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Kurzbeschreibung:

Die komplette Gesamtausgabe der Science-Fiction Serie "Apokalyptika" inklusive Staffel 1-6! 

In einer von nuklearem Feuer verbrannten Welt leben die Menschen wie einst in primitiven Stammesgesellschaften, während das Wissen der Vorzeit im Überlebenskampf verloren ging. Die allgegenwärtige Strahlung – bekannt als böse Geister – fordert unzählige Leben. Auch der junge Stammesmann Tyr fällt ihr zum Opfer und muss um sein Leben und seinen Platz in der Sippe fürchten. Sollte er verbannt werden, droht ihm ein Leben in der verstrahlten Ödnis ...

Tom K. Williams

Apokalyptika 

Gesamtausgabe

Edel Elements

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Kurzbeschreibung:

In einer von nuklearem Feuer verbrannten Welt leben die Menschen wie einst in primitiven Stammesgesellschaften, während das Wissen der Vorzeit im Überlebenskampf verloren ging. Die allgegenwärtige Strahlung – bekannt als böse Geister – fordert unzählige Leben. Auch der junge Stammesmann Tyr fällt ihr zum Opfer und muss um sein Leben und seinen Platz in der Sippe fürchten. Sollte er verbannt werden, droht ihm ein Leben in der verstrahlten Ödnis.

Tom K. Williams

Apokalyptika 


Erster Akt: Böse Geister


Edel Elements

Prolog

Unscheinbar schob sich die Sonne über den grauen Horizont, dessen Anblick durch Häuserruinen wie von Lanzen gespickt war. Vielleicht war einst eine römische Legionskohorte durch eben diese Gegend gezogen, präzise wie ein Uhrwerk in Reih und Glied marschierend. Wie eine Schlange aus Stahl und Fleisch, mit vielen schlagenden Herzen, doch mit nur einem Willen. Das Ziel vor Augen und den Takt in den Ohren.

Doch diese Zeiten waren längst vergangen und die Erde, die damals die Schritte hunderter marschierender Füße erduldet hatte, lag nun unter Metern von Asphalt und Schutt begraben. Sie erinnerte sich nicht mehr ihrer Last.

Auch die Luft, die fortwährend von schwerem Staub getränkt war, hatte spätere Zeiten vergessen, wo Tausende von hektischen Menschen durch die Straßen zogen, gehetzt von Terminen und den Plackereien des Alltags. In ständiger Alarmbereitschaft, überwacht von ihren Kommunikationsmitteln, die sie wie geliebte Wesen an ihre Köpfe schmiegten, selbst wenn der Ausdruck ihrer Gesichter diese Haltung oft Lügen schalt. Die Heere der verzweifelten Individuen, die das Leben einer wohlbehüteten Konsumgesellschaft genossen wie ertrugen, waren verschwunden. Die Verlorenen, die Ausgegrenzten, die in dunklen Gassen ihr Dasein fristen mussten und auf die Güte der Anderen angewiesen waren – verschwunden wie die reichen Herren, deren Schuhe mehr Wert besaßen als der gesamte Besitz eines Niederen. Die Werte und Kultur dieser Menschen waren nahezu ausgelöscht. Wie vom harten Untergrund verschluckt, den sie selbst so erschaffen hatten. Tatsächlich war dies keine irrige Annahme, denn ihre alten Knochen durchzogen die Untiefen des Ortes wie Insekten einen Bernstein. Wenn man den Blick schweifen ließ, konnte man vereinzelt menschliche Schädel oder Ellenknochen aus den ergrauten Trümmern ragen sehen, blankgeschliffen von Stürmen und der Zeit.

Doch war nicht alles Leben erloschen. Obgleich der von Menschenhand gezündete Funke gewütet hatte wie es die Offenbarung im großen Buch der Christenheit beschrieb, noch Tage danach weiße Asche vom Himmel fiel und die Sonne verdunkelte als gäbe es keinen Morgen mehr, klammerte es sich an diese Welt wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz.

„Wenn das Licht von tausend Sonnen mit einem Mal den Himmel flutet, das wäre gleich dem Glanze des Herrlichen – und ich wurde der Tod, Zerschmetterer der Welten.“
J. Robert Oppenheimer

Erster Akt

I. Böse Geister

Durch die moosbewachsenen Häuserschluchten fegte ein kalter Hauch, der Tyr die Tränen in die Augen trieb und sein Gesicht wie Leder verhärtete. Der kleine Junge wickelte sich fester in seinen staubigen Mantel, der einst ein wertvoller Perserteppich gewesen sein mochte. Doch er war nur noch ein Schatten seiner verblichenen Schönheit, denn weder Farbe noch Muster ließen sich mit Bestimmtheit erkennen. Der Junge selbst schien nicht in der Blüte seiner Gesundheit zu stehen. Er wirkte abgewetzt wie der wärmende Stoff, den er um die Schultern trug. Nur in seinen Augen spielte jener kindliche Glanz, der einen Erwachsenen kurz die Last des Lebens vergessen macht. Flink folgten sie etwas, das dem Kleinen nicht vertraut war. Schon seit einiger Zeit verfolgte er dieses Ding, das ihn magisch in seinen Bann zog.

Eben in diesem Moment entdeckte er es erneut. Auf die Knie sinkend, ließ er nicht jene merkwürdige Kreatur aus den Augen, die vor ihm über die schroffen Felsen balancierte. Eine Eidechse mit merkwürdiger Färbung. Rot und schwarz, ähnlich den ausgebrannten Autowracks am Straßenrand, aber lange nicht so abgenagt und starr.

Tyrs kleine Hände näherten sich dem unbekannten Geschöpf. Da keckerte es wild auf und verkroch sich blitzschnell unter dem Geröll. Der Junge fiel nach hinten und landete auf einer rostigen Parkbank, die auf der Lehne liegend ihren alten Dienst nicht mehr erfüllte.

Da saß er nun, umgeben von dem, was einst Madrid gewesen war. Er war sich dessen nicht bewusst. Seine Eltern nannten diesen Ort Madras.

Plötzlich erklangen hinter ihm Rufe. Eine Stimme verlangte nach ihm, sie war ihm vertraut wie keine andere. Es war die seiner Mutter. Normalerweise wohlklingend, doch in diesem Augenblick von Wut oder Angst verstümmelt, was Tyr kein bisschen behagte. Er ahnte, was ihn erwartete. Denn er wusste, dass er nicht fortlaufen durfte, ins Tal hinab. In die Trümmerfelder, in die Häuserschluchten der Calle de Alcalá. Denn dort wohnten die bösen Geister.

Tyr sprang über die Felsen auf den rissigen Asphalt und rannte los. Über eine Kreuzung, an einem ausgetrockneten Brunnen vorbei. Die Kälte kroch ihm zwar tief in die Glieder, doch die Furcht trieb ihn weiter. Man würde nicht nett mit ihm umgehen, denn man hatte Angst um ihn, mehr als er selbst. Er wusste aus Erfahrung: Ihre Angst konnte sich schnell in Zorn verwandeln. Er hatte keine Lust, das abermals erfahren zu müssen. Also presste er seinen schmalen Leib durch ein Kellerfenster und verschwand im Dunkeln, das ihn ganz in sich aufnahm. Er wurde eins mit den Schatten, unsichtbar für jedermann. Dort fühlte er sich sicher, zumindest vor den Blicken der Alten. Und die Geister kümmerten ihn nur wenig.

Die Stimme seiner Mutter kam immer näher.

„Tyr!“, rief sie seinen Namen. Dann etwas, das er nicht verstand, nicht verstehen wollte. Sein Innerstes schottete sich nach außen ab. Er schloss die Augen, unterdrückte seine Atmung und hielt sich die Ohren zu.

Er liebte seine Mutter und wäre gerne zu ihr gegangen, wäre da nicht Vergil gewesen. Der große, grimmige Vergil. Er machte Tyr Angst. Und er hatte das Sagen, egal worum es ging. Er würde ihn für den Ungehorsam bestrafen. Dabei fühlte Tyr sich unschuldig. Er war nur diesem interessanten Geschöpf gefolgt und hatte darüber hinaus Zeit und Ort vergessen. Konnte man ihm das zum Vorwurf machen?

Ob man es konnte oder nicht, war unbedeutend. Vergil würde es mit Sicherheit tun. Er würde laut brüllen, ihn schlagen oder sonst eine Scheußlichkeit mit ihm anstellen. Seine Mutter würde weinend danebenstehen, denn sie musste dem Häuptling der Sippe Folge leisten. Wäre nur sein Vater noch am Leben gewesen, er hätte es nicht geduldet. Aber er war fort, länger schon als Tyr zurückdenken konnte. In der Ferne hörte er ein Tier aufbellen. Nach einer Weile reckte Tyr seinen Hals aus dem Loch und blickte verstohlen auf die staubige Straße hinaus. Der Wind pfiff eine schaurige Melodie, seine Instrumente waren die brüchigen Ruinen ringsumher. Niemand war zu sehen. Keine Bewegung, nur eine vergilbte Plastiktüte, die vom eisigen Wind durch die Straßen getragen wurde.

Plötzlich packte ihn eine Hand am Kragen und zog ihn empor. Als er seinen Blick nach oben richtete, sah er in die stahlblaue Iris des einäugigen Vergils. Diese zeigte keinen Ausdruck von Freude, auch nicht von Zorn. Vergil blickte durch ihn hindurch, wie es die Frauen in Tyrs Sippe mit einem erlegten Vogel taten, wenn sie diesem die Federn rupften. Er war nicht viel mehr als ein Gegenstand in seinen Augen.

Tyr fühlte sein Herz im Halse hämmern, die Angst seinen Rücken herunterkriechen. Der Mann packte ihn fester und drückte ihm damit fast die Luft ab. Endlich kam die Mutter heran und schlug Vergil gegen die Schulter. Sie zeterte und forderte, er möge aufhören. Aber er reagierte nicht. Dann wurde die Welt um Tyr herum schwarz und klanglos.

Als Tyr wieder erwachte, lag er auf einer alten Matratze, umgeben vom bekannten Zwielicht seines unterirdischen Zuhauses. Die wohlschmeckende, heimatliche Luft beruhigte ihn mit ihrer erdigen Schwere. In diesem künstlich angelegten Höhlensystem hatte er sein ganzes bisheriges Leben verbracht, hier wohnte er mit seiner Mutter und den anderen Alten sowie deren Kindern. Er wusste nicht, warum sie unter der Erde wohnten wie die Hasen. Sie taten es einfach.

Als er diesen Vergleich einmal laut geäußert hatte, war ihm dies mit vielen bösen Blicken und einer Tracht Prügel vergolten worden. Nur sein Onkel Donar hatte laut gelacht. Die Alten mochten es nicht, wenn man sie als Tiere bezeichnete, sie mit ihnen verglich. Vor allem Vergil. Bei Wotans leerer Augenhöhle, wie sein Onkel gern fluchte, Tyr hasste den Häuptling seiner Sippe wie die bösen Geister das Leben.

Ein jäh aufflammender Schmerz riss ihn aus seinen Gedanken. Eine metallene Feder in der Matratze drückte sich ihm in den Rücken und zwang ihn, sich umzudrehen. Da schoss ihm urplötzlich eine noch furchtbarere Pein in die Seite. Er biss die Zähne aufeinander, dass sein Kiefer steif wurde. Der unterdrückte Schrei schnürte ihm den Hals zu. Panisch riss er sich die Decke vom Körper und sah an sich herab. Auf seinem nackten, schmächtigen Oberkörper prangten schwarze, wässrige Flecken. Ihr Anblick war abscheulich und als er sie berührte, brannten sie wie Benzin.

Tyr begann zu schluchzen, zu schreien, er rief nach seiner Mutter. Sie stand bereits in der Pforte und kam zu ihm geeilt. In ihren Augen lag ein mitleidsvoller, besorgter Ausdruck. Sie legte sich den Zeigefinger auf den Mund und zischte: „Sei still, Tyr, sei still!“ Doch es half nichts. Er war zu jung und aufgeregt, um sich zu beruhigen. Erst als er schwere Stiefelschritte vernahm, verstummte er wider seine Natur. Tyr presste die Lider zusammen, denn er wusste, wer kommen würde. Er biss sich auf die Lippen, um jedem Geräusch, das seinen Rachen verlassen wollte, sofort Einhalt zu gebieten. Zu spät. Vergil war bereits herangekommen.

Sein Gesicht sprach Bände über das, was in seinem Kopf vorging und bewies erneut, wieso er Tyrs persönlicher Schrecken war. Vergil hasste den Jungen, das hatte er schon immer getan. „Sag deinem Bengel, dass er selbst schuld ist! Los, sag es ihm!“

„Aber er ist doch noch ein Kind!“ In den Augen der Mutter standen Tränen.

„Niemand darf in die Verbotene Zone! Dort lauern die bösen Geister. Sie durchdringen die Haut und verbrennen sie. Hast du ihm das nicht gesagt?“

Die Frau schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und schluchzte bitterlich. Die Miene des Mannes hätte anklagender nicht sein können. Tyr wäre seiner Mutter gerne zur Hilfe gekommen, aber er fürchtete Vergil. Als Häuptling ihrer Sippe durfte man ihm nicht widersprechen, nicht einmal die anderen Erwachsenen taten es.

Der große, breitschultrige Mann mit dem eingefallenen Gesicht beugte sich nun zu ihm herunter und sah ihm stechend in die vom Schmerz wässrigen Augen.

„Du darfst niemals wieder da hinaus! Verstehst du mich? Niemals wieder!“

Das Brüllen dröhnte Tyr in den Ohren. Er ekelte sich vor den Speichelfäden, die sich in Vergils Mundwinkeln sammelten, wenn er schrie. Und er beobachtete wachsam die breiten Hände, die ihn schon so manches Mal gestraft hatten. Diesmal schienen sie seine Wangen nicht streifen zu wollen.

Die Mutter legte ihre Hand auf Tyrs Kopf und kraulte ihn. Aber es tat ihm nicht gut. Seine Haut fühlte sich dünn und gespannt an, als könnte sie jeden Augenblick einreißen.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sprang Vergil wieder auf und stürmte davon. Die Mutter sah ihm lange nach, selbst dann noch, als der Vorhang wieder zugefallen war und die Schritte an den lehmigen Wänden verhallt waren. Dann wandte sie ihr faltiges Gesicht Tyr zu. Ihre Hand wanderte über seine Augen und die Wangen.

„Geht es dir gut?“, fragte sie mit brüchiger Stimme, obgleich sie die Antwort in den Augen des Jungen lesen konnte. Er schüttelte leicht den Kopf.

Sie wusste, was mit ihrem Sohn passieren würde. Tyr konnte es ihr ansehen. Wenn die unsichtbaren Geister in den Körper fuhren und das Fleisch schwarz färbten, starb man früher oder später einen langsamen, von schrecklichen Schmerzen begleiteten Tod. Die Mutter selbst konnte, den Schmerz ihrer eigenen Geisterwunden nur mit Mühe unterdrückend, ein Lächeln für ihren Jungen aufrechterhalten. Doch anders als ihr Sohn war sie nur kurz den Geistern ausgesetzt gewesen. An Tyr hatten sie vielleicht für Stunden genagt. Sie zerstörten seinen Körper, ohne Rettung, ohne Hoffnung auf Heilung.

„Wieso bist du in die Verbotene Zone gegangen? Du weißt, was mit deinem Vater passiert ist?“

Ja, Tyr kannte die Geschichte seines Vaters. Die anderen Alten behaupteten, dass er verrückt geworden wäre. Dass er sich eingebildet hätte, die bösen Geister mit einem Speer töten zu können. Und dass er nie wieder zurückgekehrt sei.

Ein tiefer Seufzer entfuhr der Brust seiner Mutter. Sie küsste seine Stirn. Dann löste sie sich von ihm. Seine Augen folgten ihrem Schatten, der an der Wand kleiner und kleiner wurde, durch einen Spalt im Vorhang.

Mit sich allein gelassen, sah er wieder auf seine Brust. Das verkrustete Schwarz war mit einer schleimigen Schicht bedeckt, die das Licht schimmernd zurückwarf. Wie die Haut des seltsamen Tieres in der Calle de Alcalá. Tyr krümmte sich und gurgelte die wüstesten Flüche, die ihm die älteren Kinder gelehrt hatten. Er konnte noch nicht einmal mehr schreien, so sehr brannten seine Eingeweide.

Tiefer im Inneren der Höhle trat Vergil an Tyrs Mutter heran. Als sie ihn bemerkte, wandte sie ihr vom Weinen aufgequollenes Gesicht ab. Das Licht der Fackeln, die an den mit Holz und Metallteilen gestützten Lehmwänden angebracht waren, tanzte über ihr und machte es unmöglich, ihre Gefühle vor dem Häuptling zu verstecken. „Du weißt, dass er zu den Vätern gehen wird? Die Flecken zeigen, dass sie sein Inneres bereits zerfleischt haben.“

In den Augen des Häuptlings lag eisige Kälte. Die Frau, deren tief eingefallenen Wangen erneut erbebten, begann zu schluchzen. Zur Sorge in ihrem Herzen gesellte sich der Biss der Geister. Sie stützte sich zitternd an eine Blechplatte, welche die Wand zu ihrer Linken stabilisierte. Vergil betrachtete sie mitleidslos, dann packte er ihre Schultern und sah ihr fest in die Augen.

„Er trägt jetzt die bösen Wesen in sich. Und sie werden auch uns holen, wenn er stirbt! Er muss verschwinden.“

Ihr Schluchzen wurde erbärmlicher, doch der Häuptling schien sich nicht daran zu stören.

Da kam auf einmal Donar um die Ecke gebogen. In seiner Faust trug er seinen Speer und über der Schulter einen erlegten Tripoden, einen dreibeinigen Vogel, dessen Blut ihm über den Arm rann.

Donar war Tyrs Onkel und gerade von einer dreitägigen Jagd heimgekehrt. Seine Beute war nicht üppig, aber sie würde ausreichen, um der Sippe ein anständiges Abendbrot zu bereiten. Denn Fleisch war knapp in jenen Tagen, die Tiere waren weitergezogen und hinterließen die karge Felslandschaft fast ohne jede Nahrungsquelle.

„Wo ist mein Neffe? Ich will ihm zeigen, was ich gefangen habe!“, dröhnte die tiefe Stimme des Jägers durch die Höhle. Sein Haar zeigte bereits graue Strähnen, aber sein Gesicht war noch stark und kantig. Er war nach Vergil der Mann, der in der Gemeinschaft am meisten Respekt genoss. Im Gegensatz zu seinem Rivalen jedoch nicht aufgrund seines einschüchternden Charakters, sondern aufgrund seiner mutigen Taten. Als einer der Ernährer standen nur der Häuptling und die alte Weise über ihm, wie die Kräuterfrau von vielen genannt wurde.

Bei den Worten ihres Bruders brach Tyrs Mutter endgültig zusammen und verbarg ihr Gesicht hinter den dünnen Armen. Vergil trat an Donar heran und fuhr sich mit dem Daumen über den Hals. „Er hat die bösen Geister herausgefordert und wird sterben wie sein Vater.“

Der Jäger schrie wild auf, rammte seinen Speer in die lehmige Wand und packte den Häuptling an der Kehle. Dabei fiel der Vogel zu Boden.

„Wo ist er? Wo ist er?“, herrschte Donar ihn wutentbrannt an. Doch Vergil riss sich los und schlug seinem Gegenüber hart gegen das Kinn.

„Ich bin dein Häuptling! Was erlaubst du dir?“, donnerte er gebieterisch und ließ die Hand in Richtung seines Gürtels wandern. In Donars Gesicht fuhr eisige Starre. Er wusste, was Vergil an seiner Seite trug. Das Zauberrohr, wie man die schrecklichste Waffe der Sippe nannte, verschickte den Tod mit einem lauten Knall. Schon seit Generationen wurde sie stets vom Häuptling der Sippe getragen und nur selten verwendet, damit sie nicht ihren Zauber verlor. Nur Vergil und die Kräuterfrau kannten das Geheimnis dieses mächtigen Artefakts. Das Wissen um dieses Mysterium unterstrich ihre Führungsrolle und ihre spirituelle Verbindung zur Götterwelt, die magische Kraft, die sie beide durchdrang.

Donar, der die Gefahr kommen sah, nahm sich zusammen und vergrub seinen Hass tief in seinem Inneren. Er verbeugte sich leicht vor seinem Kontrahenten, um ihm den nötigen Respekt zu erweisen. Er hatte nicht das Bedürfnis zu sterben.

Langsam entspannten sich die Züge des Häuptlings, als er sprach: „Er liegt im Zimmer der Kräuterfrau. Aber nicht mehr lange! Wir dürfen die Geister nicht in unser Heim einlassen.“

Donars unterwürfige Haltung löste sich sogleich in Wohlgefallen auf. Er schürzte die Lippen und erwiderte: „Das muss die Kräuterfrau entscheiden, nicht du, Vergil!“

Er zischte noch einige unverständliche Worte und drückte sich mit gesenktem Haupt an seinem Gegenüber vorbei. Der Häuptling spuckte missmutig aus und ging, ohne jemanden eines weiteren Blickes zu würdigen. Donar hingegen beugte sich zu seiner Schwester herab und half ihr mühevoll auf die Beine.

„Ist es wahr, Sigyn? Trägt er wirklich die bösen Geister in sich?“, fragte er mit ruhiger Stimme. Tyrs Mutter nickte zaghaft. Sämtliche Gefühle waren aus ihren tiefen Augen verschwunden, nur klamme Apathie war noch zu erkennen.

„Seine Haut trägt schwarze Flecken...“

Der Bruder deutete seiner Schwester mit einem Kopfnicken, sie solle doch den Vogel wegschaffen, der noch immer auf dem schmutzigen Boden lag. Sie tat wie ihr geheißen und nahm die Beute schweigend an sich. Ohne sich erneut bemerkbar zu machen, verschwand sie um die Ecke.

Donar atmete tief ein und entließ die Luft wie einen Schwall Wasser. Er kannte die Krankheit, welche durch die unsichtbaren Scheusale hervorgerufen wurde. Die eitrigen schwarzen Flecken, das hohe Fieber, die Übelkeit, das Blut im Mund. Die elendigen Schreie, das langsame Siechtum. So manches Mitglied der Sippe war schon durch sie gestorben, wenn es sich zu nah an die Verbotene Zone gewagt hatte. Manch einer war auch schon durch das Fleisch eines Tieres erkrankt, das im Reich der Geister geäst hatte.

Er selbst, als Jäger, wusste ganz genau, welche Orte zu meiden waren. Aber wie sollte ein Kind dies ahnen? Ein Kind, das die Geheimnisse von Leben und Tod noch nicht begriff, für das Gefahr nur ein vages Konzept darstellte und dessen Neugier jedes andere Gefühl zu überdecken vermochte.

Von der Sorge um seinen Neffen geplagt, betrat Donar das ehrwürdige Schlafgemach der Kräuterfrau. Mit seinen schmutzigen Händen schob er die roten Vorhänge beiseite, die den Jungen verdeckten. Er sah ihn schmerzverkrümmt daniederliegen. Auch wenn er keine Hoffnung gehegt hatte, ihn anders vorzufinden, schmerzte der Anblick ihn dennoch. Behutsam legte er ihm die Hand auf die Schulter. Erschrocken sah Tyr empor und erkannte seinen Onkel sofort. Über das gepeinigte Kindergesicht huschte ein leises Lächeln. Donar lächelte zurück, allerdings nur sehr kurz. Dann hielt wieder jene kontrollierte Starre Einzug, die sein Antlitz so bedrohlich wirken ließ.

„Wieso warst du in der Verbotenen Zone, mein Junge? Weißt du denn nicht, was das für dich bedeutet?“

Da begann Tyr so herzerwärmend zu schluchzen, dass es seinen Onkel im Herzen traf. Er beugte sich weiter herunter, fuhr ihm mit der Hand über die Stirn.

„Du bist doch schon ein starker Mann, nicht wahr? Dann wird dir auch nichts geschehen. Die Kräuterfrau wird Rat wissen und wir werden alles tun, um dir zu helfen. Du musst jetzt nur tapfer sein und auf die Götter vertrauen.“

„Aber es brennt so schrecklich!“

Donar nickte wissend. Dann zog er das Hemd seines Schützlings ein wenig nach oben und taxierte die entstellende Wunde, die weder eine Klinge gerissen noch ein Feuer gebrannt hatte. Als er Tyr genauer in Augenschein nahm, entdeckte er noch weitere Flecken an den Ohren. Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, einen optimistischen Gesichtsausdruck auf seine Züge zu zaubern. „Das wird schon wieder. Komm, wir wollen endlich wieder etwas essen!“

Die Aussicht auf Essenschien die Schmerzen für einen Moment überdecken zu können. Tyr begann zaghaft zu lächeln. Er hatte schrecklichen Hunger.

„Hast du uns etwas gefangen, Onkel?“

„Natürlich, mein Junge. Die Götter haben mich auf der Jagd begleitet und mir den rechten Weg gewiesen. Es ist nicht viel, aber genug für eine kräftige Suppe.“

Er nahm den Jungen behutsam auf die Schultern und trug ihn aus dem Raum. Sie gingen den langen Gang entlang, ließen einige Türen links liegen und traten dann in einen hohen, weitgefächerten Saal ein.

Er war der Größte in diesem System aus Kammern und kleineren Nischen, fast schon eindrucksvoll, wenn man ihn durch die Augen eines Kindes betrachtete. Die Wände waren mit dicken Balken verstärkt und mit gewellten Blechplatten verkleidet, was sie sowohl stabil als auch ansehnlich machte. Der Boden hingegen war größtenteils mit Brettern ausgelegt, die ihn zwar weder symmetrisch noch ästhetisch machten, aber dennoch ihren Zweck erfüllten. Von der Höhlendecke hingen primitiv geknüpfte Netze und Tierfelle herunter, die einzelne Bereiche kennzeichneten oder Besitzansprüche zum Ausdruck brachten. In ihr Zentrum war ein breites Loch gebohrt, durch das der Rauch der Feuerstelle hinauf zur Oberfläche abziehen konnte. Im Gegensatz zu den gedrungenen Tunneln, die selbst ihre Bewohner bisweilen einengten, konnte der Saal als weitläufig bezeichnet werden.

Um die Feuerstätte im Zentrum herum saßen viele Menschen auf unterschiedlichsten Stühlen. Die einen aus Holz oder Eisen, die anderen aus jenem gelblichen Material, das die Älteren Plastik nannten. Letztere waren nur den wenigen Würdenträgern zugedacht.

Donar ließ sich auf einen solchen fallen, den Jungen noch immer auf dem Rücken, und grüßte die Runde. Die meisten Anwesenden waren Frauen, junge und alte. Abgesehen von Vergil und Tyrs Onkel lebten noch fünf weitere erwachsene Männer im Höhlensystem. Dazu kamen noch einige versprengte Jäger, die mit oder ohne Familie außerhalb der Sippenhöhle lebten und diese nur in Notzeiten oder zu religiösen Festen aufsuchten. Obwohl Tyrs Sippe und ihr übergeordneter Stamm durchaus weibliche Jäger kannten, gingen diese nicht selten zur Mutterrolle über, was gleichwohl ein längeres Leben versprach. Viele Jäger blieben für immer in Madras rauen und unwirtlichen Jagdgründen verschollen, von wilden Tieren gerissen, von Krankheiten dahingerafft, von verfeindeten Stämmen ermordet oder von den Geistern geholt.

Eine der älteren Frauen war gerade dabei, den großen Vogel zu rupfen, der Donars Speer zum Opfer gefallen war. Seine Eingeweide lagen bald in speziellen Schüsseln verteilt und wurden gewürzt, um sie gesondert zuzubereiten. Zwei junge Mädchen halfen dabei und gingen ihrer Arbeit mit offensichtlicher Freude nach.

Ein Mann gesellte sich zu Donar, dessen Haut viel dunkler war als seine eigene, fast schwarz. Man nannte ihn Balder nach dem Gott des Lichtes. Er war Donars bester Freund, fast wie ein Bruder, der ihn bereits durch sein gesamtes bisheriges Leben begleitet hatte. Er galt als fröhlicher Mensch und lächelte meist, wenn er mit Tyrs Onkel sprach. An diesem Tage war es anders.

Er sprach hinter vorgehaltener Hand zu ihm: „Vergil will deinen Neffen hinaus in die Wildnis jagen. Er hat Angst vor den bösen Geistern, die ihm innewohnen. Seine Feigheit hindert ihn mittlerweile nicht nur am Jagen, nein, jetzt fürchtet er sich schon vor einem todkranken Jungen. Als wäre der Biss der Geister eine Krankheit, die von einem zum anderen springt.“

Donar nickte verbissen, der Ausdruck seiner Augen verfinsterte sich. „Nur die Kräuterfrau kann diese Entscheidung treffen.“

„Und das wird sie auch, heute Nacht schon. Der Häuptling hat sie unter Druck gesetzt. Er befahl, dass Tyr seinen Schlafplatz unter keinen Umständen verlassen darf.“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu:

„Ich habe ihn und die Weise belauscht. Vergil drohte, dich und deine Schwester mit dem Bann zu belegen, wenn ihr seiner Forderung nicht Folge leistet. Außerdem drohte er ihr, ihrer jüngsten Tochter etwas anzutun.“

Donar verzog das Gesicht und spuckte angewidert aus. „Er droht der Weisen und verspottet die Götter mit seiner lästerlichen Geringschätzung gegenüber ihrer Magie. Und seine Herrschsucht wird die Sippe eher früher als später zerreißen.“

„Und er will euch vertreiben.“

„Wenn er den Spross meiner Schwester dem Tode überlassen will, dann gibt es für mich nur eines zu tun.“

Balder nickte wissend und erwiderte: „Die meisten von uns stehen hinter dir. Die Stellung als Häuptling ist dir schon lange zugedacht zugetragen. Die Sippe will Vergil nicht, er ist ein Parasit, der die Arbeit der Menschen verzehrt. Er war seit fast drei Jahren nicht mehr auf der Jagd. Letzten Winter hat er die besten Stücke von dem wenigen Fleisch, das wir auftreiben konnten, für sich genommen, während die jungen Mütter so hungrig waren, dass sie kaum Milch für ihre Säuglinge hatten, und die Alten vor Hunger gestorben sind. Das Fleisch, das wir für die Sippe erlegten, während er zurückgeblieben ist.“

„Er wäre ohnehin keine besondere Hilfe gewesen. Die Götter müssen zu bösen Scherzen aufgelegt gewesen sein, dass sie seinen hervorragenden Eltern einen so erbärmlichen Spross aufgebürdet haben…“

Donar sprach, während er seinem vor Schmerz noch immer stummen Neffen den Kopf streichelte. Sein Freund nickte bedächtig.

Tyr hörte von alldem nichts. Seine Augen folgten konzentriert dem Messer der Frau, wie es über die Haut des Vogels glitt und ihn von seinen Federn befreite. Auf der nackten Oberfläche trat nun deutlich jene Wunde hervor, die sein Onkel mit dem Speer geschlagen hatte. Stolz überschäumte Tyrs Herz, mehr noch als der Schmerz seiner wässrigen Flecken. Einen solchen Jäger in der Sippe zu haben, sicherte nicht nur das eigene Überleben, sondern auch die Anerkennung des Stammes, wie ihm seine Mutter erklärt hatte. Sie meinte, dass in dieser Gegend, die ihnen eine unbarmherzige Heimat war, viele Familien in gegenwärtig insgesamt sieben Sippen zusammenlebten, die zusammen einen Stamm bildeten. Angeblich gab es viele solche Stämme, aber Tyr hatte noch nie einen anderen zu Gesicht bekommen. Aber wie sollte er auch? Während die Alten von einer großen, aufregenden Welt an der Oberfläche erzählten, wurde er eingeengt durch die schweren, braunen Tunnelwände, die mit jedem Jahr näher zu kommen schienen. Und durch den jähzornigen Häuptling, vor dem niemand in der Sippe je wirklich sicher war.

Tyr betrachtete das bunte Treiben noch eine ganze Weile, während sich die Haupthalle mehr und mehr mit Menschen füllte. Sie schienen auf irgendetwas zu warten, einige sichtlich nervös. Mehrmals fühlte Tyr neugierige Blicke auf sich ruhen. Er bemerkte schaudernd, dass den Leuten seine Anwesenheit unangenehm war. Sie wünschten ihn an einen anderen Ort, möglichst weit weg. Er wäre diesem Wunsch gerne gefolgt, doch es entsprach weder den Sitten, noch seiner momentanen körperlichen Verfassung, dies zu tun. Also klammerte er sich nur fester an seinen Onkel und ertrug die brennenden Stiche, die seinen Körper mit neuer Heftigkeit befielen.

Mit einem Mal herrschte Ruhe im Saal. Alle Augen waren gebannt auf eine Nische an der Wand gerichtet, durch die soeben der Häuptling geschritten kam. Vergil trug einen Ausbund an Überlegenheit zur Schau, breitschultrig kam er daher, mit sicherem Gang und seinem ihm eigenen Blick, der vor Arroganz überkochte wie die Vogelinnereien auf dem Feuer. Sein Körper verdeckte fast die weitaus würdigere Person, die ihm bedächtig folgte. Sie war nach einhelliger Meinung die mächtigste Instanz dieser Sippe: Die Kräuterfrau, die weise Alte, die den Kontakt zur Götterwelt suchte und das geheime Wissen hütete. Sie setzte sich auf den prunkvollsten Stuhl und faltete die Hände wie zum Gebet. Der Anführer ließ sich neben ihr nieder und stemmte den Kopf auf seinen angewinkelten Arm. Das Geraune und Gemurmel der Menge erklang erneut, bis die Kräuterfrau gebieterisch die faltigen Hände hob.

Sie war in einen langen Mantel gehüllt, der aus jenem merkwürdigen Stoff Plastik bestand. Um dieses Kleidungsstück beneideten sie die Sippenfrauen, ebenso um ihren breiten Hut, der mit Vogelfedern geschmückt war und einen erhabenen Eindruck hinterließ. Von den Schultern hingen ihr lange Kordeln herab, in die in regelmäßigen Abständen kleine Knochen eingefädelt worden waren. Ihr Gesicht war faltig und verschrumpelt wie eine verdorrte Pflaume, aber in den Augen lag eine mystische Kraft, die jedem Wort Gewicht gab. Ihre Stimme hatte diese Fähigkeit schon lange verloren, war zittrig und hauchend geworden. Der aus ihrem Inneren strahlenden Würde tat dies jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Da die meisten Menschen nicht alt genug wurden, um selbst einmal faltige Haut und weiße Haare zu haben, rief ihr sichtbares Alter allein schon tiefe Anerkennung hervor.

Nach einer Weile sprach die alte Frau: „Wir danken den Göttern Asgards, dass sie uns so reich mit Fleisch beschenkt haben. Ihre Güte füllt unsere Mägen auch heute noch, obgleich der Feuersturm des Ragnarök über die Welt gekommen ist! Wie heißt es in den alten Sagen? Die Asen versammeln sich. Flammen und Rauch werden zum Himmel schießen. Durch den Ausgleich von Ordnung und Chaos wird ein Gleichgewicht entstehen! Und in dieses Gleichgewicht setzen wir unsere Hoffnung.“

Tyr hatte diese Worte schon oft gehört. Seine und die anderen Sippen des Stammes verehrten die Asen, mächtige Götter in einem goldenen Schloss, welche den Weltuntergang, die Götterdämmerung, schon vor Urzeiten vorausgesagt hatten. Demnach hat Surtr am Ende des Ragnarök Feuer über die ganze Erde gestreut und einen Weltenbrand verursacht, der beinahe alles Sein zunichtemachte und einen totalen Neubeginn ermöglichte. Von diesem Ereignis redeten die Alten oft im Geheimen, denn das ehrwürdige Wort auszusprechen oblag einzig und allein der Kräuterfrau.

Diese rief nun alle Kinder zu sich, die sich wie befohlen zu ihren Füßen versammelten, während die Alten das Fleisch des Vogels kleinschnitten und in einen großen Topf warfen. Balder entfachte währenddessen das Feuer.

Nur Tyr kam dem Ruf nicht nach. Er blieb auf dem Schoße seines Onkels sitzen und hielt sich den gemarterten Körper. Sein Gesicht zeugte nun wieder stärker vom Schmerz, der durch ihn waberte wie Lehm durch einen Schluck Wasser. Doch nicht allein dies machte ihm zu schaffen. Da war noch etwas anderes. Vergils Augen ruhten verbissen auf ihm. Dies entging auch Donar nicht. Der Jäger stand auf und ging zu Balder herüber, der mittlerweile ein prasselndes Feuer zustande gebracht hatte.

„Der Häuptling wird sich Tyrs Anwesenheit nicht mehr lange gefallen lassen“, prophezeite dieser grimmig. Donar zischte ihm zu: „Noch hat er das Einverständnis der Weisen nicht. Vor dem Ende des Festes kann er ohnehin nicht zur Tat schreiten.“

Der Dunkelhäutige warf dem grimmigen Häuptling einen misstrauischen Blick zu.

„Diesem heuchlerischen Bastard würde ich alles zutrauen. Die Gesetze des Stammes und der Sippe sind ihm ebenso gleichgültig wie die Lehren der Kräuterfrau. Möge Thors Hammer ihn erschlagen, wo er steht!“

Die Alte war mittlerweile dazu übergegangen, den Kindern Geschichten über die Asen und Riesen zu erzählen, über die Welt der Menschen, Midgard, und Asgard, die Welt der Götter. Die Heranwachsenden lauschten den Sagen mit großem Interesse.

Tyr hätte gerne bei ihnen gesessen, mit gespitzten Ohren jenen Geschichten lauschend, die er schon so oft gehört hatte. Aber der Schmerz befahl ihm, sitzen zu bleiben.

Während die Kinder den Geschichten der Götter lauschten, weihten die beiden jüngeren Töchter der Kräuterfrau geschnitzte Holzfiguren den zentralen Gottheiten, um vor ihnen kleine Opfergaben zu verbrennen und sie mit dem gesammelten Blut des Vogels zu besprenkeln. Einige Erwachsene saßen in der nahen Umgebung und murmelten fromme, an die Asen gerichtete Beschwörungen.

Nach einer Weile war das Mahl bereitet und die Menschen fanden sich bei der Feuerstelle ein, um mit ihren Schüsseln nach Suppe zu verlangen. Als Erster stellte sich Vergil nach vorne und ließ sich die Tonschüssel randvoll machen. Mit ein paar beherzten Zügen leerte er die heiße Brühe in seinen Hals, nur um erneut Nachschlag zu fordern. Erst dann waren die anderen an der Reihe.

Donar brachte seinem Neffen eine Schüssel voll, noch immer verfolgt von den zornigen Blicken des Häuptlings. Dass der Ausgestoßene, dessen Körper die bösen Geister trug, mit ihnen zusammen aß, machte Vergil offenbar nervös. War er nicht sowieso schon so gut wie tot? Wieso also der Sippe die wertvolle Nahrung, eine weitere volle Schale, wegessen?

Nachdem sich der Topf allmählich geleert hatte – das restliche Fleisch war schon in einer Kühlgrube verstaut worden –, war Vergils Moment endlich gekommen. Er erhob sich urplötzlich, räusperte sich und deutete mit dem Finger auf Tyr. In dieser Pose blieb er verharren, bis auch das letzte Augenpaar gespannt auf ihm ruhte, das letzte Gespräch verstummt war. Erst dann erhob er die dröhnende Stimme. „In diesem Kind wohnen die bösen Geister. Seine Haut trägt die verräterischen Flecken! Wenn er weiter in unserer Mitte bleibt, wird er sterben und den Fluch auf uns alle übertragen. Ich verlange, dass er noch heute Nacht ausgestoßen und seinem Schicksal überlassen wird. Die Götter mögen ihn richten, ihn beschützen oder für seine Dummheit bestrafen. Doch hier soll er nicht länger erwünscht sein.“

Bei diesen Worten brach Tyrs Mutter erneut in Tränen aus. Sie schluchzte so bitterlich, dass ihr Bruder nicht anders konnte, als aufzustehen und seinem Zorn Ausdruck zu verleihen. „Tyr ist ein Mitglied unserer Sippe und meiner Familie. Das Mal der schwarzen Flecken überträgt sich nicht auf andere. Denn der Biss der Geister ist eine Wunde, kein Fluch, keine Krankheit. Wenn Vergil verlangt, einen der unseren zu verbannen, zeigt dies nur umso deutlicher, was jeder von uns schon ahnte: Dass er seine Position nicht verdient hat und sie mit seinem verkommenen Charakter nur beschmutzt. Aus Respekt vor seinen toten Eltern und ihrer weisen Führung möchte ich ihm die Möglichkeit gewähren, ehrenvoll auf die Würde des Häuptlings zu verzichten und als freier Mann unter uns zu leben, sobald er seine Verfehlungen durch Tapferkeit in der Jagd und Reue vor den Göttern gesühnt hat. Ansonsten fordere ich ihn hiermit zum Holmgang heraus!“

Das Schweigen ringsum wurde von einer unerträglichen Spannung erfasst. Jedermann sah die Entschlossenheit und den gerechten Zorn in Donars Zügen. Seine Augen blitzten wie glühende Kohlen, was einige erschrocken zusammenzucken ließ. Ein Kampf innerhalb der Sippe, sogar des Stammes, war selten und wurde als unheilbringend erachtet. Nur Balders Gesicht zeigte einen Ausdruck der Zustimmung. Er stand vollkommen hinter seinem Freund.

Im ersten Moment schien es Vergil die Sprache verschlagen zu haben, dann jedoch verwandelten sich seine Lippen in ein selbstgerechtes Grinsen. Er sprach: „Es dürstet mich schon lange nach einem Kampf gegen diesen Emporkömmling. Ich bin seine Anmaßungen und seinen Anspruch auf meine Würde leid. Ich bitte ebenfalls um diese Gelegenheit, Älteste. Er soll für sein freches Aufbäumen mit dem Leben bezahlen! Ich werde sein Blut in Krügen sammeln lassen und den Göttern opfern, das Aussprechen seines Namens verbieten und jeden Blutsverwandten der Sippe verstoßen.“

Die Kräuterfrau schob die Kinder beiseite und erhob sich. In ihrer hellen Iris zeigte sich ein ablehnender Ausdruck. Dennoch gab sie bekannt: „Die Gesetze der Götter und der Menschen erachten den Holmgang als heilig und ehrenhaft. Die Herausforderung wurde ausgesprochen und angenommen. Vergil und Donar werden nach alter Sitte bis zum Tode gegeneinander kämpfen. Der Sieger soll uns künftig als Häuptling leiten.“

Die Worte hingen wie Blei im Raum, die Menschen drückten sich an die Wände, legten die Arme schützend um ihre Kinder. Auch Tyrs Mutter Sigyn eilte herbei und packte ihren Sohn, hievte ihn auf den Arm.

„Alles wird gut, Junge!“ Sie küsste ihn auf die Stirn. „Es ist nicht deine Schuld, hörst du?“

Tyr hörte sie nicht. Kälte breitete sich in seinem Magen aus, sein Herz begann zu rasen. Er spürte, wie ihm Adrenalin in die Adern schoss, und hatte entsetzliche Angst. Er wusste zwar nicht genau, was ein Holmgang bedeutete, aber die Reaktion der Erwachsenen um ihn herum machte mehr als deutlich, dass es nichts Gutes bedeuten konnte. Dem Wort schwang eine bedrohliche Ahnung bei.

Donar nahm Balder zur Seite und zischte: „Wenn ich sterbe, pass gut auf meine Schwester und ihren Sohn auf, ja? Die Regeln des Holmgangs sind heilig und verbieten jede Form der Rache, ich kann also nicht von dir verlangen…“

Balder unterbrach Donar und gab ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, flüsterte anschließend: „Es ist mir gleichgültig, ob verboten oder nicht. Wenn er dich besiegt, dann erwürge ich ihn lieber im Schlaf, als dass er deine Schwester und deinen Neffen davonjagt. Ich verspreche es dir beim Grab meiner Mutter.“

Die beiden umarmten sich herzlich, dann drückte sich auch Balder in die Menge. Die beiden Kontrahenten standen sich nun gegenüber. Ein Jäger kam herbei und drückte dem Häuptling ein langes Messer in die Hand, Donar nahm sich seinen Speer. Schweigen flutete den Saal wie ein Flussbett.

Plötzlich rief die Weise: „Es beginnt!“

Mit einem Satz sprang Vergil auf seinen Gegner zu, die Machete im Sprung erhoben. Doch der Schlag ging ins Leere, die Klinge bohrte sich tief in das Holz des Bodens. Donar war zur Seite gesprungen und trat dem Häuptling in den Rücken. Dieser fiel über seine eigene Waffe, schnitt sich den Fuß auf und landete inmitten der Feuerstelle. Funken stoben in die Luft, die Reste der Suppe spritzten heiß in Vergils Gesicht und verbrannten seine Haut. Während er seinen Schmerz herausschrie, holte Donar mit dem Speer aus. Alles war so schnell gegangen, dass Tyr dem Geschehen kaum folgen konnte. Es war völlig gleichgültig – sein Onkel schien zu triumphieren! Doch noch bevor dieser den tödlichen Treffer landen konnte, hatte sich Vergil umgedreht und hielt ihm nun das gefürchtete Zauberrohr unter die Nase. Der Jäger starrte in den Lauf eines handlichen Revolvers, der von einer rostigen Patina ummantelt war. Schweiß sammelte sich auf Donars Stirn, ein Gefühl der Panik kroch durch seinen Körper. Von einem Moment auf den anderen sah er sich der Magie der Alten gegenüber.

„Du hast die Macht des Häuptlings unterschätzt!“, keuchte der scheinbar Siegreiche voll Überschwang. Donar war völlig hilflos. Er warf seinem Neffen einen flüchtigen Blick zu. Dann krachte der Schuss los. Ein donnernder Schlag, ein heller Blitz. Tyr fühlte die Druckwelle auf seiner Stirn, roch fast augenblicklich das Kordit, dessen Geruch ihn zeitlebens an jenen Tag erinnern sollte. Donars Kopf wurde brutal in den Nacken gerissen, eine Blutfontäne stieg auf. Die Leute schrien erschrocken, vor allem seine Schwester Sigyn und Balder.

Doch noch bevor Vergil siegreich jubeln konnte, bohrte sich ihm ein scharfes Stück Metall in den Bauch, gefolgt von schartigem Holz. Ein gepresstes Stöhnen kam über seine Lippen, das stahlblaue Auge weitete sich entsetzt. Während Donar trotz seiner aufgerissenen Wange krampfhaft lächelnd zu Boden ging, das Licht seiner Augen brach, glitt ihm der Schaft seines Speeres aus den Fingern. In diesen Stoß hatte er seine ganze Kraft gelegt.

Ein Raunen ging durch die Menge, als beide Kontrahenten nebeneinander zu Boden gingen. Tyrs Mutter schrie entsetzt auf, lief zu ihrem Bruder und stützte seinen Kopf. Vergil war wohl bereits tot, denn er gab keinen Mucks mehr von sich, nur sein Fuß zuckte noch in der aufgewühlten Glut und wirbelte Funken auf.

Zögerlich versammelten sich immer mehr Menschen um die beiden. Die Kräuterfrau stimmte einen gutturalen Gesang an, der den Saal mit einer religiösen Atmosphäre füllte. Balder entriss Vergils verkrampften Fingern die Waffe und legte sie seinem Freund auf die Brust. Die Eintrittswunde an dessen Kinn blutete stark, seine Kleider waren schon über und über besudelt.

„Kräuterfrau, kommt und helft ihm! Der Häuptling braucht Heilung“, forderte eine Frau. Die Alte kam der Bitte nach und zwei kräftige Männer halfen, Tyrs Onkel fortzubringen.

Balders Augen folgten ihnen, bis sie in einen der Gänge abgebogen waren. Er schluckte seinen Schmerz herunter, hätte gern um seinen Freund gebangt und mit ihm gelitten, aber die Pflicht verlangte nach ihm. Wenn er sich in den Reihen der Menschen umsah, erblickte er keinen, der den Mut gehabt hätte, sich Vergils Tod zu versichern. Also ging er auf den Liegenden zu, blickte ihm ins noch immer weit geöffnete, aber fahle Auge. Er war sich sicher. Der Mann war tot.

Also nahm er sich des Toten an. Mit einem kräftigen Ruck riss er den Speer aus seinem Bauch, dann landete der ehemalige Häuptling auf seinen Schultern. Bevor jemand einen Einwand äußern konnte, trug er ihn auch schon aus dem Saal hinaus. Mühsam schleppte er ihn durch das verzweigte Tunnelsystem, bis er endlich die Oberfläche erreichte. Einige hundert Meter vom Eingang entfernt legte er den Leichnam in das halb verschüttete Wrack eines ausgebrannten Autos. Er kletterte auf ein nahestehendes Gebäude, sah sich um und entdeckte ein Brecheisen, das seinen typisch roten Lack lange verloren hatte. Er stieß es in einen Geröllhaufen und drückte mit ganzer Kraft und seinem vollen Körpergewicht dagegen. Ein Rutsch ging durch den Schutt und ließ ihn als Lawine herniedergehen. Die Trümmer begruben Vergils verrosteten Sarg unter sich. Nach getaner Arbeit betrachtete Balder sein Werk.

„Die Walküren mögen dir hold sein. Du bist jetzt deren Problem!“

Nein, er hatte ihn nie gemocht. Auch deshalb hatte er für vollendete Tatsachen gesorgt, bevor jemand auf die Idee kommen konnte, Vergil eine ehrenhafte Feuerbestattung angedeihen zu lassen.

Donar kam am Abend noch einmal kurz zu Bewusstsein, bevor auch er Midgard für immer verließ. Vor seinem Tode erinnerte er seinen besten Freund daran, gut auf seine Schwester und seinen Neffen aufzupassen. Er bestimmte Balder zu seinem Nachfolger und neuen Häuptling der Sippe, niemand wagte es zu widersprechen. In seinen letzten Zügen ermahnte er Tyr, tapfer zu sein und die Krankheit wie ein Mann zu tragen. Dann starb er einen ruhigen Tod, müde und trunken von den Tinkturen der Weisen, die trüben Augen bereits auf Wotans ewige Hallen gerichtet.

II. Die Jagd

Durch den frühen Tod ihres neuen Häuptlings und den vorhergehenden Kampf verunsichert, waren die Mitglieder der Sippe wenig auf das Schicksal ihres schwächsten Gliedes bedacht. Tyrs Leid trug nicht dazu bei, sie in Hoffnung schwelgen zu lassen und ihren Hunger zu mildern, also vermieden sie jeden Kontakt zu ihm, selbst in Gedanken und Worten. Es schien fast, als wollten sie ihn und die bösen Geister, die sich in seinen schmächtigen Leib gefressen hatten, einfach vergessen. Schließlich klangen ihnen Vergils Worte unvergänglich in den Ohren nach. Und keiner von ihnen wollte das grausame Los des kleinen Jungen teilen.

Dies galt freilich nicht für seine Mutter und den neuen Häuptling Balder, die treu an seinem Lager Wache hielten und ihm die Ungnade eines einsamen Todes ersparen wollten. Liebevoll hielten sie seine zitternden Hände, wischten ihm mit warmem Wasser die Stirn und träufelten ihm sanfte Worte ins Ohr. Die Frau, die von Tag zu Tag älter zu werden schien, wich selbst in der Nacht nicht von der Seite ihres letzten Verwandten auf Erden. Jeden Morgen, wenn Balder kam, um nach ihr und dem Jungen zu sehen, rechnete er damit, ihn leblos in den Armen seiner Mutter aufzufinden. Doch obwohl Tyr entsetzliche Schmerzen hatte, trat dieser Tag nie ein. Mit der Zeit ließen die Blutungen im Mund nach, Verdauung und Sehkraft regulierten sich wieder und selbst die schwarzen Flecken zogen sich zurück. Nur auf der Brust des Kindes hielt sich eines der Scheusale tapfer und hinterließ eine großflächige, entstellende Narbe.

Auch die Kräuterfrau wurde auf dieses Phänomen aufmerksam. Sie warf die Hände über dem faltigen Haupt zusammen und dankte den gnädigen Göttern, dass sie ihre Sippe mit solch einem Glück gesegnet hatten. Diese Worte jedoch stießen bei den anderen Bewohnern der Höhle auf strikte Ablehnung. Schließlich waren die Vorräte vollends zur Neige gegangen und einen kranken Jungen, der sich zugegebenermaßen tapfer ans Leben klammerte, durchzufüttern, wenn selbst die Gesunden durch den Mangel um ihre Zukunft bangten, erschien ihnen nicht schlüssig. Auch Balders aufopferungsvolle Pflege missfiel ihnen, da er als Sippenführer Aufgaben von größerer Bedeutung zu erfüllen gehabt hätte. Insgeheim tuschelten die Frauen, er täte dies nur, um bei der unglücklichen Sigyn Leidenschaft für sich zu wecken. Gerade dies wurde tatsächlich zum Hauptproblem, da Balder in seiner neuen Position ein heiß begehrter Junggeselle war.

Von alldem wusste Tyr zu seinem eigenen Glück kaum etwas, als er eines Morgens, gut zwei Monate nach dem schicksalsträchtigen Duell in der Haupthalle, mit klarem Verstand erwachte. Er fuhr sich mit seinen dünnen Fingerchen durch das schweißnasse Haar und überlegte fieberhaft, wie lange er geschlafen hatte. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit konnte er wieder klare Gedanken fassen, der Alptraum aus Schmerzen schien sein unseliges Werk vollendet zu haben. Was nicht bedeutete, dass er sich nun von alldem erlöst fühlte. Im Gegenteil, er verspürte seinen Körper als Tollhaus, in dem eine ungezählte Meute von Raubtieren ein wüstes Schlachtfest feierte. Trotzdem war dies eine deutliche Verbesserung.

Als er seinen Blick durch die niedrige Höhle schweifen ließ, sah er in das Gesicht seiner Mutter, die nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Erdboden schlief. Sie war in ein dünnes Fell gewickelt, ihr Haupt lag auf einem Bündel Tücher. Ihr Atem flutete stoßweise den Raum und Tyr verspürte ein heimatliches Gefühl, als er ihrem leichten Schnarchen lauschte. Aufgrund des fehlenden Tageslichts wusste er zwar nicht, dass es gerade Morgen wurde, aber irgendwie musste seine innere Uhr die letzten Wochen heil überstanden haben. Er war sich sicher, dass auf der Oberfläche gerade ein neuer Tag anbrach.

Dass er damit recht behalten sollte, zeigte sich, als Balder sich in diesem Moment durch den Vorhang der Pforte zwängte und Tyr einen Blick auf ihn erhaschte. Die ohnehin dunkle Haut des Mannes war unter der Augenpartie dunkler als sonst, er schien wenig geschlafen zu haben. Sein von Müdigkeit erschlafftes Gesicht gewann jedoch augenblicklich wieder an Spannung, als er den Jungen aufgerichtet auf seinem Lager vorfand.

„Bei Asgards goldenen Schlössern! Tyr, du bist wach?“