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Am liebsten hätten sie veganes Theater

© 2017 Theater der Zeit für diese Ausgabe

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Verlag Theater der Zeit

www.theaterderzeit.de

Lektorat: Nicole Gronemeyer

ISBN 978-3-95749-132-9

Am liebsten hätten sie
veganes Theater

Frank Castorf
Peter Laudenbach

Interviews 1996–2017

Mit einem Interview mit Bert Neumann

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Berlin liegt am Meer | 2017

»Les Misérables« am Berliner Ensemble, das Ende der Volksbühne, Fernsehserien, Peter Stein, Fehler, Jürgen Holtz, das Performative

Man geht ab und zu gerne fremd | 1996

Brechts »Herr Puntila und sein Knecht Matti«, Einar Schleef, Heiner Müller, Elfriede Jelinek, Provinz

Der Krieg jeder gegen jeden | 1999

Dostojewskis »Dämonen«, der jugoslawische Krieg, Menschenrechte, Joschka Fischer, die russische Westgrenze

Psychoanalytischer Pop | 2004

H. C. Andersens »Schneekönigin«, Claus Peymann, de Sade, heruntergezogene Mundwinkel, Gerhard Stadelmaier

Man bekommt eine Idee davon, was das mal für ein Land war, Deutschland | 2009

»Ozean« von Friedrich von Gagern, Volksbühnen-Krise, Volker Spengler, Revolutionskitsch, Sklaverei, Edith Clever, Ensemble

Selbstverstümmelung als Überlebenstechnik | 2010

»Die Soldaten« von Jakob Michael Reinhold Lenz, Goethe, Karriere, Büchner, Schizophrenie

Überflüssige Menschen | 2010

»Drei Schwestern« und »Die Bauern« von Anton Tschechow, Armut, Morphium, Komik, Artaud, Chefdramaturgen

Natürlich lese ich Dostojewski als einen Porno | 2012

»Die Wirtin« von Dostojewski, Herbert Fritsch, 20 Jahre, Epilepsie, Vegard Vinge, Bachtin, die nackte Frau unter der Burka

Hauptsache, man darf nicht »Neger« sagen, dann ist die Welt in Berlin-Mitte in Ordnung | 2013

»La Cousine Bette« von Balzac, politische Korrektheit, Besetzungscouch, Bayreuth, Blackfacing, Peter Zadek

Am liebsten hätten sie veganes Theater | 2014

Das neue Berlin, Klaus Wowereit, Einschusslöcher, Touristen, Tim Renner, Epigonen, Iggy Pop, Zukunft der Volksbühne

Technik des Staatsstreichs | 2014

»Kaputt« von Curzio Malaparte, Hitler, Anklam, Jürgen Gosch, Weltkrieg

Man braucht Konflikte, um sich zu verständigen | 2017

»Der Spieler« von Dostojewski, »Der Auftrag« von Heiner Müller, Athen, Demokratie, arm und reich

Ich überlege, ob ich ein Tattoo-Studio aufmachen soll | 2015

Interview mit Bert Neumann

Kulturpolitik, Künstlertheater, Programmhefte, Gentrifizierung, Kuratoren

Nachwort

Nachweise

Inszenierungsverzeichnis

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Sina Martens, Jürgen Holtz, Andreas Döhler und Videoteam in »Les Misérables« (2017)

Foto: Matthias Horn

Berlin liegt am Meer

Das Gespräch fand Ende November 2017 statt, eine Woche vor der Premiere der Romanadaption von Victor Hugos »Les Misérables« am Berliner Ensemble am 1. Dezember. Frank Castorf ist seit drei Monaten nicht mehr Intendant der Volksbühne. Sein Nachfolger hat erste Proben seines, nun ja, Könnens gezeigt. Die zweieinhalb Jahrzehnte der Castorf-Volksbühne sind jetzt wirklich: Geschichte. »John-Lennon-Nachlass 3,1 Millionen Euro wert« meldete die »BZ« in der U-Bahn auf der Fahrt des Reporters zum Interview.

Herr Castorf, haben Sie Phantomschmerzen, weil es die Volksbühne als dieses sehr besondere Theater nicht mehr gibt?

Ich gehe an dem Gebäude vorbei und bin über alles, was ich getan habe, sehr froh. Dass da kein Rad und kein »Ost« mehr stehen, ist richtig. Niemand kann das für sich beanspruchen, das ist ein Etikettenschwindel, den ich nicht zulasse. Das ist Partisanentum, verbrannte Erde, wie die Aufständischen in Spanien den napoleonischen Usurpatoren 1808 nichts überlassen haben. Sie haben damals im Prinzip den Gedanken des Guerillakampfes geboren, wie das Carl Schmitt beschreibt. Das Theater steht heute so traurig da, sehr viel trauriger als zu der Zeit, als ich es übernommen habe. Obwohl damals nur fünfzig Zuschauer im Parkett saßen, war es immerhin noch ein Theater. Ich habe, als wir 1992 angefangen haben, nur zwei Inszenierungen aus dem Repertoire übernommen, »Die Räuber« und »Das trunkene Schiff«, und die waren beide von mir. Heute jammern unsere Nachfolger, dass sie unsere Inszenierungen nicht übernehmen durften. Das ist larmoyant. Jetzt ist die Volksbühne wieder ein nackter, toter Bau von schlagender Hässlichkeit, wie Ivan Nagel damals geschrieben hat. Das soll wahrscheinlich die neue Sachlichkeit sein. Vielleicht ist es, wie Fernsehjournalisten mutmaßen, das Theater des 21. Jahrhunderts, aber dann schafft es sich in kürzester Zeit selbst ab. Bei Victor Hugo kann man lesen, wie das alte, das Vor-Baron-Haussmann-Paris Funken schlägt und ungeheuer vital ist. Das ist böse, anmaßend, komisch, das hat mit Kunst zu tun. Das zu lesen macht mir Spaß, ganz egoistisch.

Das war jetzt eine schöne Beschreibung der alten, sozusagen der Vor-Baron-Haussmann-Volksbühne: vital, böse, anmaßend, komisch, Kunst. Vor zwei Jahren sagten Sie gewohnt defätistisch, dass das schnell vergessen und die Lücke mit Coca-Cola gefüllt werden wird. Das mit dem Vergessen war offenbar ein Irrtum.

Naja, das ist doch schön.

Nehmen Sie das Wirken ihres Nachfolgers wahr?

Das sind des Kaisers neue Kleider. Jeder weiß, dass der Typ nackt ist.

Das konnte man mit etwas Kenntnis auch schon länger sehen. Er kann ja nichts dafür, dass er ist, wie er ist. Das eigentliche Verbrechen ist, dass Politiker ohne jede Kenntnis und offenbar ohne Leute zu fragen, die etwas mehr von der Materie verstehen, so jemandem ein Theater ausliefern. Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass Matthias Lilienthal seinen Freund Dercon empfohlen hat. Das wurde damals ganz geheim gehandelt. Ich war mit meinem Anwalt Gregor Gysi bei Müller [Michael Müller, seit 2014 Berlins Regierender Bürgermeister] und Renner [Tim Renner, 2014–2016 Berlins Kulturstaatssekretär], und sie taten, als hätten sie gerade einen neuen Picasso entdeckt. Aber sie haben keinen Namen genannt. Ich weiß nicht, ob Sie das Foto kennen, wo mir Renner und Dercon bei der Hundertjahrfeier der Volksbühne die Hand schütteln. Das ist zweimal Tartuffe. Man sieht das Bild und weiß eigentlich alles. Dercon scheint auch keine Scham zu kennen. Das auszuhalten ist ja auch eine Leistung. Aber an der Volksbühne gab es zwischen den revolutionär-avantgardistischen Zeiten immer Phasen des ungeheuren Stillstands, konfus modernistisch, völlig ziellos. Wie heißt noch mal der junge Mann, der bei uns im Jugendtheater war und jetzt Tanz macht?

Dercon – das sind des Kaisers neue Kleider. Jeder weiß, dass der Typ nackt ist.

Tino Sehgal?

Wenn man in einem dunklen Raum einen gefälschten Van Gogh an die Wand hängt und leise flüstert, gilt das bereits als Theater. Dass der Kaiser nackt ist, stört nicht weiter, solange man mit Kunst, bei der es um nichts geht, Geld verdienen kann, auch mit der Interpretation und dem Kuratieren von Kunst. Offenbar ist es ein Beruf, durch die Welt zu reisen und einzukaufen – ein Intendant als Einkäufer und Verkäufer, mehr ist er nicht. Wie am Kunstmarkt ist das Geld, das Label der einzige Bedeutungsträger. Nur a posteriori, durch den hohen Preis, bekommen die Dinge ihre Wertigkeit, für sich bedeuten sie nichts. Es ist unglaublich, was der Typ in Interviews oder auf irgendwelchen Podien erzählt. Das war bei Renner auch so. Ich habe Renner bei einem Abendessen bei Peter Raue [ein kulturinteressierter Berliner Rechtsanwalt] getroffen, er hat endlos geredet und hinterher wusste man nicht, was er gemeint hat, kein Wort. Das ist bei Dercon genau das Gleiche. Eigentlich bleibt im besten Fall die Grundsympathie, die man früher für Rudi Carrell hatte. Der Druck, sich das schönzulügen, auch in den Redaktionen der großen Zeitungen, ist offenbar enorm. Man sieht, wie Pop-Journalisten und Leute aus dem Kunstumfeld, die sich davor nicht durch Theaterkennerschaft ausgezeichnet haben – müssen sie ja auch nicht –, plötzlich über die Volksbühne schreiben und die jetzige Intendanz feiern. Der Opportunismus ist gut trainiert. Man merkt selbst den Widerspruch bei jemandem, den ich mag und der intelligent ist, bei Diedrich Diederichsen: einerseits wäre es ganz schön, wenn die Volksbühne kein Theater mehr ist, andererseits sieht er selbst, dass das, was da jetzt geschieht, Scheiße ist.

Was würden Sie sich für die Volksbühne für die Zeit nach dem jetzigen Intendanten wünschen?

Das weiß ich nicht. Die Frage ist, wie lange die Politik, der Herr Müller und der sehr zauderliche Herr Lederer [Klaus Lederer, seit 2016 Berlins Kultursenator], tatenlos zusieht. Wenn das Theater in die roten Zahlen kommt, und das wird es ziemlich schnell, hat es sich erledigt. Bis dahin gehen Fähigkeiten verloren, wenn die Gewerke nichts zu tun haben, weil nicht produziert wird. Jetzt sitzen die Leute in der Kantine und betteln darum, dass sie arbeiten dürfen. Sich aus dieser Lethargie zu befreien und das Haus wieder zu einem Produktionsapparat zu machen, wird schwierig werden. Wenn es einmal kaputt ist, ist es kaputt. Das unterschätzt Lederer. Das Theater wird nicht wieder lebendig, nur weil sich der Senator ein Volksbühnen-T-Shirt anzieht.

Wie war das letzte Jahr für Sie?

Die letzte Spielzeit der Volksbühne war das anstrengendste Jahr in meinem Leben. Das war schwerer als Haftbefehle in der DDR. Es war der Kampf nach außen und nach innen. Man hat gemerkt, Westberlin hat sich entschlossen, den anmaßenden, barocken Castorf endlich loszuwerden. Das war ganz klar, von Bürgermeister Müller bis zu den Tageszeitungen. Das war nicht überraschend. Dann gab es eine Gegenbewegung von Leuten, die gesagt haben, jetzt muss ich da mal wieder hingehen. Dann waren sie affiziert und sind immer wieder gekommen. Das war enorm. Am letzten Tag standen 5000, 6000 im Regen vor der Volksbühne, besser kann man nicht aufhören. Gleichzeitig war es wichtig, das nach innen am Kochen und in der Überforderung zu halten. Wie immer man zu ihnen im Einzelnen steht, aber Herbert Fritsch, Christoph Marthaler, die Schauspieler, René Pollesch, wir sind uns in den letzten beiden Jahren so nahe kommen wie seit Jahren nicht mehr.

Der Output an letzten Volksbühnen-Inszenierungen war enorm. Sie haben mit »Faust« – mitten in den Debatten um das Ende Ihrer Intendanz – eine konzentrierte, klare, gewaltige Inszenierung gezeigt.

Auch das war ein Kampf von Aleksandar Denić [Castorfs Bühnenbildner] und von mir, gegen die Macht der Gewohnheit, die es auch an der Volksbühne gab und die, wie Lenin sagt, die fürchterlichste ist. Och, das ist ja so ein großes Bühnenbild, da müssen wir ja eine Woche aufbauen … Das habe ich mit aller Gewalt durchgesetzt, gegen die Abteilungen. In meinem barocken, auch katholischen Weltgefühl ist mir so ein orthodoxer Serbe wie Aleksandar Denić sehr nah, auch in dem latenten Kitsch, den die nachgebaute Filmkulissen-Realität manchmal hat. Im Augenblick fühle ich mich darin sehr wohl. Bei der »Faust«-Produktion ist dieses Schwungrad der gemeinsamen Arbeit wieder in Gang gekommen, immer wieder, bis zur letzten Vorstellung von »Kabale der Scheinheiligen« in Avignon. Ich wollte, dass da das Rad steht, das ist egoistisch, das stimmt. Den Gefallen habe ich mir selbst getan, das Schlussfest, das allerletzte, in Avignon zu feiern, im Freien, unter einer Sonne, die mir näher ist als die in Berlin. Viele am Haus wollten lieber über ihr Elend und das Ende reden und nichts tun. Ich wollte arbeiten. Der Schluss ist das Entscheidende, das ist das Finale.

Bert Neumann hat die Volksbühne so stark geprägt wie Sie. War das eigentliche Ende nicht schon sein Tod im Juli 2015?

Das war auch die erste Überlegung. Er war ein ganz wesentlicher Motor, auch in der Art und Weise, wie er Leute gestützt hat. Mein wichtigster Mitarbeiter, nicht nur als Bühnenbildner, war tot. Die Frage war, lohnt es sich weiterzumachen. Nein, es war richtig, dass wir bis zum Schluss so kämpfen wollten, dass wir nicht vergessen werden.

Vermissen Sie das Ensemble der Volksbühne, auch wenn der Theaterkritiker Franz Wille glaubt, die Volksbühne hätte kein Ensemble gehabt?

Kein Schauspieler würde sich über sechs Stunden abfackeln wie Marc Hosemann oder Alexander Scheer oder Martin Wuttke, wenn das keine Ensemblearbeit wäre. Wir haben am Anfang mit vielen aus dem alten Ensemble weitergearbeitet. Weil ich schon 1985 mit Henry Hübchen in Anklam »Nora« gemacht hatte, haben wir ihn von Anfang an zum Zentrum des Ensembles aufgebaut. Er hat das Ensemble über fünfzehn Jahre durch sein Spiel geformt. Mit dem nötigen Charme und seiner Intelligenz hat er die anderen mitgenommen. Die Spieler prägen sich gegenseitig, das ist der Kern eines Ensembles. Das war für die Volksbühne extrem wichtig, bis zum Ende.

Das tropische Klima wird die Feinde der Freiheit vernichten.

Mit Victor Hugos Roman »Les Misérables« bleiben Sie am Berliner Ensemble Ihrer Liebe zu dicken Romanen aus dem 19. Jahrhundert treu. 1862, im Erscheinungsjahr des Romans, notieren die Brüder Goncourt in ihrem Tagebuch, es sei »amüsant«, dass Hugo 200 000 Francs, ein enormes Vermögen, damit verdiene, »dass man das Elend der unteren Volksschichten bemitleidet«. Ist das zynisch oder einfach gut beobachtet, oder ist es beides?

Man kann offenbar viel Geld damit verdienen, das Elend zu beschreiben und journalistisch oder in Hollywood zu verwerten. Aber deshalb nicht über die Armut zu schreiben, würde auch niemandem helfen. Die Brüder Goncourt waren Bluthunde der Reaktion, man erinnert sich an ihre berühmten Sätze über die Pariser Kommune, jeden der Aufständischen müsste man einzeln durch die Straßen zu Tode schleifen. Sie waren absolut reaktionär, trotzdem waren sie in der Lage, die Attraktivität großer Literatur, ihre Widersprüche, die sich im Einzelnen widerspiegeln, sehr genau zu beschreiben. Fast zur gleichen Zeit wie Hugo verfasst Balzac seine bissigen Gesellschaftsromane, von denen Marx sagt, Balzac sei vielleicht Royalist, aber niemand beschreibe den Zustand der französischen Gesellschaft besser als er. Er schreibt so viel wie kein anderer, um all die Seide, die Schulden und die Liebe zu bezahlen. Victor Hugo schreibt seinen Roman im Exil auf einer kleinen britischen Atlantik-Insel. Gleichzeitig protokolliert er eine Liebesliste, er notiert, wann er eine Brust anfassen konnte und wann er Geschlechtsverkehr vollzogen hat. Er wird vom extremen Monarchisten zum Sympathisanten früher Sozialisten wie Blanqui, jemand, der die sozialen Widersprüche wahrnimmt. Hugo schreibt über die Aufstände der Polen gegen die russische Herrschaft oder die der Mexikaner gegen die Fremdherrschaft der Franzosen. Er sagt, die Guerilla wird vielleicht irgendwann dieser wohlorganisierten Armee unterliegen, aber dann übernehmen die Landschaften den Krieg. Das tropische Klima wird die Feinde der Freiheit vernichten. Da denkt man an Heiner Müllers »Der Auftrag«. Das sind Sprünge ins Surreale bei Hugo. Die Surrealisten sahen in ihm einen Verwandten. »Victor Hugo war ein Verrückter, der sich für Victor Hugo hielt«, schreibt André Breton.

Heute verachtet die Hochkultur seinen Roman als trivial, grell, sentimental, Rohstoff für Musicals. Aber im Erscheinungsjahr feiert ein hellsichtiger Avantgardist wie Baudelaire »Les Misérables« und bewundert Hugo als Lyriker.

Der Roman hat etwas von einem endlosen Gedicht in vielen Schichten, eine große Montage, man muss sich die einzelnen Brocken rausnehmen. Die Aufstände und die Regierungen nach Napoleon wechseln in rasanter Geschwindigkeit. Mario Vargas Llosa nennt Hugo einen »Ozean«, einen »göttlichen Stenografen«, und da ist was dran. Ich bin von Dostojewski geprägt, da taucht der Erzähler nur manchmal kurz und ironisch auf. Er ist nie ein Wegweiser durch das Dickicht des Romans, kein gottgleicher Erzähler, der alles weiß und erklärt. Hugo erklärt dauernd, ein Besserwisser, der immer wieder seine Figuren mit endlosen Exkursen unterbricht, um sein eigenes Denken vorzuführen. Mittendrin baut er ganze Schlachtgemälde ein und fragt sich, ob die Schlacht von Waterloo anders ausgegangen wäre und Napoleon den Krieg gewonnen hätte, wenn es etwas weniger geregnet hätte. Dieser Besserwisser ist natürlich ein genialer Regisseur. Man hört immer seine Stimme, das ist der Unterschied zu Dostojewski.

Deshalb hat Flaubert ja Hugo und seinem Roman vorgeworfen, er zeige keine richtigen Menschen und lebendigen Charaktere.

Das sind Märchenfiguren, das erinnert an amerikanische Fernsehserien, melodramatisch und mit lauter ausgedachten Konstruktionen. Das gefällt uns wahrscheinlich so an den Fernsehserien; man behält die Übersicht, die wir im realen Leben längst verloren haben. Hugo ist ein genialer Vertreter des Serienformats, die Kapitelüberschriften könnten gut bei Tarantino auftauchen. Die Dramaturgie mit Rückblicken über Jahrzehnte ist so weit gespannt wie bei einer HBO-Serie. Balzacs Figuren sind plastischer, weil Balzac immer die Distanz des Beobachters zu ihnen hält. Er zeigt sie uns als Geschöpfe, die Recht auf ein Eigenleben haben, sie werden sich nicht ändern. Die Menschen bei Hugo sind das pure Böse oder das pure Gute, wie der Bischof Myriel, der aus dem hasserfüllten früheren Sträfling Jean Valjean einen guten Mensch macht und ihm alles Silber schenkt, um dessen Seele zu retten. Das ist ein faustischer Pakt, der Ausgangspunkt des ganzen Romans. Es sind keine Charaktere im Sinne der Alltagspsychologie, das sind Archetypen. Auch die Liebe Cosettes zu Marius hat etwas von einem Märchen. Man sieht einmal als Höhepunkt der Erotik ihr Knieband, als ein Windstoß ihren Rock hochhebt, das ist alles. Der Gegensatz ist Fantine, Cosettes Mutter, die sich aus Armut prostituieren muss. Jemand wie der Polizist Javert, der vielleicht der widersprüchlichste Charakter ist, kämpft mit einer großen Klarheit für die Übersichtlichkeit in der Gesellschaft, das Gegenteil eines Zynikers. Das sind eigentlich sehr einfache Figuren, man denkt an Grimms Märchen.

Märchen handeln vom realen Schrecken. Hugo nennt den Schrecken, von dem sein Roman erzählt, im programmatischen Vorwort die »soziale Verdammnis«, den »sozialen Erstickungstod«.

Dieser Schrecken ist überformt durch die Naivität, die der Roman auch hat. Die Naivität macht wahrscheinlich den Erfolg aus, weil jeder etwas darin finden kann, was ihn anspricht. Das Elend muss so aufbereitet sein, dass es unser Wohlgefühl nicht stört. Ich habe die Verfilmung nur zu Hälfte gesehen, dann war es mir doch zu amerikanisch. In einer der größten Szenen des Romans verkauft Fantine aus Armut, um Geld für ihr Kind zu haben, erst ihre Haare und dann ihre Zähne. Sie werden ihr brutal rausgerissen, da denkt man an George Grosz oder an Otto Dix. Im Film sieht man das weichgezeichnete Gesicht ihrer Tochter. Danach hat die Hollywood-Schauspielerin kurze Haare und nicht einmal eine Zahnlücke. Die Grausamkeit, dass Armut in die Leiber schneidet, wollen wir uns lieber nicht antun. Dem Käufer, dem Zuschauer wird nur zugemutet, was er geneigt ist zu sehen. Rimbaud schreibt bissige Satiren über den Zustand, den wir heute erleben, nämlich die Demokratie. Alles ist zu verkaufen, auch das Mitgefühl. Sicher ist es auch ein historischer Fortschritt, dass wir heute mit Schauder wahrnehmen, dass es uns besser geht als den Unterschichtfiguren bei Hugo oder Balzac, jedenfalls in den reichen Ländern. Dieser wohlige Schauder gehört zur Erfolgsgeschichte des Romans.