Massey, Sujata Die Tochter des Samurai

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser

ISBN 978-3-492-98348-8

Juli 2017

© Sujata Massey 2003

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Samuraiʼs Daughter«, HarperCollins, New York 2004

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2008

© dieser Ausgabe: Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: iordani / www.shutterstock.com

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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1

»Viel zu salzig. Wahrscheinlich hat der Koch dashi-Instantpulver genommen.«

Ich legte die Essstäbchen weg, mit denen ich einen glitschigen Tofuwürfel aus der missglückten Misosuppe geholt hatte. Die asiatisch anmutende Kellnerin verstand offenbar kein Japanisch und ging mit einem Lächeln an uns vorbei. Nun, wir waren in San Francisco, und da gab es allerlei Rassen, deren Vertreter oft nur Englisch sprachen.

»Ich finde die Suppe wirklich schmackhaft«, widersprach mein Vater Toshiro Shimura und strich sich mit der Hand durch das grau melierte, ein wenig zerzauste Haar, das gut zu seinem Psychiaterberuf passte, aber sehr merkwürdig aussah an einem gebürtigen Japaner über fünfzig. »Reichan, weißt du eigentlich, wie schwierig es hier ist, original japanische Zutaten zu bekommen? Außerdem verwenden heutzutage angeblich sogar in Japan viele Köche Instantpulver.«

»Nicht die guten. Ich mahle den Bonitofisch.«

Voller Sehnsucht dachte ich an den Trockenfisch, der in einer Holzbox in meiner winzigen Küche in North Tokyo auf mich wartete. »Das lohnt sich, weil die Suppe dann wie frisch aus dem Meer schmeckt. Aber egal. Worüber sprachen wir gerade, Dad? Über die Gebote des Budhismus, nach denen dein Großvater zu leben versuchte und die er in schriftlicher Form sogar an der Wand hängen hatte.«

»Ja, eine Schriftrolle mit Kalligrafie. Ich glaube, die stammte ursprünglich aus einem Kloster und befand sich in dem Büro, in dem er arbeitete. Leider weiß ich nicht, wo sie jetzt ist.«

»Erinnerst du dich noch daran, was darauf stand?«

»Die buddhistischen Gebote. Die kennst du doch, oder?«

»Einige, aber nicht alle. Du hast mich nicht in buddhistischem Glauben erzogen.«

»Du hast einen Kurs über östliche Religionen in Berkeley besucht.«

»Das ist lange her, Dad. Ich erinnere mich nur noch an die ersten drei Gebote: Man soll nicht töten, nicht stehlen und nicht lügen …«

»Ja, allerdings gelten in Japan gewisse Lügen seit jeher als lässlich, wenn sie aus Mitleid ausgesprochen werden oder einem höheren Zweck dienen.«

»Gut«, sagte ich. »Was sonst noch?«

»Es gibt auch ein Gebot gegen den Missbrauch von Sex, also Vergewaltigung, außerehelicher Geschlechtsverkehr und …«

»Aha. Und weiter?« Bei meinem ersten Heimatbesuch in San Francisco seit zwei Jahren wollte ich mich nicht mit solch intimen Themen auseinandersetzen.

»Ich glaube, das fünfte besagt, dass man selbst keine berauschenden Mittel nehmen und sie auch niemandem zugänglich machen soll.«

»Mönche trinken doch die ganze Zeit Sake«, widersprach ich.

»Nun, Sake ist nicht gänzlich verboten – nur in den Mengen, die zu Berauschung führen. Mein Großvater trank immer einen kleinen Becher zum Essen.«

»Würdest du sagen, dass Laien diese Gebote im Allgemeinen lockerer interpretieren als Mönche? Wenn das erste Gebot das Töten verbietet, dürfte man ja auch kein Fleisch essen.«

»Dacht ichʼs mir doch, dass meine Vegetariertochter sich darauf stürzt!«, sagte mein Vater lachend. »Die Antwort ist simpel: Tiere in Notwehr oder zum Verzehr zu töten ist erlaubt, aber nicht zum Spaß.«

»Ich weiß nicht, ob ich das gut finde. Für mich ist der eine Tod so gut oder schlecht wie der andere. Doch immerhin verschafft das Gebot interessante Einblicke in die japanische Psyche.«

»In die Psyche der Buddhisten«, berichtigte mein Vater mich. »Wie du weißt, liegen die Wurzeln des Buddhismus in Indien, aber die Gebote gelten für seine Anhänger auf der ganzen Welt.«

Ich legte mein Notizbuch weg, um mich über die Nudeln herzumachen, die mir in der San-Francisco-Version vermutlich wie die Misosuppe nicht so gut schmecken würden wie in Tokio.

San Francisco galt als Traum eines jeden Touristen, mir jedoch war meine Wahlheimat Tokio lieber. Natürlich gab es hier architektonische Meisterwerke, aber wie sollte man die bei den vielen Stromausfällen genießen? Der Lebensstil meiner Eltern hatte sich seit Beginn der kalifornischen Energiekrise drastisch verändert – ihr riesiges Haus im viktorianischen Stil war abends nicht mehr hell erleuchtet, nicht einmal jetzt zur Weihnachtszeit. Früher hatte meine Mutter immer in allen sechzig Fenstern elektrische Kerzen aufgestellt.

Tokio kannte solche Probleme noch nicht. Außerdem fiel es mir dort leicht, spartanisch zu leben und mich an einfachen Dingen zu erfreuen, zum Beispiel an den mit Figuren von Glücksfüchsen geschmückten Miniatur-Shinto-Schreinen oder den Persimonenbäumen entlang den hässlichen Bahngleisen. Und dann waren da die Japaner selbst, die älteren, die in den kleinen Parks der Stadt gelassen ihre Tai-Chi-Übungen machten, die Schulkinder, die heute noch die gleiche Uniform trugen wie in den Zwanzigerjahren, und Onkel Hiroshi, der Bruder meines Vaters, Tante Norie und mein Vetter Tom, mit denen ich den Jahreswechsel feiern wollte. Die Aussicht, ihn mit meinen Eltern und Manami Okada in einem Acht-Zimmer-Haus zu verbringen, deprimierte mich eher.

Manami war dreißig – also ein Jahr älter als ich –, Nachwuchspathologin aus Kobe und wohnte seit einem Monat bei meinen Eltern, weil ein Verwaltungsangestellter der University of California in San Francisco voller Verzweiflung meinen Vater um Hilfe gebeten hatte. Als ein bis dahin von der Familie behütetes Mädchen erachtete Manami ihre Unterbringung in San Francisco als nicht angemessen, denn eine ihrer Mitbewohnerinnen war lesbisch, und die andere hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Kuchen. Meine Eltern hatten sich ihrer erbarmt und ihr für eine symbolische Monatsmiete von einhundert Dollar eins der Zimmer im zweiten Stock überlassen – etwa ein Achtel von Manamis bisheriger Miete für das Zimmer in der Wohngemeinschaft.

Da ich persönlich weder etwas gegen Homosexuelle noch gegen Kuchensüchtige hatte, war ich Manami eine Woche zuvor mit Skepsis begegnet, aber angenehm überrascht gewesen. Sie wirkte ruhig, höflich und fleißig, besaß also alle jene Eigenschaften einer japanischen Tochter, an denen es mir mangelte.

Sie absolvierte gerade das erste Jahr ihrer Assistenzzeit, was bedeutete, dass sie tagsüber nicht da war und oft bis spät in die Nacht hinein arbeitete. Wenn sie sich tatsächlich einmal im Haus aufhielt, leistete sie uns bei den Mahlzeiten Gesellschaft, zog sich dann aber in ihr Zimmer zurück, das sich neben einem großen Raum mit Kisten und Koffern voller Erinnerungsstücke an jenes Leben befand, das mein Vater in Japan geführt hatte. Als ich mir diese Dinge eines Abends genauer ansah, hörte ich von nebenan ein merkwürdig platschendes Geräusch. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass Manami versuchte, auf traditionelle japanische Weise zu baden, und sich eimerweise mit Wasser übergoss, statt einfach zu duschen.

»Woran denkst du gerade?«, erkundigte sich mein Vater nun.

»An Manami. Ob sie bei uns glücklicher ist als bei ihren früheren Mitbewohnerinnen?«

»Frag sie doch einfach!«

Ich schüttelte den Kopf. »So direkt will ich nicht sein. Vielleicht bitte ich sie einfach, mir mit ein paar Ideen zu meinem historischen Projekt zu helfen. Sie ist so altmodisch … Vielleicht benutzt sie zu Hause in Kobe noch traditionelle Gegenstände.«

Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt mit dem Erwerb und Verkauf japanischer Antiquitäten sowie mit Artikeln und Vorträgen über dieses Thema. Da mein letzter Auftrag in Washington, D. C., mir genug Geld für die Miete meiner winzigen Wohnung in einem eindeutig unangesagten Viertel von North Tokyo eingebracht hatte, gönnte ich mir gerade eine Auszeit von meiner eigentlichen Arbeit, um mich mit meiner Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Ich hoffte, mehr über die Lebensweise der Shimuras vor der einschneidenden Modernisierung der Sechzigerjahre zu erfahren. Es interessierte mich, inwieweit zum Beispiel buddhistische Gebote im Alltag befolgt worden waren, welche Gegenstände meine Großmutter im Haushalt verwendet und wie früher die Quiltmuster oder die Anlage des Kameliengartens um das alte Haus der Familie in West Tokyo ausgesehen hatten.

»Entschuldige mich kurz!« Mein Vater riss mich aus meinen Gedanken und zog den Handypiepser vom Gürtel. In den Jahren meiner Abwesenheit hatte er sich zu einem Technikfreak entwickelt; leider vergaß er jedoch häufig, den Akku seines Mobiltelefons aufzuladen. »Deine Mutter, wie nicht anders zu erwarten.«

»Ich wette, du sollst ihr was aus der Stadt mitbringen.« Soweit ich mich erinnerte, brauchte sie Kerzen. Dieses Jahr hatte sie das Haus besonders üppig für Weihnachten geschmückt, weil sie und mein Vater am 26. Dezember eine Party für die Mitglieder der ALL geben wollten, der Asian Language League, also des asiatischen Sprachklubs.

Mein Vater gab unsere Nummer ein. Er hatte ähnlich goldfarbene Finger wie ich. Viele Kinder aus Verbindungen zwischen Japanern und Westlern haben helle Haut, doch ich besaß den gleichen Teint wie mein Vater, Onkel Hiroshi und Vetter Tom. Meine Haare waren allerdings eher schwarzbraun als richtig schwarz, und auch meine Nase wirkte nicht richtig japanisch. In den Vereinigten Staaten wurde ich oft für eine Ausländerin gehalten; in Japan ging ich als Japanerin durch, bis die Leute merkten, dass ich nicht lesen konnte.

Mein Vater begrüßte meine Mutter und lauschte eine Weile, bevor er fragte: »Wie schnell? Und sie weiß es noch nicht?« Mein Vater hörte stumm zu, schüttelte den Kopf und reichte mir das Handy. »Hier. Eigentlich gehtʼs um dich.«

Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen. Hoffentlich war nichts Unangenehmes in Tokio passiert.

»Sitzt du?«, begrüßte mich meine Mutter mit einer merkwürdigen Mischung aus Atemlosigkeit und Schmerz, als wäre sie in ihren Lieblingsschuhen von Bally die Fillmore Street entlanggerannt.

»Ja, aber …«

»Er kommt!«

»Was? Wer?«

»Er wird Weihnachten da sein, also müssen wir alles vorbereiten. Ich freu mich so auf seinen Besuch, dass ich schon einen Plumpudding bei Williams-Sonoma bestellt hab. Offenbar gehört der in Schottland genauso zur Tradition wie in England.«

»Ach so!«, rief ich. Endlich begriff ich, wen sie meinte: Hugh Glendinning, meinen Immer-mal-wieder-Freund. Wir hatten uns ein paar Wochen zuvor in Washington voneinander verabschiedet, als er geschäftlich nach China musste und ich zu meinen Eltern zurückkehrte. »Du sprichst von Hugh. Hat er aus China angerufen?«

»Ja, von einem Hotel in Schanghai aus. Er sagt, ihm ist das Handy gestohlen worden, deswegen hat er sich nicht bei dir gemeldet. Morgen gegen Mittag kommt er in San Francisco an und hat ungefähr eine Woche lang beruflich hier zu tun. Im Mark Hopkins wurde ein Zimmer für ihn reserviert.«

»Im Mark Hopkins«, stöhnte ich bei dem Gedanken an das Luxushotel – dort hätte er einen wunderschönen Blick auf Nob Hill, Zimmerservice und ein Riesenbett.

»Keine Sorge, Liebes! Ich hab ihn zu uns eingeladen, und er sagt, er storniert die Buchung gern. Außerdem hab ich den UPS-Auftrag für die Kiste zurückgenommen, die du ihm in sein Washingtoner Büro schicken wolltest. Jetzt kannst du ihm das Geschenk persönlich überreichen. Im Gästezimmer im zweiten Stock stehen schon Blumen.«

»Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir.« Hugh würde also im Zimmer direkt über dem meiner Eltern und neben dem von Manami schlafen. Keine Aussicht auf nächtliche Treffen, dachte ich traurig.

»Gern geschehen, Liebes. Es freut mich sehr, dass er meine Einladung angenommen hat. Nicht alle deine Verflossenen wollten gern bei uns übernachten. Hugh hingegen sagt, er habe natürlich Verständnis für Daddys konservative Einstellung und dessen Wunsch, dass er nicht bei dir im Zimmer schläft …«

Also musste wieder einmal mein Vater als Sündenbock herhalten. Erst als er auf die Uhr schaute, gelang es mir, mich von meiner Mutter zu verabschieden und ihm das Handy zurückzugeben.

»Zufrieden?«, fragte er.

»Klar. Aber auch wenn Hugh da ist, möchte ich mich weiter mit dir über die Familiengeschichte unterhalten.«

»Weißt du, eigentlich wäre mir jetzt eine kurze Pause recht.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn alle so dächten, gäbe es keine mündliche Überlieferung. Wir wüssten nichts über die Erfahrungen von Sklaven, Überlebenden des Holocaust oder Veteranen des Bürgerkriegs – oder über die der Shimuras! Daddy, vor mir liegt noch viel Arbeit.«

»Vor mir auch«, erklärte mein Vater und gab der Kellnerin mit einem Blick zu verstehen, dass er zahlen wolle, obwohl wir kaum mit dem Hauptgang begonnen hatten. »Tut mir leid, heute sind in der Praxis ab eins fünf Extratermine eingeschoben, und jetzt ist es Viertel vor … ich muss los.«

»Natürlich«, sagte ich und sah zu, wie mein Vater den letzten Rest seiner Suppe schlürfte, einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tisch legte und es mir überließ, das zaru soba und sein Meeresfrüchtetempura aufzuessen.

Ich glaubte meinem Vater kein Wort. Etwas hatte ihn aus der Fassung gebracht: mein Projekt mit der Familiengeschichte oder Hughs baldiges Eintreffen, vielleicht auch beides.

2

Auf dem Internationalen Flughafen von San Francisco habe ich immer ein ungutes Gefühl. Die Beamten der Einwanderungsbehörde machen mir fast jedes Mal Schwierigkeiten, wenn ich aus Japan in die Staaten zurückkehre, obwohl ich amerikanische Staatsbürgerin bin. Hugh, der aus China käme, müsste ihnen seinen Pass der Europäischen Union zeigen, eine Kombination, die möglicherweise ihren Argwohn erregte. Andererseits konnte er sie vielleicht mit seinem schottischen Akzent um den Finger wickeln, und außerdem hatte er ja Erfahrung im Reisen.

Es dauerte ziemlich lange, bis ich einen Parkplatz fand. Im Innern des Flughafengebäudes machte ich mich dann auf den Weg zu dem Bereich hinter der Zollkontrolle; Hughs Flugzeug war fünfundzwanzig Minuten zuvor gelandet. Ich entdeckte ihn gleich. Er sprach angeregt in den Hörer eines öffentlichen Telefons, einige Lederkoffer zu seinen Füßen. Immer wieder drehten sich Leute nach ihm um, denn Hugh sah ein bisschen aus wie die menschliche Version eines Golden Retriever: er war groß gewachsen und kräftig, hatte einen rotgoldenen Haarschopf, der ihm keck in die Stirn fiel, und Augen so grün wie die Torfmoore seiner schottischen Heimat. Sofort erfüllte mich wieder jene merkwürdige Mischung aus Begierde und Verzweiflung darüber, dass ich ausgerechnet auf die moderne Variante von Braveheart abfuhr.

Als Hughs Blick auf mich fiel, schenkte er mir ein strahlendes Lächeln und legte auf. Im nächsten Moment schlang er die Arme um mich und küsste mich, als wäre er zwei Jahre lang fort gewesen. Für jemanden, der einen langen Flug hinter sich hatte, schmeckte er erstaunlich frisch nach Zahnpasta und Orangen, zwei Dinge, die ich sehr mag.

»Entschuldige die Verspätung – ich dachte, du brauchst länger durch den Zoll«, sagte ich, als wir uns schließlich voneinander lösten.

»Ach, kein Problem! Ein Engel in blauer Uniform hat mich in die Schlange für die Amerikaner gelotst, und fünf Minuten später war ich durch.«

»Aber du bist doch gar kein Amerikaner! Bei der gegenwärtigen prekären Sicherheitslage dürfte so was eigentlich nicht passieren …«

»Sie muss geahnt haben, dass ich dich liebe und so schnell wie möglich zu dir möchte.« Hugh lächelte mich an. »Übrigens hab ich von Washington aus eine Kiste zu deinen Eltern nach Hause schicken lassen. Weißt du, ob die angekommen ist?«

»Ja, heute Morgen, gerade noch rechtzeitig zu Weihnachten.« Ich nahm die Plastiktüten mit Hughs Duty-Free-Einkäufen in die Hand, in denen sich vermutlich Geschenke für meine Eltern befanden. Da Hugh so viel reiste, kaufte er meist auf Flughäfen ein.

»Deine Mutter sagt, am ersten Weihnachtsfeiertag kocht sie, aber an den anderen Abenden lade ich euch ins Restaurant und Theater ein, auf Spesen. Verrätst du mir, was deine Eltern besonders gern essen?«

»Was anderes als ich«, antwortete ich mit einem wehmütigen Gedanken an den abgebrochenen Lunch mit meinem Vater. »Ich weiß auch nicht so genau, was hier gerade gut ist, weil ich lange weg war. Ein Rohkostlokal soll supertoll sein, und ein vegetarisches mit dem hübschen Namen Greens mag ich auch immer noch sehr gern.«

»Stand von dem nicht ein Rezept in dem Kochbuch, das du in Japan immer benutzt hast?«

»Dass du dich daran noch erinnerst …«

»Klar. In ganz Japan war kein Quinoa zu kriegen, also musste ich dir ein Päckchen aus Neuseeland einschmuggeln.«

»Nicht so laut!«, ermahnte ich ihn, als ich sah, dass sich die Leute nach uns umdrehten. »Wir sind zwar in Kalifornien, aber auch hier weiß nicht jeder, was Quinoa ist. Man könnte es für Drogen halten …«

»Nein, es ist eine biologische Waffe«, sagte Hugh und brach in schallendes Gelächter aus.

»Lass uns gehen!«, murmelte ich und versuchte, ganz locker zu wirken, als wir an einem Beamten der Flughafenpolizei vorbeikamen, der uns von Kopf bis Fuß musterte.

»Ja, Schatz. Dann spare ich mir die guten Nachrichten auf, bis wir in der Cable Car sitzen und du mir die Sehenswürdigkeiten zeigst.«

Ich war natürlich nicht mit der Tram gekommen, die lediglich durch ein paar Straßen im Zentrum fuhr und nicht bis hinaus zum Flughafen, sondern mit dem japanischen Geländewagen meiner Mutter, in dem es eigentlich genug Platz für Hughs Gepäck gegeben hätte, wenn sie nicht zahllose Girlanden und Kerzen für Weihnachten darin verstaut gehabt hätte.

»Die Plastikgirlanden sollen den Eingangsbereich für die Party schmücken, die am sechsundzwanzigsten Dezember bei uns stattfindet«, erklärte ich. »Ich hätte dich warnen sollen. Das wird eine ziemlich große Sache.«

»Am zweiten Feiertag, dem Boxing Day, gibtʼs bei uns in Schottland auch Partys.« Hugh musste niesen. »Mm, was für ein Duft! Der erinnert mich an manche ländliche Gebiete in Japan.«

»Mir fehlt der winterliche Geruch von gerösteten Süßkartoffeln in Japan«, gestand ich.

»Yakiiimoo!«, imitierte Hugh den Ruf des Kartoffelrösters so überzeugend, dass ich ihn erstaunt ansah und mich fast ein größerer Geländewagen aus der Spur drängte. Ich konnte gerade noch nach rechts ausweichen.

»Ich hasse diese Stadt«, brummte ich und schob eine alte Disc von U2 in den CD-Player. Als Bono zu singen begann, schaute ich hinüber zu Hugh, der aus dem Fenster sah. Der Ausblick war durchaus attraktiv, denn der California Highway 101 vom Flughafen ins Zentrum führt am blauen Meer und an grünen Hügeln entlang. Dies war die Bay Area in ihrer ganzen Pracht.

»Warum so viele Flaggen?«, fragte Hugh mit einem Blick auf den Wagen vor uns, an dem zahllose amerikanische Wimpel im Wind flatterten.

»Patriotismus«, antwortete ich. »Offenbar haben die Leute den nach den Anschlägen aufs World Trade Center hier neu entdeckt. Nachbarn von uns haben auch eine Fahne vor dem Haus.«

»Auf den Plakaten sind ebenfalls welche«, bemerkte Hugh. »Komische Sache, dieser Patriotismus. Wo verläuft deiner Ansicht nach die Grenze zum Nationalismus?«

Ich schaute zu den Reklametafeln hinüber. Vielleicht weil ich Amerikanerin war, fielen mir die Fahnen nicht sofort ins Auge; ich hatte vielmehr den Eindruck, dass es insgesamt weniger Tafeln gab. Zwei Jahre zuvor, bei meinem letzten Besuch, hatten sie fast alle für Unternehmen der IT-Branche geworben, von denen inzwischen viele schon wieder bankrott waren.

»Pass auf, links!«, rief Hugh. Fast wäre ich auf die Nachbarspur geraten. Nach so vielen Jahren in Japan musste ich mich sehr darauf konzentrieren, auf der rechten Seite der Straße zu bleiben und richtig abzubiegen. Der Highway 101, ein nicht besonders schneller, dafür aber sicherer Weg ins Zentrum, diente mir dabei immer als Anhaltspunkt. Er führte zur Van Ness Avenue, von wo aus ich die Ausfahrt nach Japantown nehmen und über die Laguna Street nach Pacific Heights fahren konnte, in jenes schöne, aber teure Viertel, in dem meine Eltern ein Vierteljahrhundert zuvor noch ein halbwegs günstiges Haus mit Grundstück gefunden hatten. Hugh stellte eine Frage nach der anderen: Wo waren Coit Tower, Fishermanʼs Wharf, Golden Gate und die Hippies?

»Um die letzten Hippies zu sehen, muss man zur Haight Street. In diesem Viertel hier, es heißt Mission, leben eher lateinamerikanische Familien und Yuppies – ein bisschen ähnelt es Adams-Morgan in Washington. In Mission befindet sich eins der besten italienischen Lokale von San Francisco …«

»Und der romantischste Fleck der Stadt?«, fiel Hugh mir ins Wort.

»Hmm.« Eine schwierige Frage, denn in San Francisco hatte ich nie eine ernsthafte Beziehung gehabt. »Da muss ich nachdenken. Warum interessiert dich das?«

»Tja, Rei, weil Weihnachten ist. Ich hab zwei Geschenke für dich. Das eine kriegst du in Gegenwart deiner Eltern, das andere unter vier Augen. Und dafür brauche ich den passenden Ort.«

»Ah«, sagte ich und dachte: vermutlich Reizwäsche. »Stimmt, um für uns zu sein, müssen wir aus dem Haus gehen.«

»Könnten wir nicht gleich irgendwo anhalten?«

»Hugh, wir fahren gerade einen ziemlich steilen Hügel rauf. Wenn ich hier stehen bleibe, rolle ich bestimmt rückwärts wieder runter. Ich hasse Anhalten auf Steigungen.«

»Könntest du dir dann irgendwo einen richtigen Parkplatz suchen? Ich muss mit dir reden, bevor wir zu deinen Eltern kommen. Es ist dringend.«

Ich bog ab und fuhr so lange herum, bis ich einen Platz neben einem malaysischen Lokal fand, in dem ich noch nie gewesen war. Mit schlechtem Gewissen lenkte ich den Wagen in die einzige verfügbare Lücke zwischen einem glänzend grünen Volvo-Kombi und einem rostigen VW-Käfer in psychedelischen Farben. Altes und neues San Francisco und die Fremden dazwischen. Ich schaltete zuerst den CD-Player und dann den Motor aus. Hughs ernstem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würden wir eine Weile hier bleiben.

»Hör zu, Rei. Dir sag ichʼs als Erster außerhalb der Kanzlei: Ich ziehe um.«

Ich seufzte. »Das tust du ständig. Du hältst es doch nirgends länger als ein halbes Jahr aus.«

»Nein, diesmal wirdʼs länger. Ich gehe nach Japan.«

Ich schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. Nein, ich träumte nicht.

»Damit hast du nicht gerechnet, was?«, fragte er unsicher.

»Eine wunderbare Nachricht«, sagte ich, und es war mir ernst. »Ist das das Weihnachtsgeschenk? Wenn ja, freue ich mich darüber mehr als über alles andere, was ich noch bekommen werde.«

»Mir erscheint das Angebot unseres Senior Partner auch wie ein Geschenk.«

»Aber ich verstehe nicht ganz. Ich dachte, die Kanzlei in Washington will, dass du von hier aus alle Geschäfte zwischen Großbritannien und den Staaten regelst. Ist irgendwas schiefgelaufen?«

»Nein, nein! Andrews and Cheyne haben sich mit Sharp, Witter and Rowe zusammengetan, um eine Sammelklage einzureichen, die mich hoffentlich wieder nach Japan zurückführt. Es sind auch andere daran beteiligt, aber wir leiten die Sache …«

»Sharp, Witter and Rowe?« Ich straffte die Schultern. »Schlechtes Karma. Ich bin mit der Tochter des Senior Partner Charles Sharp zur Schule gegangen. Sie heißt Janine, und ich kann sie nicht ausstehen. Eine snobistische Zicke …«

»Ich will ja auch nicht mit Janine zusammenarbeiten, sondern mit Charles Sharp«, fiel Hugh mir ins Wort. »Ihn und meinen Dolmetscher treffe ich heute Nachmittag.«

»Heute ist Heiligabend«, sagte ich.

»Ja, ich weiß, tut mir leid. Am fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten hab ich frei, aber zuvor muss ich noch die Weichen stellen für dieses große, langfristige Projekt mit jeder Menge berechenbarer Stunden. Heute Abend bei dir zu Hause können wir dann feiern«, erklärte Hugh mit einem lauten Gähnen.

»Ich fürchte, die Feier wird eher züchtig ausfallen.« Als ich seinen fragenden Gesichtsausdruck sah, erklärte ich: »Meine Eltern haben dich in einem der Gästezimmer im zweiten Stock untergebracht, und auf der anderen Seite des Gangs wohnt eine ziemlich prüde Nachwuchspathologin. Große Chancen sehe ich da nicht für uns.«

»Sie heißt Manami, stimmtʼs? Deine Mutter hat mir von ihr erzählt und mir die Aufgabe übertragen, einen geeigneten Partner für sie zu suchen.«

Ich legte schnaubend den Gang ein. »Du kennst niemanden, der für sie passt. Deine Rugbyfreunde sind zu derb …«

»Ich dachte da eher an einen netten japanischen Anwalt. In dem Fall werde ich wohl einige von der Sorte kennenlernen.«

»Gut. Erzähl mir mehr darüber, wennʼs so weit ist.« Ich lenkte den Wagen wieder auf die Straße, die zum Haus meiner Eltern führte. Früher war dies mein Schulweg gewesen, der damals nicht viel Ablenkung geboten hatte; heute jedoch wimmelte es auf Fillmore und Union Street von verführerischen Cafés und Läden.

»Am liebsten würde ich mich mit dir in eins der Cafés setzen und richtig unterhalten«, sagte Hugh, als er meinen Blick bemerkte. »Aber zuerst muss ich das Treffen hinter mich bringen. Wennʼs dir recht ist, stelle ich nur schnell meine Koffer ab, trinke eine Tasse Tee, dusche und rasiere mich, und dann bin ich schon wieder weg.«

»Und wie willst du zu deinem Treffen kommen?« Ich bog in die Green Street ein, in der meine Eltern wohnten und in der sich etliche hübsche spätviktorianische bis edwardianische Häuser befanden, fast alle weihnachtlich mit Kränzen geschmückt. Hier regierte der perfekte Geschmack des High-Tech-Gelds. Schade, dass viele Familien von früher weggezogen waren, manche vertrieben durch die exorbitanten Grundsteuern, andere, weil sie das gute Angebot zahlungskräftiger Yuppies nutzen wollten.

»Mit dem Taxi. Es sind bestimmt genug unterwegs im Viertel. Da drüben ist ja das britische Konsulat. Gibtʼs in der Gegend noch andere Botschaften?«

»Nein. Dies ist ein reines Wohnviertel. Ich weiß nicht, welches Gebäude du meinst.«

»Vielleicht wohnt hier der Botschafter«, sagte Hugh, als ich den Wagen abstellte. Dann folgte ich seinem Blick auf das zweistöckige weiße Haus mit den griechischen Säulen, dem girlandengeschmückten Portikus und dem Union Jack in Originalgröße. Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist unser Haus«, erklärte ich ein wenig verlegen. »Hab ich dir nicht erzählt, dass meine Mutter auf Flaggen steht? Sie hisst immer die entsprechende, wenn Gäste aus dem Ausland kommen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wieʼs hier aussah, als Psychiater aus fünf Ländern bei uns übernachteten …«

»Gütiger Himmel!«, rief Hugh aus. »Das ist euer Haus? Ein Palast, ein amerikanisches Schloss auf dem höchsten Hügel von Pacific Heights …«

»Ja, die Säulen erinnern in der Tat an einen Palast, aber es handelt sich weder um den besten noch um den höchsten Punkt im Viertel. Das Haus war ziemlich runtergekommen, als meine Eltern es der Stadt vor fünfundzwanzig Jahren abkauften. Hundert Prozent renoviert ist es nach wie vor nicht.« Plötzlich überfielen mich Zweifel. Es handelte sich um ein altes Gemäuer mit schwankendem Wasserdruck, knarrenden Fußböden und klopfenden Heizkörpern. »Noch kannst du es dir anders überlegen und ins Hotel ziehen …«

Doch Hugh marschierte bereits mit dem gesamten Gepäck in Richtung Eingang.

3

»Ihr kommt gerade recht zum Lunch!«, rief meine Mutter, als ich Hugh hinterherhastete, der den quadratischen großen Vorraum mit der gewölbten Decke und dem riesigen Tiffany-Kronleuchter betrat. Wegen der strikten Stromrationierung war er die einzige Lichtquelle, die die alten Wandschirme mit den sich auf Bäumen niederlassenden Vögeln zu unterschiedlichen Jahreszeiten beleuchtete. Dahinter befand sich der Salon mit seinen hohen venezianischen Spiegeln, den antiken Baltimoretischchen und den beiden pfirsichfarbenen Samtsofas, die meine Mutter erst vor Kurzem erworben hatte, um den Raum freundlicher zu gestalten. Im Vordergrund stand eine etwa drei Meter hohe Fichte mit lila- und silberfarbenen Kugeln; alle Gaben darunter waren ebenfalls lila, silbern oder grün eingewickelt. Meine Mutter meinte es so ernst mit der farblichen Abstimmung, dass sie sogar meine Geschenke mit ihrem eigenen Papier verpackt hatte.

»Hallo, Mrs. Shimura! Ich … Mit einem solchen Haus hätte ich nicht gerechnet«, bemerkte Hugh ehrfürchtig wie in einer Kirche.

»Sagen Sie doch Catherine zu mir!«, forderte meine Mutter ihn auf. »Das sind alles Sachen aus der Familie, nichts Besonderes.«

»Die Wandschirme – stammen die aus der Familie von Reis Vater? Sie sind sehr ungewöhnlich in ihren Ausmaßen.«

»Stimmt. Tja, zu solchen Stücken kommt man, wenn man in eine Samuraifamilie einheiratet.« Sie warf Hugh einen Blick zu, bei dem ich errötete. Einen Moment lang fühlte ich mich ins alte Japan zurückversetzt, wo sich der Wert einer jungen Frau nach ihrer Mitgift bemaß. Natürlich liebte ich unsere japanischen Schätze, aber die ungenierte Art, wie meine Mutter sie Hugh präsentierte, gefiel mir nicht.

»Guten Morgen«, hörte ich da Manamis hohe Stimme hinter uns. Als sie uns mit einem Nicken begrüßte, wischten ihre schulterlangen schwarzen Zöpfe über den weißen Kragen ihres Laborkittels. Darunter trug sie einen praktischen blauen Rollkragenpullover und eine blau-grün karierte Hose. Manamis schlichter Stil und ihre angenehme Art gefielen mir. In Japan gab es Millionen Mädchen von ihrer Sorte, hier in San Francisco nur wenige.

»Hallo, Schätzchen! Sie scheinen gut geschlafen zu haben – es ist fast zwei«, bemerkte meine Mutter mit einem strahlenden Lächeln. »Hugh, darf ich Ihnen Manami Okada vorstellen, von der ich Ihnen schon am Telefon erzählt habe?«

»Hajime mashite«, sagte Hugh mit einer leichten Verbeugung. Das ist die japanische Standardbegrüßung bei einer ersten Begegnung.

»Oh, Ihr Japanisch ist fabelhaft!«, rief Manami mit großen Augen aus.

»Ach nein«, widersprach Hugh verlegen. »Ich hab nur eine Weile in Tokio gelebt … und hoffe, dorthin zurückzukehren. Sie sind Ärztin? Dafür wirken Sie sehr jung.«

»Das sagen alle, aber ich weiß gar nicht, warum.« Manami runzelte die Stirn. »Ich bin dreißig und habe den Doktortitel schon seit ein paar Jahren. Die Ausbildung läuft in Japan anders als hier. Unser Studium ist kürzer.«

»Soweit ich weiß, sind Sie zur Fortbildung hier. Wollen Sie hinterher dableiben?«, erkundigte sich Hugh.

»Nein. Ich möchte zurück nach Japan. Allerdings würde ich mich freuen, wenn ich meine Ausbildung hier – wie sagt man? – abrunden könnte.«

Ich lächelte. Am Abend zuvor hatte ich ihr ein paar idiomatische Ausdrücke beigebracht – einmal Englischlehrerin, immer Englischlehrerin. »Der Auslandsaufenthalt verschafft Ihnen zu Hause sicher einen Vorteil, besonders weil Sie sich ja, wie ich höre, sehr gut schlagen.«

»Nein, nein. Ich bin wirklich eine schlechte Schülerin …«

»Mein Vater sagt etwas anderes. Er hätte gern eine Tochter wie Sie.« Ich war zwar in der Schule immer unter den besten zehn Prozent gewesen, hatte mich aber nie wirklich engagiert und die hohen Erwartungen meines Vaters nicht erfüllt. Manami hingegen verzichtete auf die Vergnügungen, die das Leben in San Francisco bot, und widmete sich ganz der Medizin.

Manami warf einen Blick auf ihre Uhr. »Entschuldigung, ich muss gehen. Ich habe heute so lange geschlafen, weil ich gestern Bereitschaft hatte und müde war.«

»Aber natürlich, Schätzchen. Wollen Sie ein bisschen Salat in einer Lunchbox mitnehmen?«, fragte meine Mutter, die sich genauso rührend um Manami kümmerte wie früher um mich.

»Bitte machen Sie sich meinetwegen keine Umstände«, antwortete Manami, doch ihre Augen glänzten.

»Kommen Sie mit, dann richte ich Ihnen was her.« Meine Mutter schob die Ärmel ihres Kaschmirpullovers hoch, als wolle sie sich ernsthaft ans Kochen machen. »Hugh, Rei zeigt Ihnen den kleinen Lastenaufzug in der Küche, dann müssen Sie Ihre Sachen nicht selbst raufschleppen.«

Ich nahm den leichteren Koffer und ging voran.

»Gibtʼs auch noch irgendwo einen Butler? Ich komm mir vor wie in einer altmodischen BBC-Serie«, sagte Hugh und beobachtete mit offenem Mund, wie ich die Mahagonitür des Aufzugs öffnete. »Ich bin völlig von den Socken, Rei. Dies ist wie ein bizarres anglojapanisches Paradies. Eine schönere Umgebung könnte ich mir für Weihnachten nicht vorstellen.«

»Na ja, ein bisschen Schnee wär nicht verkehrt. Wollen wir das nächste in den japanischen Alpen verbringen?« Ich wusste immer noch nicht so recht, ob seine Reaktion auf mein Elternhaus mir schmeicheln oder peinlich sein sollte.

»Hugh, Sie fehlen Ihrer Familie jetzt vermutlich genauso sehr wie Manami der ihren.« Als meine Mutter Manami kurz übers Haar strich, wich diese instinktiv zurück. Das überraschte mich nicht, weil die meisten Japaner sich nur ungern von Menschen berühren lassen, die nicht zur Familie gehören. Ich nahm mir vor, meine Mutter um größere Zurückhaltung zu bitten, bevor ich ihr mitteilte, dass Hugh schon bald wieder aufbrechen müsse. Wie erwartet protestierte sie sofort. »Warum bleiben Sie nicht auf einen schnellen Lunch? Der Caesar Salad wäre schon fertig.«

»Meine innere Uhr ist noch so durcheinander, dass ich keinen Appetit habe. Bis zum Abend ändert sich das sicher.«

Meine Mutter nickte. »Gut. Sie essen also mit uns? So gegen sieben, aber es wäre auch später möglich.«

»Nein, sieben ist bestens. Vielen Dank, Catherine. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie satt ich das ewige Restaurantessen habe.«

Manami verabschiedete sich mit ihrer Lunchbox, und meine Mutter führte Hugh nach oben, um ihm alles zu zeigen. Sie wies ihn auf die Originalstukkaturen, die vordere Treppe, die die Familie benutzte, und die hintere für die nicht vorhandenen Bediensteten hin. Im zweiten Stock erklärte sie ihm, dass die ehemaligen Dienstboten- in Gästezimmer verwandelt worden seien, darunter auch das von Manami und Hugh, in dem sich früher mein Arbeitsraum befunden hatte.

Das Puppenhaus war nicht mehr dort, genauso wenig wie der winzige Schreibtisch, an dem ich fleißig die kanji-Zeichen aus der japanischen Sonntagsschule geübt hatte. Das Zimmer war in Farngrün gehalten und mit einigen stilsicher angeordneten alten Stadtplänen und Straßenszenen von San Francisco ausgestattet. Auf Hugh warteten ein antikes Bett, das ihm etliche Zentimeter zu kurz wäre, sowie eine Quiltdecke und jede Menge hübscher Kissen. Doch Hugh schenkte dem Bett keine Beachtung – sein Blick richtete sich auf den riesigen Mahagonischreibtisch mit Stühlen zu beiden Seiten, der das Zimmer beherrschte.

»Ein alter Partnerschreibtisch«, sagte Hugh und strich mit der Hand über die glatte Oberfläche. »So einen hätte jeder Nachwuchsanwalt gern irgendwann. Und noch dazu mit einer schönen Patina.«

»Einen ganz ähnlichen könnte ich Ihnen besorgen«, erklärte meine Mutter mit glänzenden Augen.

Ich musste sie fast aus Hughs Zimmer zerren, damit er duschen konnte. Während er sich frisch machte, aßen meine Mutter und ich Salat und Sauerteigtoast in der Küche, und als ich die Teller in die Geschirrspülmaschine räumte, gesellte Hugh sich zu uns, um ein Taxi zu bestellen.

»Am späten Nachmittag bin ich wieder da«, versprach er, küsste mich an der Tür und verabschiedete sich mit einem Winken von meiner Mutter.

Als er weg war, seufzte sie. »Das wird das schönste Weihnachten, das wir je hatten.«

»Das glaube ich auch.« Ich drückte kurz ihre Hand.

Nun wandte meine Mutter sich wieder dem Schmücken des Hauses zu, und ich zog mich nach oben zurück, um mir die Dias anzusehen, die ich von einigen Shimura-Familienerbstücken gemacht hatte. Beim ersten handelte es sich um die Nahaufnahme eines Schwerts, das im sechzehnten Jahrhundert für einen meiner Ahnen gefertigt worden war, in der Muromachizeit der Bürgerkriege. Mein Vater hatte mir erzählt, es sei von einem adligen Vorfahren bei der Verteidigung der Burg eines Vetters benutzt worden, der ein daimyo oder Feudalherrscher in einer lediglich für ihren Holzreichtum bekannten Gegend gewesen sei. Unser Ahn hatte in der Schlacht einen Arm verloren, nicht aber das Schwert. Ich zog ein Notizbuch heran und begann zu schreiben.

Die alte japanische Shintoreligion hegte den Glauben, dass in Schwertern die Seelen von Samurais wohnten und sie somit als religiöse Gegenstände am Familienaltar verehrt werden sollten. In der Shimura-Familie erzählt man sich die Geschichte des heldenhaften Samurai Jun Shimura, der einen Arm bei der Verteidigung einer Familienfestung verlor. Sein Schwert wurde in der Originalscheide aufbewahrt und mehrmals jährlich der Familie präsentiert, die davor niederkniete und betete.

Ich mochte Waffen nicht. Meiner Meinung nach verdiente ein Reistopf, der eine Familie durch karge Zeiten begleitet hatte, oder eine Quiltdecke, die aus alten blau-weißen yukata-Hausmänteln gefertigt war, eher deren Verehrung. Mein Vater hatte mir von einer solchen Decke seiner Urgroßmutter erzählt, unter der sein Bruder und er so lange schliefen, bis sie völlig durchgewetzt war. Hier lag das Problem: Geschirr zerbrach, und Stoffe wurden fadenscheinig. Die Alltagsgegenstände, die mir etwas bedeuteten, verschwanden irgendwann, während die harten Dinge die Zeiten überdauerten.

Ich stieg hinunter in den ersten Stock und klopfte an der Schlafzimmertür meiner Eltern. Mein Vater, der mit einem Scheckbuch in der Hand am Schreibtisch saß, bat mich herein.

»Ich dachte, du musst heute Nachmittag arbeiten«, begrüßte ich ihn.

»Einige Patienten haben abgesagt. Tut mir leid, dass ich nicht mit euch gegessen habe. Ist dein Freund gut angekommen?«

»Ja, aber er musste schon wieder zu einer Sitzung. Dad, eigentlich wollte ich mir das Schwert noch einmal ansehen.« Es hing über einer hohen Kommode.

»Soll ich es für dich von der Wand nehmen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das tun wir später, wenn Hugh wieder da ist, denn der interessiert sich wahrscheinlich auch dafür. Aber darf ich dir ein paar Fragen stellen? Wie ist es dir gelungen, dieses Schwert nach Amerika zu bringen?«

»Nun, das war ziemlich schwierig«, seufzte mein Vater. »Meine Eltern wollten, dass ich es bekomme, aber der Papierkram war ihnen zu mühsam. Also habe ich einen amerikanischen Freund gebeten, es mitzunehmen, einen Militärarzt, der nach dem Vietnamkrieg in die Heimat zurückkehrte.«

»Dann war es dir wichtig, das Schwert hier zu haben, obwohl du es meines Wissens nicht verehrst.«

»Die Verehrung von Schwertern gehört zur Shintoreligion; mir bedeutet es etwas anderes. Ich kann kein Gewehr verehren, wieso sollte ich es bei einem Schwert versuchen?«

»Mir geht es genauso«, pflichtete ich ihm bei. »Aber warum hängst du es an die Wand?«

Mein Vater seufzte. »Die Temperatur im Keller ist nicht konstant genug. Und deiner Mutter gefallen die Verzierungen an der Scheide.«

Da ich ahnte, dass es noch einen anderen Grund gab, den er mir aber nicht verraten wollte, wechselte ich das Thema. »Hugh gefallen die Wandschirme mit den Kranichen unten im Eingangsbereich. Von welchem Künstler stammen die eigentlich?«

»Keine Ahnung. Mich solltest du nicht fragen, weil ich mir nichts aus ihnen mache.«

»Verstehe, aber wie sind sie in unserer Familie gelandet? Stammen sie noch aus alten Feudalzeiten, oder habt ihr sie selbst erworben, zum Beispiel in Kyoto …?«

»Mein Urgroßvater hat sie in die Familie gebracht. Gekauft hat er sie wohl nicht, und wenn, für viel weniger Geld, als sie wert sind.«

»Klingt ganz so, als hätte er sich die Sachen zusammengesucht wie Mom und ich.«

»Als ausbeuterisch würde ich euch beide nicht bezeichnen«, erwiderte er mit verkniffenem Mund.

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ein hartes Urteil.«

»Ich weiß nicht, ob du das in der Schule gelernt hast, aber Japan hat sich eine ganze Menge Kunstwerke und Gold aus anderen asiatischen Ländern unter den Nagel gerissen.«

»Während der Besetzung von Korea?«, fragte ich. »Unsere Wandschirme sind nicht koreanisch.«

»Nein, chinesisch. Es heißt, im Jahr 1900 hätten sich japanische Soldaten in Peking eingeschlichen und Gold und wertvolle Kunstwerke aus den kaiserlichen Archiven geholt. Die Wandschirme sind wirklich schöne Stücke – ein Professor hätte sie sich nicht leisten können. Deshalb glaube ich, dass sie Beutekunst aus China sind und meinem Großvater geschenkt wurden.«

»Wie dramatisch!«, rief ich aus.

Mein Vater schüttelte den Kopf. »Mit seiner Kultur verliert ein Land seine Seele. Was wäre China wohl für ein Land, wenn es alle seine Kunstschätze noch besäße? Wäre es menschlicher?«

Welch ein Idealist mein Vater doch war! »Meinst du etwa, wir sollten die Wandschirme an China zurückgeben?«

»Nicht dem Staat, sondern dem Volk!«

Ich wies ihn darauf hin, dass in China nominell das Volk regierte und die Großgrundbesitzerfamilie, der die Wandschirme einmal gehört hatten, wohl obszön reich gewesen war, aber meine Argumentation lief ins Leere.

Erst nach einer ganzen Weile begriff ich, was mein Vater mir sagen wollte – und das erzeugte ein unbehagliches Gefühl in mir.

4

Kurz nach drei riss meine Mutter mich aus dem Halbschlaf, in den ich an meinem Schreibtisch gesunken war.

»Hugh ist dran«, sagte sie und reichte mir das schnurlose Telefon. Vermutlich wollte er mir mitteilen, dass er sich verspäten würde – so war das nun mal bei Anwälten.

Doch er fragte, ob ich mich auf einen Drink mit ihm und seinen Kollegen im Mark Hopkins treffen wolle.

»Merkwürdig«, stellte ich fest, »früher hast du mich nie zu solchen Verabredungen mitgenommen.«

»Weißt du, nach unserer letzten Trennung hab ich das Zwölf-Schritte-Programm für schlechte Boyfriends absolviert und mir jede Menge clevere Strategien angeeignet …«

»Ein bisschen mehr Ernst, bitte!« Das Wort Strategie gefiel mir im Zusammenhang mit unserer Beziehung nicht sonderlich.

»Warum denn? Ich finde, es zahlt sich aus, wenn man sich bessert.« Seine Stimme wurde sanfter. »Könntest du mich von Sharp, Witter and Rowe abholen? Für mich wäre das einfacher, als zuerst wieder nach Pacific Heights zu fahren.«

»Ich frag meine Mutter, ob ich den Wagen haben kann.«

Meine Mutter erklärte sich bereit, mir den Infiniti zu leihen, wenn ich ihr versprach, vorsichtig zu fahren. Sie wusste um meine Angst, auf den Hügeln von San Francisco nach hinten wegzurollen, weil ich in der Schulzeit das Getriebe ihres Camry ruiniert hatte. Außerdem bat sie mich, bestellte Kerzen bei Williams-Sonoma abzuholen, und riet mir, etwas Edleres als meine Jeans anzuziehen, weil das Mark Hopkins zu den schicksten Cocktailbars der Stadt gehörte.

»Da gehen auch Touristen hin«, widersprach ich, »und die tragen alles.«

»Aber wir sind keine Touristen, meine Liebe.«

Amerikanische Mütter kommandieren einen genauso herum wie japanische, dachte ich, als ich wenig später vor meinem Kleiderschrank stand. Die meisten gediegeneren Sachen waren in der Reinigung, weshalb ich nur unter den alten Klamotten aus der Highschool- und Collegezeit wählen konnte: schulterfreien Flashdance-T-Shirts, Calvin-Klein-Jeans in Karottenform und einigen Miniröcken.

Die Minis und die Jeans passten mir nicht mehr, aber in ein schwarzes Velourskleid von Commander Salamander, das bis knapp übers Knie reichte, konnte ich mich noch hineinzwängen. Dann ging ich an den Schrank meiner Mutter und wählte ein Paar weicher, knielanger Wildlederstiefel aus. Sehr viel nackte Haut war nun nicht mehr zu sehen.

Ich hatte das Gefühl, ziemlich präsentabel zu wirken, als ich vor dem hübschen alten Ziegelgebäude hielt, vor dem Hugh schon auf mich wartete. Aber als er sich auf den Beifahrersitz sinken ließ, schien er meine Kleidung gar nicht zu bemerken.

»Danke, dass du mich abholst!«, begrüßte er mich. »Der Nachmittag hat sich als ziemlich schwierig entpuppt.«

»Wieso?«

»Nach einem kurzen Treffen mit den Kanzleileuten haben der Dolmetscher und ich mit einer potenziellen Klägerin gesprochen. Das war so deprimierend, dass ich ihr gern ein Weihnachtsgeschenk kaufen würde. Haben wir so viel Zeit?«

Ich sah auf die Uhr. »Klar. Aber du hättest meine Mutter fragen sollen, ob sie dich begleitet. Die kauft genauso gern ein wie du.«

»Weißt du, ich möchte auch noch bei der Oper vorbeischauen, die Karten abholen, die ich für sie und deinen Vater reserviert habe. Deswegen bin ich ganz froh, wenn sie nicht dabei ist. Und hinterher könnten wir das Geschenk für die Mandantin besorgen, einen Wasserkocher, dachte ich mir.«

»Okay«, sagte ich und lenkte den Wagen in Richtung Williams-Sonoma, wo ich ja auch die Kerzen für meine Mutter abholen sollte.

»Gut. Für Manami würde ich ebenfalls gern eine Kleinigkeit kaufen. Und anschließend möchte ich in die Lebensmittelabteilung. «

»Wieso denn das? Unser Kühlschrank ist zum Bersten voll.«

»Nicht für die Shimuras, sondern für meine Mandantin.«

Ich verdrehte die Augen, als mir klar wurde, dass unser Ausflug um etliches länger dauern würde, als ich gedacht hatte. Wir brauchten fast eineinhalb Stunden, um Oper, Williams-Sonoma und die Real Food Company abzuhaken. In dem Gourmetladen wimmelte es von Leuten, die in letzter Minute Zutaten für ein zehngängiges Weihnachtsmenü besorgen wollten. Während wir in der Schlange warteten, diskutierten Hugh und ich, was wir nehmen sollten.

»Kalifornier sind zu fünfzig Prozent eher Vegetarier als andere Amerikaner«, sagte ich. »In der Highschool ernährten sich die meisten Mädchen mehr oder weniger von Joghurt.«

»So ein Luxusgeschöpf ist meine Mandantin nicht«, erwiderte Hugh.

»Ach, wirklich? Das Gefühl hab ich aber schon. Schließlieh laufen wir uns hier die Hacken für sie ab.« Als ich sah, wie seine Miene sich verhärtete, hätte ich diese Worte am liebsten wieder zurückgenommen. »Tut mir leid, Hugh. Weißt du, vor ein paar Stunden, bei deiner Ankunft, war alles noch so romantisch. Aber jetzt kommen wir zu spät zum Cocktail mit deinen Freunden um sechs und zum Essen bei meinen Eltern um sieben, und das alles wegen dieser wahnsinnig wichtigen Mandantin.«

»Sorry, Rei, ich muss da heute Abend hin. Ich hätte dich gern dabei, aber wenn du nicht möchtest, solltest du vielleicht lieber nach Hause fahren.«

Ich hob abwehrend die Hände. »Leichter gesagt als getan: Ich muss dich ja herumchauffieren. Konzentrier dich jetzt mal lieber aufs Einkaufen. Wir sind dran.«

Zwanzig Minuten später ergriff Hugh im Wagen meine Hand. »Ich könnte einen Kollegen bitten, mich nach den Drinks bei ihr vorbeizubringen, aber dann komme ich wahrscheinlich zu spät zum Essen bei deinen Eltern.«

»Ich hab gesagt, ich chauffiere dich zu allen deinen Terminen«, erklärte ich und legte brummelnd den Gang ein. »Also, wohin müssen wir?«

»In die Sixth Street, zum Vierhunderterblock. Sie wohnt in einem alten Hotel, dem Blanchard.«

»Die Sixth Street. Wer ist diese Frau?«

»Das wirst du schon sehen.«