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Die Autoren

Dr. med. Susanne Kunz Mehlstaub, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, Ausbildung zur Psychotherapeutin in Psychodrama und psychoanalytischer Therapie in Wien und Zürich. Langjährige Tätigkeit als ärztliche Leitung im Bereich Psychotherapie an der Klinik Clienia Littenheid in der Schweiz. Fachlicher Schwerpunkt für Persönlichkeits- und Essstörungen. Seit 2008 therapeutische Tätigkeit für Einzel- und Gruppentherapie und Coaching in eigener Praxis in St. Gallen. Supervisorin in verschiedenen Institutionen, Lehrauftrag an der Uni Innsbruck für Aus- und Weiterbildung in Psychodrama-Therapie, am PSZ in Zürich für Psychoanalyse und am KIF in Luzern für analytische Selbsterfahrung.

Christian Stadler, Dipl. Psych., Psychologischer Psychotherapeut (TP) in eigener Praxis in Dachau, Akkreditierter Supervisor, Fortbildungs- und Selbsterfahrungsleiter bei der PTK Bayern, Geschäftsführer, Fort- und Weiterbildungsleiter der Moreno Institut Edenkoben/Überlingen gGmbH, Lehrtätigkeit bei den Lindauer Psychotherapiewochen sowie dem Bildungswerk des Bayerischen Bezirketages. Unterrichtsschwerpunkte sind Psychodrama, Arbeit mit Träumen sowie allgemeine Psychopathologie. Mitherausgeber der Zeitschrift Psychodrama und Soziometrie (ZPS) und Autor zahlreicher Fachbücher und Fachartikel. Mitglied im Europäischen Forschungskomitee für Psychodrama (FEPTO Research Council).

Susanne Kunz Mehlstaub Christian Stadler

Psychodrama-Therapie

Mit einem Beitrag von Alfons Aichinger

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028723-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-028724-2

epub:   ISBN 978-3-17-028725-9

mobi:   ISBN 978-3-17-028726-6

Geleitwort zur Reihe

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Harald J. Freyberger (Stralsund/Greifswald)

Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)

Bernhard Strauß (Jena)

Inhalt

 

 

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. Geleitwort zum Buch
  3. von Helena Brem
  4. Einleitung
  5. 1 Herkunft, Geschichte und Entwicklung des Verfahrens
  6. 1.1 Biografie, historischer und religiöser Hintergrund des Begründers
  7. 1.2 Entwicklung und Durchbruch der Methode in den USA
  8. 2 Verwandtschaft mit anderen Verfahren
  9. 2.1 Psychodramatische Grundorientierungen
  10. 2.1.1 Psychodrama-Therapie als humanistische Psychotherapie
  11. 2.2 Psychodrama und andere Therapieverfahren
  12. 2.2.1 Psychodrama und psychodynamische Therapien
  13. 2.2.2 Psychodrama und Verhaltenstherapie
  14. 2.2.3 Psychodrama und systemische Therapie
  15. 2.2.4 Psychodrama und weitere Therapieformen
  16. 2.3 Psychodrama und die allgemeine Psychotherapie nach Grawe
  17. 3 Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen
  18. 3.1 Philosophische Grundlagen
  19. 3.1.1 Phasen der Theorieentwicklung
  20. 3.1.2 Soziodynamik, Empirie und Praxis
  21. 3.1.3 Handlungstheorie und ihre religiösphilosophischen Grundlagen
  22. 3.1.4 Begegnung, Tele und Soziometrie
  23. 3.2 Psychologische Grundlagen
  24. 3.2.1 Persönlichkeitsentwicklung und Rollenentwicklung
  25. 3.2.2 Der kreative Zirkel
  26. 3.3 Neurobiologie und Psychodrama
  27. 4 Kernelemente psychodramatischer Diagnostik
  28. 4.1 Diagnostik in Bezug auf die Rolle(n)
  29. 4.1.1 Soziale und soziokulturelle Atome
  30. 4.1.2 OPD-Beziehungsachse (II) als Diagnostikum im Psychodrama
  31. 4.1.3 Weitere diagnostische Instrumente
  32. 4.2 Diagnostik in Bezug auf den inneren Prozess der Veränderung
  33. 4.2.1 Spontaneitätstest
  34. 4.2.2 Stufenmodell der Psychodrama-Techniken als Diagnostik des Strukturniveaus
  35. 4.3 Psychodramaspezifische Wirksamkeits- und Ergebnisdiagnostik
  36. 5 Kernelemente der Psychodrama-Therapie
  37. 5.1 Instrumente des Psychodramas
  38. 5.1.1 Bühne
  39. 5.1.2 Spielbühne
  40. 5.1.3 Protagonist
  41. 5.1.4 Therapeutischer Leiter
  42. 5.1.5 Hilfs-Ich (Auxiliary Ego) und Gruppenteilnehmer
  43. 5.1.6 Gruppe als Matrix und Publikum
  44. 5.2 Arrangements
  45. 5.2.1 Erwärmungs-Arrangements für die Einzel- wie für die Gruppentherapie
  46. 5.2.2 Soziales Atom
  47. 5.2.3 Märchenspiel
  48. 5.2.4 Zauberladen oder Magic Shop
  49. 5.3 Psychodrama-Techniken
  50. 5.3.1 Szenenaufbau und Doppeln
  51. 5.3.2 Rollenwechsel im kulturellen Atom
  52. 5.3.3 Spielen in der eigenen Rolle
  53. 5.3.4 Spiegeln
  54. 5.3.5 Rollenwechsel im sozialen Atom und Identifikationsfeedback
  55. 5.3.6 Rollentausch
  56. 5.3.7 Rollenfeedback und Rolleninterview
  57. 5.3.8 Sharing
  58. 5.3.9 Szenenwechsel und Amplifikation (Erweiterung)
  59. 5.4 Abläufe eines Protagonisten- und eines Gruppenspiels
  60. 5.4.1 Protagonistenspiel
  61. 5.4.2 Soziodrama oder Gruppenspiel
  62. 6 Fallbeispiel
  63. 6.1 Die Szene als Abbild des Alltags
  64. 6.2 Gretas Protagonistenspiel
  65. 6.3 Reflexionen zum Fall
  66. 6.4 Gretas Familienaufstellung im Einzelsetting
  67. 7 Hauptanwendungsgebiete: Integrationsniveaus, Störungsbilder und Techniken
  68. 7.1 Der kreative Zirkel
  69. 7.2 Das psychodramatische Störungsmodell
  70. 7.3 Psychodrama und die OPD-Strukturachse IV
  71. 7.4 Anwendungsbereiche – Fallbeispiele
  72. 7.4.1 Stabilisierte Psychose
  73. 7.4.2 Trauma und Beziehungstrauma in der Kindheit
  74. 7.4.3 Depressive Krise in Trennungssituation
  75. 7.4.4 Depressive Entwicklung vor dem Hintergrund einer erschwerten Ablösung von den Eltern
  76. 7.4.5 Essstörung
  77. 8 Settings
  78. 8.1 Psychodrama mit Kindern und Jugendlichen von Alfons Aichinger
  79. 8.1.1 Indikation
  80. 8.1.2 Gruppentherapie mit Kindern
  81. 8.1.3 Setting
  82. 8.1.4 Ablauf einer Gruppentherapiesitzung
  83. 8.1.5 Einzeltherapie mit Kindern (Monodrama)
  84. 8.1.6 Begleitende Familien- oder Elternberatung
  85. 8.1.7 Einzel- und Gruppentherapie mit Jugendlichen
  86. 8.2 Psychodrama mit Erwachsenen
  87. 8.2.1 Monodrama – Einzelsetting
  88. 8.2.2 Indikation für das Monodrama
  89. 8.2.3 Tischbühne und Zimmerbühne
  90. 8.2.4 Psychodrama in der Gruppe
  91. 8.3 Psychodrama mit Paaren und Familien
  92. 9 Wissenschaftliche und klinische Evidenz
  93. 9.1 Überblick
  94. 9.2 Psychosen
  95. 9.3 Depressive Störungen
  96. 9.4 Depressive Störungen und Angststörungen
  97. 9.5 Angst
  98. 9.5.1 Soziale Phobie
  99. 9.5.2 Mathematikangst
  100. 9.6 Essstörungen
  101. 9.7 Traumafolgestörungen
  102. 9.8 Strukturelle Störungen
  103. 9.9 Sucht und Abhängigkeit
  104. 9.10 Konfliktlösungsstrategien bei aggressivem Verhalten Adoleszenter
  105. 9.11 Prävention, Unterstützung und Schutz bei Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Frauen (DAPHNE)
  106. 9.12 Kasuistiken aus dem klinischen Bereich
  107. 10 Institutionelle Verankerung
  108. 11 Informationen zu Aus-, Fort- und Weiterbildung
  109. Literatur
  110. Zeittafel
  111. Stichwortverzeichnis

Geleitwort zum Buch

von Helena Brem

Susanne Kunz Mehlstaub und Christian Stadler vermitteln in diesem Buch auf leicht lesbare Art psychodramatisch-psychotherapeutische Grundlagen, erläutern schwierige Zusammenhänge und untermauern sie mit den Erkenntnissen aus der modernen Hirnforschung. Eine Stärke des Buches ist die gute Durchstrukturierung: Kapitelweise das nötige Vorwissen aufbauend, gelingt es den beiden Autoren, Aha-Erlebnisse zu generieren. Dank den Bezügen, welche die Autoren setzen, eignet sich das Buch sowohl für psychodramatische Laien, da es einen guten Überblick bietet, als auch für versierte Psychodramatikerinnen und Psychodramatiker, da neurobiologische Erkenntnisse mit Morenos »altem« Wissen verbunden werden. Dieses Buch macht Psychodrama greifbar und eignet sich für Personen aus dem gesamten psychosozialen Arbeitsspektrum, inklusive Fachkräften aus dem Kinder- und Jugendbereich.

Im ersten und dritten Kapitel geben die Autoren einen umfassenden Überblick über Morenos Werdegang mit seinem spirituell-philosophischen Anspruch und der damit verquickten Entwicklung seiner psychodramatisch-salutogenetischen Theorie und Therapieform. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Nähe des Psychodramas zu anderen Therapieformen. Die Autoren zeigen auf, bei welchen Therapieformen Psychodrama Pate stand: Ob verhaltenstherapeutisches Rollenspiel, das Reflecting Team der Systemtherapie oder moderne traumaspezifische Ego-State-Therapie-Techniken des Psychodramas wurden in verschiedene Therapieformen eingebaut. Die Wirkung des Psychodramas beruht darauf, sich in einem umfassenden Sinn zu erkennen und mittels verstehender und konfrontierender Haltungen (durch den Therapeuten) neu zu (er)finden. Moreno betrachtete den Raum der Realität als zu einschränkend und ermöglichte durch den Bühnenraum eine Erweiterung des Lebens. Die psychodramatische Inszenierung führt Klient, Therapeut und Gruppe in ein regressives Erleben hinein, wo Ursprungs- und Aktual-Konflikte bearbeitet werden, und mit neuen Erfahrungen wieder heraus.

Die Erkenntnisse aus der Hirnforschung stützen die psychodramatische gruppen- und handlungsbezogene Vorgehensweise. Durch die szenische Darstellung werden im limbischen System wie auch im präfrontalen Cortex durch innere Bilder Gefühle erzeugt. Das bessere Selbst- und Rollenverständnis im sozialen Kontext schafft ein vertieftes Verständnis für eigene Symptome und Störungen im Spiegel der Einzel und/oder Gruppentherapie mit dem Ergebnis von mehr Lebensqualität und friedvolleren Beziehungen zueinander.

Das vierte Kapitel befasst sich mit Diagnostik und gruppendynamischen Störungen und deren Lösungen. Der soziometrische Test wird beispielsweise als wirkungsvolle Möglichkeit beschrieben, um bei Mobbing Abhilfe zu schaffen, um festgefahrene Situationen wieder zu lösen, und eignet sich sowohl für Kinder-, Jugend- als auch Erwachsenengruppen. Anhand von diversen Fallbeispielen wird in den Folgekapiteln störungsspezifisches Psychodrama mit all seinen Settings im Erwachsenen- und Kinder-/Jugendbereich umfassend abgedeckt. Die wissenschaftliche Einbettung und institutionelle Verankerung inklusive Aus-, Fort- und Weiterbildungsrahmen in den deutschsprachigen Ländern runden das Bild ab.

Dieses Buch ist ein »wahres zweites Mal«, ein Buch wie eine Nachspeise – leicht bekömmlich und fein!

Luzern, im Herbst 2016

Helena Brem

Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin (FSP), Psychodrama-Therapeutin und -Ausbilderin

Einleitung

 

 

In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte der österreichisch-amerikanische Arzt und Psychiater Jacob Levy Moreno das Psychodrama, ein kreative Therapie-und Aktionsmethode. Zu dieser Zeit lebten zahlreiche Künstler unterschiedlichster Genre und Philosophen in Wien. Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, der große Armut und Flüchtlingsströme nach sich zog und Moreno in seiner kreativen und sozialen Haltung als Mensch beeinflusste. Aus der Vorliebe fürs Theater entwickelte er Psychodrama als therapeutisches Verfahren. Mittlerweile sind bald 100 Jahre vergangen und das Psychodrama zählt heute zu den humanistischen handlungs- und erlebnisorientierten Verfahren. Psychodrama befindet sich in Abgrenzung zur Psychodynamischen Therapie, der Verhaltenstherapie, der Systemischen Therapie, der Kunsttherapie etc., was im zweiten Kapitel genauer ausgeführt wird. Jedem Individuum steht ein erlerntes Rollenrepertoire für die Bewältigung seines Lebens zur Verfügung. Die wesentlichen Faktoren der Rollenentwicklung eines Menschen werden durch Spontaneität und Kreativität realisiert. Diese können durch fehllaufende Entwicklungen blockiert sein und erfahren durch Therapie eine neue Entfaltung. Moreno stellte fest, dass sich der Mensch von Geburt an in einer Gemeinschaft befindet, die ihm Schutz bieten und Entwicklungsanregungen geben kann. Begegnung ist ein zentraler Begriff im Verfahren Psychodrama. In der Gemeinschaft und der Familie erwirbt das Kind Fähigkeiten, die sich zu Rollen verdichten und ein konstruktives Miteinander bewirken.

Psychodrama ist in zahlreichen Orten auf der ganzen Welt vertreten und seine besondere Bedeutung liegt in der Ganzheitlichkeit der Methode. Neue hirnbiologische Forschungen haben die Bedeutung des Psychodramas unter Beweis gestellt, und so freuen wir uns, Ihnen mit unserem Werk Psychodrama näher zu bringen. Das Verfahren Psychodrama wird in verschiedensten beruflichen Feldern eingesetzt. Dazu gehören Coaching, Supervision, Unterrichtsgestaltung und Theaterarbeit. Der Schwerpunkt in diesem Buch ist der therapeutischen Arbeit in der Psychotherapie gewidmet.

Das Buch gibt einen Einblick in die persönliche und gesellschaftliche Geschichte des Gründers J. L. Moreno und seinen drei wesentlichen Lebensstationen in Rumänien, Österreich und den USA. Philosophische und neurobiologische Grundlagen des Verfahrens werden vermittelt, ebenso wie die psychodramatische Diagnostik in Kombination mit im therapeutischen Feld gängigen Diagnosestandards. Anschaulich wird anhand von Fallbeispielen gezeigt, wie die Autoren mit dem psychodramatischen »Handwerkskoffer« arbeiten und wie auf bestimmte Störungen und Erkrankungen bezogen gezielt Interventionen durchgeführt werden können. ICD-10-Diagnosen und das Gerüst der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) bilden dafür den Referenzrahmen. Die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und die verschiedenen Settings wie Einzeltherapie, Paar- und Familientherapie sowie das wirksame Vorgehen in der Psychodrama-Therapiegruppe werden vorgestellt. Aktuelle Forschungsergebnisse quantitativer sowie qualitativer Studien und der Hinweis auf Lehr- und Ausbildungseinrichtungen für Psychodrama im deutschsprachigen Raum runden das Buch ab. Das Werk soll dem Leser einen Gesamtüberblick über dieses kreativitätsfördernde Verfahren liefern.

Der Text wurde aus Gründen der besseren Lesbarkeit in der männlichen Schriftform gehalten, was die weibliche Form selbstverständlich miteinschließt.

Wir möchten an dieser Stelle ganz besonders Alfons Aichinger danken, der den Teil des Kinderpsychodramas verfasst hat. Jörg Bergmann gab uns wertvolle Hinweise zu Forschungsergebnissen. Des Weiteren geht der Dank der Autoren an die Patienten und Klienten der Fallbeispiele, die dieses Buch möglich machten. Im Weiteren möchten wir Bernhard Strauß als unserem Ansprechpartner unter den Herausgebern der Reihe »Psychotherapie kompakt« und Anita Brutler vom Kohlhammer Verlag danken. Zu guter Letzt gilt unser Dank Andreas und Claudia, die uns mit Geduld und Ermutigung unterstützt haben.

Wil und München, im Herbst 2017

Susanne Kunz Mehlstaub und Christian Stadler

1          Herkunft, Geschichte und Entwicklung des Verfahrens

 

1.1       Biografie, historischer und religiöser Hintergrund des Begründers

Jacob Levy Moreno wurde am 18. Mai 1889 in Bukarest geboren, was anhand seiner Geburtsurkunde aus den Archiven in Bukarest von Dr. Georges Bratescu belegt ist (Scherr 2013). Ein weiteres Geburtsdatum, der 30. Mai 1892, wurde von Moreno selbst gewählt. Genau 400 Jahre zuvor wurden die sephardischen Juden, sofern sie nicht zum katholischen Glauben konvertieren wollten, aus Spanien vertrieben. Viele Juden starben auf dem Weg über Afrika in die Türkei. Die Vorfahren Morenos siedelten sich im damaligen Konstantinopel unter dem Namen Levy an. Moreno schildert seine Geburt auf einem namenlosen Schiff auf dem Schwarzen Meer (vgl. Marineau 1989). Es fuhr von Bosporus nach Constanza, wo er zur Welt kam. Moreno sah sich in der Tradition der aus Spanien 1492 vertriebenen Juden, weshalb er vermutlich sein selbst angegebenes Geburtsdatum, den 30. Mai, diesem Ereignis gewidmet hat.

Morenos Eltern

Der Vater Morenos Nissim Levy stammte von den sephardischen Juden ab. Von Beruf Kaufmann, beschäftigte er sich vorwiegend mit Getreide- und dem neu aufblühenden Petroleum-Handel (Marineau 1989). Die Mutter Paulina Iancu, 1873 geboren, ebenfalls mit sephardischen Wurzeln, stammte aus Rumänien. Die älteren Brüder Marcus und Iancu kümmerten sich um die Familie, da der Vater früh gestorben war. Beide Eltern gehörten der Gemeinde sephardischer Juden in Bukarest an (Wieser 2013). Paulina musste als 14-Jährige das katholische Convent verlassen und wurde mit dem 17 Jahre älteren Mann Nissim Levy Moreno verheiratet. Das Leben des 1888 jung vermählten Elternpaares gestaltete sich (vgl. Marineau 1989) aufgrund finanzieller Nöte und sonstiger Konflikte schwierig miteinander.

Der Antisemitismus flammte zu diesem Zeitpunkt in Europa bereits wieder auf. Das Fürstentum Rumänien war durch den Berliner Frieden 1878 autonom geworden, aber das Schicksal der Juden in Rumänien blieb weiterhin unsicher, da ihnen die rumänische Staatsbürgerschaft verwehrt wurde. Diese politische Situation verschlimmerte die ohnehin finanziellen und privaten Schwierigkeiten des Paares.

Jacob Levy Moreno war Paulinas erstes Kind. Aus diesem Grund und wegen der häufigen Geschäftsreisen des Ehemannes entwickelte sich zwischen Mutter und Sohn eine besondere Beziehung (vgl. a. a. O.).

Die Mutter war sehr besorgt, als ihr einjähriger Sohn schwer an Rachitis erkrankte. Sie begegnete einer Zigeunerin, die ihr riet, das Kind regelmäßig in den warmen Sand in die Sonne zu legen, was zu einer baldigen Besserung führte. Die Zigeunerin weissagte der Mutter, dass ihr Kind eines Tages sehr berühmt werden würde (vgl. Moreno 2011). Moreno wuchs in dem damals einerseits französisch geprägten »Little Paris« und in dem multireligiösen, u. a. jüdischen, christlichen und griechisch-orthodoxen Bukarest auf. Er besuchte die sephardische Bibelschule in Bukarest.

Schon früh entwickelte Moreno phantasievolle Spiele. Eine seiner frühesten Erinnerungen war das Gottesspiel als vierjähriges Kind. Er spielte mit anderen Kindern im Keller des Hauses »Gott mit Engeln«. Sie bauten einen Turm aus Tisch und Stühlen. Moreno übernahm die Rolle als Gott, kletterte auf den Turm und ein Kind fragte, warum er als Gott nicht fliege, woraufhin er die Arme ausbreitete, hinunterstürzte und sich den Arm brach. Später bezeichnet er dieses Spiel als sein erstes geleitetes Psychodrama. »Ich war gleichzeitig Leiter und Protagonist« (Moreno 2011, S. 27). Das Kinderspiel mit seiner szenischen Umsetzung über mehrere Stufen inspirierte ihn zu seinen späteren Ideen der Bühnengestaltung (image Abb. 12).

Moreno war ca. 5 Jahre alt, als die Familie aus wirtschaftlichen Gründen nach Wien umzog. Der Vater reiste geschäftlich mehr denn je in Länder wie Rumänien und die Türkei. In Wien ließ sich ebenfalls kein Einkommen erwirtschaften und zusätzlich entfremdete sich die Familie durch seine vielen Reisen.

1905, als Moreno 14 Jahre alt war, übersiedelte die Familie nach Berlin. Nach wenigen Wochen entschloss er sich, allein nach Wien zurück zu kehren. Dort lebte er bei einer Familie und finanzierte sich durch Nachhilfeunterricht. Moreno besuchte die Familie noch einmal in Chemnitz im Sommer 1905 (Scherr 2013) und sah nach der Scheidung seiner Eltern seinen Vater nicht mehr wieder. Dieser kehrte in die Türkei zurück, die Mutter 1906 nach Wien.

Moreno hatte mittlerweile vier weitere Geschwister. Die wichtigste und auch komplexeste Beziehung bestand zu seinem zweiten Bruder William, den er sowohl favorisierte als auch mit ihm rivalisierte (vgl. Marineau 1989).

Leben als Student und die Religion der Begegnung

1909 schrieb Moreno sich an der Universität Wien für Philosophie ein und 1911 für Medizin. Das Medizinstudium beendete er Februar 1917. An der Universität hatte Moreno um 1908 einen Freundeskreis um sich gesammelt (vgl. Marineau 1989). Sie gründeten die Gruppe »Religion der Begegnung« mit hohem religiösem und sozialpolitischem Anspruch und das aus einem Fond finanzierte »Haus der Begegnung« für Flüchtlinge und Immigranten. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurde das Haus geschlossen und die Mitglieder der Gruppe verloren sich in den Wirren des Kriegs. Sein Interesse an sozialen Aktionen und der Begegnung mit Menschen führte Moreno zu verschiedensten Schauplätzen, wie zu spielenden Kindern im Wiener Augarten, zu den Prostituierten in dem Viertel Wien Spittelberg und zu den Flüchtlingen in Mitterndorf. Durch seine sozialen Aktivitäten gewann er wichtige Erkenntnisse für seine späteren Projekte und Theorien.

Die Kinder im Augarten

Vor Ausbruch des Kriegs ging Moreno im Wiener Augarten spazieren (Moreno 2011). Er begegnete einer Gruppe von Kindern mit deren Kindermädchen und Eltern. Sie spielten und er begann ihnen Geschichten zu erzählen und weckte ihre Aufmerksamkeit. Die Kinder hörten interessiert zu. Er war fasziniert von dem unmittelbaren Interesse und der magischen Atmosphäre, mit der sich die Kinder auf die Geschichten einließen und diese später auch nachspielten. Die Reaktionen der Kinder beeindruckten Moreno. Sie waren für ihn offene und spontane Wesen, dabei kreativ und aktiv, und ließen sich leicht mit Improvisationen begeistern. Durch sie entwickelte er zentrale Gedanken zu seiner Spontaneitäts- und Kreativitätstheorie (image Kap. 3).

Die Prostituierten

Eine weitere sozial benachteiligte Gruppe, die Morenos Interesse weckte, waren die Prostituierten, die 1913 in dem Viertel Wien Spittelberg lebten. Sie waren gesellschaftlich geächtet und hatten keinerlei Rechte. Moreno begann sich für ihren gesellschaftlichen Status zu interessieren. In Begleitung des Arztes Dr. Gruen und eines Journalisten luden sie die Prostituierten zu einer Versammlung ein. Er verstand ihre mit anderen Randgruppen nicht vergleichbaren schwierigen Lebensumstände und gewann ihr Vertrauen. Sie begannen, sich regelmäßig in Gruppen zu treffen, um über ihre Situation zu beraten. Neben praktischen und rechtlichen Fragestellungen erkannten die Prostituierten, dass sie als Gruppe einen stärkeren Einfluss gegenüber den Behörden hatten und sich überdies wertvolle gegenseitige Unterstützung geben konnten. Sie traten selbstbewusster für ihre Rechte ein. Diese Zusammenkünfte gaben erste wichtige Erfahrungen für Moreno hinsichtlich der später vom ihm entwickelten Gruppentherapie (Moreno 2011).

Die Flüchtlinge im Lager Mitterndorf bei Wien

Der anfängliche Enthusiasmus der Bevölkerung über den Ersten Weltkrieg mit seinen fraglichen »Errungenschaften« wich schnell einer großen Enttäuschung. Moreno wurde als fortgeschrittener Medizinstudent in den zivilen Dienst aufgenommen (Moreno 2011). Er arbeitete als Arzt (ca. 1915 bis 1918) in einem Lager für Flüchtlinge aus Südtirol in Mitterndorf und später in Zsolna. Er erhielt erstmalig einen guten Lohn. Sein soziales Engagement und sein Interesse für sozial Schwächere verfolgte er weiter. Er untersuchte die Lebensbedingungen der Flüchtlingsfamilien in Mitterndorf. Bewegt durch die Erlebnisse suchte er nach stetigen Verbesserungen für das Zusammenleben dieser Familien. Unter anderem versuchte er auch über den damaligen Innenminister politisch Einfluss zu nehmen und auf die Probleme im Lager aufmerksam zu machen. Er erlebte die täglich ankommenden Flüchtlinge, viele aus Südtirol, in einem Lager, das für 2.000 Menschen konzipiert war, aber im weiteren Verlauf vorübergehend bis zu sechsmal so vielen Geflüchteten Platz bieten musste (Scherr 2013). Die unhaltbare Realität in dem Lager führte zur Solidarisierung Morenos mit den Südtirolern. Diese Erlebnisse beeinflussten ihn, die Grundlagen der Soziometrie zu konzipieren, die er später in den USA mit zahlreichen Forschungsprojekten zu systematisieren begann. »Soziometrie ist die Wissenschaft der Messung zwischenmenschlicher Beziehungen« (Moreno 1996, S.19) oder der Untersuchung mikrodynamischer Vorgänge in Gruppen.

Leben in Wien

Morenos Wiener Leben war geprägt durch gesellschaftspolitische, literarische und philosophische Einflüsse. Er besuchte Wien häufig, um dem Lagerleben in Mitterndorf zu entkommen. Er verkehrte in berühmten Cafés in Wien, dem älteren Café Museum und dem neueren Café Herrenhof. In beiden begegneten sich Künstler wie Literaten, Musiker, Maler und Philosophen. Wichtige Namen sind u. a. Henri Bergson, Martin Buber, Jacob Wassermann, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Robert Musil, aber auch Franz Lehar und Paul Claudel. Moreno veröffentlichte 1915 eigene Texte in den Heften Einladung zu einer Begegnung. Diese Texte wirkten wie Vorläufer zu Bubers 1923 erschienenem Buch Ich und Du. Viele seiner bereits dargelegten Ideen fand er bei Buber wieder (Moreno 1911). Dieses Problem, dass andere sich seiner Ideen ohne Quellenverweise bemächtigten, z. B. Lewin in den USA (Treadwell 2014), sollte wiederholt auftreten. Mit Martin Buber, seinem Freund, wollte er einen direkten Konflikt vermeiden, um die freundschaftliche Beziehung nicht zu gefährden. Beide interessierten sich für Sokrates, Dante, Kierkegaard und Nietzsche. Die beiden letzteren betrachteten die Begegnung von Menschen als vorrangig. Moreno sah die Aktion und die Gruppe als primär, Buber hingegen die Beziehung (Marineau 1989, S. 49). Im Februar 1918 gab Moreno die erste Nummer der Zeitschrift Der Daimon heraus, weitere Hefte folgten bis ca. 1919. Er war dort auch Autor.

Die Aktion und das Theater

Morenos Lebensweg begann sich zu wandeln, die Aktion, das Theater interessierte ihn zunehmend. Er schildert eine der ersten psychodramatischen Sitzungen, die in dem berühmten Theater Komödienhaus in Wien stattfand (Moreno 1911). Er saß allein auf einem roten Königstuhl auf der Bühne, jegliche Form üblicher Unterhaltung vermeidend. Es waren ca. tausend Zuschauer, und Moreno lud das Publikum ein, auf die Bühne zu kommen und wechselnd die Rolle des Königs einzunehmen. Sie sollten ihr eigenes, persönliches Drama nach dem Ersten Weltkrieg mittels Stegreifspiels in Szene setzen. Das Publikum reagierte verärgert angesichts der ungewöhnlichen Vorstellung, die schließlich ausgebuht wurde. Dieser Misserfolg kostete Moreno zunächst Ansehen und Freundschaften, beflügelte ihn anderseits noch mehr, denn eine Idee war geboren: Die Uraufführung des Stegreiftheaters.

Das Stegreiftheater

Aus den Ereignissen im Komödienhaus entwickelte Moreno (1923–1924) das Stegreiftheater. Er mietete Räumlichkeiten in einem Gebäude in der Maysedergasse im 1. Bezirk Wiens, das noch heute steht. Die Realisierung führte Moreno ebenfalls über Enttäuschungen zu neuen Erkenntnissen (Moreno 2011). Das Publikum misstraute der eigenen Spontaneität und Kreativität im Stegreifspiel und wünschte sich »herkömmliches« Theater. Erst die szenische Umsetzung aktueller Zeitungsmeldungen Living Newspaper sollte das Publikum von der gespielten Aktualität und Unmittelbarkeit, sprich einer Vorstellung ohne Proben, ohne Skript und ohne Regisseur, überzeugen. Seine Erfahrung, dass Stegreiftheater nicht unbedingt eine ästhetische Wirkung hat, dafür eine sehr therapeutische, führte zu der strategisch wichtigen Entscheidung, Stegreiftheater in therapeutisches Theater umzuwandeln. Dies wurde zum Wendepunkt seiner beruflichen Laufbahn, und er begann sich zunehmend mit seiner professionellen Rolle als Psychiater zu identifizieren. Die Auswahl der Themen fand ohne Vorbereitung statt. Die Spieler und Mitspieler sollten spontan agieren und reagieren und keine vorbereiteten Rollen darstellen. Der Kerngedanke seiner Veröffentlichung Das Stegreiftheater, welches 1924 herauskam, besteht in spontanen Aktionen und Reaktionen.

»Ich aber wünsche nicht das Theater des guten Gedächtnisses, der kreisförmigen Behaglichkeit, des Selbstvergessens. (…) An Stelle der alten Dreiteilung tritt unsere Einheit: Es gibt keine Dichter, Schauspieler, Zuschauer mehr. Jeder ist Dichter, Schauspieler und Zuschauer in einer Person. Fort mit den Augen der Gaffer und den Ohren der Horcher. (…) Unser Theater ist die Vereinigung aller Widersprüche, des Rausches, der Unwiederholbarkeit.« (Moreno 1923, S. 150–152).

Das war die Stegreifidee. Moreno wollte die absolute Einmaligkeit in der Zeit, der Rolle und des Raumes des Individuums, quasi aus dem »Unbewussten« geboren. Die Schauspielerin Anna Höllriegel verhalf ihm, u. a. die Bedeutung dieser Theaterform und des Humors zu erkennen. »Sie gehörte auch zum Teilnehmerkreis in der Maysedergasse. Gemeinsam mit ihrem Mann stellte sie ihre Eheprobleme auf der Bühne dar. Als Protagonistin konnte sie im Spiel die Ursache ihrer Konflikte erkennen und mit einem Lachen eine befreiende Wirkung erzielen.« (vgl. VBKÖ 2015). Dieser beobachtbare intensive Effekt von Höllriegel mit kathartischer Befreiung ließ die Idee eines Heilverfahrens reifen. Unter den ersten Gefährten Morenos waren neben Anna Höllriegel berühmte Schauspieler wie Elisabeth Bergner und Peter Lorre.

Moreno als Mediziner und Therapeut

Das Medizinstudium an der Universität Wien beendete Moreno im Februar 1917. Er organisierte sein Studium von Anfang an mit begleitenden klinischen Praktika, um besser auf die Praxis vorbereitet zu sein. Zur damaligen Zeit war dies unüblich und bewies eine vorausschauende Haltung. Moreno absolvierte u. a. ein Praktikum bei dem Primararzt Julius Wagner-Jauregg in der Psychiatrie. Wagner-Jauregg wurde für Moreno aufgrund seiner feindseligen und wenig einfühlsamen Haltung im Patientenkontakt zum Inbegriff eines Anti-Therapeuten. Dafür entwickelte Moreno zu Otto Pötzl, dem Assistenten und Stellvertreter Wagner-Jaureggs, Psychiater und Spezialist für Neuropathologie wie auch Anhänger der aufkommenden Psychoanalyse, eine außergewöhnlich freundschaftliche Beziehung für einen Studenten zu damaliger Zeit. Mit Pötzl konnte Moreno im zweiten Studienjahr erste medizinische Forschungen realisieren. Pötzl interessierte, inwieweit sich verschiedene neurologische Zustände bei Alkoholikern anhand der Struktur ihrer Träume diagnostizieren ließen.

Moreno und Freud

Immer wieder waren es persönliche Begegnungen, die Moreno, schon während des Studiums, sehr beeinflussten. Eine der wichtigsten war wohl die Begegnung mit Sigmund Freud. Es bleibt jedoch unklar, ob ein persönliches Aufeinandertreffen jemals stattgefunden hat. Die von Moreno in seiner Biografie erwähnte Begegnung mit Freud (Moreno 2011) zeigt die komplexe Dynamik seiner Auseinandersetzung mit diesem. Nach einer Vorlesung fragte Freud Moreno, was er mache, worauf Moreno antwortete, dass er dort starte, wo Freud aufhöre. Er, Freud, behandle die Menschen in einem künstlichen Setting in seinem Büro, während Moreno die Menschen auf der Straße und in ihren natürlichen Umgebungen treffe. Freud analysiere ihre Träume und Moreno gebe ihnen den Mut, weiter zu träumen. Freud analysiere die Menschen und überlasse sie anschließend sich selbst. Moreno lasse die Patienten ihre Konflikte ausagieren und helfe ihnen, diese wieder zusammenzufügen. Morenos Überlegungen standen in einem handlungsorientierten philosophischen Kontext.

Moreno beschreibt die Beziehung zwischen ihnen folgendermaßen: »Es ist, als begegne der Häuptling eines afrikanischen Stammes dem König von England. Das Königreich Freuds war grösser als meines, aber wir sind auf dem gleichen Planeten.« (Moreno 2011, S. 69). Stellungnahmen von Freud zu Moreno sind nicht bekannt.

Moreno entwickelte später 1944 selbst die Idee eines psychoanalytischen Psychodramas (Moreno 1988), um die psychoanalytische Theorie mit der psychodramatischen zu verbinden.

Moreno in Bad Vöslau und der Beginn der Psychotherapie

Nach dem Krieg im Oktober 1919 trat Moreno eine Anstellung als Gemeindearzt in Kottingbrunn an und wechselte wenig später in dieser Funktion nach Bad Vöslau. Er wurde Fabrikarzt der Vöslauer Kammgarnfabrik, mietete ein Haus in Maital und eröffnete eine Praxis.

In Bad Vöslau lernte er Marianne Lörnitzo, seine erste »Muse«, kennen. Sie stand ihm anfangs als Sprechstundenhilfe, später als Ko-Therapeutin bei der Entwicklung seines neuen Psychotherapieverfahrens zur Seite. Es war die Idee des »Du und Du«. Moreno hatte diese Begegnungsphilosophie schon in den Heften »Einladung zu einer Begegnung« 1914 veröffentlicht. Moreno betrachtete den Patienten als selbstverantwortlichen, kreativen Menschen, der die Idee der Heilung in sich trägt, die er mit Hilfe eines Therapeuten entwickelt. Er wurde als Arzt bald bekannt und hatte großen Zulauf. Seine Philosophie der Begegnung ebenso wie seine Erfahrungen mit Menschen ermöglichten ihm einen guten Zugang zu Patienten. Morenos therapeutische Erfahrungen führten zur definitiven Hinwendung zum heilenden Theater. Das Schicksal eines Patienten in Bad Vöslau 1921 bewegte ihn besonders. Der Mann begab sich in Behandlung, da er depressiv und suizidal war (Marineau 1989). Er wünschte sich von Moreno Sterbehilfe. Moreno arbeitete gemeinsam mit Lörnitzo mehrere Wochen mit ihm. Der Patient wohnte in einem nahen gelegenen Hotel. Die Behandlung bestand darin, ihn in allen Varianten seiner Todeswünsche zu begleiten und diese zu spielen, der Patient war Protagonist, Moreno Direktor und Lörnitzo stand als Hilfs-Ich zur Verfügung. Moreno entdeckte mit Hilfe des Durchspielens oder auch Acting Out die günstige Wirkung auf den depressiven Patienten. Diese frühen Erfahrungen mit Psychodrama sollten erst in den USA zur vollen Blüte kommen. Seine Erfahrungen mit dem Stegreiftheater in Wien, der zunehmende Druck in Bad Vöslau als guter, wenn auch »eigenwilliger« Arzt, seine ungeklärte Beziehung zu Marianne Lörnitzo wie auch der antisemitische Druck auf ihn führten zur Entscheidung, in die USA zu emigrieren, wo sein jüngerer Bruder William bereits weilte. Dieser unterstützte ihn fortan bei seinen Projekten.

Im Februar 1925 verließ Moreno von Hamburg aus Europa in Richtung Amerika. Über Umwege erreichte er New York ein halbes Jahr später. Er verließ Österreich ohne Marianne Lörnitzo, ursprünglich in der Absicht, sie später in die USA zu holen. Doch sollte er, als er sich in den USA eingelebt hatte, die Beziehung zu ihr völlig abbrechen.

Images

Abb. 1: Moreno kurz vor seiner Emigration 1925 (Figusch 2014, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

1.2       Entwicklung und Durchbruch der Methode in den USA

Meilensteine der Erkenntnisse

Das Theater ist der Vorläufer des Psychodramas, was viele Autoren mittlerweile belegt haben (u. a. Fangauf 1999). Am Anfang war die Szene