Inhalt



Paul Kearney

Die Königreiche Gottes 4

Das zweite Imperium

Ins Deutsche übertragen von Michael Krug

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
August 2017

Alle Rechte vorbehalten

Das Original erschien 2000 bei Victor Gollancz Ltd
The Second Empire – Monarchies of God 4
© 2000 by Paul Kearney
Published by Arrangement with Paul Kearney

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski

ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-493-1
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-530-3

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich

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Für John McLaughlin

Was zuvor geschah …

Vor fünf Jahrhunderten erhoben sich zwei große Glaubensrichtungen, welche die gesamte bekannte Welt beherrschen sollten. Ihre Wurzeln hatten sie in den Lehren zweier Männer: im Westen in jenen des Heiligen Ramusio, im Osten in jenen des Propheten Ahrimuz.

Der Aufstieg des ramusischen Glaubens begann zur selben Zeit, als der Zerfall des fimbrischen Imperiums, das sich über den ganzen Kontinent erstreckte, seinen Anfang nahm. Die besten Soldaten, welche die Welt je gekannt hatte, waren in einen erbittert geführten Bürgerkrieg verstrickt, der es den von ihnen eroberten Provinzen ermöglichte, sich eine nach der anderen abzuspalten. Aus diesen Provinzen wurden die Sieben Königreiche. Fimbrien verblasste zu einem Schatten seines früheren Selbst; die Truppen des Reiches waren zwar nach wie vor Ehrfurcht gebietend, doch man richtete das Augenmerk ausschließlich auf Probleme innerhalb der eigenen Grenzen. Und die Stärke der Sieben Königreiche wuchs – bis die ersten Heerscharen der Merduks über die Berge von Jafrar strömten und die Zahl der Sieben Königreiche bald auf fünf verminderte.

Und so kam es zum großen Streit zwischen den Ramusiern des Westens und den Merduks des Ostens – ein immer wieder aufflammender und unbarmherziger Krieg, der sich über Generationen erstreckte und schließlich, im sechsten Jahrhundert nach ramusischer Zeitrechnung, seinen Höhepunkt erreichte.

Denn Aekir, die bedeutendste Stadt des Westens und Sitz des ramusischen Pontifex, fiel letztlich im Jahre 551 den Invasoren in die Hände. Zwei Männer entkamen den Wirren beim Untergang der Stadt – zwei Männer, deren Überleben ungeahnte Folgen für die künftige Geschichte haben sollte. Einer der beiden war der Pontifex selbst‚ Macrobius, der in den übrigen ramusischen Königreichen und der Kirchenhierarchie tot geglaubt wurde. Der andere war Corfe Cear-Inaf, ein gemeiner Reitereifähnrich, der nach dem Verlust seiner Frau in den Wirren beim Fall der Stadt voller Verzweiflung desertierte und seinen Posten verließ.

Mittlerweile jedoch hatte die ramusische Kirche einen anderen Pontifex gewählt – Himerius, der sogleich begann, die Fünf Königreiche samt und sonders der Dweomer zu entledigen, eines Volkes von Magiern. Die Vernichtung der Dweomer trieb Hebrions jungen König, Abeleyn, dazu, eine schier aussichtslose Erkundungsfahrt in den äußersten Westen zu bewilligen, um den sagenumwobenen Westlichen Kontinent zu suchen, ein Unterfangen, das von seinem gleichermaßen ruchlosen wie ehrgeizigen Vetter, Fürst Murad von Galiapeno, geleitet wurde. Durch Erpressung brachte Murad einen meisterhaften Seemann, einen gewissen Richard Hawkwood, dazu, die Reise anzuführen. Als Fahrgäste und mögliche Kolonisten nahmen sie einige der auf der Flucht befindlichen Dweomer von Hebrion mit, einschließlich eines gewissen Bardolin von Carreirida. Doch als sie endlich in den sagenumwobenen Westen gelangten, stellten sie fest, dass dort bereits seit Jahrhunderten eine Kolonie von Lykanthropen und Hexern unter der Schirmherrschaft eines unsterblichen Erzmagiers namens Aruan lebte. Ihr Erkundungstrupp wurde ausgelöscht; allein Murad, Hawkwood und Bardolin überlebten.

In Normannien entzweite sich die ramusische Kirche vollends, da drei der Fünf Königreiche Macrobius als den wahren Pontifex anerkannten, während die anderen den neu gewählten Himerius bevorzugten. Ein Glaubenskrieg entbrannte, in dem die drei sogenannten Ketzerkönige – Abeleyn von Hebrion, Mark von Astarak und Lofantyr von Torunna – darum kämpften, ihre Throne zu behalten. Was allen dreien gelang, doch Abeleyn hatte den härtesten Kampf auszufechten. Er musste seine eigene Hauptstadt Abrusio zu Lande und zu Wasser erstürmen, wobei er sie zur Hälfte zerstörte. Im Augenblick des endgültigen Sieges traf ihn ein verirrtes Geschoss, das ihn in einen tiefen Dämmerzustand schleuderte.

Während Abeleyn dahinvegetierte, behütet von seinem getreuen Zauberer Golophin, entbrannte ein Machtkampf. Abeleyns Mätresse, Jemilla, versuchte, einen Regentschaftsrat zu errichten, der über das Königreich herrschen und das Thronfolgerecht ihres ungeborenen Kindes – angeblich auch jenes des Königs – anerkennen sollte. Golophin und Isolla, Abeleyns Verlobte aus Astarak, bemühten sich ihrerseits, Jemillas Bestreben zu vereiteln. Nachdem die Zauberkräfte des völlig ausgezehrten Golophin durch einen unerwarteten Eingriff von Aruan aus dem Westen wiederhergestellt waren, weckte Golophin den König aus seinem Dämmerzustand und ersetzte dessen fehlende Beine durch magische Glieder aus Holz.

Überall auf dem Kontinent befanden sich die Königreiche Gottes in einem Zustand fieberhaften Wandels. In Almark hinterließ der sterbende König Haukir sein Reich der himerischen Kirche, wodurch diese über Nacht zu einer bedeutenden weltlichen Macht erstarkte. Der Mann an der Spitze der neuen Macht war in Wirklichkeit eine Marionette Aruans, jenes Hexers aus dem Westen, und nach einem schrecklichen und qualvollen Weiheritual wurde er, wie sein Meister, zum Werwolf.

Und in Charibon stießen zwei seiner weniger erhabenen geistlichen Brüder, Albrec und Avila, auf ein uraltes Dokument, eine Lebensgeschichte des Heiligen Ramusio, aus der hervorging, dass Ramusio und der Prophet Ahrimuz der Merduks ein und derselbe waren. Die beiden der Ketzerei schuldigen Mönche flohen aus Charibon, doch erst nach einer grauenvollen Begegnung mit dem Oberbibliothekar der Klosterstadt, der sich ebenfalls als Werwolf entpuppte. Sie flüchteten mitten hinein in einen mittwinterlichen Schneesturm und wären wohl darin umgekommen, hätte sie nicht eine vorbeiziehende fimbrische Armee gerettet, die unterwegs nach Osten war, um die Torunnen bei ihrem Kampf gegen die Merduks zu unterstützen. So bewältigten die beiden Mönche schließlich den beschwerlichen Weg nach Torunn, wo sie Macrobius mit dem folgenschweren Wissen konfrontierten, das sie mit sich führten.

Weiter östlich wurde die bedeutende torunnische Feste von Ormann, bei deren Verteidigung Corfe sich auszeichnete, zur Zielscheibe der gebündelten Sturmangriffe der Merduks. Corfe wurde befördert. Nachdem die torunnische Königswitwe Odelia auf ihn aufmerksam geworden war, erhielt er den Auftrag, die aufrührerischen Adeligen im Süden des Königreichs in die Schranken zu weisen. Dieses Unterfangen nahm er mit einer bunt zusammengewürfelten, kärglich ausgerüsteten Bande ehemaliger Galeerensklaven in Angriff – mehr gestand der torunnische König ihm nicht zu. Corfe, ständig von der Erinnerung an seine verloren geglaubte Gemahlin heimgesucht, wusste nicht, dass sie Aekirs Untergang in Wahrheit überlebt hatte und mittlerweile die Lieblingskonkubine des Sultans Aurungzeb höchstpersönlich war – und dessen Kind im Leib trug.

Die Merduks ließen schließlich von den Sturmangriffen ab, die sie teuer mit den Leben ihrer Soldaten bezahlten, und wichen auf dem Seeweg an die Flanken der Feste von Ormann aus, wodurch sie den Abzug der torunnischen Verteidiger erzwangen. Die auf dem Rückzug befindliche Garnison schloss sich mit den Fimbriern zusammen, die zu spät zu ihrer Verstärkung eingetroffen waren. Die vereinte Streitmacht wäre an den Nordausläufern vom Antlitz der Erde gefegt worden, hätte Corfe nicht seine Befehle missachtet und sein eigenes Kommando gen Norden geführt, um sie aus dem Würgegriff der feindlichen Heerscharen zu befreien. Am Ende schrumpften beide Armeen auf die Hälfte. Dank der torunnischen Königsmutter wurde Corfe zum General des Restheeres ernannt. Er und Odelia wurden ein Liebespaar, was für die geschwätzigen Höflinge ein gefundenes Fressen war und den jungen König Lofantyr zusätzlich gegen ihn aufbrachte.

Lofantyr führte die gesamte verbliebene Armee Torunnas zu einem letzten, verzweifelten Versuch ins Feld, dem Vormarsch der Merduks Einhalt zu gebieten, und kam bei einer gewaltigen Schlacht ums Leben. Corfe gelang es, das Gemetzel doch noch in eine Art Sieg umzukehren und die Armee abermals nach Hause zu führen. Diesmal wurde er zum Oberbefehlshaber ernannt.

Das Jahr 551 war zu Ende und ein weiteres Kapitel in Normanniens bewegter Geschichte sollte geschrieben werden. Jenseits des Horizonts befand sich Richard Hawkwoods übel zugerichtetes Schiff endlich auf der entbehrungsreichen Heimreise und brachte Kunde von der schrecklichen Neuen Welt im Westen.

Prolog

Die behelfsmäßige Pinne sträubte sich unter ihren Händen, peitschte schmerzhaft gegen Rippen. Gemeinsam mit den anderen presste Hawkwood sie mit zusammengebissenen Zähnen fester gegen die wunde Brust. Durch seine Gedanken jagte ein Sturm wüster Flüche – eine hilflose Wut, die den Wind, das Schiff, das Meer selbst und die weite, gleichgültige Welt verfluchte, über deren Antlitz sie in wilder Fahrt segelten.

Der Wind drehte einen Strich. Hawkwood spürte, wie er ihm frostig und regenschwer ans rechte Ohr fuhr. Mit krächzender Stimme, die den tosenden Sturm kaum zu übertönen vermochte, rief er: »Brasst die Rah, der Wind dreht sich! Brasst die Großrah herum oder Gott möge euch verrotten lassen!«

Weitere Männer erschienen auf dem von den Wogen überschwemmten Deck, taumelten aus ihren Verstecken hervor und wankten über das auf und ab tauchende Mittelschiff der Karacke. Sie alle waren in Lumpen gehüllt; einige sahen wie einstige Soldaten aus, da ihnen die Überreste von Uniformen um die Oberkörper flatterten. Sie wirkten unbeholfen und schwerfällig in der bitteren, alles durchtränkenden Gischt und vermittelten eher den Eindruck, in ein Krankenbett zu gehören als auf das Deck eines sturmgebeutelten Schiffes.

Aus den Tiefen des stampfenden Kahns hallte ein entsetzliches, knurrendes Grollen empor, das anschwoll, bis es die schrille Kakofonie des Windes, der rauschenden Wellen und des ächzenden Takelwerks übertönte. Es hörte sich wie eine riesige, eingesperrte Bestie an, die ihre Bösartigkeit in die Welt hinausbrüllte. Die Männer hielten in ihrer Arbeit an der triefnassen Takelung inne und einige schlugen das Heiligenzeichen vor der Brust. Einen Lidschlag lang lichtete blankes Grauen den Nebel der Erschöpfung, der ihre Augen umwölkte. Dann wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Die Männer im Heck spürten, wie der Zug der Pinne leicht nachließ, als die Rahen herumgebrasst wurden, um sie vor den sich drehenden Wind zu manövrieren. Mittlerweile wehte er achtern der Backbordseite herein und die Karacke preschte vorwärts wie ein Pferd durch tiefen Schnee, segelte nur unter einem gerefften Großsegel, während die anderen sich an den Rahen blähten, und wo sich einst die Besanmarsstange befunden hatte, prangte nur noch ein Stumpf, um den die schwarzen Stränge zerfetzter Wanten flatterten.

Nicht mehr ganz so weit, dachte Hawkwood und drehte sich zu seinen drei Gefährten um.

»Jetzt, da der Wind vom Hinterschiff reinweht, wird’s ein bisschen weniger rau.« Er musste schreien, um sich über den Sturm hinweg Gehör zu verschaffen. »Aber sorgt dafür, dass es so bleibt. Wenn der Wind zulegt, müssen wir vor ihm herfahren und sind dazu verflucht‚ nur noch zu navigieren.«

Einer der Männer, die bei Hawkwood am Ruder standen, war ein hochgewachsener, hagerer, bleicher Kerl mit einer hässlichen Narbe, die eine Seite seiner Stirn und Schläfe entstellte. An seinem Rücken klebten die Überbleibsel von Reitleder.

»Wir wurden schon vor langer Zeit verflucht, Hawkwood, und unser Unterfangen mit uns. Es wäre besser, den Kampf aufzugeben und das Schiff mit dieser Scheußlichkeit im Frachtraum sinken zu lassen.«

»Er ist mein Freund, Murad«, spie Hawkwood ihm entgegen. »Und wir sind fast zu Hause.«

»Ach was, zu Hause! Und was wollt Ihr aus ihm machen, wenn wir dort eintreffen? Einen Wachhund?«

»Er hat uns das Leben gerettet …«

»Nur weil er mit den Ungeheuern aus dem Westen unter einer Decke steckt.«

»… ein Meister, Golophin, wird in der Lage sein, ihn zu heilen.«

»Wir sollten ihn über Bord werfen!«

»Tut das und Ihr könnt diesen Kahn alleine steuern – mal sehen, wie weit Ihr kommt.«

Mit unverhohlenem Hass funkelten die beiden einander an, bis Hawkwood sich schließlich umdrehte und sein Gewicht wieder mit den anderen gegen die bebende Pinne stemmte‚ um die Karacke auf ihrem Ostkurs zu halten, Richtung Heimat.

Und im Laderaum unter ihnen heulte die Bestie in Einklang mit dem Sturm.

Sechsundzwanzigster Tag des Miderialon, im Jahr des Heiligen 552.

Drehender Wind aus Nordnordwest. Schwerer Sturm. Kurs Südsüdost unter gerefftem Großsegel vor dem Wind. Drei Fuß hoch Wasser im Laderaum, die Pumpen kommen kaum nach.

Hawkwood hielt mit dem Schreiben inne. Die Knie hatte er gegen den schweren, am Boden befestigten Tisch in der Mitte der Heckkabine gestemmt, das Tintenfass war fest von seiner linken Faust umklammert; trotzdem hatte er Mühe, sich auf dem Sitz zu halten. Eine stürmische, nachlaufende See, und die Karacke gebärdete sich mangels Ballast wild und unberechenbar; das Wasser im Laderaum schwappte mit jedem Stampfen. Zumindest spürte man bei einem Heckwind das Fehlen des Besans nicht so sehr. Als das Schaukeln des Schiffes ein wenig nachließ, schrieb Hawkwood weiter.

Von den zweihundertsechsundsechzig Seelen, die Abrusios Hafen vor etwa siebeneinhalb Monaten verlassen haben, sind nur noch achtzehn übrig. Der arme Garalvo wurde in der Mittelwache über Bord gespült, möge Gott seiner Seele gnädig sein.

Wieder hielt Hawkwood einen Augenblick inne und schüttelte den Kopf, als er an den bedauerlichen Vorfall dachte. Das Massaker im Westen und all das andere Grauen zu überleben – nur um zu ertrinken, als die heimatlichen Gewässer beinahe in Sicht waren!

Mittlerweile sind wir seit fast drei Monaten auf See, und per Koppelung schätze ich unseren Ostwert auf fünfzehnhundert Wegstunden, obwohl wir etwa halb so weit wieder nach Norden geraten sind. Aber nun lassen uns die Südwinde im Stich und wir werden neuerlich vom Kurs abgetrieben. Nach Jakobsstabpeilung entspricht unsere geografische Breite ungefähr der Gabrions. Der Wind muss sich weiter drehen, wenn er uns ermöglichen will, irgendwo in Normannien Land zu sichten. Unser Leben liegt in Gottes Händen.

»Gottes Hände«, murmelte Hawkwood. Meerwasser troff aus seinem Bart auf das zerfledderte Bordtagebuch und er tupfte es hastig auf. Die Kabine stand knöcheltief unter Wasser, so wie jedes Schott des Schiffes. Sie alle hatten längst vergessen, wie es sich anfühlte, trocken zu sein oder einen vollen Magen zu haben. Einige von ihnen hatten lose und verrottende Zähne; Narben, die vor zehn Jahren verheilt waren, begannen wieder zu nässen – alles Anzeichen von Skorbut.

Wie war es so weit gekommen? Was hatte ihre stolze, stattliche kleine Flottille dermaßen zerrüttet? Natürlich kannte Hawkwood die Antwort; er kannte sie nur allzu gut. Sie hielt ihn die Nachtwache hindurch hellwach, obwohl sein zu Tode erschöpfter Körper sich nach Vergessenheit sehnte. Die Antwort knurrte und brüllte im Laderaum seiner armen Osprey. Sie geisterte durch Murads mitternächtliche, von Krämpfen gebeutelte Albträume.

Er stöpselte das Tintenfass zu und faltete das Bordtagebuch in mehrere Lagen Öltuch. Auf dem Tisch vor ihm lag ein schlaffer Weinbeutel, den er sich um den Hals hängte. Dann watete und wankte er durch die stampfende Kabine zur Tür im gegenüberliegenden Schott und trat über das Sturmsüll in den Niedergang dahinter. Dort war es ebenso dunkel wie in jedem Schott des Schiffes. Sie hatten kaum noch Kerzen und nur noch ein, zwei kostbare Pint Öl für die Sturmlaternen. Eine Laterne hing schaukelnd an einem Haken im Niedergang. Hawkwood ergriff sie und ging weiter zu einer Luke im Deck, die hinunter in den Frachtraum führte. Dort zögerte er, während das Schiff rings um ihn stampfte und ächzte und ihm das Meerwasser um die Knöchel schwemmte. Er stieß einen lauten Fluch aus und machte sich daran, den Lukendeckel zu öffnen. Schließlich hob er ihn von einem gähnenden Loch und ließ sich behutsam über die Leiter in die pechschwarze Finsternis hinab.

Am Fuß der Leiter klemmte er sich in eine Ecke und fingerte nach dem Feuerstein und Stahl, die sich in einem Fach im Boden der Sturmlaterne befanden. Eine qualvolle, schier unerträgliche Weile schlug er Funken um Funken, bis einer den ölgetränkten Docht der Laterne entflammte und Hawkwood das dicke Glas herabsenken und die Lampe in eine Pfütze aus gelbem Licht stellen konnte.

Der Frachtraum war gespenstisch leer. Er enthielt lediglich ein Dutzend Fässer voll verfaulendem Pökelfleisch und übel riechendem Wasser – die letzten Vorräte der Besatzung. Überall drang Wasser herein; die Geräusche seiner armen, geplagten Osprey klangen wie eine misstönende Symphonie aus Quietschen und Stöhnen; die See brüllte draußen um den gemarterten Schiffskörper herum wie ein wildes Tier. Hawkwood legte eine Hand auf die Spanten des Kahns und spürte, wie sie auseinanderquollen, während die Osprey sich durch die windgepeitschten Wogen kämpfte. Wergstücke trieben im Wasser rings um seine Beine. Die Nähte öffneten sich. Kein Wunder, dass die Männer an den Pumpen nicht nachkamen. Das Schiff lag im Sterben.

Von unterhalb seiner Füße drang das Heulen eines Tieres empor, so laut, dass es sich mit dem jaulenden Tosen des Windes messen konnte. Hawkwood zuckte zusammen; dann stolperte er vorwärts zu einer weiteren Luke, die in das unterste Schott des Schiffes führte, in die Bilge.

Hier unten stank es. Der Ballast der Osprey war seit Langem nicht gewechselt worden und die tropische Hitze des Westlichen Kontinents schien ihm einen besonders widerwärtigen Moder verliehen zu haben. Doch es war nicht allein der Ballast, der so entsetzlich stank. Hier unten roch es noch nach etwas anderem. Es erinnerte Hawkwood an die Tiergehege eines Wanderzirkus – jener moschusartige Mief eines großen Tieres. Mit hämmerndem Herzen hielt er inne; dann zwang er sich weiterzugeben, wobei er sich tief unter den Decksbalken hindurchbückte. Die hin und her schwingende Laterne erzeugte ein wirres Schattenspiel aus Licht, Dunkel und schwappendem Nass. Das Wasser reichte Hawkwood schon bis über die Knie.

Irgendetwas war vor ihm, etwas, das sich im flüssigen Dreck der Bilge bewegte. Das Klirren von Metall auf Metall. Das Geschöpf erblickte ihn und ließ von seinem mühevollen Treiben ab. Zwei gelbe Augen schimmerten in der Finsternis. Kaum zwei Meter von der Stelle, an der die Kreatur unmittelbar an das Kielschwein der Karacke gekettet war, blieb Hawkwood stehen.

Die Bestie blinzelte; dann ertönten verständliche Worte, die sich aus der Tierschnauze entsetzlich anhörten.

»Kapitän. Wie nett von dir, mich besuchen zu kommen.«

Hawkwoods Mund fühlte sich trocken wie Sand an. »Sei gegrüßt, Bardolin«, brachte er hervor.

»Bist du gekommen, um dich zu vergewissern, dass die Bestie noch in ihrem Verschlag ist?«

»So ist es.«

»Sinken wir bald?«

»Noch nicht – wenigstens noch nicht gleich.«

Der riesige Wolf bleckte die Fänge zu einer Art Grinsen. »Nun, dann müssen wir wohl dankbar sein. «

»Wie lange wirst du noch so bleiben?«

»Keine Ahnung. Allmählich lerne ich es zu beherrschen. Heute Vormittag – war es Vormittag? Hier unten kann man das nicht so genau sagen. jedenfalls blieb ich beinahe eine halbe Wache lang menschlich. Zwei Stunden lang.« Ein tiefes Knurren entrang sich der Kehle des Ungeheuers; ein Laut, der an ein Stöhnen erinnerte. »Im Namen Gottes, warum lässt du nicht zu, dass Murad mich tötet?«

»Murad ist wahnsinnig. Du bist es nicht, trotz dieser … Sache, die dir widerfahren ist. Wir waren Freunde, Bardolin. Du hast mir das Leben gerettet. Wenn wir zurück in Hebrion sind, bringe ich dich zu deinem Meister, Golophin. Er wird dich heilen.« Selbst in Hawkwoods eigenen Ohren hörten sich die Worte bedeutungsleer an. Er hatte sie zu oft wiederholt.

»Das glaube ich nicht. Es gibt keine Heilung für die schwarze Veränderung.«

»Das werden wir sehen«‚ beharrte Hawkwood. Ihm fielen die Pökelfleischbrocken auf, die im schmutzigen Wasser der Bilge trieben. »Kannst du nicht essen?«

»Mich lüstet nach frischerem Fleisch. Die Bestie lechzt nach Blut. Ich bin machtlos‚ kann nichts dagegen tun.«

»Bist du durstig?«

»Sehr.«

Hawkwood nahm den Weinbeutel vom Hals, zog den Stöpsel heraus und hängte die Laterne an einen Haken im Schiffskörper. Dann bewegte er sich halb kriechend vorwärts und versuchte, nicht ob des Gestanks zu würgen, der rings um ihn aufstieg. Die Hitze, die das Tier vor ihm abstrahlte, wirkte überirdisch, widernatürlich. Er musste sich sehr überwinden, sich näher heranzuwagen. Als der Kopf der Bestie sich nach hinten neigte, setzte Hawkwood den Hals des Weinbeutels an die Schnauze des Ungetüms und ließ es trinken. Eine schwarze Zunge leckte jeden Tropfen der Flüssigkeit auf.

»Danke, Hawkwood«, sprach der Wolf. »Und nun lass mich etwas versuchen.«

Ein Schimmer ließ die Luft verschwimmen – und dann geschah etwas, dem Hawkwoods Augen nicht zu folgen vermochten. Das schwarze Fell des Ungetüms bildete sich zurück und binnen weniger Lidschläge war es Bardolin, der Magier, der dort kauerte, nackt, mit zottigem Bart. Sein Körper war übersät mit wunden Stellen, die das Salzwasser verursacht hatte.

»Schön, dass du wieder da bist«, meinte Hawkwood mit einem matten Lächeln.

»So fühlt es sich schlimmer an. Ich bin schwächer. In Gottes Namen, Hawkwood – ein Schnitt, und ich bin erlöst.«

»Nein.« Die Ketten, die Bardolin fesselten, bestanden aus Bronze, geschmiedet aus dem Metall einer der Falkonetten des Schiffes. Sie waren derb gefertigt und ihre Kanten hatten seine Haut an den Knöcheln und Handgelenken zu blutigem Fleisch aufgeschürft, doch jedes Mal, wenn Bardolin sich in die Bestie und wieder zurück verwandelte, heilten die Wunden ein wenig. Hawkwood wusste, dass es einer endlosen Folter gleichkam, doch es gab keine andere Möglichkeit, den Wolf zu fesseln.

»Es tut mir leid, Bardolin … War er inzwischen wieder hier?«

»Ja. Er erscheint in den Nachtwachen und hockt dort, wo du jetzt stehst. Er sagt, ich wäre sein, ich würde eines Tages seine rechte Hand werden. Und ich ertappte mich dabei, dass ich ihm glaubte, Hawkwood.«

»Kämpf dagegen an. Besinn dich darauf, wer du bist. Lass den Dreckskerl nicht gewinnen.«

»Wie lange noch? Wie weit haben wir es noch?«

»Nicht mehr weit. Noch eine Woche, vielleicht zehn Tage. Weniger, wenn der Wind dreht. Das ist nur eine vorüberziehende Bö – schon bald wird sie sich selbst verblasen.«

»Ich weiß nicht, ob ich so überleben kann. Es frisst sich in meinen Verstand wie eine Made … weicht zurück, doch es kommt wieder, immer wieder. Gütiger Gott! «

Bardolin schrie und sein Körper bäumte sich auf, riss an den Ketten, die ihn niederhielten. Sein Gesicht schien sich explosionsartig nach außen zu bauschen. Das Gellen verwandelte sich in das zornige, schmerzerfüllte Gebrüll eines Tieres. Vor Hawkwoods entsetzten Augen krümmte sich Bardolins Leib, schwoll an, knackte und knarrte auf übelkeiterregende Weise. Auf seiner Haut spross Fell und zwei horngleiche Ohren schossen aus seinem Schädel hervor. Der Wolf war zurückgekehrt. Gequält heulte er auf und zerrte an den Ketten. Zutiefst erschüttert wich Hawkwood zurück.

»Töte mich! Töte mich! Gib mir Frieden!«‚ kreischte der Wolf und dann lösten sich die Worte in einem Gebrüll blanken Wahnsinns auf. Hawkwood ergriff die Sturmlaterne und zog sich durch die modrige Brühe der Bilge zurück, überließ Bardolin in der Dunkelheit des Schiffsbauch seinem Kampf um seine Seele.

Welcher Gott erlaubte solche Abscheulichkeiten auf der Welt, die er geschaffen hatte? Was für ein Mensch musste man sein, um einem anderen so etwas zuzufügen?

Hawkwoods Gedanken wurden zurückgerissen an jenen schauderhaften Ort der Hexerei, des Gemetzels, des smaragdgrünen Dschungels: der Westliche Kontinent. Sie hatten versucht, dort eine neue Welt für sich zu beanspruchen – und es endete damit, dass sie um ihr Leben rannten. Hawkwood erinnerte sich an jede stickige, von Grauen erfüllte Stunde. Im von den Wogen hin und her geschleuderten Kadaver seines einst so stolzen Schiffes tauchte unwillkürlich wieder alles lebhaft vor seinem geistigen Auge auf …

Teil I.
Die Rückkehr des Seemanns