ALEXANDRA ENDRES

WER SINGT, ERZÄHLT
WER TANZT, ÜBERLEBT

EINE REISE DURCH KOLUMBIEN

© 2017 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Herburg Weiland, München

Titelfoto: laif/Politiken/Mads Nissen (vorne), Sarmiento/Archivolatino/laif (Rückseite)

Fotos im Innenteil: Alexandra Endres, Waosolo (siehe >>)

Karte Alexandra Endres, Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie

eISBN 978-3-6164-9150-9

www.dumontreise.de

INHALT

Auftakt

Kapitel 1       Trommeln: Cartagena

»Denk an deine Zukunft!«

Die Heldenhafte

Der Heilige der Sklaven

Tänzer

Proben

Die Altstadt, revisited

Kapitel 2       Poporos: Santa Marta

Durch die Sümpfe

Rummel am Hafen

Das gute Leben

Das Gleichgewicht der Welt

Don Alfonso will mich heiraten

Katansama, der heilige Ort

Kapitel 3       Mochilas: La Guajira

Cuatro Vías

Die Wayúu

Wasser und Kohle

Manaure

In den Rancherías

Am Strand

Kapitel 4       Beton: Bogotá

Gegensätze

Voto Nacional

Kinderspiele

Plaza Bolívar

Belkis

Nahkampf

El Tiempo

Jineth

Die Überlebenden

Kapitel 5       Graffiti: Medellín

Schlaflos

Ins Tal

Rolltreppen

Erinnerung

Open Air

Kämpfer zu Zivilisten

Vertriebene

Die Kultur der Gewalt

Suche nach Frieden

Hip-Hop

Kapitel 6       Gold: Quibdó

In den Chocó

Quibdó

Die Claretiner

Quecksilber und Gold

Villa España

Beim Bischof

La Gloria

Stolz auf Schwarze?

Verlieb dich in den Chocó!

San Pacho

Wasser und Wald

Kapitel 7       Cantaoras: Cali

Der Lohnschreiber

Wer tanzt, lebt

Erkundungen

Wer singt, erzählt

Kapitel 8       Stöcke: Popayán

Die weiße Stadt

Straßenblockaden

Santander de Quilichao

Pueblo Nuevo

Nach Mocoa

Kapitel 9       Der Fluss: Putumayo

Das Netzwerk der Frauen

Regenwald retten im Putumayo

Im Wilden Westen

Die Jahre des Krieges

Ahnung von Amazonien

Epilog: Zelte

Tipps zum Lesen, Hören, Anschauen

Glossar

Danke

Über den Autor

Weitere E-Books der Reihe

Auftakt

Alles begann am Rand einer Kohlegrube im Nordosten Kolumbiens. Ich stand inmitten einer wüstenhaften Einöde und versuchte, die Ausmaße dieses Tagebaus zu begreifen. Unter mir fuhren Lastwagen und Bagger, die aussahen wie winzige Matchboxautos. In Wahrheit waren sie haushoch, das wusste ich. Dies war eine der größten Steinkohlegruben der Welt, viel größer als die deutschen Braunkohletagebaue im rheinischen Revier oder in der Lausitz.

Ich war hierhergekommen, um die Auswirkungen des Bergbaus zu verstehen, denn die Kohle, die hier gewonnen wurde, war auch für deutsche Kraftwerke bestimmt – und in Kolumbien richtete ihr Abbau großen Schaden an. Nach der Recherche schrieb ich über ermordete Gewerkschafter und darüber, dass andere Gewerkschafter in Lebensgefahr schwebten; über Menschen, die ihre Heimat verlieren würden, weil die Luft, die sie neben den Gruben atmeten, zu schmutzig war, um dort zu leben; und über Kohlekonzerne, die ihr Geschäft trotz allem nachhaltig nannten.

Es war eine niederschmetternde Geschichte. Aber das Land hatte mich gepackt, denn überall, wo ich auch hinkam, begegneten mir die Menschen freundlich, nahmen sich Zeit, öffneten ihre Türen. Vor allem: Sie gaben nicht auf. Sie vermittelten mir Lebensfreude, selbst wenn die Kohle ihre Existenz bedrohte. Als ich zurück nach Deutschland fuhr, ahnte ich, dass Kolumbien viel mehr sein musste als das, was ich gesehen hatte.

Zwei Jahre später kehrte ich zurück – und wieder beschäftigten mich Gewalt und Konflikte viel zu sehr. Es war die Zeit des Präsidentschaftswahlkampfs. Die Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Farc gingen in ihr drittes Jahr, und die Auseinandersetzung darüber, ob man mit der Guerilla überhaupt reden soll, wurde unversöhnlich und mit schmutzigen Mitteln geführt. Zugleich wurde Kolumbien immer sicherer. Aber viele Gegenden waren für Reisende immer noch zu gefährlich (und sind es bis heute).

Zehn Wochen lang war ich im Land, arbeitete bei einer Zeitung in Bogotá und reiste zwischendurch, soviel es ging. Und erfuhr erneut, dass Kolumbien viel mehr ist als das allgegenwärtige Klischee von Drogen und Krieg: ein unglaublich vielfältiges Land, landschaftlich und kulturell, mit Regenwald und Wüsten, schroffen, schneebedeckten Bergen, grünen Hügeln und weiten, fruchtbaren Tälern; afrikanisch, indianisch, europäisch und alles zugleich. Vor allem aber mit Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen von ihrer gemeinsamen Geschichte der Gewalt. Die dem bewaffneten Konflikt eine unwahrscheinliche Selbstbehauptungskraft entgegensetzen, eine Lebensfreude, getragen von Musik und Traditionen, von ihrer Vorstellung von einem besseren Leben und ihrem Zusammenhalt.

Das ist die vielen unbekannte, die schöne Seite Kolumbiens. Auf meiner dritten Reise wollte ich mich auf die Suche nach ihr begeben und endlich einmal auch über sie schreiben. Davon handelt dieses Buch. Und weil Kolumbien ohne Musik nicht vorstellbar ist, beginnt die Reise hier: mit Trommeln.

Kapitel I

Trommeln:
Cartagena

»Denk an deine Zukunft!«

Tun-tiki-tak-tun. Das ist ein ganz einfacher Rhythmus. Fácil. Simple. Was für Babys. Aber ich krieg ihn nicht hin. David schaut mich zweifelnd an, dann schlägt er noch einmal auf die Tischkante: Tun-tiki-tak-tun. Mal mit flacher, mal mit gekrümmter Hand; mal fest, mal sanft; mal nah an der Kante, mal voll auf die Tischplatte. Jeder Schlag klingt anders, klar, das kann ich hören. Aber es nachspielen? Als rhythmisch im Vergleich zu dem siebenjährigen Jungen, der inmitten von Trommeln, Tänzen und Gesängen aufgewachsen ist, anders begabte Mitteleuropäerin?

Hoffnungslos. Ich setze trotzdem an. Tak-taka-tak-tak. David schaut ungläubig, so als wollte er mich fragen, was bloß mit mir schiefgelaufen sei. Die andern am Tisch amüsieren sich sehr.

Ich bin in der Trommelschule der Tambores de Cabildo in La Boquilla, einem Stadtteil von Cartagena de Indias, an der kolumbianischen Karibikküste. Nur ein paar hundert Meter entfernt glitzert ein Sandstrand in der Sonne, türkisfarbene Wellen lecken träge daran – noch träger sind nur die paar Badegäste, die unter Sonnensegeln dösen.

Der Strand ist verführerisch. Aber ich bin nicht zum Baden hier. Vor drei Tagen bin ich in Cartagena angekommen, um zu erleben, wie sie hier an der Küste Musik machen. Eine Freundin hat mir den Kontakt zu Rafa vermittelt, dem Gründer der Trommelschule, und Rafa hat mich eingeladen, den Samstag in der Schule zu verbringen. Der Samstag ist ein guter Tag dafür, denn an Samstagen unterrichten sie hier den ganzen Tag.

Vormittags üben die Kinder direkt am Strand, unter einem Sonnenschutz aus Holz, Palmblättern und Plastik. Sie spielen den Llamador, die rufende Trommel, die der ganzen Truppe sagt, wo es langgeht. Sie schlagen den Tambor Alegre, die fröhliche Trommel, die dem Llamador folgt, und die große Basstrommel Tambora, die auf einem Gestell liegt und mit Stöcken gespielt wird. Später, am Nachmittag, werden die älteren Jugendlichen auf Fässern trommeln. Sie sind besonders laut. Ein Mädchen, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt, kann kaum über das Fass schauen, aus dem ihre Trommel gemacht ist. Aber das macht gar nichts. Sie steigt auf eine kleine Holzkiste und spielt mit so viel Power, Konzentration und Präzision drauflos wie alle anderen.

Wenn keine Instrumente in der Nähe sind, nehmen sie hier alte Farbeimer, Tüten, Flaschen, Plastikbecher, ihre Knie, ihre Wangen, ganz egal. In La Boquilla verpassen sie jedem noch so leblosen Ding den Groove. Thiago ist der Jüngste. Vielleicht zwei Jahre alt ist er und spielt, als hätte er nie etwas anderes in der Hand gehalten als Trommelstöcke. Mit dem Sprechen klappt es noch nicht so flüssig.

Unter dem Palmdach am Strand wärmen sie sich jetzt auf für den Unterricht, denn ein lockerer Körper macht bessere Musik. Die ersten Rhythmen klatschen sie mit den Händen; dann setzen sich die Kinder gruppenweise an die Instrumente und spielen nach, was die Großen ihnen vortrommeln: laute und leise Rhythmen; schnelle und langsame; zurückhaltende und fordernde. Die Gruppen wechseln sich oft ab, so kommt jeder dran. Zwischen ihnen ist Rafas schmale Gestalt ständig in Bewegung. Er läuft die Reihe der trommelnden Kinder auf und ab, feuert sie an, spielt vor, horcht konzentriert zu, korrigiert – er strahlt die ganze Zeit.

Die Lehrer erklären nicht viel, denn die Schüler lernen nach Gehör und indem sie versuchen, alles nachzuspielen. Eine Methode, die bei mir erwiesenermaßen nicht funktioniert. Aber die Kultur der Afrokolumbianer basiert auf mündlicher Übermittlung. Erinnerungen geben sie hier durch Gesänge weiter, Wissen durch Erzählungen, Können durch gemeinsames Tun. So ist es auch mit der Musik. Eine schriftliche Geschichtsschreibung gibt es hier kaum. Theorie ist was für Anfänger – oder für minderbemittelte Weiße.

Es gibt nur einen Merksatz, den einer der Lehrer immer wieder ansagt: »Wir, die Trommler von La Boquilla, modulieren die Klänge!« Soll heißen: Kinder, variiert euer Spiel und bearbeitet euer Instrument nicht immer stumpf auf die gleiche Art!

»Wir modulieren die Klänge!« – An den Satz erinnere ich mich noch, als wir später ein paar Sträßchen weiter im Hof der Trommelschule beim Mittagessen sitzen. Es gibt Fleisch mit Soße, Kokosreis und Zuckerwasser, alles selbst zubereitet. Mit am Tisch sitzen Rafa und die anderen Trommler, Cecilia, eine Sängerin, und Wilfran, ein strenger Tänzer, der heute gemeinsam mit zwei Kolleginnen und den Kindern eine kleine Choreografie erarbeitet hat. Wilfran fordert von seinen Schülern Disziplin.

Und am Tisch sitzt auch David, der Siebenjährige, Wilfrans Sohn, der keinen Moment vom Trommeln lassen kann und meinem Unvermögen völlig verständnislos begegnet. »Wir modulieren die Klänge!«, sagt sein Blick. Also noch mal: Tun-tiki-ta-tun? Diesmal scheint es ein wenig besser zu klappen, jedenfalls ernte ich Lachen und Nicken von den Erwachsenen am Tisch: »Sííí!« David scheint zufrieden. Vielleicht gibt er auch nur auf, ich kann es nicht recht erkennen. Wilfran grinst. Er kennt seinen Sohn. David ist ehrgeizig, »und er ist streng mit anderen«, sagt Rafa. Das hat der Kleine wohl von seinem Vater geerbt.

Rafa – vollständiger Name: Rafael Ramos Caraballo – stammt aus Cartagena und ist mit den Trommeln aufgewachsen. Klar, dass auch er als Junge trommeln lernte, vom Vater und vom Großvater. Rafa wurde Profi und ging mit Totó la Momposina auf Tour, einer der bekanntesten Sängerinnen Kolumbiens; heute produziert er Musik und organisiert Kulturevents. Der Entschluss, die Trommelschule zu gründen, sei in einer privaten Krise gefallen, sagt er. »Es gibt hier in der Karibik so viel Talent.« Talent, das sonst oft unbeachtet bleibt. Jugendliche, die nichts mit sich anzufangen wissen und auf die schiefe Bahn geraten.

Wer in Cartagena den richtigen Nachnamen hat, der die Herkunft aus der richtigen, einer etablierten Familie signalisiert, dem steht die Welt offen. Alle anderen müssen nehmen, was übrig bleibt. In der Trommelschule wollen sie etwas dagegen unternehmen, und sie opfern ihre Freizeit dafür. Alle, die heute hier unterrichten, tun das ehrenamtlich.

Im historischen Stadtkern Cartagenas: Passanten suchen Schutz vor der Mittagssonne, ein Limonadeverkäufer wartet auf Kunden.

Je mehr ich von La Boquilla sehe, desto besser verstehe ich, warum sie das tun. Der Ort steht in starkem Kontrast zu dem Cartagena, das Touristen kennen. Links und rechts von ihm erheben sich die schneeweißen Türme der Strandhotels. Es sind moderne Häuser mit allem Komfort, gebaut von internationalen Ketten, die in den vergangenen Jahren in Cartagena investiert haben.

Kolumbien wird friedlicher. Die Touristen kommen, und die Stadt hat, was viele suchen: kilometerlange weiße Strände, Sonne, Meer, eine malerische Altstadt mit dicken Schutzmauern; eine wechselhafte Geschichte, in der Piraten und Freiheitskämpfer, der Sklavenhandel und die Inquisition eine Rolle spielen. Einen Literaturnobelpreisträger, Gabriel García Márquez, der diese Geschichte in seinen Romanen einfing. Abends fahren Pferdekutschen die Besucher durch die historischen Straßen der Altstadt. Es gibt schicke Restaurants. Noble Hotels. Ein prächtiges Theater. Gerade kommt viel frisches Geld nach Cartagena.

Den Leuten von La Boquilla wäre es lieber, die Investoren blieben weg. »La Boquilla wird gentrifiziert«, sagt Rafa. Für die Einheimischen bleibt im wortwörtlichen Sinn kein Platz mehr. Denn die Hoteltürme rücken immer näher.

Früher war La Boquilla ein einfaches Fischerdorf. Doch seit so viel gebaut wird, gibt es keine Fische mehr. Für die Hotels hat man den Zufluss gekappt, der die Lagune an der Küste mit dem offenen Meer verband. Das Gewässer veränderte sich, die Fische starben. Vom Fischfang kann hier deshalb keiner mehr leben. Jeder nimmt, was sonst zu kriegen ist. Während in Cartagenas Altstadt die Wohlhabenden vor dem Problem stehen, sich zwischen vielen schicken Restaurants entscheiden zu müssen, geht es hier schlicht darum, die Familie satt zu kriegen.

Auf der Stadtmauer des alten Cartagena. Im Hintergrund erheben sich die neuen Hotel- und Apartmentkomplexe.

Wenn sie Glück haben, bekommen sie einen Job als Zimmermädchen, als Kellner oder auf dem Bau. Wenn sie Pech haben, bleiben sie daheim und leben von dem, was Angehörige und Freunde nach Hause bringen. Wer Pech hat und nicht daheim bleibt, wer die falsche Wahl trifft, der wird zum Drogenhändler – oder Konsumenten. Für Jugendliche bietet La Boquilla keine tollen Perspektiven. Dass Mädchen aus Sehnsucht nach Zärtlichkeit und einer intakten Familie früh schwanger werden, ist hier – und anderswo in den Armenvierteln Cartagenas – ganz normal. Normal ist auch, dass die Elite aus Politik und Wirtschaft sich um solche Verhältnisse nicht schert, solange sie ihre eigenen Schäfchen ins Trockene bringen kann.

Die schneeweißen Hoteltürme sind den kleinen bunten Häusern des Ortes schon bedrohlich nah gekommen. Manche Fischer haben ihre Grundstücke verkauft; doch weggezogen sind sie nicht. Wohin sollten sie auch gehen? Die Nachbarn haben einfach zusätzliche Trennwände in ihre Häuschen eingezogen, damit jeder wenigstens ein bisschen Privatsphäre hat, und die Obdachlosen aufgenommen. Jetzt leben alle so beengt, wie man sich das nur vorstellen kann. In manchen Betten schlafen drei Personen, sagt Rafa, mit allen Konflikten, die eine solche Enge verursacht. Das Geld aber, das die Verkäufer für ihre Grundstücke bekommen haben, ist längst verfrühstückt.

Was so ein Leben bedeutet, darüber haben die Kinder der Trommelschule Lieder geschrieben. Eines geht so:

Algunos padres maltratan a sus hijos sin razón, sin razón

Algunos padres maltratan a sus hijos sin razón, sin razón

Te ha crecido la maldad de instinto animal

Te ha crecido la maldad de instinto animal

Cuando maltratan a un niño, siembran ira en él.

Y el corazón se entristece, se entristece, se entristece.

La violencia, la violencia, no sirve para ná

La violencia, la violencia, es signo de maldad.

Manche Eltern misshandeln ihre Kinder ohne Grund.

Manche Eltern misshandeln ihre Kinder ohne Grund.

In dir ist das Böse gewachsen, der tierische Instinkt.

In dir ist das Böse gewachsen, der tierische Instinkt.

Wenn sie ein Kind misshandeln, säen sie Wut in ihm.

Und das Herz wird traurig, wird traurig, wird traurig.

Die Gewalt, die Gewalt führt nirgendwohin.

Die Gewalt, die Gewalt ist ein Zeichen des Bösen.

Ein anderes:

Hijo no es cualquier cosa que tú lo coge, lo compra, lo vendes,

lo empeña en la esquinaaaa

Hijo no es cualquier cosaaaa

Piensa, piensa en tu futuro

Y en lo bueno de la vida y en lo que te ha dado el mundo

Escucha consejo antes de quedar embarazada

Piensa, piensa en un futuro

Piensa en tu familia

Piensa en las cosas que ya no podrás hacer

Piensa en las cosas que quizás quieras hacer

Kind, es ist nicht irgendetwas, das du an der Ecke nimmst,

kaufst, verkaufst, worauf du dich einlässt.

Kind, es ist nicht irgendetwas.

Denk nach, denk an deine Zukunft.

Und an das Gute im Leben und daran, was die Welt dir

gegeben hat.

Hör auf Ratschläge, bevor du schwanger wirst.

Denk nach, denk an deine Zukunft.

Denk an deine Familie.

Denk an die Dinge, die du nicht mehr tun können wirst.

Und an die Dinge, die du vielleicht tun willst.

So singen sie von Gewalt, Drogen und frühen Schwangerschaften und schlagen im Takt auf ihre Fässer. Die Stimmen der Mädchen sind noch dünn. Aber die Trommeln klingen entschlossen: Denk an deine Zukunft!

Das ist der Sinn der Schule, sagt Rafa: »Sie soll Impulse geben, damit die Kinder und ihre Familien sich Gedanken darüber machen, was aus ihnen werden kann. Damit sie in ihrer freien Zeit, sagen wir: keine Angebote wählen, die ihrer Entwicklung, ihrer Ausbildung, ihrer Gesundheit schaden.« Stattdessen, hofft er, sollen sie ihre kreative Energie in die Musik lenken.

Es scheint zu klappen. Beim Üben am Strand ist von den Problemen nichts zu spüren. Die Sonne scheint, die Trommeln klingen, ein Bus fährt vorbei, wenige Meter entfernt steigen Touristen in Bikini und Badeshorts ins Meer. Die Kinder bemerken sie nicht. Sie sind mit Feuereifer und hochkonzentriert bei der Sache. David, der Siebenjährige, und zwei andere Jungs suchen sich in der Mittagspause eine ruhige Ecke, in der sie weiter üben können, ohne die anderen zu stören. Weil gerade keine richtigen Trommeln in der Nähe sind, benutzen sie alte Farbeimer.

Als David, mein strenger Lehrer, mich entlassen hat, wird der Mittagstisch aufgehoben. Rafa und ein paar Lehrer ziehen sich zu einer Besprechung zurück, die anderen dösen im Hof: Siesta im Schatten. Cecilia und ich sitzen vor dem Haus.

»Cecilia, seit wann singst du?«, frage ich sie.

»Seit ich denken kann, schon als kleines Mädchen«, lautet ihre Antwort. »Ich habe immer gesungen, und um mich herum war immer Musik. Aber ich bin nie auf die Idee gekommen, dass sie einmal meine Berufung werden könnte.«

»Welchen Beruf hast du denn gewählt?«

»Ich habe Bakteriologie studiert. Und in meiner Freizeit weiter gesungen. Dann suchten Freunde eine Sängerin für ihre Gruppe, und von da an war klar, was ich wirklich machen wollte. Jetzt studiere ich Musik, ich bin fast fertig. Und ich habe Kontakt zu den alten, erfahrenen cantaoras gesucht. Ich bin mit ihrer Musik aufgewachsen, von ihnen kann ich viel lernen. Sie singen, aber sie sind viel mehr als nur Sängerinnen. Wenn sie singen, erzählen sie eine Geschichte. Daher kommt ihr Name.«

Ich weiß, dass der Begriff cantaora sich aus zwei Worten zusammensetzt, cantar, singen, und orar, was so viel bedeutet wie predigen, öffentlich beten oder sprechen. Aber was heißt das genau?

»Sind Cantaoras Predigerinnen?«, frage ich Cecilia.

»Sie kommentieren den Alltag«, erklärt sie mir. »Sie singen, wenn die Sonne untergeht, während sie durchs Dorf gehen, und wenn sie sich um ihre Kinder kümmern. Sie besingen wichtige Ereignisse: die Ernte, das Wetter, die Arbeit der Fischer und der Bauern. Eine Cantaora singt von dem Ort, aus dem sie stammt, und von der Gemeinschaft. Sie assistiert bei Geburten. Sie kennt heilkräftige Pflanzen. Sie singt, wenn jemand stirbt, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten, und sie bejubelt die bessere Welt, die den Verstorbenen erwartet. Es ist eine ganz alte Tradition. Aber in den Städten geht sie leider verloren. «

Von Cecilia lerne ich, dass die Cantaoras das lebende Gedächtnis der afrokolumbianischen Gemeinschaften sind und in ihnen eine wichtige spirituelle Rolle spielen. Ihre Gesänge helfen den Menschen, nicht verrückt zu werden, bei sich zu bleiben angesichts der Gewalt und Diskriminierung, die viele ertragen müssen.

Welche Bedeutung ihre Lieder – und die Musik – für die afrokolumbianischen Gemeinschaften besitzt, hat der Kulturforscher und Journalist Alfredo Vanín Romero einmal in einem Satz treffend beschrieben: El que canta, cuenta, el que baila, vive. Wer singt, erzählt, wer tanzt, lebt.

»Cecilia, bist du auch eine Cantaora?«, möchte ich wissen.

»Nein, so weit bin ich noch nicht. Manche jungen Frauen nennen sich zwar selbst Cantaoras, aber in Wahrheit sind sie ganz normale Sängerinnen. Das bin ich auch: eine professionelle Sängerin, eine, der diese Trommelschule sehr am Herzen liegt.«

»Kannst du mir zeigen, was eine Cantaora über den Unterricht von heute Vormittag singen würde?«

Spontan improvisiert Cecilia ein Lied für mich. Ganz zart beginnt sie, der Melodie hinterherspürend, aber dann wird ihr Gesang fester, und sie klatscht den Rhythmus mit den Händen. Sie singt:

»Fröhlich gehe ich und singe, gehe und singe.

Fröhlich gehe ich und singe.

Ich gehe und singe, gehe und singe. Fröhlich gehe ich und singe.

Fröhlich, fröhlich gehe ich und singe.

Fröhlich gehe ich und singe.

Dieser wunderschöne Morgen war ein Fest.

Fröhlich gehe ich und singe.

Oh, dieser wunderschöne Morgen war ein Fest.

Fröhlich gehe ich und singe.

Und das ist noch nicht alles,

denn heute Nacht singe ich auch.

Um Euch zu zeigen, dass es mich auch

zum Bullerengue hinzieht.

Fröhlich, fröhlich gehe ich und singe.

Fröhlich gehe ich und singe.

Fröhlich, fröhlich singend gehe ich,

Fröhlich gehe ich und singe.

Und das ist noch nicht alles,

denn heute Nacht singe ich auch,

um Euch zu zeigen, dass es mich auch

zum Bullerengue hinzieht.

Fröhlich, fröhlich singend gehe ich …«

Die Bullerengue ist ein afrokaribischer Musikstil aus Trommeln, Händeklatschen und Gesang; die Musiker lernen durch Nachahmung und Übung, so ähnlich wie in Rafas Schule. Mehrmals singt Cecilia, lächelnd, mit sanfter Stimme, und jedes Mal ist der Text ein wenig anders. Die trommelnden Kinder kommen darin vor, ihre Begeisterung fürs Üben, die Freude der Lehrer, die strahlende Sonne. Ich bin hingerissen. Ich kenne ihre Stimme auch ganz anders, dunkel, kraftvoll und selbstbewusst, wie ich sie mit den Trommlern habe singen hören. David hört uns zu und holt seine Instrumente heraus, gebastelt aus zwei mit Kunstleder bespannten Farbeimern. Er fängt an, Cecilia zu begleiten. Jetzt will auch er mir zeigen, was er kann.

Viel später, am Abend, fahre ich mit Rafa durch die unbefestigten Straßen von La Boquilla, auf dem Weg zurück in die Innenstadt von Cartagena. Über dem Meer geht gerade die Sonne unter und färbt den Himmel in einem spektakulären Rosa. Die Leute sitzen draußen in der milden Abendluft, hören Musik und unterhalten sich. Drinnen haben sie ohnehin kaum Platz. Rafa muss immer wieder anhalten, weil Kinder nach ihm rufen: »Rafa! Hallo, Rafa!« Dann grüßt er sie und fragt: »Wie geht’s? Warum warst du heute nicht im Unterricht? Ah, du hattest zu viel zu tun. Aber nächste Woche sehen wir uns, oder?!«

David wird dann bestimmt auch wieder dabei sein. Ich leider nicht, denn meine Reise führt mich schon bald weiter. Aber seit ich David kenne, habe ich unterwegs ab und zu geübt: Tak-taka-tak-tak! Manchmal, bilde ich mir ein, klang es schon ein wenig wie Tun-tiki-ta-tun. Zumindest an guten Tagen.

Die Heldenhafte

Die Altstadt von Cartagena, Weltkulturerbe seit mehr als dreißig Jahren, ist wie ein bewohntes, lebendiges Museum – mit ihren bunten Häusern aus der Kolonialzeit, den alten Kutschen, die übers Pflaster holpern, und der dicken Festungsmauer, die sich um die Altstadt zieht. Auf dem Wall flanieren Touristen. Sie ziehen vorbei an den Straßenhändlern, die ihnen mit erfundenen Geschichten Schmuck aus falschen Steinen aufzuschwatzen versuchen, und den schweren Kanonen, die – immer noch aufs Meer gerichtet – die Heldentaten längst vergangener Schlachten bezeugen.

Jetzt, Ende Juli, sind die Tage in Cartagena besonders heiß. Ich sitze in einer Schießscharte, den kühlen Stein der Stadtmauer im Rücken. Von hier aus habe ich einen guten Blick auf den Hafen und zugleich auf die Häuser der Altstadt. Das Beste an meinem Platz ist aber, dass die Löcher in Cartagenas Schutzwall die Luft anziehen wie Kamine. In der Stadt herrscht ein feuchtwarmes, schwüles Klima. Doch an mir vorbei streicht unaufhörlich eine leichte Brise.

Nicht weit entfernt steht das ziegelrote Eckhaus, in dem Gabriel García Márquez gelebt und gearbeitet hat. Er setzte dem historischen Cartagena – und angeblich auch seinen Eltern – ein Denkmal mit dem Roman »Die Liebe in den Zeiten der Cholera«, der Geschichte von Florentino Arizas, der sein Leben lang Fermina Daza geliebt hat. Sie aber erhörte den Arzt Juvenal Urbino und wurde ihm in der Kathedrale von Cartagena angetraut. Erst nach dem Tod Urbinos, in hohem Alter, erfüllte sich Arizas’ Verlangen, und die beiden kamen zusammen. In »Von der Liebe und anderen Dämonen« erzählt García Márquez von den Grausamkeiten der Inquisition, die im 18. Jahrhundert in Cartagena sehr mächtig war. Touristen kommen in die Stadt, um die Schauplätze seiner Romane zu besuchen.

Sie kommen auch, um die alte Pracht Cartagenas zu bestaunen. Die Stadt war einst reich – ihre alten andalusischen Paläste innerhalb der Festungsmauer lassen erahnen, wie reich. Hier beluden die Spanier ihre Schiffe mit dem Gold aus den Kolonien, das ihre Kriege in Europa finanzieren sollte, und sie entluden Waffen und Pferde für die Eroberung des Kontinents. Cartagena war einer ihrer wichtigsten Handelshäfen in ganz Südamerika. Das machte die Stadt zur begehrten Beute. Piraten griffen sie über Jahrhunderte immer wieder an. Einer von ihnen war Sir Francis Drake, der Cartagena 1586 einnahm, um die zweihundert Häuser niederbrennen ließ und erst abzog, als man ihm ein Lösegeld von 107.000 Goldmünzen, Schmuck, Kirchenglocken und Waffen übergab. Danach beschlossen die Bürger, ihre Stadt mit einer Mauer zu schützen. Fast zweihundert Jahre später widerstand sie dank des Walls einer erneuten Belagerung durch die Engländer und galt fortan als uneinnehmbar.

Cartagena ist eine wehrhafte Stadt geblieben, und sie zelebriert ihre kriegerische Vergangenheit bis heute. Die kolumbianische Kriegsmarine hat in Cartagena ihren wichtigsten Stützpunkt.

Cartagena, die Heldenhafte (la heroica), die allen Angriffen widerstanden hat; die Ummauerte (la amurallada); die Stadt des Goldes und des Magischen Realismus. Das ist die offizielle Geschichte, die hier gerne erzählt und stolz vermarktet wird. Ihr fehlt jedoch ein großer Teil. Denn was meist unerzählt bleibt, ist die Geschichte der Menschen, die man in Afrika versklavte, in Schiffe pferchte, zu Tausenden nach Cartagena brachte und hier verkaufte. Sklaven mussten die Stadtmauer bauen, mit der sich ihre spanischen Herren vor Angriffen schützten. Ihr eigenes Schicksal verbesserten sie dadurch nicht.

Es gibt einen Sklavenplatz in Cartagena, die Plaza del Esclavo, aber nur wenige kennen ihn noch unter diesem Namen. Einst befand sich dort der größte Sklavenmarkt in ganz Südamerika. Heute heißt der Ort Plaza de los Coches, weil hier, direkt neben der Stadtmauer, die Kutschen parken und auf Kundschaft warten. Händler bieten unter den Arkaden Nüsse, Trockenfrüchte und Sonnenhüte feil; Touristen fotografieren die alten Gemäuer und die vier palenqueras, die auf dem Platz Mangos, Papayas und Erdbeeren verkaufen. Die dunkelhäutigen Frauen mit ihren leuchtend bunten Turbanen und Rüschenröcken geben ein malerisches Motiv ab, doch ihre Geschichte hat mit Obstverkauf reichlich wenig zu tun.

Die Spanier selbst waren im transatlantischen Sklavenhandel nicht aktiv, aber sie brauchten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und den Goldminen der Pazifikküste. Für die Sklavenschiffe anderer Kolonialmächte, vor allem der Portugiesen, wurde Cartagena deshalb zum wichtigsten Anlaufpunkt in ganz Südamerika. Im 17. Jahrhundert soll pro Jahr rund ein Dutzend dieser Schiffe hier im Hafen eingelaufen sein, an Bord eines jeden Hunderte Menschen, unter Deck mit Ketten so gefesselt, dass sie sich auf möglichst wenig Platz transportieren ließen. Wenn es stimmt, was moderne Skulpturen zeigen, wurden die Versklavten im Schiffsbauch quasi bewegungsunfähig gestapelt. Viele starben auf der Fahrt, viele andere wurden krank. Ihre Händler interessierte das nicht, für sie war die Überfahrt trotz der Verluste ein gutes Geschäft.

Manchen der Versklavten gelang in Cartagena die Flucht. Im unwegsamen Dschungel gründeten die entlaufenen cimarrones wehrhafte Siedlungen, die palenques, so genannt nach den Palisaden, die sie umgaben. Die Palenques waren die wehrhaften, ummauerten Siedlungen der Schwarzen. In ihnen fanden sie Schutz vor ihren weißen Verfolgern. Die Bewohner der Wehrdörfer wurden Palenqueros und Palenqueras genannt. Das ist die Geschichte, die hinter den vier Obstverkäuferinnen auf der Plaza steckt.

Im Dschungel an der kolumbianischen Karibikküste gibt es diese Wehrdörfer heute noch. Ein Beispiel ist San Basilio de Palenque, etwa fünfzig Kilometer von Cartagena entfernt, dessen Bewohner angeblich schon im Jahr 1691 von der spanischen Krone zu freien Menschen erklärt wurden. Sie sollen die ersten freien Schwarzen in ganz Lateinamerika gewesen sein.

Erst 1851 wurde die Sklaverei in Kolumbien verboten, da war das Land schon mehr als dreißig Jahre unabhängig. Die Lebensumstände der Befreiten verbesserten sich aber kaum. Viele von ihnen entschieden sich, eine möglichst große Distanz zwischen sich und ihre ehemaligen Herren zu legen, und zogen sich wie die Palenqueros zurück in den unwegsamen Dschungel. Bis heute ist die Bevölkerungsmehrheit in den unzugänglichsten Gebieten Kolumbiens schwarz; vor allem an der Pazifikküste, dort, wo es keine Straßen gibt und man nur mit dem Boot oder dem Flugzeug vorankommt.

An der Plaza de los Coches ist von diesem Unabhängigkeitskampf kaum etwas zu spüren. Nur am Stadttor Richtung Hafen erinnert ein Schild an die Afrikaner, die hier ihren Widerstand begannen. Seine Inschrift ermahnt jeden Bürger Kolumbiens, keinen Rassismus zu dulden. Es ist ein ziemlich neues Schild, angebracht vom Kultusministerium. Etwa zehn Prozent der Einwohner Kolumbiens haben afrikanische Wurzeln. Das Land beginnt erst jetzt, sich um ihre Geschichte zu kümmern.

Einen Ort aber gibt es in Cartagena, an dem es um die Geschichte geht: das Kloster San Pedro Claver. Es liegt ganz in der Nähe des Hafens in der Altstadt, und es ist mein nächstes Ziel.

Der Heilige der Sklaven

Wenn alle anderen schliefen, immer freitags tief in der Nacht, wanderte der Heilige durchs Kloster. Niemand sollte sehen, wie er sich selbst Schmerzen zufügte. Auf dem Kopf trug San Pedro Claver einen Dornenkranz, in der Hand hielt er ein Kreuz. Beide Gegenstände sollten ihm helfen, sich tiefer in seine Meditation zu versenken. Denn der Heilige, der im 17. Jahrhundert in einem Kloster in Cartagena lebte, wollte das Leid Jesu besser verstehen. So hat es zumindest ein Zeitgenosse von ihm aufgeschrieben.

Fünfhundert Jahre später stehe ich in Clavers ehemaliger Klosterzelle. Es ist ein schmaler, bis auf wenige Möbel karg eingerichteter Raum, in dem feuchte, warme Karibikluft steht. Es gibt zwar zwei kleine Fenster, aber sie lassen kaum ein frisches Lüftchen herein. Durch sie blicke ich auf eine Mauer, Bauzäune, Sandsäcke und ein Moped unter einem Baum. San Pedro Claver soll von hier aus den Hafen gesehen haben.

An der Wand hängt ein Schild, zu Ehren des Heiligen, das beschreibt, wie er in seiner Zelle der ständigen Plage der Stechmücken ausgesetzt war, wie er weder Licht zum Lesen und Schreiben hatte noch einen anderen Komfort. Das Bett ist schmal. Die Matratze dünn und hart. Aber San Pedro Claver, so steht da, hat ohnehin meist auf dem Boden geschlafen, den Kopf auf ein Holzscheit gestützt. Seine Zelle war vollgestopft mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten: Er selbst brauchte davon so gut wie nichts. Die Sachen waren Spenden der Leute von Cartagena für die Sklaven, denen San Pedro Claver half.

Sobald ein Sklavenschiff im Hafen einfuhr, machte er sich auf zur Mole, um den überlebenden Ankömmlingen Zwieback, Wasser, frisches Obst, Datteln, Tabak und Wein zu bringen. Die Kranken nahm er auf, um sie gesundzupflegen. Sie lagerten in einem großen Raum im Kloster, nur ein paar steinerne Stufen von seiner Zelle entfernt. Heute fällt durch die Fenster des ehemaligen Krankenzimmers helles Sonnenlicht. Draußen strahlen die Hochhäuser des modernen Cartagena mit zahnpastaweißen Yachten um die Wette.

Im Kloster zeigen Ölgemälde und Skulpturen das Leben von Pedro Claver. Der Heilige scheint ein ernster Mann gewesen zu sein, mit gleichmäßigen Gesichtszügen und schmalen, im Alter eingefallenen Wangen, der nie aus dem Kloster ging, ohne den dunklen Ordensmantel der Jesuiten anzulegen. Man sieht, wie er die Versklavten missioniert, die hoffnungsvoll zu seinen Füßen sitzen – Hunderttausende soll er getauft haben; wie er brutalen Sklavenhaltern in die Arme fällt, wenn sie die Menschen misshandeln wollten; wie er einem dankbaren Sklaven die Zukunft zeigt; wie er ehrerbietig seinem Lehrmeister zuhört, dem Ordensbruder Alonso Rodríguez. In der Personalakte sollen dem Heiligen mittelmäßige Fähigkeiten bescheinigt worden sein, außer in einem Punkt: dem spirituellen Talent für die Mission unter den Schwarzen.

Fast vierzig Jahre lang lebte Pedro Claver in Cartagena, bis er dort am 8. September 1654 nach langer Krankheit mit über siebzig Jahren starb. Zu seiner Beerdigung kam angeblich die ganze Stadt. Die Sklaverei hatte da noch fast zweihundert Jahre Bestand, und etwas mehr als zweihundert Jahre dauerte es, bis Pedro Claver 1888 heiliggesprochen wurde.

Die Verehrung für ihn könnte nicht größer sein als in diesem Kloster in Cartagena. Aber irgendetwas ist merkwürdig. Irgendetwas stört mich. Erst im Nachhinein wird es mir klar: In der Ausstellung geht es – natürlich – allein um den Heiligen. Alle Exponate rühmen seine Aufopferungsbereitschaft, die sicher außergewöhnlich war, zumal für die Zeit, in der er lebte. Doch vor lauter Bewunderung haben die Macher der Ausstellung das Verbrechen völlig aus den Augen verloren, das damals an Hunderttausenden Menschen begangen wurde, die man in die Sklaverei zwang, entwurzelte, schwer misshandelte und ermordete. Dass so viele starben, auf der Überfahrt krank wurden, von ihren Käufern geschlagen oder gar umgebracht – in dieser Ausstellung dient all das vor allem als Vehikel, um den Ruhm des Heiligen zu mehren.

Die einzige aktiv handelnde Person ist hier, im Kloster von Cartagena, der Heilige. Die Sklaven aber kommen nur als Objekte vor. Im besten Fall sind sie Empfänger seiner Mildtätigkeit. Kein Wort sehe ich in der Ausstellung beispielsweise über die Palenques, obwohl Pedro Claver sie besucht haben soll, um die geflohenen Cimarrones zu unterstützen. Deshalb galt er als Aufwiegler, obwohl der Heilige die Sklaverei als solche gar nicht bekämpfte. Er wollte den Leidenden einfach helfen.

Draußen geht ein tropischer Regenguss nieder. Ich schlendere durch den Kreuzgang, vorbei an hohen, sattgrünen Palmen und Mangobäumen, in denen Papageien krächzen.

Nebenan, in der Kirche des Klosters, gerate ich mitten in eine Generalprobe. Fünf junge Männer in blaugrauer Uniform gehen gemessenen Schrittes zum Altar. Einer trägt ein Kreuz, er geht voran. Weihrauch steigt auf. Fünf Frauen, ebenfalls in Uniform, folgen den männlichen Rekruten; eine trägt ein dickes Messbuch. Vorne am Altar beobachten ein paar Offiziere aufmerksam die Szene, dann setzt einer zu einer Rede an. Er spricht ziemlich gravitätisch und voller Pathos. Es geht um eine bedeutungsvolle Sache. Aber wegen des Halls kann ich nicht verstehen, was er sagt.

Was passiert hier? Ich frage einen der vielen Rekruten, die sich in den Kirchenbänken mit ihren Handys die Zeit vertreiben, gleichgültig gegenüber den anscheinend wichtigen Proben. Er erklärt es mir: Zum Gedenken an die ruhmreiche Seeschlacht von Maracaibo, die sich in diesen Tagen jährt, wird hier morgen früh um acht Uhr ein Festgottesdienst zelebriert. Ob ich nicht auch teilnehmen möchte?

Die Seeschlacht von Maracaibo im Jahr 1823 gilt als eine der wichtigsten im kolumbianischen und venezolanischen Unabhängigkeitskampf. Ich werde über die Einladung nachdenken. Vorher aber gehe ich am Abend noch ins Theater von Cartagena. Auf dem Programm steht eine besondere Aufführung.

Tänzer

Als ich auf dem Theatervorplatz eintreffe, dämmert es bereits. Noch sind die Türen geschlossen, aber das Publikum wartet auf Einlass. Entspannt plaudernde Leute im Studentenalter, Eltern mit jugendlichen Kindern, ältere Paare. Bekannte begrüßen ei-nander fröhlich mit Wangenküsschen. Es ist immer noch warm. Ein Händler verkauft von seiner Dreirad-Rikscha aus Wasser und Softdrinks. Ich nehme ihm eine gekühlte Cola ab.

Autos fahren vor, festlich gekleidete Gäste steigen aus. Dann öffnen sich die Türen für alle. Drinnen empfängt uns italienisch-karibischer Prunk: Türen aus weißem Carrara-Marmor, Treppen aus dem gleichen Stein, die angeblich als Ganzes mit dem Schiff über den Atlantik hierhertransportiert wurden; vergoldeter Stuck, roter Samt, Balkone, diskrete Logen, mit kunstvoll geschmiedeten Gittern voneinander getrennt. Dieses Theater wurde gebaut, um zu repräsentieren. Eröffnet wurde es am 11. November 1911 zum hundertsten Unabhängigkeitstag der Stadt.

Gleich wird hier die Compañía del Cuerpo auftreten, eine Kompagnie aus Cartagena mit eigener Tanzschule, dem Colegio del Cuerpo. Ich suche mir einen Platz weit vorne, und Álvaro Restrepo betritt die Bühne. Er bewegt sich in seiner dunklen, schlichten Kleidung auf so unauffällige Art elegant, wie nur Tänzer das können.

Wir haben uns vor zwei Jahren kennengelernt, als ich zum ersten Mal in Cartagena war und Álvaro in den Räumen seiner Kompagnie auf einem Uni-Campus außerhalb der Stadt besuchte. Die Büros waren dekoriert mit alten Tourplakaten – eines davon aus dem Kampnagel-Tanztheater in Hamburg, wo die Truppe mehrmals aufgetreten ist – und afrikanisch anmutenden Reisemitbringseln. Álvaros Familie stammt aus Cartagena. Er studierte in New York zeitgenössischen Tanz, brachte dort sein erstes eigenes Stück auf die Bühne und entschloss sich dann doch, zurück in seine Heimat zu gehen, weil er glaubte, hier mehr bewirken zu können, künstlerisch und sozial: »Wenn wir es nicht schaffen, die Ungleichheit zu überwinden, dann wird dieses Land nie Frieden finden.« Das ist der Ansporn für seine Arbeit in Cartagena, auf den Punkt gebracht in einem Satz.

Kolumbien ist ein wirtschaftlich tief gespaltenes Land. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich ist hier größer als in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas, und in Cartagena ist sie besonders groß. Die Gesellschaft der Stadt sei sehr verschlossen, sagt Álvaro. »In gewisser Weise steckt die Mauer noch in den Köpfen.« Sie zu durchbrechen, dazu soll seine Tanzschule beitragen. »Ich hatte schon immer diese Obsession: zu erreichen, dass diese Gesellschaft sich als ein einziger Körper versteht. Nicht so fragmentiert.« Kunst und Bildung hätten die Macht zu zeigen, dass Menschen allein aufgrund ihrer Person wertvoll seien. »Wertvoll wegen ihres Talents«, sagt Álvaro, »nicht, weil sie etwas besitzen.«

Seit fast zwanzig Jahren unterrichtet das Colegio del Cuerpo in Cartagena nun schon Kinder aus den Armenvierteln in zeitgenössischem Tanz. Zuerst nahmen nur rund zwei Dutzend Kinder an der Ausbildung teil. Inzwischen aber haben rund 8.500 Jungen und Mädchen die Kurse durchlaufen. Manche von ihnen waren so gut, dass sie das Tanzen zu ihrem Beruf gemacht haben. So entstand im Laufe der Zeit die Compañía del Cuerpo. Auch Wilfran Barrios, der Vater von David aus der Trommelschule, hat früher im Colegio del Cuerpo getanzt. Heute ist er Direktor seiner eigenen Tanztruppe, der Corporación Cultural Atabaques, benannt nach einer Trommel.

»Ich dachte, dass es hier Talent gibt, bei dem ganzen afro-mestizischen Erbe der Stadt«, sagt Álvaro, »ich wusste nur nicht, wie viel.«

»Ich dachte, dass es hier Talent gibt. Ich wusste nur nicht, wie viel.« Álvaro Restrepo, Tänzer, Choreograph und Direktor der Compañía del Cuerpo

Als ich ihn vor zwei Jahren traf, waren in Kolumbien gerade Sommerferien, und auch das Colegio und die Compañía del Cuerpo machten Urlaub. Heute will ich seine Schüler tanzen sehen.

Auf der Bühne stellt Álvaro mittlerweile das Konzept seiner Tanzschule vor. »Wir sind eine Gemeinschaft von Menschen, die die gleiche Würde haben«, sagt er. »Und wir sind wie ein Tier, das auf vier Beinen stehen muss, um graziös gehen zu können. Ein Bein ist die Bildung. Das andere die Kunst. Das dritte das soziale Engagement. Und das vierte die Politik. Alle Beine sind gleich wichtig.«

Auf dem Programm steht ein Querschnitt durch die Arbeit der Schule. Im Laufe des Abends werden die Profis tanzen, die Kinder und auch die Jugendlichen, die schon sehr fortgeschritten sind. Zwei von ihnen stehen kurz vor der Aufnahme in die Kompagnie. Álvaro wird immer wieder erklären, was sie tun und mit welchem Ziel.

Die Profis eröffnen das Programm. Ein Leonard-Cohen-Stück erklingt vom Band, gesungen von Cohen im Duett mit Sharon Robinson: Alexandra Leaving. Auf der Bühne tanzen sie dazu ein intimes, poetisches Spiel aus Annäherung und Distanz. Ein Paar begegnet sich, umgarnt sich, verknotet sich ineinander und löst sich wieder; manchmal sieht es so aus, als würden beide Partner einander tragen. Das Duett dauert, bis einer von beiden in die Kulissen eilt und von einem anderen Tänzer abgelöst wird. Oder von einer Tänzerin, denn das Geschlecht spielt hier keine Rolle.

Tanz sei eine Metapher für die Liebe, sagt Álvaro. Denn um gut zu tanzen, müsse man miteinander arbeiten – nicht gegeneinander, wie beim Wettkampfsport. Man müsse den eigenen Körper kennen, aber auch den Körper des anderen achten und auf ihn eingehen. Seine Schüler sollen genau das lernen. Es zu unterrichten ist für Álvaro ganz praktische Versöhnungsarbeit: »Indem wir mit diesen Jugendlichen arbeiten, entziehen wir dem Krieg den Nachschub an Leuten. Das hilft uns, das Land aufzubauen, das wir alle verdienen. Und schließlich in Frieden zu leben.«

Versöhnung für Kolumbien – das Ziel taucht in Álvaros Arbeit immer wieder auf. Inxilio heißt eines seiner Stücke, ein aus zwei Wörtern zusammengesetztes Kunstwort, das so viel bedeutet wie internes Exil. In Kolumbien leben rund sechs Millionen Menschen als Vertriebene im eigenen Land. Mehr gibt es nur noch in Syrien. In Inxilio kommen die Überlebenden des kolumbianischen Bürgerkriegs zu Wort. Und bei einer Aufführung vor vier Jahren in Medellín trat Präsident Santos auf der Bühne in Dialog mit ihnen. Álvaro sagt, es sei eine »Hommage und ein symbolisches Wiedergutmachungsritual« für die Opfer des Krieges.

Jetzt betreten die Schüler des Colegio del Cuerpo die Bühne. Sie tragen dunkle Trikothosen, schlichte T-Shirts, sind barfuß und zeigen, hochkonzentriert, Grundpositionen des klassischen Balletts. Álvaro erklärt dem Publikum, wie wichtig Disziplin und die Freude am Training sind. Dann lässt er die Kinder wild über die Bühne springen, »so verrückt wie ihr nur könnt!« Sie sollen sich möglichst viel Freiraum nehmen, ohne einander dabei in die Quere zu kommen. Auf Álvaros’ Zeichen stoppt die wilde Jagd. Jedes Kind hält seine Pose, manche seltsam verrenkt mit einem Bein in der Luft und schiefem Oberkörper. Manche wackeln. Aber viele schaffen es doch, die Körperspannung zu halten und bewegungslos zu verharren. Sie kriegen ein besonderes Lob vom Chef.

Dann tragen Jugendliche einander über die Bühne. Den Partner sicher von einem Ort zum anderen zu bringen, lautet ihr Auftrag. Die getragen werden, klammern sich an ihre Partner, manche in merkwürdiger Haltung, sogar kopfüber hängend. Die Träger gehen sehr aufrecht, sehr langsam, sehr sicher, und sie blicken sehr fokussiert geradeaus. »Die karibische Kultur ist laut und sehr extrovertiert«, sagt Álvaro später. »Sie glauben gar nicht, wie viel Arbeit es war, diese meditative Konzentration zu erreichen.«

Die schwarze Geschichte Cartagenas begegnet mir auch hier wieder, ganz am Ende des Abends, als die Profis einen Ausschnitt ihres neuen Stücks Negra/Anger präsentieren: die Wut der Schwarzen. Das Stück bezieht sich auf einen Begründer der Négritude, Aimé Césaire, der zu der Zeit, als die europäischen Kolonien unabhängig wurden, für die politische und kulturelle Selbstbestimmung der Schwarzen kämpfte. Es thematisiert die Verschleppung der Versklavten über den Atlantik; es erzählt von der Sängerin Nina Simone, die sich gegen ein Land auflehnte, das sie nicht als das ihre empfand; und schließlich zitiert es die peruanische Choreografin und Komponistin Victoria Santa Cruz, die ein starkes Gedicht über Rassismus und Selbstbewusstsein geschrieben hat. Dann stehen zweiunddreißig Tänzerinnen und Tänzer am Bühnenrand und schreien die Worte der Peruanerin ins Publikum, wütend, herausfordernd, stolz: Negra! Negra! Negra! Negra! Negra Soy. Also: Ja, ich bin schwarz!

Später finde ich das Gedicht im Netz. Es geht so:

Tenía siete años apenas,

¡Qué siete años!

¡No llegaba a cinco siquiera!

De pronto unas voces en la calle

me gritaron ¡Negra!

¡Negra! ¡Negra! ¡Negra! ¡Negra! ¡Negra! ¡Negra! ¡Negra!

(…)

Y me sentí negra,

¡Negra!

Como ellos decían

¡Negra!

Y retrocedí

¡Negra!

Como ellos querían

¡Negra!

(…)

Hasta que un día que retrocedía, retrocedía y qué iba a caer

(…)

¿Y qué?

¿Y qué?

¡Negra!

Si

¡Negra!

Soy

(…)

De hoy en adelante no quiero

laciar mi cabello

No quiero

Y voy a reírme de aquellos,

que por evitar -según ellos-

que por evitarnos algún sinsabor

Llaman a los negros gente de color

¡Y de qué color!

NEGRO

¡Y qué lindo suena!

NEGRO

¡Y qué ritmo tiene!

NEGRO NEGRO NEGRO NEGRO

NEGRO NEGRO NEGRO NEGRO

NEGRO NEGRO NEGRO NEGRO

NEGRO NEGRO NEGRO

Al fin

Al fin comprendí

AL FIN

Ya no retrocedo

AL FIN

Y avanzo segura

AL FIN

Avanzo y espero

AL FIN

(…)

NEGRO NEGRO NEGRO NEGRO

NEGRO NEGRO NEGRO NEGRO

NEGRO NEGRO NEGRO NEGRO

NEGRO NEGRO

¡Negra soy¡