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Dritter Band der Höllenwelt-Trilogie

 

Dämmerung über Höllenwelt

 

von Hans Kneifel

 

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Kleines Who is Who

 

Abel Staut und Helman Korff – die Korvetten der Leutnants landen auf Ishtar’s Island

Atlan – der Lordadmiral der USO stellt sich einem seltsamen Duell

Borrany – die Neversame zündelt

Daniel Pherson, Osmooth Alerin und Varen Thorik – die USO-Spezialisten der Abteilung A912 reisen in einem Uraltraumschiff

Darakh – ein Überwesen sucht den Weg zur Macht

Dokkat – der junge Ekhonide fungiert als Atlans Chauffeur

Errehart von Hartwich – der Berater des Tolsom-Clans findet ein trauriges Ende

Fellmer Lloyd – der Telepath und Orter entdeckt Darakhs Spur

das Flachfraßmonster – ein tückisches Biest hat diesmal Pech

Lionarth Davinsh – ein Monstrum liebt terranische Literatur

Maria Vajai – die Bordmedizinerin der QUESTRON hebt Atlans Stimmung

Perry Rhodan – der Großadministrator gibt seinem Freund freie Hand

Pertar Almoth – der Korporal der Abteilung A912 wagt den Sprung ins Ungewisse

Rhaen Tolsom – Atlans einstige Geliebte findet ihre Erinnerung und eine neue Aufgabe

Rulan Karkeron – der raubeinige Oxtorner übernimmt einen Botschafterposten

Sayen Finnegan – Rulan Karkerons »Kerkermeister« wird verkannt

Taha Kanli – seine QUESTRON wird sehnlichst erwartet

Tira Midarka – die Funkerin vom Neptun stellt Verbindungen her

Ungsame Tre, Intara Ra und Norreka Ret – die Neversames begleiten Karkeron in die Zitadelle des Gegners

»… ganz entsetzlich.

Auf schrien die Himmel, das Erdreich dröhnte.

Der Tag erstarrte, die Finsternis kam heraus,

Aufblitzte ein Blitz, er entloderte ein Feuer.

Die Wolken wurden dichter, es regnete Tod.

Dann wurde rot das weißglühende Teuer und verlosch;

Alles aber, was herabfiel, ward zu Asche …«

Aus dem Gilgamesch-Epos; vierte Tafel.

Terra, Mesopotamien, ca. 2750 v.Chr.

Kapitel 1
Lionarth Davinshs Schatz

 

In den Membranen aller Wandverkleidungen, nahezu in jedem Raum der riesigen Anlage, erschienen geräuschlos halbplastische Gesichter. Sie entsprachen, so behauptete es die Legende, dem Aussehen eines Funkmaats des Ersten Raumschiffs.

In diesem Augenblick schien das Gesicht zu lächeln, die Lippen bewegten sich, und jeder Neversame konnte hören: »Aus der Warte des weitreichenden Wetters! Eine Warnung an alle! Eine positive und eine negative Nachricht. Zuerst die negative: Es nähert sich ein ausgedehntes Sturmsystem.«

An der höchsten Stelle des felsigen Zentralberges, halb in einen mittelgroßen Meteoritenkrater eingebaut, befand sich die Wetterwarte. Eine flachkonkave Kuppel aus gezüchtetem Transparentgelat deckte die Station ab; bisher hatte sie jedem Orkan und jedem aggressiven Regen widerstanden. Die Lippen des Sprechers kräuselten sich optimistisch nach oben.

»Und nun die positive Nachricht: Die Sensoren melden übereinstimmend den Sturm aus Nord. Eine riesige kalte Wolke einer Stickstoff-Sauerstoff-Mischung kommt auf uns zu, mit hohem Sauerstoffanteil.

Es ist geboten, die Anlage während dieser Zeit gut durchzulüften, von üblen Gerüchen zu befreien und die Lufttanks neu zu befüllen. Die Warte wird wieder warnen, wenn der Wind an Wirksamkeit verliert. Ende der Nachricht – wenn die Wolke eintrifft, meldet sich der Windwart wieder.«

Lionarth schmunzelte und sah zu, wie sich das Gesicht zurückzog und die Folie glättete. Die Konturen des unvollendeten Gemäldes, an dem er seit einigen Neuntagen arbeitete, stabilisierten sich. Als der Universal aufstand und durch das gerundete Fenster des Ateliers in die Ebene hinunterblickte, stieß er einen Fluch aus.

Dann brüllte er: »Ich hasse sie alle! Verdammt sollen sie sein! Warum lassen sie uns nicht einfach in Ruhe?«

Lionarths schwere Drittarmpranke fegte die Steine der Mineraliensammlung von der metallenen Arbeitsplatte. Sie prasselten gegen eine leere Schrifttafel, die vor der blauen Leuchtmoos-Bespannung schräg an der Wand lehnte. Durch die Linsenmembran der Atelierkuppel äugte Lionarth mit starrem, vorwurfsvollem Blick hinunter zur Straße, die sich zwischen den Gewächsen nach Osten schlängelte, zur Festung der »Anderen«, zu denen, die »ihren Willen verloren hatten«. Der säurehaltige Regen, der den Nebel zwischen den Ghilantebäumen niedergeschlagen hatte, zog unter der gelben Wolke in die Richtung des Gebirges weiter.

Auf der Straße, nichts anderes als ein breiter Streifen ausgeätzten, fast schwarzen Sandes aus zermahlenem Tiefengestein, hatte ein Gleiter angehalten. Unter der verfärbten, rissigen Kuppel des schwebenden Transporters erkannte Lionarth vier Gestalten in klobigen Raumanzügen. Zwei Insassen stiegen aus und näherten sich schwerfällig den weißen Ghilante-Langstämmen, die auf Böcken aus porösem Basalt lagen.

Yntara Ra und Ungsame Tre hatten die Bäume gefällt, entrindet und nach Lionarths Vorgaben und Zeichnungen bearbeitet. Die langen Balken sollten Torpfosten eines Gemeinschaftsraums werden, wenn sämtliche Schnitzereien ausgeführt und die Oberflächen geglättet und poliert waren. Jetzt sah der Künstler zu, wie die Kerle vom anderen Planeten zwei Antigravelemente an dem ersten Stamm befestigten und ihn zum Gleiter transportierten. Sie luden ihn auf der Ladefläche ab und bewegten sich wieder zum Straßenrand, während die anderen Gleiterinsassen die Enden mit Spanngurten sicherten. Der Vorgang lief im grellen Mittagslicht ab; die weißen Strahlen Adads, kaum gefiltert durch Partikel der Trümmerschale, stachen fast senkrecht auf die Ebene, die eiserne Stadt im Berg und durch die organischen Kuppeln und Dächer der Außengebäude.

Aus einer der vielen Öffnungen am Fuß des Berges stürzten eine Anzahl Neversames hervor. Sie hielten einfache Waffen in ihren Extremitäten und rannten zur Straße. Aber die verdammten Räuber waren schneller. Lionarth schäumte vor Wut und Enttäuschung, als er zusehen musste, wie auch der zweite Stamm auf der Ladefläche festgemacht wurde und die Diebe in den Gleiter stiegen. Sie machten verächtliche Gesten in die Richtung der Verteidiger, als ihr Fluggerät schwerfällig beschleunigte und sich, eine halbe Mannslänge über der Straße schwebend, mit der Beute uneinholbar entfernte.

»Wieder zu spät! Eines Tages erwischen wir sie!«, sagte Lionarth knarrend. »Und dann fange ich mit einem neuen Bild oder einem Epos an.«

Er ließ sich schwer auf das Diaphragma des Sessels sinken und faltete seine drei Arme vor der Brust zusammen. Die Finger der Feinhändchen legten sich flach auf die Muskelstränge der Unterarme. Lionarth spürte wieder einmal sein hohes Alter und die Last der Verantwortung. Er suchte Trost im Klang der Worte, der uralten Dichtung, seines wichtigsten Besitzes – langsam streckte er die Großfinger der mittleren Hand nach dem Schatzkästchen aus.

In der Mitte seines »Wohnwerkstattgaleriestudios« stand es auf einem Block aus poliertem Gabbro. Ein annähernd würfelförmiger Kasten aus schwerem, metallverstärktem Plastam, mit kantigen Ausbuchtungen, blitzenden, von langem Gebrauch polierten Schaltern, einigen Lautsprechern und einem Tastenfeld, einem Dutzend Kontrolllämpchen und verbunden mit einer externen Energiezelle. Die Geschichte dieses einmaligen Besitztums war lang und verworren; angeblich war es älter als drei Jahrtausende und stammte aus dem Raumschiff, das als Erstes den Planeten Reddeye angeflogen hatte, die Ur-Heimat der Neversames.

Der Speicherinhalt war ebenso einzigartig wie grandios: Sämtliche Epen, Gedichte und Ursprungsmythen Terras aus der Zeit, als man den Planeten noch »die Erde« nannte.

Das Gilgamesch-Epos.

Die Ilias und die Odyssee des Griechen H…mer.

Alighier… Dantes Divina Com…dia, die Göttliche Komödie.

Das Wüste Land von T.S. Eliot … Hei…ich Heines Sämtliche Gedichte … William Shakespeares, des Schwans von Avon, Gesa…elte Dramen und seine Sonette, das Beowulflied mit seinen ungewohnten Stabreimen, und die Apokalypse, die Geheime Offe…arung sowie, neben vielen anderen Dichtungen, die Monarth Davinsh-Ode. von Eug…le Vasary.

Während der ewigen Zeit, sehr weit vor Boris Parthan und Sehn Darakh, hatte auf dem langen, verschlungenen Weg von Terra bis nach Höllenwelt/Ereshkigal ein EMP, ein strahlförmiger elektromagnetischer Impuls, das Gehäuse diagonal durchschlagen und einen Teil der Speicher ruiniert. Oder ein anderer, zerstörerische Eingriff hatte stattgefunden, mit dem gleichen misslichen Ergebnis. Fast alle diese ehrfurchtgebietenden Dichtungen waren an einigen Stellen beschädigt und unvollständig; Homers Hexameter rissen, beispielsweise, mitten im Fluss des Rezitativs ab und gingen nach einer sinnentstellenden Pause weiter.

Dass Lionarth lange Passagen der verschiedenen Dichtungen aus dem Gedächtnis deklamieren konnte, trug ihm ebenso viel Hochachtung der Neversames ein wie die meisten seiner anderen Fähigkeiten. Er war ein begnadeter Erfinder, Entwickler und Forscher; keiner konnte besser als er die Folgen und Chancen der ständigen Mutationen handhaben. Er tat dies aus wissenschaftlicher Neugierde und zum Wohl aller Neversames von Höllenwelt. Oder Ereshkigal, wie die meisten Planetarier ihre Welt nannten. Auch sein Name stammte aus dem Wissen, das irgendwann zumindest teilweise und verstümmelt von der alten Erde seinen Weg hierher gefunden hatte. Ebenso wie der Name seiner Gefährtin Sayen Finnegan.

Lionarth, gewähltes und unangefochtenes Oberhaupt der Neversames, entnahm einem geflochtenen Vorratsbehälter einen Ghilantesamen, begann die faustgroße Kugel zu kneten und seine Gedanken laut auszusprechen. Der emphatische Schwamm der Kapsel speicherte die Worte.

»Vieles geschieht unter den Strahlen des Sterns, den wir Neversames Adad nennen, denn dies war der Name des babylonischen Wettergottes. Und dass das Wetter unser Leben bestimmt, innerhalb der Spanne von mehr als hundertzehn Grad, mehr eisig als heiß, weiß jeder von uns. Aber jenseits der Folge statistisch nicht erfassbarer Wirbel, Stürme, Boden- und Höhenwinde, bahnt sich über unserer aufregenden Welt wieder etwas zusammen, das die Geschichte zu ändern in der Lage ist. Ich spüre es! Alle Einzelbeobachtungen bestätigen es, und das Ganze wird größer sein als die Summe der vielen scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten.«

Lionarth machte eine Pause. Die schweren Nickhäute schlossen sich über seinen Augen. Er dachte an die vergangenen sieben Jahrhunderte, in denen die seltsamste Evolution stattgefunden hatte, von der er wusste. In dem gestrandeten kleinen Raumschiff hatte sich eine Bordbibliothek befunden, die von den Eingeborenen Ereshkigals zufällig, als Beute sozusagen, ausgebaut worden war. Die vielen Buchtitel schilderten die Kultur und die Zivilisation Terras. Sicherlich war dieses Wissen alles andere als vollständig, aber dies war alles, was die Neversames hatten. Lionarth war sich bewusst, dass diese »positronische Bibliothek« nur einen Teil der Erinnerung seiner fernen Vorfahren umfasste. Es war noch nicht lange her, dass es gelungen war, die riesige Textmenge auszulesen und allen zugänglich zu machen.

 

Damals, vor vielen Generationen, schienen die gestrandeten Raumfahrer verloren zu sein. Aber die halbintelligenten Eingeborenen – die sich Namtar nannten und von den Schiffbrüchigen als »Hardheads« bezeichnet wurden – retteten den tödlich erkrankten Raumfahrern das Leben.

Eine wirre, verwirrende Entwicklung begann, ohne dass Ursache und Wirkung zunächst richtig erkannt werden konnten. Die Kreaturen der Höllenwelt, Ergebnisse einer unvorstellbaren Evolution, injizierten den verzweifelten Gestrandeten bestimmte Gensequenzen, aufgelöst in einer seltsamen Flüssigkeit, ein Willkommenstrunk der Verzweiflung. Eines der vielen grässlichen Wunder dieses Planeten. Damals verstand niemand, was wirklich geschehen war; die Übertragung erfolgte durch Tröpfcheninfusion und Austausch von Körperflüssigkeiten. Die Legende berichtete von langen Dornen seltsamer »Pflanzen«, hohlen Halmen und derlei Methoden von Graswurzelärzten. Aber auf Ereshkigal gab es kein Gras. Die Evolution hatte ganz andere Wege beschritten und Unglaubliches hervorgebracht.

 

Die Kreaturen hatten einigen Raumfahrern das Leben bewahrt, den Ureltern der Neversames. Eigentlich nur die Ureltern einiger Neversames, denn sie waren selbst – weiblich oder männlich – gewissermaßen auch Eltern ihrer selbst geworden, Anfänge einer jeweils individuellen »Mutationenkette«.

»Warum fällt mir gerade jetzt die Historie unserer Welt, unserer Bevölkerung ein?« Lionarth überlegte laut. Es gab einen Grund, aber er lag tief in der Vorahnung großer Entwicklungen verborgen; in seiner, des Universals, Ahnung. Es wäre nicht das erste Mal, dass er recht behielt. Vielleicht hatte ihn der dreiste Diebstahl der fast fertiggestellten Torsäulen wieder auf diesen Gedankenpfad gebracht.

»Immerhin gelang es den Raumfahrern, ihr Fahrzeug trotz der geraubten Einzelteile wieder zu reparieren. Zum Rückflug brauchten sie keine Bordbibliothek und auch nicht mein ›Schatzkästchen‹. Aber längst nicht alle Gestrandeten kehrten zurück …«

 

Später, sehr viel später, fanden sich Erklärungen, und man konnte die Vorgänge einigermaßen verstehen. Die Menschen von Reddeye wurden horizontalem Gentransfer und viraler Re-Programmierung der DNS unterworfen. Nur durch diese Fähigkeit, die völlig unbewusst blieb, hatten die Namtar-Hardheads sich den ständig wechselnden Umweltbedingungen anpassen können. Sie erlebten es ebenso wie alle anderen Organismen dieser brutalen Welt. Wie die Urkeime dieses außerordentlich bemerkenswerten Lebens selbst zur Oberfläche der ausgeglühten ehemaligen Gaswelt geraten waren, blieb ein Geheimnis bis zum heutigen Tag.

 

Lionarths Erinnerungen wurden jäh unterbrochen. Wieder zeigten sich die Konturen des Gesichts. Einen Augenblick später rief der Windwart: »Der vorausgesagte Sturm ist eingetroffen. Er hat den grünen Felsen erreicht – es droht in der nächsten halben Stunde kein Säureregen. Frischer Sauerstoff tut not; öffnet eure Luken.«

Lionarth stand auf, bewegte sich zu einer Liane, deren Blätter und Blüten die lichtdurchströmte Kuppel über seiner Wohnwerkstatt säumten. Er berührte die weiche Rinde des Gewächses aus Lignin, verschiedenen Mineraladern und Zellulose mit den Fingerkuppen der Grobhand und wartete, bis sich die Fläche der Membran rund um die Vergrößerungslinse öffnete. Frische, kalte Luft wehte kräftig ins Innere der Behausung; aus einer Anzahl ovaler Öffnungen im Boden und in den Wänden, die lautlos aus schmalen Spalten entstanden, strömte nebelartig verbrauchte, staubhaltige Luft und wurde ins Freie gewirbelt.

 

Die Menschen, die nach Reddeye zurückflogen, unter ihnen auch Boris Parthan, waren weniger von dem Gentransfer betroffen als die andere Hälfte, die Parthan rücksichtslos auf Höllenwelt zurückließ. Letztere entfernten sich mehr und mehr von menschlichem Dasein und veränderten sich innerhalb weniger Generationen. Die Veränderung ermöglichte ihnen, sich mit den Hardheads zu paaren. Aber der Keim der nergeïschen Verformung entwickelte sich weiter, unterstützt von den unberechenbaren Umweltbedingungen des Planeten.

 

Lionarth genoss den kühlen Luftstrom, der durch das gesamte Gefüge des heimatlichen Berges fauchte und winselte. Die Neversames in all ihren Erscheinungsformen waren Produkte von rund sieben Jahrhunderten staunenswerter Evolution, und das war gut so. Wenn ihn seine dunkle Ahnung nicht trog, fehlte in dieser Entwicklung eine Machtzusammenballung, ein Höheres Wesen, ein Organismus, der sich als gottähnlich empfand. Ein Gott also. Oder ein Götze.

»Und genau davor habe ich Angst«, sagte er laut mit seiner Gefühlskehle, die tief in seinem schweren Körper saß. »Aber ich werde darauf achten, dass es nicht so weit kommt.«

Der Umstand, dass zu wenige oder gar keine Nachkommen mehr geboren wurden – dies galt auch für Wohnbezirke an anderen Stellen der Oberfläche –, beunruhigte ihn nicht. Noch nicht. Aus den buschigen Kronen des Ghilantewaldes flatterten dichte Schwärme von Springschwebern auf, kreisten im Wind und strichen in die Richtung des Gebirges ab.

Er schaltete die Wiedergabefunktion seines Schatzkästchens ein und wählte eine Ziffernfolge. Aus den Lautsprechern drang die Stimme eines Vorlesers, der längst zu Asche geworden war. Die Gedichte eines Terraners namens Andreas Gryphius. Lionarth wusste nicht, wann der Poet gelebt hatte, und es war ihm auch gleichgültig. Auf Terra, natürlich – wo sonst? Die warnenden Worte des Dichters, indessen, galten auch heute, und sie galten auch auf Höllenwelt.

Der Universal lauschte der kraftvollen Stimme, erfreute sich an den starken Reimen, arbeitete an seinem Gemälde weiter und verschloss, als sich der Windwart gutgelaunt wieder meldete, sein Heim. Der nächste Sturm drohte, verbunden mit ätzendem Regen und schweren elektrischen Entladungen.

Kapitel 2
Karkerons Kerker

 

Nein, dachte Rulan Karkeron, Ereshkigal oder die Höllenwelt, das war keine Legende, sondern bestürzende, lebensgefährliche Wirklichkeit. Dass er noch unverletzt und bei angemessener geistiger Gesundheit war, grenzte an ein Wunder. Er erwartete hier, tief unter der Oberfläche dieser apokalyptischen Welt, eine gewaltige Katastrophe, die den gesamten Planeten betraf und die ihn mitreißen und umbringen konnte.

45 Tage hatte er, Überlebender des Denar-Zwischenfalls und Angehöriger des Spezialkommandos Atropos, USO-Spezialist Captain Rulan Karkeron, schon auf Höllenwelt verbracht. Das sagte ihm seine innere Uhr. Er war bis zum heutigen Tag, bis zu dieser Stunde mit den Umständen seiner Gefangenschaft einigermaßen gut zurechtgekommen – er war alt und erfahren genug, die Einsamkeit und die quälenden Befragungen und Verhöre überstehen zu können. Sein USO-Dossier vermerkte größte Fähigkeit zum Gleichmut aufgrund philosophischer Kenntnisse und Einsichten. Selbst die Enge der Zelle störte den 190 Zentimeter großen Oxtorner nicht. Aber jetzt fühlte er, wie er an eine Grenze stieß; überschritt er sie, stürzte er in Verzweiflung und Wahnsinn. Und wenn er ins Freie flüchten konnte, würde ihn Höllenwelt binnen kurzer Zeit umgebracht haben.

Er lag auf dem Rücken, unter sich die harte Auflage der Pritsche. Sie ächzte bei jeder größeren Bewegung. Das hohe Körpergewicht des Oxtorners, 700 Kilogramm oder 14 Zentner, und die eineinhalbfache Erdschwerkraft überforderten fast die Tragfähigkeit des Liegemöbels. Karkeron, der die 4,8-fache Erdschwerkraft seiner Heimatwelt gewohnt war, rechnete jede Minute damit, dass die Konstruktion unter ihm zusammenbrechen würde, denn auch sie schien aus einer Vielzahl biologischer Komponenten zusammengesetzt zu sein – »biologisch« in der mehr als bizarren Erscheinungsform des Lebens auf diesem geschundenen Planeten, auf dem die Existenz eines ungeschützten Homo sapiens binnen Stunden erlosch.

Er zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Sein Blick richtete sich auf den zerklüfteten Fels genau über ihm. Das Aussehen der ineinander verschwimmenden Felder der Decke seines Gefängnisses hatte sich seit einigen Stunden abermals verändert. Farben und Strukturen sahen seit dem letzten Besuch Finnegans vor vier Stunden aus, als wären sie zu neuem Leben mutiert, das sich in grellen Farben und hektischen Wachstumsbewegungen zeigte. Eine Art haariges Moos, das vielleicht eine besondere Form unterschiedlicher Schimmelpilze darstellte, bewegte sich, als würden starke Windstöße in die Zelle hereinfauchen, kroch auseinander, zog sich amöbenhaft wieder zusammen und änderte ununterbrochen und lautlos seine Farbe.

Die Decke bestand unter dem Farbmoos, dessen grelle Varianten in den Augen des Oxtorners schmerzten, aus hartem Gestein oder Metall. Anscheinend zumindest, denn in den Fugen der Farbfelder erschien stets dann, wenn sie sich zurückzogen, ein gelblichgrünes Leuchten, durch das die Struktur des Felsens zu sehen war. Zusammen mit zwei herkömmlichen uralten Beleuchtungskörpern an den Wänden – oder halb organischen Nachbildungen –, die ein fast weißes Licht absonderten, zeigte das leuchtende Muster, wie ein Netz, das in Meereswellen tanzte, eine sinnverwirrende, andauernde Bewegung. Die Schlieren und Farbflecken krochen langsam an den Wänden herunter und versickerten im schwarzen, elastischen Noppenbelag des Bodens. Jetzt zog ein Strom frischer Luft aus zahlreichen Öffnungen durch sein Verlies.

Eine Weile lang betrachtete Karkeron das wechselnde Spiel der Farben und wirren Formen, bis er beunruhigt und mit beginnendem Kopfschmerz wieder die Augen schloss. Er wartete auf die nächste der häufigen Durchsagen des »Wetterwartes«, summte einige Takte eines Frührenaissance-Madrigals und versuchte sich an den Komponisten zu erinnern.

Als man ihn am 14. März auf Reddeye gefangen genommen und hierher gebracht hatte, war er seiner gesamten Ausrüstung beraubt worden – bis auf den Raumanzug und die implantierten Elemente, zu denen sein miniaturisiertes Chronometer gehörte. Er besaß nicht viel mehr als sein Leben, seine Erinnerungen, seine Fantasie und die hochprofessionelle Fähigkeit des geschulten Agenten. Er konnte warten, auch wenn dies an den Nerven zerrte. Seit der ersten Nacht im Großen Rostigen Koloss – seine Bezeichnung – hatte sich eine Menge geändert.

Und ihm gehörten auch einige Bilder, die er mehr zufällig gesehen und die ihm gezeigt hatten, dass er sich auf dem Weg ins kulturelle und zivilisatorische Zentrum einer undurchschaubaren Lebensform befand, von der die Höllenwelt besiedelt war.

Die erste Erinnerung stammte noch vom Urwaldrand des Planeten Reddeye, unweit des Eingangs in die unterplanetarische Station.

Zurück zum 20. Februar 3113, dachte er und hörte, wie sein Magen knurrte. Er intonierte leise einige barocke Tonfolgen und klopfte den Takt auf der Tischplatte.

 

Libra-Stützpunkt auf Reddeye: Aus dem Dschungel war er am Morgen, im roten Schein der Sonne, in das unterplanetare Gewirr der geheimnisvollen Anlage eingedrungen. Sie war offensichtlich uralt; das zeigte jede Einzelheit der Einrichtung. Völlige Dunkelheit umgab ihn, nur die Mikropositronik seiner Schutzmontur projizierte aus Peildaten ein Abbild der Umgebung auf das Helminnere.

Weiter, länger als eine Stunde! Tiefer hinein!

Der Stützpunkt, erkannte er, konnte mehrere Tausend Menschen beherbergen. Waren sie alle an Bord der INANNA gewesen? Dann: die winzige Kontrollzentrale, zwar leer, aber mit wenigen aktiven Bildschirmen.

Nachdem mir die Kopie einiger Dateien gelungen war, ertönte dieser grauenhafte Schrei, dessen Echowellen zitternd durch die Korridore und Hallen hallten.

Alarm! Es gelang ihm, einen Rafferspruch mit Höchstenergie an die QUESTRON, den USO-Kreuzer Atlans, abzustrahlen, dann schaltete sich die Beleuchtung ein, und der tobende Alarmsummer mischte sich in den okrillartigen Schrei eines unsichtbaren Wächters der Station, der plötzlich aufgetaucht war und unvermittelt angegriffen hatte.

Der Kampf gegen die riesige Bestie kostete ihn nicht nur Prellungen und schmerzhafte Beulen, sondern auch das Thermogewehr. Er, der Umweltangepasste, wandte sich zur Flucht. Es gelang ihm, auf dem gleichen Weg – wahrscheinlich! –, auf dem er eingedrungen war, das Labyrinth zu verlassen, verfolgt von den Schreien und dem Geräusch der Schritte jener Bestie. Im Lärm der Signale des Systemalarms und im flackernden Licht der uralten Beleuchtungskörper erreichte er wieder das Freie. Der Rand des Dschungels lag vor ihm.

Es gab also jenen Un-Ort Ereshkigal. Die Höllenwelt. Eine riesige Projektionsfläche für Albträume aller Art, bevölkert von abstrusem Leben. Der Name war trefflich gewählt: Er stammte aus der längst versunkenen Welt des terranischen Zweiströmelandes, aus der Zeit, in der man das Gilgamesch-Epos in Keilschrift niedergeschrieben hatte – in langen Reihen spitz-dreieckiger Zeichen in weichem Lehm, der im Feuerbrand gehärtet wurde.

Rulan Karkeron hastete in den Dschungel zurück und fand ohne Schwierigkeit das Versteck, in dem er den schweren Raumanzug zurückgelassen hatte. Da er fürchtete, dass jenes zweibeinige Untier sich auf seine Spur geheftet hatte und ihn verfolgte, war es logisch, in den gepanzerten Anzug zu steigen und die verbliebenen Waffensysteme zu aktivieren. Als er die Handschuhe angelegt hatte und überlegte, ob er den Helm schließen sollte, tauchten die Libra-Leute auf und umstellten ihn. Gegenwehr war sinnlos; sie hätte in einem blutigen Gemetzel geendet.

Zwei Dutzend hervorragend ausgerüstete, schwer bewaffnete »Söldner«. Oder einige mehr. Angehörige der Freiheitsbewegung »Libra«, die er hätte ausspionieren sollen, unzweifelhaft zu erkennen an den Merkmalen an ihren Hälsen. Zu spät, er war ihr Gefangener und spürte den Schock des Narkosestrahls nicht mehr. Die Erinnerungsbilder rissen ab; eine Pause der Bewusstlosigkeit schloss sich an, während der vorübergehend sein Zeitgefühl verloren ging.

Er erkannte schließlich, dass er betäubt und weggeschleppt worden war, als er an Bord eines Raumschiffs wieder zu sich kam. Eines Raumflugkörpers, der möglicherweise ebenso alt war wie die scheinbar verlassene Station.

 

Karkeron richtete sich auf, strich über seinen kahlen Schädel und blieb auf der Kante des Lagers sitzen. In der kargen Ausstattung seiner Kerkerzelle hatte sich nichts Entscheidendes verändert, aber ihre Wände wirkten abermals, als habe man sie um»dekoriert«, um ihn zu verwirren. Geschah es auf Befehl Finnegans?

Ein Tisch, ein Hocker, die Membran der ovalen Tür, der Abtritt, das Waschbecken und ein winziger Spiegel bildeten die gesamte Einrichtung. Es gab eine Änderung: Die Trockentücher waren rot. Gestern waren sie grün gewesen. Vorgestern blau. Die Möbel kamen ihm vor, als bestünden sie aus Knochenmasse und wären wie Pflanzen gewachsen, wie eine fahlfarbige Bambusart mit auffallenden, hässlichen Knoten. Sie schienen sich zu bewegen, zu verformen, ein eigenes Leben zu entwickeln und stets dann zu erstarren, wenn Karkeron sie genau ins Auge nahm. Waren etwa auch diese Gegenstände der nergeïschen Verformung unterworfen, so wie Finnegan? Wieder machte sich der Hunger bemerkbar. Der unersetzliche Raumanzug blieb verschwunden, also war Karkeron weiterhin gezwungen, in der Zelle zu hocken und zu warten, bis jener monströse Finnegan das Essen brachte und seine Befragung fortsetzte.

Der Oxtorner stand auf, benützte die winzige Hygienezelle und trocknete seine hellbraune Haut mit einem der flauschigen Tücher ab. Das moosartige Gewebe roch intensiv nach Moder und Fäulnis und einem sandelholzähnlichen Aroma. Im Spiegel betrachtete er sinnierend die Tätowierung seiner haarlosen Schädelkuppe. Die beiden rot-schwarzen Blitze, die sich teilten und über die Stirn bis zu den Brauen verliefen, halfen ihm allerdings zu keiner weiter reichenden Erkenntnis. Er zuckte mit den breiten Schultern, setzte er sich an den Tisch und erwartete, regungslos und in Gedanken versunken, die nächste Phase der Befragung.

Atlan, der Lordadmiral der USO, hatte unter hohem politischem Druck gestanden, als man ihn von Reddeye nach Höllenwelt verschleppt hatte, ebenso der Hohekanzler Reddeyes, Enerich Tolsom. In Pallin, der Hauptstadt des Planeten Reddeye, hatten sich die Gerüchte überschlagen. Die Mutmaßungen über Rhaen Tolsom, die Tochter des Hohekanzlers, hatten in den Medien einen neuen Höhepunkt erreicht. Eine Anklage – Massenmord! – war vor dem Solaren Gerichtshof vorbereitet worden, wahrscheinlich hatte das Verfahren inzwischen längst begonnen. Warum Spezialist Pertar Almoth hatte sterben müssen, hatte – zumindest damals – niemand gewusst.

Betroffen dachte Karkeron an Pertars Frau und die beiden Töchter, die auf Titan auf Nachrichten über den Gatten und Vater warteten. Hier auf Höllenwelt würde er auch nichts darüber erfahren können. Karkeron schob die Gedanken fort und konzentrierte sich auf seine aktuelle Situation. Sie war ungewiss und zweifellos voller Gefahren.

Doch schon drängte sich ihm das zweite Bild aus der Vergangenheit auf. Eine relativ kurze Folge von Eindrücken, an das sich der Oxtorner deutlich erinnerte, zeigte ihm Einzelheiten einer infernalischen Welt, der sich das alte Raumschiff näherte.

 

Nach dem Transitionsschock konnte Karkeron feststellen, dass er sich augenscheinlich in einem diskusförmigen Schiffskörper befand, dessen gesamte Technik geradezu archaisch war. Sämtliche Bildschirme in seiner Nähe arbeiteten offenbar nur zweidimensional und bisweilen mit erheblichen Störungen. Sie flackerten, die Farben veränderten sich zu unglaubhaften Werten oder fielen ins vorsintflutliche Schwarzweiß zurück.

Karkeron entsann sich nebelhaft einiger Lehrstunden in seiner Jugend und glaubte zu wissen, dass er sich in der Uralt-Version einer Space-Jet befand. Womöglich aus jener galaktischen Frühzeit, in der man diesen Typ von Fernaufklärer noch als »Gazelle« bezeichnet hatte. Das Boot seiner Entführer war ein lächerlich kleines, linsenförmiges Ding, an jeder Stelle abgenutzt, repariert und mit erheblichen Gebrauchsspuren. Die Mannschaft schien mit nur einem Gefangenen, also mit ihm, den Flug nach Höllenwelt angetreten zu haben.

Immerhin konnte er die meisten Einzelheiten des Landeanflugs erkennen und aus dem erschreckenden Panorama seine Schlüsse ziehen. Aus der Kulisse dräuender kosmischer Staubwolken und staunenswerter Dunkelfelder, des Lichts von Sternen, die sich halb hinter bunten Schleiern versteckten, und monströser Schatten stach eine kleine weiße Sonne hervor.

Der Planet – erst durch Finnegan, das Rätselwesen, erfuhr er später zuverlässig von der Alternativ-Bezeichnung – war offensichtlich der einzige Begleiter eines Weißen Zwerges. Die Daten des Ortungsschirms sagten aus, dass die zurückgelegte Flugstrecke etwas weniger als 45 Lichtjahre betragen hatte.

Also knapp 45 Lichtjahre von Reddeye entfernt und von einem gewaltigen Trümmerring, fast einer schalenartigen Umhüllung, umgeben wie von einer riesigen Hohlkugel. Im eisigkalten Licht des Gestirns zeichneten sich Myriaden großer und kleiner Trümmer in allen Farben und mit erschreckenden Schatten ab, von asteroidengroßen Brocken bis hinunter zu Staubteilchen. Die gesamte Trümmerschale wuchtete sich in langsamer Bewegung, stellenweise lichtdurchglüht, einige zehntausend Kilometer von der planetaren Oberfläche entfernt, um die Höllenwelt. Trotz der archaischen Bildtechnik ein gewaltiges, erschreckendes und einzigartiges Panorama.

»Und dort hinunter wagt sich diese Nussschale?«, fragte sich Karkeron entsetzt. Niemand antwortete ihm; er war allein in seiner kargen Kabine und hatte nur die Bildschirme als Auskunft und mögliche Erklärung.

Während sich Rulan Karkerons Staunen in steigendes Erschrecken zu verwandeln begann, konnte er durch die länglich-ovale Lücke der in der Wölbung der Trümmer sehen, dass sich das Schiffchen einer absolut lebensfeindlichen Oberfläche näherte. Das Sonnenlicht, dessen Strahlungsquelle für kurze Zeit doppelt gefiltert wurde, nahm eine irritierende Färbung an. Die wenig leistungsstarken Bildschirme und einzelne Vergrößerungen ließen in der Trümmerschale diesen schmalen Korridor erkennen, vor dem Karkeron die Ortungsimpulse dreier Objekte sah. Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelte es sich um Orbitalfestungen – vielleicht aus der gleichen Zeit wie dieses raumfahrende Relikt, in dem er hockte?

Als er auf den Schirmen die erste Reihe der Vergrößerungen sah, begriff Karkeron, dass alle diese Trümmer, die gewaltige Masse aus harter und staubförmiger Materie, einst Teile des Planeten gewesen waren. Die Sonne, jetzt ein Weißer Zwerg, vor einigen zehn Millionen Jahren aber ein normaler Stern, war vor einer kleinen Ewigkeit in einer Supernova vergangen und hatte den Planeten verwüstet, bis tief in die Planetenkruste hinein. Karkeron hatte die Vision eines riesigen Gasplaneten, der bis hinunter auf den Felsenkern versengt und zu einer Steinkugel reduziert worden war, und von dieser Überlegung war es nur ein kurzer Schritt zur nächsten Erkenntnis.

»Diese Schale aus Trümmern«, murmelte er, »das ist nicht nur der Rest der Ur-Höllenwelt. Das sind auch die Hinterlassenschaften der inneren Planeten. Wie viele es waren, damals … das können wahrscheinlich nicht einmal unsere Astronomen ausrechnen.«

Auf dem Planeten, der nach der Nova nicht viel mehr als eine sterile Felskugel gewesen sein musste, hatten sich im Lauf der Jahrmillionen Sporen aller Art niedergelassen. Sein Schwerefeld hatte das meiste vom Schutt der kosmischen Umgebung eingefangen. Eine Atmosphäre hatte sich gebildet, nachdem Eisasteroiden aufgeprallt waren. Eine neue Art Leben hatte sich ausgebreitet; Karkeron rechnete mit schweren Beben und wütenden Stürmen; auch diese Phänomene kannte er von Oxtorne, ebenso die Temperaturunterschiede zwischen plus 100 und minus 120 Grad. Über der Oberfläche Oxtornes erreichten die Hurrikane nicht selten Geschwindigkeiten um die tausend Stundenkilometer.

Das Raumschiff steuerte schwankend auf das Zentrum des Durchlasses zu. Der Planet, von dessen Oberfläche jetzt nur ein Teil im seltsam gesprenkelten Licht der Sonne zu sehen war, wurde ebenfalls von riesigen Stürmen und Orkanen heimgesucht. Mächtige Zyklone drehten sich über dem Land. Die Turbulenzen hatten verschiedene Farben; Wolken stiegen in große Höhen und wurden dort auseinandergerissen und durchgemischt.

Auf einigen Anzeigen der Fernortung konnte Karkeron erkennen, dass sich ständig die Temperatur zwischen den stechend grünen, schweflig gelben und dunkelgrauen Gasballungen änderte, von großer Hitze bis zu eisiger Kälte. Gewaltige elektrische Entladungen zuckten zwischen den Wolkenrändern hin und her oder schlugen in den Planetenboden. Das Raumschiff geriet in den Sog eines Energiewirbels und begann zu schwanken. Aus den Wandungen kamen knisternde Geräusche, Vibrationen erschütterten die Verbindungen, die Beleuchtung flackerte.

Karkeron dachte an Säurewolken, große Tümpel voller ätzender Flüssigkeiten, vergiftetes Gestein, mörderischen Sand, der, vom Sturm hochgerissen und durch die Atmosphäre gepeitscht, die Felsen glatt schmirgelte, an eine kochende Lufthülle und tödliche Regengüsse. Als inmitten dieser Horrorvorstellungen das Schwanken und Vibrieren des Schiffskörpers zunahm, fielen gleichzeitig mit der Kabinenbeleuchtung die Bildschirme aus. Karkeron saß fluchend im Dunkeln und hielt sich an den Armlehnen des Sitzes fest, die sich bei jeder weiteren Bewegung aus den Verschraubungen zu lösen begannen; das Sitzmöbel war nicht für einen Oxtorner konstruiert worden.

 

Eine knappe halbe Stunde lang kämpfte sich das Raumfahrzeug schwankend, ruckend und vibrierend durch die tobenden Bezirke der Atmosphäre der Planetenoberfläche entgegen. Das gesamte Innere des Schiffs klirrte, knarrte und rasselte. Ebenso plötzlich wie die Bildschirme ausgefallen waren, schalteten sie sich wieder ein. Vermutlich galt der plötzliche Energiestoß auch für einen anderen Teil der Bordtechnik, denn der Flug schien sich zu stabilisieren.

Aus Bodennähe zeigte sich die Trümmerschale zwischen dem Planeten und seiner Sonne als eine Art milchiger Schleier, ähnlich einem dichten, glühenden Gas, durchströmt von Sonnenlicht. Karkeron, noch immer in den Nachwirkungen des Transitionsschocks befangen, konnte sich nur wenige Augenblicke auf den Anblick konzentrieren, dann kippte das Raumfahrzeug nach rechts und raste dem Boden entgegen. Sekunden später stieß es in eine riesige dunkle Wolke.

»Das wird eine komplizierte Landung«, sagte sich der USO-Spezialist. Die Tatsache, dass er, als Gefangener, zur Untätigkeit gezwungen war, belastete ihn, und schon jetzt wusste er, dass ein Fluchtversuch ohne Raumanzug unter den zu erwartenden Umständen schierer Selbstmord sein würde. Er zwang sich zur Geduld. Sein Studium der Galakto-Psychologie half ihm in dieser Lage auch nicht weiter. Vielleicht gab es eine Gelegenheit, die enge Kabine mit der zweifelhaften Freiheit im Inferno des Planeten zu vertauschen.

Wieder war er gezwungen, geduldig zu warten. Rüttelnd und schwankend bewegte sich das Raumschiff durch eine Zone, in der Staub und Gase vom Sturm in rasende Bewegung versetzt wurden.

Der Oxtorner rechnete zunächst mit einer schwierigen Landung, einige Sekunden danach mit einer Bruchlandung, und schließlich damit, dass das Schiff in der wirbelnden Dunkelheit gegen einen Felsen geschmettert und zerstört wurde. Die eindringende Außenluft würde jeden menschlichen Organismus binnen kurzer Zeit qualvoll sterben lassen. Selbst ihn, der mit wenigen Faustschlägen die Felswand seines Gefängnisses zertrümmern konnte.

Abrupt wechselten die Bilder auf dem Schirm, den Karkeron hilflos anstarrte. Schlagartig riss das Dunkel auf, und das Schiff raste durch eine lichterfüllte Wolke. Es flog nach einigen Bremsmanövern in ungefähr sechshundert Metern Höhe über einer weiten Ebene auf eine ferne Bergkette zu. Die Ebene bestand aus braunen, grünen und rostroten Gewächsen, aus denen völlig unregelmäßig unterschiedlich große Felsen aufragten. Ihre Flanken waren glattgeschliffen und glänzten in der Helligkeit und in einem grünlichen Regen, der in breiten Bändern schräg aus der Wolke fiel. In der Mitte erhob sich eine riesenhafte Formation aus Felsen, bewachsenen Hängen und, zwischen zwei Bergausläufern, einer vage kuppelförmigen Erhebung. Der gesamte Berg war von rostroter Farbe, selbst die meisten Gewächse.

Ein riesiges, uraltes Raumschiff, halb im Boden versunken, halb verrostet und zerstört, mit kuppelartigen Ausbauten verunziert, die teilweise mit »Erdreich« gefüllt waren, aus dem farnartige Bäume wuchsen? Nicht unwahrscheinlich; solche Relikte fand man gelegentlich an den unmöglichsten Stellen der Galaxis, dachte Karkeron und versuchte erst gar nicht, die Wasserläufe, Seen und leuchtend farbigen Tümpel zu zählen, die sich zwischen den Felsnadeln, Findlingen, Steintürmen und Riffen erstreckten. Karkeron bezweifelte, dass die Gewässer aus echtem Wasser bestanden. Er erwartete Laugen, Säuren und aufgelöste Mineralien aus der Tiefe der Welt. Der Flug hatte sich beruhigt, das Raumschiff sank tiefer, jagte an dem langgestreckten Berg vorbei und steuerte auf die Flanke des näher gelegenen Gebirgsausläufers zu.

Zwischen schroffen Felshängen, mächtigen Bergflanken und einzelnen schrundigen Steinformationen erkannte Karkeron im Sonnenlicht eine große, flache Kuppel. Sie wirkte wie eine Blase aus Energie, die zwischen den nackten Felsen ein rundes Tal ausfüllte. Das Raumfahrzeug folgte einem leuchtend grün schimmernden Fluss und steuerte auf die Kuppel zu. Andere, kleinere Kuppeln und kantige Hügel schälten sich aus dem stechend gelben Bodennebel. Karkeron machte auch hier an den Ufern des Gewässers breite Streifen niedrigen Waldes aus. Einzelne Baumriesen mit büschelartigen Kronen, an denen der Sturm riss und zerrte, ragten daraus hervor.

Wie können in dieser vernichtenden Atmosphäre Büsche und Bäume wachsen? Es dürfte keine Fauna und keine Flora geben, dachte er und klammerte sich wieder an die wackelnden Lehnen. Abermals geriet das Raumschiff in starke Windbewegungen und begann wild zu schlingern. Karkeron machte sich bereit, den Raumanzug zu schließen; die Vermutung, dass das kleine Schiff den Steuerungsimpulsen nicht mehr gehorchte, lag in diesen Minuten nahe.

Starke Vibrationen und polternde Geräusche bewiesen, dass der Pilot die Landestützen ausfuhr. Das Raumschiff folgte dem Flusslauf und driftete schwankend auf den breiten Einschnitt des Tals zu, hinter dem die Kuppel schimmerte. Rechts und links erhoben sich aus der Ebene verwitterte, ausgewaschene Felsriffe. Durch sie hindurch wirbelte der Sturm dünne Nebelstreifen über die Oberfläche.

Zwischen dem Berg in der bewaldeten Ebene und der Kuppel betrug die Entfernung schätzungsweise fünfzig Kilometer, und das Schiff hatte kaum die halbe Distanz zurückgelegt.

»Unter der Kuppel liegt also mein Gefängnis«, murmelte der Oxtorner. Im gleichen Augenblick sackte das Raumschiff schwer durch und wurde wieder abgefangen. »Der Knast der Libra-Leute und Söldner von Reddeye.«

Das Schiff schwebte abermals dem Boden entgegen. Der Sturm drückte es zur Seite, ließ es kippen, und Sekunden danach setzte es hart auf. Krachende und kreischende Geräusche erfüllten die Innenräume, die Schirme fielen aus, das Innenschott zischte und ließ einen breiten Spalt entstehen. Mit wenigen Griffen schloss Karkeron den Raumanzug, regelte die Innenversorgung ein und war darauf gefasst, dass das Schiff sich überschlagen würde. Die Landestützen waren geknickt; schon der erste Aufprall zerstörte bei Bruchlandungen diese Metallstrukturen. Jetzt rutschte der Schiffskörper über Felstrümmer und riesige Kieselsteine, bäumte sich auf und prallte gegen einen Felsen.

Der Alarm blökte und heulte durch die Innenräume. Obwohl sich der Oxtorner zwischen dem Sockel des Sitzes und der Wand festgestemmt hatte, wurde er quer durch die enge Kabine geschleudert, prallte krachend gegen den Rahmen des Schotts und rutschte hinaus in den Schiffskorridor.

»Das war’s, Rulan«, knurrte er und zog sich hoch. »Willkommen auf der gastlichen Höllenwelt.«

Das Lärmen des Alarms riss ab. Mühsam stemmte sich Karkeron hoch und wagte einige Schritte auf dem schrägen Boden. Als er in die Richtung des Zentralschachts stapfte, versagte die Schwerkraftreglung zugleich mit der Beleuchtung. Langsam drehte sich der Spezialist um, aber der Korridor schien leer zu sein. Undeutliche Geräusche kamen aus allen Richtungen. Karkeron spürte nach wenigen Schritten das Ansteigen der Schwerkraft und schätzte sie auf das Eineinhalbfache der Terra-Norm.

Das also ist die Oberflächenschwerkraft!, dachte er und bewegte sich weiter. Die roten Warnlampen an der Schaltleiste des Antigravschachts blinkten heftig. Karkeron bewegte sich in den Schacht hinein, packte die Griffe und kletterte abwärts.

Einige Male hatten sich seine Bewacher, vermutlich in Stresssituationen, ausgesprochen unbeholfen verhalten. Eine solche Ausnahmelage existierte in diesen Minuten – also handelte Karkeron kaltblütig und schnell.

Er aktivierte seinen Deflektorschirm und suchte in dem antiken Raumvehikel nach einem Raum, der in anderen, wohlorganisierten Raumschiffen normalerweise der Waffen- und Ausrüstungskammer entsprach. Er brauchte nicht lange zu suchen. Der Instinkt des USO-Spezialisten führte ihn zu einem größeren Wandschrank, den er mit schnellen Griffen zu plündern begann: Thermo-Strahlengewehr, Energiezellen, einen mittelschweren Desintegrator, zwei Blaster und einige technische Hilfsmittel, die sich auf dieser wilden Welt als nützlich erweisen mochten. Er fand eine stabile Tasche, hängte sie sich um den Hals, als sie schwer genug war, und stopfte einige Großpacks Notverpflegung dazu. Als er der Ansicht war, die Libra-Leute genügend erleichtert zu haben, suchte er nach der Möglichkeit, das Wrack schnell zu verlassen.

»Ah!«, brummte er und grinste. »Leichter als gedacht!«

Den Bodenbelag des Schleusenvorraums, der weit aus der Waagerechten gekippt war, hatte ein Riss im Metall zerfetzt, die innere Schleusentür war halb geöffnet. Karkeron stand mit drei Schritten in der Schleuse. Die Faust des Oxtorners hämmerte auf den Notschalter, und die Tür schloss sich knirschend. Dann öffnete sich ebenso widerwillig die Außenluke.

Bedächtig kletterte Karkeron hinaus. Seine Stiefel fanden nur mühsam Halt im groben Geröll, das von einer bläulichen Flüssigkeit umspült wurde. Zwanzig Schritte weiter drehte sich der Spezialist um und hob den Kopf. Also doch: etwa eineinhalbfache Terra-Schwerkraft! Sein Körper hatte sich erwartungsgemäß blitzschnell umgestellt. Zum ersten Mal sah er das Raumschiff, das ihn hierher gebracht hatte, von außen. Es war ein uralter Diskus mit ungefähr siebzig Metern Durchmesser, dessen Landestützen bis auf eine herausgerissen waren. Die letzte Stütze war bis zur Unkenntlichkeit verbogen und zerfetzt, einige Trümmer lagen im Flussbett verstreut.

»Gestrandet, Rulan«, sagte er im Selbstgespräch. Es war nicht die erste Bruchlandung, die er erlebte. Es bedurfte keiner großartigen Überlegung: Wollte er überleben, musste er sich zwischen der Kuppel und dem Berg entscheiden; beide schienen bewohnt zu sein. »Wohin also?«

Er entfernte sich weiter von dem Wrack, setzte sich auf einen flachen Riesenkiesel und wartete. Er suchte verschiedene Frequenzen der Helmfunkanlage ab und hörte Stimmengewirr. Die Gestrandeten redeten mit dem Wachhabenden einer Funkstation und erklärten, dass sie zur Kuppel fliegen würden; nichts anderes hatte Karkeron erwartet.

Nach einiger Zeit kam der erste Raumfahrer aus der Polschleuse, zwei weitere folgten, dann kletterten noch zwei Insassen aus dem deformierten Diskus. Karkeron vergewisserte sich, dass der Deflektorschirm eingeschaltet war und zählte die Minuten. Die Mannschaft schien ihn ohne viel Nachdruck zu suchen, aber nach weniger als zehn Minuten sprengte die Notschaltung eine Luke in der unteren Diskuswölbung auf.

Ein schwerer, geschlossener Gleiter, dem Aussehen nach kaum jünger als das Raumschiff, schwebte zu Boden. Die Hülle des Fluggeräts war zerbeult und zerschrammt, die transparenten Flächen halb blind und verfärbt. Nacheinander stiegen die Raumfahrer ein und schlossen die Seitenluken. Das Gefährt hob sich vom Boden, verschwand für einige Sekunden in einem Regenschauer und glitt dann über dem Fluss auf die Berge und die Kuppel zu.

Karkeron desaktivierte den Deflektorschirm und stand auf. Er hatte sich entschlossen, seine fragwürdige Freiheit dazu zu verwenden, zu diesem rostfarbenen Bergmassiv zu wandern, um nicht in die Gefangenschaft der Libra-Leute zu geraten.

Er verließ seinen Platz und entfernte sich vom Flussufer. Als er sich auf einigermaßen ebenem Boden befand, fasste er sein Ziel ins Auge und stapfte los. Er hatte es nicht eilig, die Sonne stand hoch am Himmel – noch kannte Karkeron weder die Länge des Tages noch andere Gesetzmäßigkeiten des Planeten –, und mit seinen 61 Jahren verfügte der USO-Spezialist über genügend Kraft und Ausdauer.

Er kam keine 250 Schritte weit.

Zwischen den farnähnlichen Büschen und aus dem Gewirr der Baumstämme drängten sich einige Dutzend großer, breit gebauter Gestalten hervor. Sie bildeten einen unregelmäßigen Halbkreis, der das Schiffswrack zum Mittelpunkt hatte. Der Oxtorner ließ seinen Blick über die Geschöpfe gleiten und sah mit steigender Verblüffung, dass diese Wesen kaum etwas Menschenähnliches hatten. Ihre Körper saßen meist auf zwei Beinen, deren Muskeln und Blutgefäße unter farbigen Membranen an der Außenseite der Haut zu liegen schienen, zwischen Knochenteilen und knorpeligen Gelenken, von einer Art durchsichtiger und milchiger Folie oder Haut bedeckt. Aber oberhalb der muskelstarrenden Oberschenkel endete jede noch so entfernte Ähnlichkeit mit humanoiden Formen. Ein wenig erinnerten ihn einige Exemplare an jene indischen Götterstatuen, die vielarmig, vieläugig und mit zusätzlichen Gliedmaßen ausgestattet waren; er hatte sie in einem Virupashka-Tempel auf Terra bewundern können.

Die Höllenwelt-Bewohner rannten schwankend an Karkeron vorbei, auf das Wrack zu. Sie schienen zu wissen, dass es im notgelandeten Schiff genügend Beute zu finden gab. Karkeron versuchte, mehr Einzelheiten zu erkennen, die ihm ein verständliches Gesamtbild lieferten, aber er nahm nur eine Menge erschreckender Eigentümlichkeiten wahr. Zwei oder drei Arme, auch vier obere Gliedmaßen, mit kurzen und überlangen Fingern, offene Brusträume, aus denen kleinere Körperteile zu wachsen schienen, die lebhaften Tieren und wuchernden Pflanzen glichen und sich scheinbar gierig bewegten.

Kantige und runde Köpfe mit geschlossenen Augenkränzen, winzigen und übergroßen Einzelaugen, zyklopisch Einäugige, Körperteile voller Fell in unterschiedlichen Farben, grelle Wucherungen, die ein pulsierendes Eigenleben führten, knöcherne Panzerteile oder solche aus Horn, auf dem moosartige Polster wucherten. Ungefähr drei Dutzend dieser Wesen rannten schwankend, aber erstaunlich behände auf das Wrack zu. Einige liefen auf vier Beinen und hielten ihre Arme in die Höhe. Sie redeten in unverständlichen Wortfolgen und abgehackten Sätzen miteinander und schienen sich darüber hinaus durch Gesten zu verständigen. Nacheinander zwängten sie sich durch die Schleuse und den breiten Riss auf der anderen Seite des Schiffs.