich wartete, bis weitere Daten über den Bildschirm liefen. Offensichtlich war das Material, aus dem das Schmuckstück bestand, durchscheinend. Es wies zahlreiche extrem kleine kristalline Einschlüsse auf, die sich, wie ich nun mit eigenen Augen verfolgen konnte, unter dem Analysator-Mikroskop ständig zu neuen, winzigen Mustern umorientierten, als suchten sie eine ideale Form – oder versuchten, sich zu verändern. Sie waren in ständiger Bewegung. Ohne jeden Einfluss von außen, wie die Daten mir verrieten, veränderten sie ihre Gestalt. Sie bildeten Ketten und lösten sie im nächsten Moment wieder auf, zogen sich zu Ringen zusammen, die sofort wieder zerfielen, diffundierten in dem silberähnlichen Material des Schmuckstücks und strömten wieder zusammen, um zu neuen Anordnungen zusammenzufinden.

Ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu dürfen. Das konnte im Prinzip eigentlich nur eins bedeuten …

Solch ein Verhalten musste man als quasi-lebendig bezeichnen!

Nun war mir klar, wieso der Herr über dieses Labor das Objekt einer eingehenden Untersuchung unterzog. Worauf war die Besatzung dieses Schiffes mit diesem Fundstück gestoßen? Auf ein Bindeglied zwischen unbelebter und belebter Materie? Auf ein Rätsel der Evolution, das bis heute unbeantwortet geblieben war?

Fiebrige Erregung erfasste mich, als mir die Bedeutung dieses Objekts allmählich wirklich klar wurde.

Aber dann beschlichen mich wieder Zweifel. So aufsehenerregend solch eine Entdeckung auch sein mochte, irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu.

Wieso ließ man diesen Fund unbeaufsichtigt? Wieso beschäftigten sich keine Wissenschaftler mit ihm? Wieso war dieses Labor völlig menschenleer?

Und wieso war ich ausgerechnet hier erwacht? Aus welchem Grund befand ich mich hier, und wieso hatte ich die Erinnerung an mein früheres Leben verloren?

 

Ein Geräusch unterbrach meinen Gedankengang, ein … zähes Schmatzen, ein klebriges Schleifen. Es war nicht besonders laut, doch die Totenstille hier in diesem Raum verlieh ihm eine besondere Qualität. Ich hatte den Eindruck, mein Trommelfell würde platzen.

Unsinn! Natürlich eine Täuschung.

Ich sah mich um. Kalt schimmernde Konsolen und Geräte unter einer genauso kalten, grellen Beleuchtung. Starre Schatten, teilweise verzerrt, aber unbewegt; sie stellten keine Gefahr dar.

Eine Waffe! Ich hatte mich nach einer Waffe umgesehen, als ich das seltsame Objekt bemerkt hatte. Jetzt bedauerte ich, dass ich nachlässig gewesen war und mich hatte ablenken lassen.

Zögernd trat ich einen Schritt vor, und noch einen. Nichts. Vor mir bildeten Konsolen und Analysegeräte einen schmalen Gang. Ich drückte mich mit dem Rücken gegen den Kunststoff. Plötzlich spürte ich, wie kalt er war; ein frostiger Hauch durchdrang meine Kleidung und rief auf meiner Haut einen heftigen Schmerz hervor. Aufschreiend sprang ich vor; es fühlte sich an, als hätten Flammen mir den Rücken versengt.

Flammen … wie sie auf dem silbern schimmernden Schmuckstück dargestellt wurden.

Nur ein Zufall, sagte ich mir. Nichts steckt dahinter. Flammen sind Feuer, und Feuer ist bei manchen Kulturen auch ein Symbol für das Leben.

Das schmatzende Geräusch erklang erneut, diesmal hinter mir. Ich fuhr herum, lief los, sah mich um, konnte aber nichts ausmachen, blieb stehen. Ich lauschte, hörte aber nur das rasselnde Geräusch meines eigenen Atems, zwang mich zur Ruhe, drehte den Kopf.

Eine Meditationsübung half mir, mich zu konzentrieren. Sie flog mir einfach zu, ohne dass ich mich darum hätte bemühen müssen.

Dagor.

Der All-Kampf, die waffenlose Kampfkunst, angeblich vom legendären Heroen Tran-Atlan geschaffen. Mehr noch, die damit verbundene Philosophie und Lebenseinstellung, vervollkommnet im Arkon-Rittertum, dessen Hauptkodex um 3100 da Ark entstand. Die Zwölf Ehernen Prinzipien. Weitere Begriffe strömten auf mich ein, ohne dass ich darum gebeten hätte. Die Hauptwerke, auf die sich die Dagoristas bezogen … Bekenntnisse eines Dagoristas von Ashkort da Monotos, um 3500 da Ark, Buch des Willens von Dolanty, um 3100 da Ark, Das Buch der fünf Ringe von Horkat da Ophas, um 3800 da Ark, Die Zwölf Regeln des Schwertkampfes im All von Meklosa da Ragnaari, um 4000 da Ark, Kampftechnikenbuch der Dagoristas von Shandor da Lerathim, um 5700 da Ark …

Ich stöhnte leise auf, musste einiges an Willenskraft aufbringen, um die Gedankenkette zu beenden, sonst hätte ich mich noch stundenlang an diesem Wissen ergötzt, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich es überhaupt besaß. Meine Vermutung, dass ich nichts von dem vergessen konnte, was ich einmal gesehen oder gehört hatte, schien zuzutreffen. Wie sagte man dazu? Ein fotografisches Gedächtnis …

Aber man musste auch lernen, damit umzugehen, und ich schien diese Fähigkeit eingebüßt zu haben – wie alles andere auch. Ein solches Gedächtnis konnte zur Gefahr werden; hätte eine konkrete, unmittelbare Bedrohung bestanden, wäre ich jetzt vielleicht schon tot, weil ich mich hatte ablenken lassen.

Das Geräusch!

Es erklang schon wieder, diesmal näher, viel näher, und dann spürte ich eine Berührung an meinem rechten Bein. Ich verbiss mir einen Aufschrei, sprang zurück und schaute zu Boden, was ich schon längst hätte tun sollen. Bei meiner Suche nach dem Urheber dieses widerwärtigen Schmatzens hatte ich mich nur auf Augenhöhe umgesehen, vielleicht auch einen Meter höher oder tiefer.

Noch ein Fehler, der tödlich hätte enden können, glaubte ich eine Stimme in meinem Kopf zu hören. Ich lauschte wieder in mich hinein, aber da war nichts.

Was hatte ich auch erwartet?

Konzentriere dich! Es gab Wichtigeres, als über nicht vorhandene Ratgeber in meinem Gehirn nachzudenken. Kaum einen Meter vor mir breitete sich eine Pfütze auf dem Boden aus, eine Lache aus einer dickflüssigen, halbtransparenten Substanz. Es war kein Wasser, eher eine Art Schleim. Unwillkürlich musste ich an Protoplasma denken.

Das Zeug breitete sich nicht aus wie eine gewöhnliche Flüssigkeit. Es war nicht annähernd kreisförmig zerflossen, mit ausgefransten Rändern und Ausbuchtungen dort, wo kleine Senken im Boden den Weg bestimmten. Vielmehr hatte es den groben Umriss einer humanoiden Gestalt. Deutlich erkannte ich den Torso mit Hals und Kopf und jeweils ein Arm- und Beinpaar.

Und es bewegte sich. Wie die Travestie eines menschlichen Körpers kroch das Ding langsam voran, genau in meine Richtung, als könne es mich irgendwie wahrnehmen.

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück, und noch einen, doch der Kopf des Gebildes wurde dünnflüssiger, dehnte sich in meine Richtung aus, zog Hals, Körper und Gliedmaßen hinter sich her.

Ich machte einen Satz nach hinten, doch das Gebilde aus Protoplasma schnellte vorwärts, verringerte den Abstand. Ich wollte mir nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn die Masse mich erreichte. Die Berührung selbst mochte nicht gefährlich sein, die hatte ich ja schon überstanden, aber wenn die Masse mich einhüllte, in Mund und Nase drang …

Ansatzlos wirbelte ich herum und lief los. Das leise Schmatzen hinter mir wurde zu einem lauten Schwappen. Als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich, dass das Zerrbild eines Menschen ebenfalls an Geschwindigkeit gewonnen hatte. Es war noch dünnflüssiger geworden und hatte die humanoide Form aufgegeben, glitt nun wie eine Schlange über den Boden. Hinter ihm blieb eine feuchte Spur zurück, doch diese Flüssigkeitsreste rollten sich zu Kügelchen zusammen und folgten der Hauptmasse, um sich mit ihr zu vereinigen.

Ich lief weiter, hielt auf einen Arbeitstisch zu, legte die Hände um die Kante und schwang mich hinauf. Nun befand ich mich etwa einen Meter über dem Boden, bezweifelte aber, dass ich mich in Sicherheit gebracht hatte. Das seltsame Geschöpf war auf der ersten Ebene, ich aber nur gut einen Meter darüber. Ich sah mich wieder um, konnte aber nichts entdecken, was mir mehr Schutz geboten hätte.

Die Masse erreichte den Tisch, schwappte um dessen vier Beine, zog sich dann wieder zurück. Rasend schnell verdichtete sie sich, bildete wieder humanoide Umrisse aus. Und dann …

… richtete sie sich langsam auf.

Ein Teil der Flüssigkeitsmasse sackte in die Beine, bildete mächtige Oberschenkel aus, ein anderer floss in die Schultern und formte dann fast genauso voluminöse Arme. Die Travestie eines Humanoiden zog sich halb hoch, bis sie vor mir kniete. Die übermäßig ausgeprägten Körperteile bildeten sich wieder zurück, und die Proportionen nahmen ein normales Maß an. Mehr noch: Als würde ein Bildhauer seinem Werk den letzten Schliff geben, zeigten sich nun die detaillierten Strukturen eines muskulösen, austrainierten männlichen Körpers.

Er kniete nun ganz ruhig vor mir, schwankte nicht mehr, wie noch ein paar Sekunden zuvor, hob einen Arm und streckte ihn nach mir aus. Als wolle er nach mir greifen, aber nicht, um mich zu bedrohen, sondern einfach nur, um mich zu berühren. Es war eine Geste der Verehrung und gleichermaßen der Verzweiflung.

Auch der Kopf veränderte sich rasend schnell, prägte nun ein Gesicht aus, das von Sekunde zu Sekunde menschenähnlicher aussah, natürlicher. Die Züge wirkten immer schärfer geschnitten, die gerade Nase, die schmalen Lippen … Sogar die Nachahmung von Haar bildete sich, weißblond, etwas mehr als schulterlang …

Ich schluckte, glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Ich kannte das Gesicht, dessen Mund sich nun öffnete.

Es war mein eigenes.

 

»Atlan«, krächzte die unheimliche Gestalt, und die nach mir ausgestreckte Hand fing an zu zittern. Näher und näher rückte sie mir, und ich starrte sie hilflos an, wusste nicht, was ich tun sollte. »Atlan … hilf mir … ich brauche dich …«

Ich starrte auf den Mund des Wesens, doch die Lippen bewegten sich nicht. Mir wurde klar, dass ich die Stimme direkt in meinem Kopf vernahm. »Hilf mir … vereinige dich wieder mit mir …«

Atlan … der Name kam mir seltsam vertraut vor. Ja, natürlich. Der legendäre Heroe Tran-Atlan sollte doch die waffenlose Kampfkunst des Dagor geschaffen haben. Aber wieso sprach das Geschöpf mich mit diesem Namen an? War ich etwa Tran-Atlan, der Heroe?

»Atlan!«, sagte in diesem Augenblick eine andere Stimme, eine viel höhere, zweifelsfrei weibliche, und ich fuhr herum, drehte den Kopf.

Eine Frau stand am Ende des Ganges, den die Tische und Instrumente bildeten. Ich kannte sie nicht. Sie mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein, war etwa einsachtzig groß, schlank, relativ langbeinig, hatte eine Figur, die ich als angenehm, aber unauffällig bezeichnen würde, und kurzes, gewelltes blondes Haar. Ihr Teint war für terranische Verhältnisse eher dunkel, aber wer behauptete denn, dass sie Terranerin war?

Vielleicht hatte ich das geschlossen, weil sie die Uniform der USO-Flotte trug, die ihrer Figur nicht besonders schmeichelte.

»Atlan«, wiederholte sie eindringlich. »Verstehen Sie mich? Hören sie nicht auf ihn! Vertrauen Sie ihm nicht!«

Fragend starrte ich die Frau an. Wem sollte ich nicht vertrauen? Etwa diesem unheimlichen Schleimwesen?

Ich drehte den Kopf wieder und sah zu dem Geschöpf. Sein Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen. Täuschte ich mich, oder drückte es unglaublichen Schmerz aus, Enttäuschung und unerträgliche Qual?

Ein Schrei erklang in meinem Kopf, und die gerade noch perfekt menschenähnliche Gestalt fiel in sich zusammen, verflüssigte sich wieder. Fast schneller, als ich mit den Blicken folgen konnte, schlängelte sich das Plasmawesen – oder was auch immer es sein mochte – davon und verschwand in dem schmalen Spalt zwischen einem Analysegerät und dem Boden.

Ich sah wieder zu der Frau hinüber. Die Umrisse ihres Körpers schienen schwach zu flimmern, wie bei einem nicht perfekt justierten Hologramm.

Zögernd kletterte ich von dem Tisch, sah zu der Frau hinüber. Sie erwiderte meinen Blick aus grün-braunen Augen. »Wer sind Sie?«, fragte ich.

Je näher ich ihr kam, desto unschärfer wurden ihre Konturen. Mir wurde klar, dass es sich nicht um einen normalen Menschen handelte. Andererseits … Was war hier schon normal?

»Naileth Simmers«, erwiderte sie. »Erkennen Sie mich nicht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Major Naileth Simmers, Kommandantin der IMASO.«

»Was ist passiert? Wo bin ich?«

»An Bord meines Schiffes. Und zur zweiten Frage … das ist eine lange Geschichte.«

Ich versuchte zu lächeln, konnte jedoch nicht mit Sicherheit sagen, ob es mir auch gelang. »Ich habe Zeit. Und ich brauche Antworten.« Ich spielte mit dem Gedanken, sie zu fragen, wer ich war, zögerte jedoch. Die ganze Situation war völlig undurchsichtig. Konnte ich Major Simmers wirklich vertrauen?

»Das stimmt nicht ganz. Sie haben keine Zeit, Lordadmiral. Und Sie müssen auf der Hut sein.«

»Auf der Hut wovor?« Ich schien eine unsichtbare Grenze erreicht zu haben. Immer, wenn ich einen Schritt vortrat, wich die Frau einen Schritt zurück, als wolle sie verhindern, dass ich ihr zu nahe kam.

Hielt sie mich für eine Gefahr? Eine Bedrohung? Oder wollte sie vermeiden, dass ich das Flimmern ihrer Umrisse bemerkte?

»Vor ihm.«

»Diesem … Plasmawesen?« In Ermangelung eines besseren Begriffs benutzte ich diesen.

»Es ist kein Plasmawesen. Es ist …«

Ich kniff die Augen zusammen, sah sie fragend an. »Was?«

»Ich kann Ihnen das jetzt nicht erklären, Lordadmiral. Dafür ist die Zeit zu knapp. Sie müssen mir vertrauen.«

Lordadmiral Atlan … das hörte sich bedeutend an.

Major Simmers wich weiterhin stetig vor mir zurück und sah mich dabei unverwandt an. Sie erreichte das Analysegerät, in dem das silberfarbene Schmuckstück untersucht wurde. Der flimmernde Energieschirm, der den Armreifen umschlossen hatte, war erloschen, die untere Objektscheibe war leer. Das Schmuckstück war verschwunden.

Ich riss die Augen auf. Ich war mir völlig sicher, dass keine andere Person die Technische Abteilung betreten hatte.

Zuerst die Liege, nun das Schmuckstück …

Die Kommandantin der IMASO schien meinen zweifelnden Blick richtig zu deuten. »Sie haben den Armreif gesehen, Lordadmiral?«

»Ja. Wo ist er geblieben?«

»Auch das ist eine lange Geschichte …«

Wenn ich in der Tat ein Lordadmiral war, war ich rangmäßig höher gestellt als ein Major. Vielleicht war es an der Zeit, diese Karte auszuspielen. Mit den Andeutungen und Ausflüchten der Kommandantin vermochte ich jedenfalls nicht herauszufinden, was hier gespielt wurde. »Major …«

»Es ist wirklich nicht so leicht zu erklären, Sir. Ich versuche ja, Ihnen zu helfen, und es ist schon ein großer Fortschritt, dass ich überhaupt zu Ihnen durchgedrungen bin. Ohne … ohne Unterstützung wäre mir das niemals gelungen. Es tut mir leid, Sir, aber ich kann Ihnen jetzt keine Einzelheiten erklären, das alles dauert zu lange. Ich muss Sie bitten, mir einfach zu vertrauen, Sir.«

Ich kniff wieder die Augen zusammen, musterte die Gestalt, wie sie vor mir stand, die flimmernden Konturen, die den Körper nur unscharf abgrenzten. »Sie sind nicht echt, Major, nicht wahr?«

Die Frau, die sich mir als Naileth Simmers vorgestellt hatte, seufzte leicht. »Doch, das bin ich, Lordadmiral. Ich bin sogar sehr real. Wenn auch nicht unbedingt für Sie, Sir.«

»Was soll das heißen? Was ist mit mir passiert? Wo bin ich?«

»An Bord der IMASO, Sir. Ein schneller Kreuzer der STAATEN-Klasse im Dienst der USO.«

»Aber nicht in der Technischen Abteilung, oder?«

Die Kommandantin zögerte, rang offensichtlich mit sich. »Ich halte es nicht für vorteilhaft, Ihnen das zu verraten, Sir. Mir wurde eine andere Vorgehensweise nahegelegt …«

»Reden Sie endlich mal Klartext, Major! Von wem nahegelegt?«

»Von …«

Ich sah die Bewegung aus dem Augenwinkel, ein feuchtes Schimmern, ein rasantes Dahinfließen. Das unheimliche Wesen, das mich schon einmal vorfolgt und auf den Tisch getrieben hatte, schoss mit einer Geschwindigkeit, die es vorher nicht an den Tag gelegt hatte, um die Ecke und schnellte sich vom Boden ab. Es hatte seine humanoide Form aufgegeben, zeigte sich nun als riesiger Tropfen, für den die Gesetze der Schwerkraft nicht zu gelten schienen.

»Nein!«, hörte ich den gellenden Schrei der Kommandantin, und bevor ich reagieren konnte, hatte das fremdartige Geschöpf mich bereits erreicht. Die Wucht des Aufpralls riss mich zu Boden. Auch ich schrie auf, aber nicht lange, denn die halbflüssige Substanz des Wesens schmiegte sich an mich, sickerte an Ärmeln und Beinen unter meine Kleidung, legte sich wie eine zweite Haut um meinen Körper, um den Kopf. Mein Schrei verklang, als mir schmierige Feuchtigkeit in den Mund drang, in die Nase. Ich konnte nicht mehr atmen, spürte, wie die Substanz durch Luft- und Speiseröhre in meinen Körper glitt, in mein Gehirn, sich dort ausbreitete, als wäre sie schon immer dort gewesen. Alles wurde dunkel um mich.

»Endlich!«, vernahm ich die krächzende Stimme des Wesens außerhalb meines Körpers, und dann, im nächsten Augenblick, triumphierend, unglaublich erleichtert, direkt in meinem Kopf: »Endlich sind wir wieder vereint!«

 

 

Ulcarach

 

Sieh mich nicht so an, Rion. Ich weiß, du bist nicht gut auf mich zu sprechen. Ich verstehe das durchaus. Wäre ich an deiner Stelle, wäre ich auch nicht gut auf mich zu sprechen. Aber du musst mich trotzdem nicht so anschauen.

Was ich getan habe, war ziemlich drastisch, sicher, aber es musste sein. Der Meinung bist du doch auch, Rion, oder? Ich meine, wir beide sind Profis, absolute Profis. Wir haben gewusst, worauf wir uns einlassen, da müssen wir uns nichts vormachen. Als wir uns verpflichtet haben, war uns klar, dass es für uns kein Zuckerschlecken werden würde. Wenn man für die USO tätig ist, gibt es keine Garantien, nicht mal auf Gleiter. Wir müssen ständig das Unerwartete erwarten. Du musst dir zum Vorwurf machen, dass du schlafmützig warst. Du hast dir nicht den Rücken freigehalten. Du warst zu vertrauensselig.

Die meisten Leute haben keine Ahnung, was es heißt, USO-Spezialist zu sein. Meinetwegen auch SolAb-Agent, so weit sind wir ja gar nicht auseinander. Sie verklären unser Geschäft, haben die irrwitzigsten, hehren Vorstellungen davon. Aber du weißt genau wie ich, dass das Blödsinn ist. Es gibt keine Ehre unter Agenten, keine Konventionen. Wir müssen überleben, nur darauf kommt es an. Alles andere ist Nebensache. Wir täuschen, lügen, vertuschen, betrügen, stellen Fallen, verletzen, verstümmeln, morden, wenn es sein muss. Wir müssen jede Sekunde damit rechnen, dass unsere Wege sich mit denen eines Gegners kreuzen, der das Spiel besser versteht als wir. Der gerissener ist, skrupelloser.

Der uns umbringt, bevor wir überhaupt merken, was gespielt wird.

Natürlich müssen wir unsere Aufnahmeprüfungen absolvieren. Natürlich nimmt man uns gnadenlos unter die Lupe, bevor wir in den erlauchten Kreis aufgenommen werden. Natürlich ist unsere Ausbildung so hart, dass mehr als die Hälfte aller Kandidaten wieder abspringen, bevor sie sich »USO-Spezialisten« nennen dürfen.

Aber dann? Die Milchstraße ist groß, Rion. Manche Agenten haben einfach Glück. Sie werden an galaktischen Brennpunkten eingesetzt, überleben und machen Karriere.

Andere haben Pech. Sie machen Dienst nach Vorschrift, und irgendwann werden sie ins kalte Wasser geworfen. So etwas passiert immer wieder.

Ich hatte eigentlich Glück, aber darüber haben wir ja schon hundert Mal gesprochen, Rion. Anfangs wollte ich etwas bewirken, an eben jenen Brennpunkten eingesetzt werden, vielleicht sogar Geschichte schreiben. Doch der Agenten-Alltag kann anders sein. Wenn du Pech hast, machst du jahrelang Tag für Tag das Gleiche. Nichts passiert. Du bist kein Held, höchstens ein Schläfer, vielleicht auch ein Briefkasten. Irgendwann stumpfst du ab. Aber wem sage ich das, Rion? Du kennst das ja selbst.

Und dann … dann passiert was. Und du bist so bequem geworden, so gleichgültig und der Routine verhaftet, dass du nicht damit fertig wirst. Genauso war es bei mir.

Du kennst meine Biografie. Du kennst mich wahrscheinlich besser als irgendein anderes Lebewesen in der Milchstraße. So kurz die Zeit auch gewesen mag, die wir zusammengearbeitet haben, sie war lang genug, um mich gründlich kennen zu lernen. Die Zeit auf diesem Hinterwäldlerplaneten … mein Gott, Thanaton. Ändere den letzten Buchstaben ab, und du hast die Personifikation von Tod und Sterblichkeit in der griechischen Mythologie: Thanatos. Wie kann man einen Planeten nur so nennen?

Nun ja … hier leben Lemurerabkömmlinge. Vielleicht hatte Thanos bei ihren Vorfahren eine völlig andere Bedeutung als in der klassischen irdischen Sprache. Vielleicht hat sich dieser Wortstamm auf der Erde aber auch über Jahrhunderttausende erhalten und wurde ins Griechische hinübergerettet. Ich bin zwar USO-Spezialist für Sprachen, habe mich aber nur rudimentär mit den antiken beschäftigt. Mein hauptsächliches Interesse gilt den modernen, wie du weißt. Oder galt.

Was ich sagen will, Rion – du kennst mich wie kein anderer. Du kennst meine Biografie. Ich habe dir nie etwas verheimlicht.

Tja, der gute alte Terry. 51 Jahre auf dem Buckel, zu alt, um noch jemals eine große Karriere zu machen. Mit den jungen Heißspornen kann ich nicht mehr mithalten. Die erledigen aus dem Handgelenk, wozu ich mich gewaltig anstrengen muss. Und die wirklich große Erfahrung, mit der ich dieses Defizit ausgleichen könnte, habe ich auch nicht. Auf dem Mars geboren bin ich, als drittes Kind zurückgekehrter Siedler. Seit 25 Jahren USO-Agent, mit »Fremdkulturenunterwanderung« als Spezialgebiet. Ein toller Begriff, nicht wahr?

Mit 26 Jahren bin ich dem Verein beigetreten, und ich kann wahrscheinlich von Glück reden, dass sie mich überhaupt genommen haben. Klar, ich spreche über vierzig galaktische Sprachen fließend, aber auch nur dank des Hypno-Trainings, das ist also nichts Besonderes. Natürlich bin ich ausgebildet in der Anwendung unterschiedlichster Überlebenstechniken, aber auch das gehört zum Job.

Und was habe ich daraus gemacht? Sieh mich doch an, Rion! Ich bin – unmaskiert – ein jovial erscheinender, rothaariger Terraner von einem Meter und fünfundachtzig Körpergröße mit leichtem Hang zur Korpulenz. Na toll! Die Frauen fliegen auf mich, und ich trinke meinen Martini geschüttelt, nicht gerührt.

Falls du mit diesem Zitat etwas anfangen kannst. Aber klassische Prä-Transitions-Literatur hat dich nie interessiert, nicht wahr?

Du weißt, was mir passiert ist, mein Freund. Damals, vor zehn Jahren, als ich mich in den Außendienst versetzen ließ. Aufgrund belastender Erlebnisse, wie die Psychologen so schön sagen. Die Mission auf Thanaton ist meine vierte derartige. Ich habe dir nie erzählt, um was für Erlebnisse es sich handelte, dir immer nur versichert, dass ich eigentlich ein loyaler Agent der USO bin. Das stimmt auch. Aber nach allem, was nun geschehen ist …

Du hast verdient, dass ich mich dir vollständig öffne, Rion. Wirklich. O nein, ich habe es nie zugegeben, aber ich bin nicht der Schönheit dieses Planeten erlegen, auf dem ich mir endlich ein lebenswertes Leben aufbauen konnte. Keineswegs.

Sieh mich nicht so an, Rion. Ich will jetzt ganz ehrlich zu dir sein. Du bist der erste, dem ich das jemals erzählt habe. Abgesehen von den USO-Spezialisten natürlich, die mich nach diesem Fiasko damals verhört haben. Denen konnte ich nichts verheimlichen, gar nichts.

Also hör zu, Rion …

Die zweite Ebene

 

 

In der Dunkelheit, in die ich gestürzt war, brannte nun ein Licht. Eine schwache Flamme, winzig klein, zitternd, als stünde sie in einem starken Luftzug und drohe jeden Augenblick auszugehen, aber doch mehr als das, was vorher gewesen war. Mehr als lediglich brodelnde Finsternis, unter der sich etwas verbarg, mit dem ich gar nicht in Berührung kommen wollte.

»Du hast mich nicht getötet?«, fragte ich das Ding, das nun in meinem Kopf war.

Nein, antwortete es überrascht. Warum sollte ich? Es war nie meine Absicht, dich zu töten. Wie kommst du darauf?

»Du hast mich verfolgt, hast mich angegriffen …«

Ich wollte nur wieder mit dir vereint sein. Es ging nicht anders. Wäre die Vereinigung nicht in absehbarer Zeit gelungen, hätte ich meine Existenz verloren, wäre ich erloschen wie eine Flamme im Sturm. Ich spürte schon, wie ich immer schwächer wurde. Aber wir beide gehören zusammen.

»Wieso? Wer bist du?«

Weißt du das wirklich nicht? Man hat etwas mit uns gemacht. Uns manipuliert, soviel steht fest. Wir müssen herausfinden, was passiert ist.

Soweit gab ich der Stimme durchaus Recht. »Das ist mir auch klar. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«

Ich bin dein Extrasinn, gab die Stimme lapidar zurück.

»Mein Extrasinn?« Der Begriff sagte mir durchaus etwas.

Dein Logiksektor.

»Ja, ich weiß.« Der Extrasinn war ein Gehirnbereich von Arkoniden, der im Verlauf eines fünfdimensional-hyperenergetischen Aufladungsprozesses als dritter Grad der ARK SUMMIA aktiviert werden konnte. Mit seiner Hilfe wurden Dinge erfasst, die infolge eines noch fehlenden Erfahrungsschatzes nur mit einer unbewusst einsetzenden Logikauswertung gemeistert werden konnten. Daher stammte die Zweitbezeichnung Logiksektor. Verbunden mit der Aktivierung war die Ausbildung eines photographisch exakten Gedächtnisses.

Hatte ich nicht den Eindruck gehabt, nichts vergessen zu können, was ich jemals gesehen hatte? Das stimmte ja soweit mit dem überein, was die Stimme mir berichtete.

Ich wusste auch, dass Arkoniden, die auf einen aktivierten Extrasinn zurückgreifen konnten, ihren »normalen« Zeitgenossen überlegen waren. Sie erfassten, verstanden und kalkulierten Vorkommnisse deutlich schneller und folgerichtiger, als Wissenschaftler erzielten sie wesentlich bessere Erfolge. Bis zu einem gewissen Grad entwickelte ein Extrasinn ein eigenständiges, wenn auch mit seinem Träger permanent verbundenes Bewusstsein. Die Kommunikation zwischen beiden erfolgte per Gedankenkontakt und war für den Extrasinn-Inhaber mit dem Gefühl verbunden, ein Unsichtbarer spreche in sein Ohr.

Auch das entsprach den Erfahrungen, die ich gemacht hatte. Ich hatte das Gefühl gehabt, eine Stimme in meinem Kopf müsse sich melden und mir Ratschläge erteilen, und ich hatte sie genau genommen sogar vermisst.

Der Logiksektor sagte etwas, doch ich achtete nicht darauf und rief mir in Erinnerung zurück, was ich sonst noch über dieses Phänomen wusste. Die Eigenständigkeit des Extrasinns bedingte, dass er seine Kommentare selbständig abgab und sich nicht abschalten ließ. Mit wachsender Lebensdauer bestand die Gefahr, dass Schlüsselreize das fotografische Gedächtnis anregten und die Assoziationen sich zu dem gefürchteten Sprechzwang auswuchsen, bei dem die gespeicherten Erinnerungsbilder detailgetreu erneut durchlebt und dabei berichtet wurden.

War etwa genau das mit mir geschehen? War mein Extrasinn fehlerhaft? Litt er an Ausfallerscheinungen? Versuchte er, sich als eigenständige Persönlichkeit zu etablieren? Kämpfte er gegen mich? War all das, was ich erlebt zu haben glaubte, nur ein Ausdruck, eine sinnbildliche Darstellung für diesen Kampf?

Nein, sagte der Extrasinn eindringlich. Denke nach! Wie könnte das deinen Gedächtnisverlust bewirken? Dahinter muss noch viel mehr stecken!

»Wer verrät mir, dass du mir nicht meine Erinnerungen genommen hast, um mich zusätzlich zu schwächen? Ich kann nicht so recht an eine Manipulation von außen glauben. Ein aktivierter Logiksektor erhöht seinen Besitzer. In Einzelfällen ist mit der Aktivierung sogar die Ausbildung von telepathischen oder sonstigen Parakräften verbunden, und der Extrasinn unterstützt den Träger bei der Ausbildung eines Monoschirms zur Abschottung gegen telepathische Ausspähung. Dadurch wird eine geistige Manipulation um so unwahrscheinlicher.«

Das ist richtig, aber …

»Allerdings sind – wenn auch nur wenige – Fälle eines Phänomens bekannt, das als multipel personalisierter Extrasinn charakterisiert wird. Es waren stets besonders begabte Persönlichkeiten mit hohen Lerc-Werten, bei denen es sich manifestierte. Der Logiksektor trat bei ihnen nicht als Ratgeber im Hintergrund auf, sondern entwickelte ein Eigenleben in der Art einer gespaltenen Persönlichkeit. Es kam zu regelrechten inneren Rollenspielen, an denen neben dem Betroffenen beliebige ihm nahe stehende Persönlichkeiten oder deren Abbilder beteiligt waren. Alles weist darauf hin, dass ich gerade so etwas erlebe.«

Dann musst du dir ja keine Sorgen machen. In allen bekannten Fällen hat sich am Ende die hochbegabte Persönlichkeit des Betroffenen gegen den fehlgeleiteten Extrasinn durchgesetzt, nicht wahr?

Was auch wieder den Tatsachen entsprach. »Im Einzelfall kann das jedoch viele Jahre dauern«, hielt ich dagegen. »Und so etwas wird mit einer gezielt herbeigeführten und kontrollierten Bewusstseinsspaltung verglichen.«

So kommen wir nicht weiter. Dir ist aber klar, dass du mir mit deiner gesamten Argumentation in die Hände spielst?

»Inwiefern?«

Ruf dir deine Worte in Erinnerung zurück. Lausche auf ihren Klang. Wie hört sich das an, was du gerade gesagt hast?

Ich zögerte. »Worauf willst du hinaus?«

Wie Worte aus dem Lehrbuch, nicht wahr? Du leierst erlerntes Wissen herunter, ohne es in Beziehung zu dir selbst setzen zu können. Wann wurde ich aktiviert? Seit wann sind wir zusammen?

Ich schwieg. Ich wusste es nicht. »Sag du es mir«, antwortete ich.