Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Kapitel: Leben: Das Geschenk eines langen Lebens
2. Kapitel: Finanzierung: Länger arbeiten
3. Kapitel: Beruf und Karriere: Die Arbeitswelt
4. Kapitel: Immaterielle Vermögenswerte: Was nicht für Geld zu haben ist
5. Kapitel: Szenarien: Mögliche Ichs
6. Kapitel: Lebensphasen: Neue Bausteine
7. Kapitel: Geld: Die Finanzierung eines langen Lebens
8. Kapitel: Zeit: Freizeit als Neuerfindung seiner selbst
9. Kapitel: Beziehungen: Der Wandel des Privatlebens
Agenda für den Wandel
Packen wir’s an
Anmerkungen
Zu den Autoren
Impressum

1. Kapitel:
Leben: Das Geschenk eines langen Lebens

Denken Sie für einen Augenblick an ein Kind, das Sie kennen. Vielleicht Ihre achtjährige Schwester oder zehnjährige Tochter, einen Neffen oder einen Nachbarsjungen. Sie sehen die kindliche Begeisterung und Lebensfreude: ein Leben, losgelöst von Verantwortung und Verpflichtungen. Es ist ein tröstlicher Gedanke, dass trotz des globalen Wandels Kinder überall auf der Welt noch diese lebensbejahende Kraft besitzen – und natürlich denken Sie dabei an Ihre eigene Kindheit.

Aber Sie sehen auch, wie sehr sich eine heutige Kindheit von Ihrer eigenen unterscheidet, denn viele technische Innovationen, die Sie erstaunen und verwundern, scheinen Kindern selbstverständlich und intuitiv und mühelos zugänglich zu sein. Doch nicht nur die Kindheit, auch das Leben, das diese Kinder führen werden, wenn sie erwachsen sind, wird anders sein als früher. Ein Parameter dieses Erwachsenenlebens ist in Abbildung 1.1 dargestellt. Die Grafik zeigt die demografische Berechnung der wahrscheinlichen Lebenserwartung. Wenn das Kind, an das Sie gerade gedacht haben, in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Italien oder Frankreich geboren ist, hat es eine 50-prozentige Chance, mindestens 104 Jahre alt zu werden. Wenn es in Japan geboren ist, kann man sogar von atemberaubenden 107 Jahren ausgehen.

Für Nigel und Diane

Einleitung

Wir befinden uns mitten in einem außergewöhnlichen Übergang, auf den kaum jemand von uns vorbereitet ist. Wenn wir es richtig anpacken, wird er zu einem echten Geschenk, wenn wir ihn ignorieren und uns nicht darauf einstellen, wird er zum Fluch. So wie die Globalisierung und der technologische Wandel unser Leben und unsere Arbeit bereits heute verändern, werden auch die Folgen der zunehmenden Langlebigkeit in den kommenden Jahren deutlich zu spüren sein.

Ganz gleich, wer wir sind, wie alt wir sind und wo wir leben, wir müssen uns schon heute über die Entscheidungen Gedanken machen, die wir zu treffen haben, um aus diesem längeren Leben das Beste zu machen. Dasselbe gilt für die Unternehmen, in denen wir arbeiten, und für die Gesellschaft, in der wir leben.

Wir werden sehr viel länger leben als die Menschen in der Vergangenheit, länger als diejenigen, nach deren Vorbild wir heute unsere Lebensentscheidungen treffen, und länger, als die gängige Praxis und die derzeitigen institutionellen Regelungen es vorsehen. Vieles wird sich ändern, und dieser Transformationsprozess hat bereits begonnen. Darauf sollten wir vorbereitet sein, und das vorliegende Buch soll uns dabei helfen.

Ein langes Leben könnte für uns, die wir heute leben, ein großes Geschenk sein. Wir leben im Durchschnitt länger als unsere Eltern und sehr viel länger als unsere Großeltern. Unsere Kinder und deren Kinder werden noch länger leben. Dieser Zuwachs an Lebenserwartung ist schon heute spürbar. Er betrifft uns alle, und er wird keineswegs geringfügig, sondern beträchtlich sein. Ein heute in der westlichen Welt geborenes Kind hat eine Chance von mehr als 50 Prozent, 105 Jahre oder älter zu werden. Vor 100 Jahren dagegen betrug für ein Neugeborenes die Chance, dieses Alter zu erreichen, weniger als 1 Prozent. Das Geschenk eines längeren Lebens ist langsam, aber stetig immer größer geworden. In den letzten 200 Jahren stieg die statistische Lebenserwartung um mehr als zwei Jahre pro Jahrzehnt.1 Wenn Sie heute 20 sind, haben Sie also eine Chance von 50 Prozent, 100 Jahre und älter zu werden; wenn Sie 40 sind, haben Sie eine ebenso hohe Chance, das 95. Lebensjahr zu erreichen; und wenn Sie 60 sind, werden sie mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit 90 Jahre und älter.

Das ist keine Science-Fiction. Wahrscheinlich werden Sie keine 180 Jahre alt. Klar aber ist, dass sich Millionen Menschen auf ein langes Leben freuen können und damit vor der Frage stehen, wie sie leben möchten und wie Gesellschaft, Politik und Wirtschaft mit dieser Situation umgehen sollen. Es werden neue Verhaltensnormen und neue Rollenvorbilder entstehen, und wir sehen schon heute, dass sich Individuum und Gesellschaft diesem Wandel anpassen. In Zukunft wird es noch tiefgreifendere Veränderungen geben, von denen das öffentliche Bewusstsein und die Debatte immer stärker geprägt sein werden.

Wie kann man aus dem Geschenk eines langen Lebens das Beste machen? Diese Frage haben wir in Vorträgen und Diskussionen mit Menschen aller Altersstufen immer wieder gestellt. Für viele Menschen war dieses Geschenk zusätzlicher Zeit eine Überraschung, doch im Verlauf unserer Diskussionen erkannten sie, wie wichtig es ist, die eigene Lebensplanung zu überdenken und sofort etwas zu unternehmen. Andere hatten sich bereits ganz automatisch auf die Realität der steigenden Lebenserwartung eingestellt, ohne zu erkennen, dass viele andere ähnlich dachten wie sie.

Das längere Leben ist ein so wichtiges Thema, dass man sich fragen muss, warum es in den populären Medien bisher so selten zur Sprache kommt. Schließlich betrifft es nicht nur einige wenige, sondern uns alle, und es ist keineswegs das Problem einer fernen Zukunft. Auf eine höhere Lebenserwartung gut vorbereitet zu sein, hat eine Menge Vorteile. Warum also wird so wenig darüber gesprochen?

Die Erklärung dafür liefert vielleicht Benjamin Franklins bekannte Bemerkung »Nichts auf dieser Welt ist sicher außer dem Tod und den Steuern«2 – beides wird zu Recht als ein Fluch betrachtet. Auch die Debatte über ein langes Leben ist weitgehend von der Vorstellung beherrscht, es sei ein Fluch. Die Rede ist von Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit, von der »Epidemie« Alzheimer, von steigenden Kosten im Gesundheitswesen und einer drohenden Krise.

Doch wie wir sehen werden, ist bei guter Planung und Voraussicht ein langes Leben ein Segen, kein Fluch. Es ist reich an Möglichkeiten, und das, was uns geschenkt wird, ist in erster Linie Zeit. Wie man diese Zeit nutzt und strukturiert, ist in einem längeren Leben die zentrale Frage.

Die Strukturierung der Lebenszeit ist zentrales Thema dieses Buches. Im 20. Jahrhundert entstand das dreistufige Lebensmodell: mit einer ersten Phase der Schule und Ausbildung, gefolgt vom Erwerbsleben und schließlich vom Ruhestand. Stellen Sie sich nun vor, die Lebenserwartung steigt, aber die Regelaltersgrenze bleibt unverändert. Daraus ergäbe sich ein gravierendes Problem: Die meisten Menschen verfügen, wenn sie länger leben, schlichtweg nicht über ein ausreichendes finanzielles Polster. Und deshalb müssen sie entweder länger arbeiten oder sich mit niedrigeren Altersbezügen begnügen. Kein Wunder, dass ein längeres Leben als Fluch wahrgenommen wird – keine der beiden Optionen erscheint sonderlich attraktiv.

Undines Fluch

In diesem Zusammenhang kommt einem das Undine-Märchen von Friedrich de la Motte-Fouqué in den Sinn, das an die Legende von der Wassernymphe Undine anknüpft. Undine verflucht ihren Gemahl Palemon, der sie betrogen hat, auf immer und ewig: Solange er wach ist, soll er atmen, sobald er aber schläft, wird er aufhören zu atmen und sterben. Von diesem Augenblick an führt Palemon ein Leben in hektischer Betriebsamkeit und kommt nie zur Ruhe, aus Furcht, dass ihm die Augen zufallen und der Tod ihn überwältigt.

Ein in die Länge gezogenes dreistufiges Leben könnte einem vorkommen wie Undines Fluch. Wie Palemon sind auch wir dazu verurteilt, immerfort zu arbeiten, denn wir wissen: Wir können es uns nicht leisten aufzuhören, egal, wie müde wir sind. Thomas Hobbes beschrieb im 17. Jahrhundert das Leben als »scheußlich, brutal und kurz«. Nur eines ist schlimmer: ein Leben, das scheußlich, brutal und lang ist. Das ist der Fluch: ein pausenloses Erwerbsleben, Eintönigkeit, vergeudete Energie und verpasste Chancen, gipfelnd in einem Greisenalter in Armut und Bedauern.

Wir sehen es anders. Zweifellos werden in Zukunft viele Menschen länger arbeiten, aber das Erwerbsleben muss nicht die hektische und ermüdende Rastlosigkeit Palemons sein. Es gibt echte Chancen, sich aus den Zwängen des Drei-Stufen-Modells zu befreien, um sein Leben flexibler und offener zu gestalten: mit vielen Phasen und mehreren Berufskarrieren, mit Unterbrechungen und Übergängen. Tatsächlich ist dies in unseren Augen der einzige Weg, damit ein langes Leben zum Segen und nicht zum Fluch wird. Diese Neustrukturierung des Lebens ist allerdings keine Kleinigkeit. Sie bringt tiefgreifende Veränderungen mit sich, für uns als Einzelne, ebenso wie für die Betriebe und Organisationen, in denen wir beschäftigt sind, aber auch für Politik und Gesellschaft.

Die Notwendigkeit einer solchen Neustrukturierung ergibt sich aus der längeren Zeitspanne, die uns zur Verfügung steht. 100 Jahre und mehr, das bedeutet einen Zuwachs von vielen Stunden Lebenszeit. Betrachten Sie es einmal so: Die Woche hat 168 Stunden. Bei einer Lebenserwartung von 70 Jahren sind dies 611.000 Stunden, bei einer Lebenserwartung von 100 Jahren 873.000 Stunden. Wofür verwenden Sie diese zusätzliche Zeit? Was fangen Sie mit ihr an? Welche Aktivitäten planen Sie für welchen Lebensabschnitt? Sei es die Arbeitswoche oder das Wochenende, der Jahresurlaub oder die Feiertage oder sogar das dreistufige Lebensmodell: Die Strukturierung und Planung von Zeit ist ein soziales Konstrukt. In einem längeren Leben wird es ein neues soziales Konstrukt mit anderen Organisationsformen und anderen Abfolgen geben.

Diesmal ist es anders

Es wird eine fundamentale Umgestaltung des Lebens stattfinden. Das ist ein langsamer Prozess, der schon seit vielen Jahren im Gange ist, aber er wird zu einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Revolution führen. Im selben Maße, wie die Globalisierung und der technologische Wandel unser Leben Jahr um Jahr verändern, werden auch Veränderungen erforderlich sein, um das Beste aus einem 100-jährigen Leben zu machen. Nachfolgend ein paar Beispiele:

Die Menschen werden noch mit 70 oder sogar 80 arbeiten

Wenn wir mit unseren Betriebswirtschaftsstudenten an der London Business School über das 100-jährige Leben sprechen, fordern wir sie auf, Szenarien für ihr eigenes Leben zu entwerfen. Ihr Blick richtet sich schnell auf die finanziellen Aspekte, und dann stellen wir ihnen eine Frage: »Wenn Sie 100 Jahre leben, etwa 10 Prozent Ihres Einkommens sparen und in Rente gehen möchten, wenn Ihre Altersbezüge 50 Prozent ihres letzten Gehalts erreicht haben: Mit wie viel Jahren werden Sie dann in Rente gehen können?« (Die Berechnung finden Sie in Kapitel 2, und die Antwort lautet: mit 80.) An diesem Punkt wird es still im Saal. Wenn wir aus dem Geschenk eines langen Lebens das Beste machen wollen, müssen wir alle uns der Tatsache stellen, dass wir noch mit 70 oder sogar 80 Jahren arbeiten müssen. So einfach ist das.

Es werden neue Berufe und neue Fertigkeiten entstehen

In den kommenden Jahrzehnten wird der Arbeitsmarkt umgekrempelt werden, da einige traditionelle Berufe verschwinden und neue entstehen werden. Vor 100 Jahren waren die meisten Menschen in der Landwirtschaft und im Haushalt beschäftigt, heute ist der Prozentsatz dieser Arbeitsplätze sehr gering, der Anteil der Bürojobs dagegen enorm gestiegen. Und dieser Wandel wird sich fortsetzen, da Roboter und künstliche Intelligenz zahlreiche Tätigkeiten übernehmen oder ergänzen werden, bei den innerbetrieblichen technischen Abläufen ebenso wie in Marketing und Verkauf, Büromanagement und Verwaltung. In einem kürzeren Leben mit einem relativ stabilen Arbeitsmarkt reichten das Wissen und die Kompetenzen, die jemand mit Mitte 20 erworben hatte, oft für das gesamte Erwerbsleben, ohne dass größere Investitionen in Fortbildung und Weiterqualifizierung notwendig wurden. Wenn man in dem heutigen, sich rasch wandelnden Arbeitsmarkt noch mit 70 oder sogar 80 Jahren berufstätig sein will, genügt es nicht mehr, sein Wissen ein wenig aufzufrischen, um produktiv zu bleiben. Man muss Zeit aufwenden, um sich weiter zu qualifizieren und neue Fertigkeiten zu erlernen. Das ist eine entscheidende Investition.

Finanzielle Absicherung wird nicht alles sein

Als Wirtschaftswissenschaftler und als Psychologin haben wir, die Autoren dieses Buches, sehr unterschiedliche Perspektiven, die einander jedoch nicht ausschließen, ganz im Gegenteil. Sie ergänzen einander, und sie miteinander zu verknüpfen ist wichtig, um den Implikationen eines 100-jährigen Lebens auf den Grund zu gehen. Um ein zufriedenes und produktives langes Leben zu führen, muss man rationale Entscheidungen treffen und dynamische Pläne entwickeln, man muss aber auch die Bedeutung der personalen Identität und der sozialen Faktoren erkennen, die unser Leben in Zukunft bestimmen werden.

Ein gutes Leben erfordert sorgfältige Planung, um das Finanzielle und das Nichtfinanzielle, Ökonomie und Psychologie, das Rationale und das Emotionale in Einklang zu bringen. Für ein 100-jähriges Leben muss man sich finanziell absichern, aber Geld ist keineswegs die wichtigste Ressource. Familie, Freundschaften, geistiges Wohlbefinden und Zufriedenheit sind ebenfalls bedeutende Komponenten.

Die Debatte zur Langlebigkeit, wie sie bisher geführt wird, ist allzu sehr auf Finanzen und Renten fokussiert. Doch bei der Vorbereitung auf ein 100-jähriges Leben geht es um mehr als nur um die finanzielle Vorsorge. Ein langes und finanziell erfolgreiches Erwerbsleben ist nicht möglich, wenn die Qualifikationen, die Gesundheit und die persönlichen Beziehungen verschlissen werden. Andererseits wird man es sich ohne ausreichenden finanziellen Rückhalt nicht leisten können, Zeit in diese entscheidenden nicht finanziellen Vermögenswerte zu investieren. Hier die richtige Balance zu finden, ist schon in einem kurzen Leben schwierig – und obwohl es in einem langen Leben noch viel komplizierter ist, bieten sich auch sehr viel mehr Chancen und Möglichkeiten, dies zu schaffen.

Das Leben wird vielstufig werden

Auch wenn es schon heute Menschen gibt, die abweichende Wege einschlagen und versuchen, das herkömmliche Drei-Stufen-Modell zu modifizieren, orientieren sich die meisten von uns bei ihrer Lebensplanung immer noch an ihm. In dem vorliegenden Buch stellen wir Zukunftsszenarien vor, in denen wir das dreistufige Lebensmodell von 70 auf 80 Jahre und dann auf 100 Jahre erweitern. Ein Drei-Stufen-Modell kann bei einer Lebenserwartung von 100 Jahren nur dann funktionieren, wenn man von einer zweiten Phase eines sehr langen und kontinuierlichen Erwerbslebens ausgeht. Auf diese Weise lässt sich vielleicht die finanzielle Seite regeln, aber die anderen Dinge, auf die es mindestens ebenso sehr ankommt, geraten ins Hintertreffen. Eine zu lange Erwerbsphase ist belastend und aufreibend und ehrlich gesagt auch sehr eintönig.

Deshalb wird in Zukunft das Leben vielstufig sein. Stellen Sie sich vor, Sie hätten zwei oder sogar drei verschiedene Berufskarrieren: eine, in der Sie Ihr Einkommen maximieren und viele Stunden am Tag und in der Woche erwerbstätig sind; in einer weiteren Phase bringen Sie Arbeit und Familie in ein ausgewogeneres Verhältnis oder üben Tätigkeiten aus, mit denen Sie einen sozialen Beitrag leisten. Das Geschenk eines längeren Lebens bedeutet, dass man nicht mehr gezwungen ist, sich entweder für das eine oder für das andere zu entscheiden.

Übergänge werden zur Normalität

Wenn das Leben nicht mehr drei, sondern viele Stufen hat, gibt es auch mehr Übergänge. Ein dreistufiges Leben beinhaltet zwei elementare Übergänge: von der Ausbildung zur Erwerbstätigkeit und von der Erwerbstätigkeit zum Ruhestand. Gegenwärtig sind nur wenige Menschen in der Lage oder dafür qualifiziert, mehr als zwei Übergänge zu schaffen. Will man jedoch aus einem langen und vielstufigen Leben das Beste machen, muss man flexibel sein, sich neues Wissen und neue Qualifikationen aneignen, neue Denkweisen erkunden und neue Perspektiven entwickeln, aber auch die Fähigkeit, sich mit veränderten Machtpositionen zu arrangieren, sich von alten Mitstreitern zu lösen und neue Netzwerke aufzubauen. All dies beschreibt ein Transformationspotenzial, das es aufzubauen gilt.

Neue Stufen werden hinzukommen

Das haben wir bereits im 20. Jahrhundert erlebt, als zwei neue Stufen entstanden, die des Teenagers und die des Rentners. Doch unserer Ansicht nach werden in den nächsten Jahrzehnten noch weitere hinzukommen. Derzeit können wir die Entstehung einer solchen Stufe bei den 18- bis 30-Jährigen beobachten. Durch die höhere Lebenserwartung und eine längere Schulzeit entstand die neue Altersgruppe der Teenager, und etwas Ähnliches vollzieht sich derzeit bei den jungen Erwachsenen. Diese Gruppe reagiert bereits heute auf das Versprechen eines längeren Lebens, indem sie sich Optionen offenhält und neue Möglichkeiten erkundet. Sie legt sich nicht mehr fest wie frühere Generationen in diesem Alter und nimmt stattdessen andere Lebensstile und Optionen in den Blick. Diese neuen Lebensstufen sind ein echtes Geschenk, denn sie schaffen Freiräume zum Experimentieren und eröffnen die Chance, sich ein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Schauen Sie sich um – wahrscheinlich haben Sie Angehörige oder Freunde, die bereits mit diesen neuen Lebensstufen experimentieren.

Sich selbst neu zu erfinden, wird wichtiger sein als Freizeit

Wenn es mehr Übergänge gibt und mehr Stufen, wird es notwendig, zu investieren: in eine sich verlagernde Identität, um eine neue Rolle übernehmen zu können; in die Schaffung eines anderen Lebensstils; oder in den Erwerb neuer Qualifikationen. Das Geschenk eines längeren Lebens mit zusätzlicher Zeit schafft Freiraum für Investitionen. In der Vergangenheit vollzogen sich diese Investitionen in der ersten Lebensstufe, die ganz der Ausbildung gewidmet war. In einem vielstufigen Leben verteilen sich diese Phasen der Selbstfindung und Weiterqualifizierung über das gesamte Leben und auf Zeiträume, die traditionell als Freizeit betrachtet werden.

Die Freizeit zu nutzen, um in Qualifikation und Bildung, Gesundheit und soziale Beziehungen zu investieren, mag nicht besonders verlockend klingen. Herkömmlicherweise gilt die Freizeit als eine Phase, in der man nichts weiter tut, als auf der Couch zu liegen und sich einen Film anzuschauen, segeln zu gehen, Computerspiele zu spielen oder auf andere Weise Spaß zu haben. Bei mehr Lebenszeit bleibt mehr Zeit für Muße. Doch es kommt darauf an, einen Teil dieser freien Stunden zu nutzen, um Investitionen zu tätigen. In einem kürzeren Leben war es sinnvoll, die Mußestunden vorrangig der Entspannung zu widmen. In einem längeren Leben schafft die Freizeit auch Freiräume für Investitionen. Vielleicht zählt zum Geschenk eines 100-jährigen Lebens auch die Umgestaltung der Freizeit, die in Zukunft weniger auf Konsum und Entspannung, sondern mehr auf Investition in Weiterqualifikation und die Neuerfindung seiner selbst ausgerichtet sein wird.

Es wird keinen Gleichschritt mehr geben

In einem dreistufigen Modell mit Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Ruhestand gibt es eine ganz bestimmte Reihenfolge, die viele Menschen zur Grundlage ihrer Lebensplanung gemacht haben. Der daraus resultierende Gleichschritt stand für Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Der Einzelne hatte keine unendliche Vielfalt an Optionen, und Betriebe und Politik sahen sich nicht einer Fülle unterschiedlicher Wünsche und Bedürfnisse gegenüber. Daher überrascht es nicht, dass sich auch heute noch viele Betriebe bei der Auswahl, Fortbildung und Beförderung ihrer Mitarbeiter an diesem dreigliedrigen Lebensmodell orientieren.

Ein vielstufiges Leben mit neuen Marksteinen, Zäsuren und Wendepunkten schafft zahlreiche Möglichkeiten der Abfolge von Lebensstufen, die das dreigliedrige Schema auflösen und eine Lebensgestaltung entsprechend den individuellen Präferenzen und Umständen zulassen.

Wenn der Gleichschritt verschwindet, verschwindet auch viel von der Vorhersehbarkeit des Alters. Wenn heute jemand zu uns sagt, er sei Student, weiß man ziemlich genau, wie alt er ist – die Lebensphase, in der er sich befindet, verrät es. Auch bei einem leitenden Manager lässt sich relativ genau sagen, wie alt er ist und welchen Karriereweg er durchlaufen hat. In einem vielstufigen Leben ist dies nicht mehr der Fall. Die Information, dass jemand Student ist, erlaubt keine zuverlässige Aussage über sein Alter mehr. »Alter« ist nicht mehr gleich »Lebensstufe«, und die neuen Stufen werden zunehmend altersunabhängig sein.

Mit weitreichenden Folgen, denn die Gesellschaft setzt in vielen Bereichen stillschweigend ein bestimmtes Alter mit einer bestimmten Lebensstufe gleich. Das gilt für die betriebliche Personalpolitik und das Marketing, aber auch für die staatliche Gesetzgebung. Von all dem müssen wir uns heute verabschieden.

Optionen werden immer wertvoller

In einem langen Leben mit mehr Wandel und mehr Entscheidungsmöglichkeiten werden Optionen immer wichtiger. Wenn sich jemand für das eine entscheidet, entscheidet er sich zugleich gegen etwas anderes. Entscheidungen zu treffen bedeutet, Optionen zu streichen. In der Finanzwelt besitzen Optionen einen bestimmten Wert und einen bestimmten Preis. Der Wert einer Option ist abhängig von ihrer Laufzeit und von dem Risiko, das man mit ihrem Kauf eingeht.

Dasselbe gilt für die großen Entscheidungen, die man in seinem Leben trifft. Je länger man lebt, desto breiter wird das Spektrum an Möglichkeiten zur Veränderung und desto wichtiger werden Optionen. Die Suche nach Optionen mit einer möglichst langen Laufzeit ist die unmittelbare Konsequenz eines 100-jährigen Lebens. Hier liegt einer der Gründe, warum bei den heute 18- bis 30-Jährigen eine neue Lebensstufe entstanden ist: eine Phase, in der die Weichenstellungen früherer Generationen – Heirat, Gründung einer Familie, Haus- und Autokauf – immer weiter hinausgezögert werden. Sie halten sich Optionen offen.

Optionen sind lebenslang wichtig, in einem vielstufigen Leben werden sie noch viel wichtiger. In Optionen zu investieren und sie zu schützen, wird zu einem wesentlichen Aspekt der Lebensplanung werden.

Länger jünger

Nach landläufiger Ansicht bedeutet länger zu leben länger älter zu sein. Doch alles deutet darauf hin, dass sich diese Gleichung umkehrt und die Menschen länger jünger bleiben werden.

Das manifestiert sich auf dreierlei Weise. Erstens verhalten sich, wie oben dargelegt, 18- bis 30-Jährige heute oft anders als frühere Generationen und führen ein flexibleres und weniger festgelegtes Leben, indem sie sich Optionen offenhalten. Zweitens werden sich die Menschen bei einer größeren Zahl von Übergängen auch mehr Flexibilität bewahren. Evolutionsbiologen sprechen von Neotenie, der Beibehaltung jugendlicher Merkmale im Erwachsenenalter, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit stärken und verhindern, dass sich feste Gewohnheiten einschleifen. Drittens schließlich wird es mehr Freundschaften über die Altersgrenzen hinweg geben, weil ein bestimmtes Alter nicht mehr einer bestimmten Lebensstufe entspricht und Menschen unterschiedlicher Altersgruppen ähnliche Phasen durchlaufen. Wenn es kein starres Schema mehr gibt, wird diese Altersmischung das Verständnis der Generationen füreinander fördern und dazu beitragen, dass sich ältere Menschen länger jugendliche Eigenschaften bewahren.

Die Beziehungen in Familie und Beruf werden sich verändern

Ein längeres Leben mit mehr Jahren nach der Kindererziehung besitzt das Potenzial, die Geschlechterungleichheit zu verringern und die persönlichen Beziehungen, die Ehe und Kindererziehung neu zu gestalten.

Die Familie war traditionell ein Ort der Spezialisierung und Arbeitsteilung. Der Mann war berufstätig, die Frau kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Das änderte sich in den letzten Jahrzehnten, als immer mehr Frauen berufstätig wurden und das doppelte Einkommen zur Regel wurde. Doch während sich die Rollenverteilung innerhalb der Familie verändert hat, ist das klassische Drei-Stufen-Modell für den Lebensweg von Männern nach wie vor maßgeblich. Frauen tendieren eher zu einem vielstufigen Modell, auch wenn dies immer noch als ungewöhnlich und normwidrig betrachtet wird.

Im Verlauf eines langen Lebens werden sich die persönlichen Beziehungen verändern, nicht zuletzt deshalb, weil die finanzielle Absicherung und das Sparen einfacher sind, wenn in einem Haushalt beide arbeiten. Weil außerdem beide Partner ein vielstufiges Leben führen, werden sie sich abstimmen müssen, wann wer in eine neue Lebensphase eintritt und wie sie einander dabei unterstützen können. Die neu entstehenden Haushaltsmodelle werden weitaus vielgestaltiger sein als in der Vergangenheit. Und damit wird auch der Druck auf Unternehmen und Politik wachsen, ihre Strategien auf diese neuen Gegebenheiten auszurichten.

Dies wird auch der geschlechtlichen Gleichstellung neue Impulse geben. Das Modell der drei Lebensstufen untermauert eine unflexible Sicht von Beruf und Karriere. Forderungen nach flexibleren Lösungen am Arbeitsplatz und weniger starren Arbeits- und Beförderungsbedingungen werden bisher hauptsächlich von Frauen erhoben, denn sie sind nach wie vor diejenigen, die sich vorrangig um die Kinder kümmern. Mit dem Ende des Drei-Stufen-Modells werden auch Männer auf mehr Flexibilität drängen, damit sie neue Lebensphasen verwirklichen können.

Die Komplexität der Generationenordnung

Das dreistufige Leben hat zu einer institutionellen Trennung der verschiedenen Altersgruppen geführt. Mit einem vielstufigen Leben, der Neustrukturierung von Familienbeziehungen und der Entkoppelung von Alter und Lebensstufe wird diese Generationentrennung überwunden werden.

Noch tiefgreifender wird sein, dass eine Familie in Zukunft aus vier Generationen besteht. Da die Lebenserwartung schneller steigt als das Alter, in dem Frauen Mütter werden, wird es sehr viel kompliziertere Familienstrukturen geben, und auch die Einstellungen der Generationen werden sich wandeln.

Die Experimentierfreude wird zunehmen

Eines ist klar: Es wird viele Pioniere geben. Weder Individuen noch Gemeinschaften, weder die Unternehmen noch die Politik haben Konzepte erarbeitet, wie ein 100-jähriges Leben am besten unterstützt werden kann. Es gibt nur wenige Rollenvorbilder, denn selbst Menschen, die 100 Jahre alt geworden sind, haben nicht damit gerechnet, so lange zu leben. Heute aber müssen wir mit der Perspektive eines langen Lebens planen. Je jünger Sie sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie mit neuen Lebensmodellen experimentieren, und desto größer sind Ihre Möglichkeiten, noch einmal ganz neu anzufangen und einen neuen Lebensentwurf zu verwirklichen. Wenn Sie sich in der Lebensmitte befinden, sind Sie womöglich bereits in die Fußstapfen Ihrer Eltern getreten und stillschweigend deren klassischem Drei-Stufen-Modell gefolgt. Heute wird immer deutlicher, dass dieses Modell einer steigenden Lebenserwartung immer weniger gerecht wird.

Wir alle versuchen daher herauszufinden, wie ein 100-jähriges Leben gelingen kann. Dieses Buch möchte Tipps geben und Einblicke in das vermitteln, was uns womöglich erwartet. Aber natürlich vermag niemand genau zu sagen, was die Zukunft bringt, und während noch darüber nachgedacht wird, gibt es bereits viele Einzelne, die neue Möglichkeiten erkunden und unbekannte Pfade beschreiten.

Der Kampf um das Humankapital

Wir glauben, dass ein 100-jähriges Leben für die Menschheit ein Geschenk ist. Ein völlig neu konzipiertes vielstufiges Leben bietet allen Menschen beträchtliche Chancen und gibt ihnen die Möglichkeit, Arbeit und Freizeit, Beruf und Familie, Finanzen und Gesundheit besser miteinander in Einklang zu bringen. Für die Betriebe jedoch und besonders für deren Personalabteilungen klingt all dies wie ein Albtraum. Unternehmen schätzen Konformität, und einfache, vorhersehbare Systeme sind leicht zu führen und zu implementieren. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn sich viele Institutionen diesem Wandel entgegenstellen. Doch es wird überall experimentiert, und am Ende wird der Wunsch der Individuen nach Flexibilisierung und Wahlmöglichkeiten stärker sein als das Bedürfnis der Betriebe nach Systematik und Berechenbarkeit. Es wird allerdings ein harter Kampf werden, der Jahrzehnte dauern könnte.

Zweifellos wird sich das starre Schema einer Gleichsetzung von Alter und Lebensstufe nicht aufrechterhalten lassen. Firmen, die auf tüchtige und gut ausgebildete Fachkräfte angewiesen sind, werden die wirtschaftlichen Vorteile einer veränderten Unternehmenspolitik erkennen. Doch das gilt längst nicht für alle. Die meisten Firmen werden nicht so flexibel sein, wie die Mitarbeiter es sich wünschen. Es wird Kämpfe geben, wie sie schon einmal im Zuge der industriellen Revolution stattfanden, als es um eine Verringerung der Wochenarbeitszeit und um bessere Arbeitsbedingungen ging.

Die Herausforderungen für die Politik

Ein 100-jähriges Leben berührt das Leben der Menschen in allen Bereichen und liefert damit eine umfassende Agenda für politisches Handeln. Bisher beschränkt sich der Fokus der Politik auf die Regelaltersgrenze, aber Fragen der Bildung, der Ehe und der Arbeitszeiten sowie viele weitere notwendige soziale Neuregelungen werden zum Gegenstand der politischen Debatte werden. Die finanzielle Absicherung eines 100-jährigen Lebens ist wichtig, noch wichtiger aber ist die Frage, wie wir Leben und Arbeit bis ins höhere Lebensalter hinein sinnvoll gestalten können. Um diese Themen muss sich die Politik kümmern.

Die politischen Strategien sind heute viel zu sehr auf die letzte Lebensstufe, den Ruhestand, gerichtet und am klassischen Drei-Stufen-Modell orientiert. Aber ein 100-jähriges Leben betrifft nicht nur alte Menschen und verlangt mehr als nur eine Anpassung des Rentenniveaus oder ein flexibles Renteneintrittsalter. Vorrangige Aufgabe der Politik ist die Schaffung eines gesetzlichen Regelwerks und von Rahmenbedingungen für die Gestaltung eines vielstufigen Lebens.

Die vielleicht größte Herausforderung aber ist die gesundheitliche Ungleichheit und die Frage, wie den Armen die Teilhabe an einem langen und produktiven Leben ermöglicht werden kann. Denn der Zuwachs an Lebenserwartung ist in der Bevölkerung nicht gleichmäßig verteilt, und in den einzelnen Ländern wächst die diesbezügliche Kluft zwischen Arm und Reich. Viele Optionen, die wir hier erkunden werden, stehen am ehesten Leuten in akademischen und Fachberufen mit einem hohen Einkommen zur Verfügung. Für ein langes Leben braucht man finanzielle Ressourcen, Kompetenzen, Flexibilität, eine gute Selbsteinschätzung, effiziente Planung sowie einen Arbeitgeber, der seine Mitarbeiter wertschätzt und respektiert. Die Gefahr ist groß, dass das Geschenk eines langen Lebens nur Menschen mit einer guten Bildung und einem hohen Einkommen zugänglich sein wird, weil sie den Wandel und die notwendigen Übergänge leichter bewältigen können. Deshalb muss die Politik schon heute Instrumente erarbeiten, um die Schwächeren dabei zu unterstützen, Übergänge zu meistern und die notwendige Flexibilität zu entwickeln. Es ist inakzeptabel, dass nur eine privilegierte Minderheit in den Genuss eines guten, langen Lebens kommen soll.

Wer bin ich?

Ein langes Leben wird von wirtschaftlichen, finanziellen, psychologischen und soziologischen, medizinischen und demografischen Kräften beeinflusst. Doch in diesem Buch geht es in erster Linie um Sie und darum, wie Sie Ihr Leben planen können. Es wird mehr Wahlmöglichkeiten geben, und Sie werden viele Veränderungen erleben. Und dabei kristallisiert sich immer mehr die Frage heraus, wofür Sie stehen, was Ihnen wichtig ist und worauf Sie Ihre Lebensgestaltung gründen möchten.

In der Samstagsbeilage der Financial Times gibt es eine Rubrik, in der bekannte Persönlichkeiten gefragt werden: »Was würde Ihr 20-jähriges Ich heute über Sie sagen?« In diesem Buch möchten wir diese Perspektive umkehren und Sie auffordern, darüber nachzudenken, was Ihr 70-, 80- oder 100-jähriges Ich heute über Sie sagen würde. Sind Sie sicher, dass die Entscheidungen, die Sie heute treffen, dem kritischen Blick Ihres zukünftigen Ichs standhalten werden?

Die Frage berührt den Kern dessen, worum es bei der Langlebigkeit geht. Wenn das Leben kurz ist, entwickelt sich eine Vorstellung davon, wer man ist, ohne dass man groß darüber nachdenken oder Transformationen vollziehen müsste. Doch was ist in einem langen Leben der rote Faden, der die vielen Übergänge miteinander verbindet? Was ist es, das den Wesenskern dessen ausmacht, was Sie sind?

Die Fragen von personaler Identität, der Wahlmöglichkeiten und Risiken sind zentral für die Bewältigung eines langen Lebens. Ein langes Leben bedeutet mehr Veränderungen; mehr Lebensstufen bedeuten mehr Entscheidungen, die zu treffen sind; und je mehr Veränderungen und Entscheidungen das Leben eines Menschen beinhaltet, desto weniger bestimmt die Ausgangssituation die weitere Entwicklung. Wir werden also in ganz anderer Weise über Identität nachdenken müssen als die Menschen, die vor uns gelebt haben. Je länger wir leben, desto mehr spiegelt unsere Identität das wider, was wir selbst gestaltet haben. Die Menschen früherer Generationen mussten sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie sie ihr Leben durch die vielfältigen Veränderungen steuern sollten und welche Fähigkeiten sie benötigten, um all die Übergänge zu bewältigen. Ein langes Leben ist ein Leben mit Übergängen. Einige dieser Übergänge werden wir zusammen mit anderen vollziehen, bei anderen wird es keine Gruppe geben, die uns unterstützt. Einfach nur der Herde zu folgen, wird nicht funktionieren. Sehr viel intensiver als frühere Generationen werden wir darüber nachdenken müssen, wer wir sind, wie wir unser Leben gestalten möchten und was das für unsere personale Identität und unsere ureigenen Werte bedeutet.

Wir haben dieses Buch für Menschen geschrieben, die wissen, dass die Vergangenheit keine prognostische Kraft für die Zukunft besitzt; für Menschen, die etwas über Chancen und Optionen statt über Zwänge und Risiken erfahren möchten; für Menschen, die das Erwerbsleben, das sie jetzt und in Zukunft führen, positiv beeinflussen möchten; für Menschen, die alles dafür tun wollen, damit ihr langes Leben zum Geschenk statt zum Fluch wird. Dieses Buch ist eine Einladung, die ersten Schritte dafür zu unternehmen.

Es ist Ihnen sicher nicht schwergefallen, an ein achtjähriges Kind zu denken. Aber richten wir nun den Blick auf eine andere Altersgruppe. Wie viele 100-Jährige kennen Sie? Vielleicht gar keinen. Oder vielleicht haben Sie eine Großmutter, die 100 Jahre erreicht hat. Doch schon die Tatsache, dass Sie so wenige 100-Jährige kennen und verständlicherweise stolz sind auf die, die Sie kennen, zeigt, wie ungewöhnlich ein so hohes Alter ist. Um diesen Unterschied zwischen Achtjährigen und 100-Jährigen zu verstehen, wollen wir die Prognosen in Abbildung 1.1 mit Daten aus der Vergangenheit vergleichen. Für ein 1914 geborenes Kind betrug die Wahrscheinlichkeit, 100 Jahre alt zu werden, 1 Prozent – und genau hier liegt der Grund, warum 100-Jährige heute noch relativ selten sind. Ihre Chancen standen einfach schlecht. Abbildung 1.1 zeigt auch, dass im Jahr 2107 ein 100-Jähriger keine Seltenheit mehr sein wird, sondern Normalität. Weit über die Hälfte der Achtjährigen, die Sie heute kennen, werden dann noch am Leben sein.

Für diesen außergewöhnlichen Anstieg der Lebenserwartung ist jedoch nicht ein einzelner Kausalfaktor verantwortlich, und es trat auch nicht ein plötzlicher Umbruch ein. Vielmehr gab es in den vergangenen 200 Jahren einen kontinuierlichen Zuwachs an Lebenserwartung. Laut den besten derzeit verfügbaren Daten stieg seit 1840 die Lebenserwartung um drei Monate pro Jahr. Das bedeutet eine Steigerung von zwei bis drei Jahren alle zehn Jahre. Abbildung 1.2 dokumentiert diese atemberaubende Entwicklung seit den 1850er Jahren. Das Erstaunlichste ist die Konstanz dieses Zuwachses über diesen Zeitraum hinweg. Wenn wir die jährlich weltweit höchste durchschnittliche Lebenserwartung betrachten (Demografen sprechen von Best-Practice-Lebenserwartung), zeigt sich tatsächlich ein geradliniger Anstieg. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Nichts deutet darauf hin, dass sich dieser Trend abschwächen wird. Man kann also davon ausgehen, dass er sich in Zukunft fortsetzen wird. Ein 2007 in Japan geborenes Kind hat also eine Chance von 50 Prozent, 107 Jahre alt zu werden. Inzwischen hat sich diese Chance weiter erhöht, sodass ein 2014 in Japan geborenes Kind eine 50-prozentige Chance hat, nicht 107, sondern 109 Jahre alt zu werden.

Wenn die heute Achtjährigen gute Aussichten haben, 100 Jahre alt zu werden, was ist mit den Jahrgängen dazwischen? Was bedeutet diese Prognose für Sie? Die einfache Antwort lautet: Je jünger Sie heute sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie länger leben werden. Werfen wir erneut einen Blick auf Abbildung 1.2 und betrachten den Verlauf dieses Wandels. Seit 1840 stieg die Lebenserwartung um zwei bis drei Jahre pro Jahrzehnt. Wenn also ein 2007 geborenes Kind eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit hat, 104 Jahre alt zu werden, hat ein Kind, das zehn Jahre früher geboren ist (1997), eine 50-prozentige Chance, 101 oder 102 Jahre alt zu werden; noch ein Jahrzehnt früher (1987) sind es 98 bis 100 Jahre; für 1977 sind es 95 bis 98, für 1967 92 bis 96, und selbst für die 1957 Geborenen sind es 89 bis 94 Jahre und so weiter.

Der stetige Anstieg der Lebenserwartung, den Abbildung 1.2 zeigt, verdankt sich einer Vielzahl von Entwicklungen. Der erste substanzielle Zuwachs geht auf die rückläufige Kindersterblichkeit zurück. Für die Menschen in den Industrieländern ist heute kaum mehr vorstellbar, was für eine furchtbare Geißel die Kindersterblichkeit war. Die Schriftsteller des viktorianischen England haben eindringlich davon erzählt. Im Roman Der Raritätenladen stirbt die kleine Nell im Alter von 14 Jahren. In Jane Eyre bricht im Internat Lowood eine Typhusepidemie aus, und Helen stirbt in den Armen ihrer besten Freundin Jane. Das war keineswegs außergewöhnlich.

Charles Dickens und Charlotte Brontë erzählten vielmehr von alltäglichen Ereignissen, die sie in ihrem Lebensumfeld beobachteten. Ab den 1920er Jahren war hauptsächlich der Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit für den in Abbildung 1.2 dargestellten Anstieg der Lebenserwartung verantwortlich. Ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose, Pocken, Diphtherie und Typhus, denen Nell und Helen zum Opfer fielen, wurden allmählich besiegt. Der Staat ergriff innovative Maßnahmen zur Gesundheitsfürsorge, die Ernährung verbesserte sich, und die Menschen lernten, gesünder zu leben.

Der zweite große Zuwachs an Lebenserwartung verdankt sich der erfolgreichen Bekämpfung chronisch-degenerativer Krankheiten im mittleren und höheren Lebensalter, vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. Autoren des 20. Jahrhunderts schrieben nun zwar nicht mehr über die Tragödie der Kindersterblichkeit, aber sie selbst wurden von den chronischen Krankheiten ihrer Zeit heimgesucht. Sir Arthur Conan Doyle, der Schöpfer von Sherlock Holmes, starb 1930 im Alter von 71 Jahren an Lungenentzündung. Ian Fleming, der Schöpfer von James Bond, starb 1964 mit 56 Jahren an einem Herzinfarkt. Eine frühzeitige Diagnose, effiziente Therapien und Aufklärung besonders zu den Risiken des Rauchens trugen maßgeblich zur Verbesserung der Gesundheit bei. Dem Nobelpreisträger und Ökonom Angus Deaton zufolge begann dieser epidemiologische Übergang, als tödliche Krankheiten »aus Darm und Brust von Kindern in die Arterien älterer Menschen« wanderten.3

Der nächste größere Zuwachs an Lebenserwartung wird der Bekämpfung altersbedingter Krankheiten zu verdanken sein. Tatsächlich ist die Lebenserwartung älterer Menschen bereits heute deutlich gestiegen. 1950 lag in England die Wahrscheinlichkeit, dass ein 80-jähriger Mann stirbt, bei 14 Prozent, heute sind es nur noch 8 Prozent. Für einen 90-Jährigen sank diese Wahrscheinlichkeit von 30 auf 20 Prozent. 100 Jahre zu erreichen, war so selten, dass dieses hohe Alter in vielen Ländern auf besondere Weise gewürdigt wurde. In Japan zum Beispiel wurden 100-Jährige mit einem sakazuki beschenkt, einem silbernen Sake-Service. Als diese Tradition 1963 eingeführt wurde, gab es lediglich 153 Japaner, die 100 Jahre alt waren; im Jahr 2014 waren es mehr als 29.350. Im Vereinigten Königreich erhielt jeder 100-Jährige eine persönliche Glückwunschbotschaft von der Queen. Vor zehn Jahren organisierte eine einzige Person den Versand dieser Glückwunschkarten, heute sind es sieben, weil die Zahl der Karten um 70 Prozent gestiegen ist. Ein Blick auf Abbildung 1.2 erlaubt die Prognose, dass der Bedarf an sakazuki und Glückwunschkarten in Zukunft noch erheblich steigen wird. Tatsächlich wurde in Japan diese Tradition im Jahr 2015 wieder abgeschafft.

Für diesen Zuwachs an Lebenserwartung lässt sich eine Vielzahl von Kausalfaktoren nennen: eine bessere Gesundheit und eine bessere Ernährung, eine bessere medizinische Versorgung und eine bessere Bildung, technologischer Fortschritt, eine bessere Sanitärversorgung und ein höheres Einkommen. Demografen streiten darüber, welcher dieser Faktoren entscheidend ist. Falls überhaupt ein Konsens existiert, spiegelt er sich vielleicht am besten in dem einflussreichen Aufsatz von Samuel Preston. Nach seiner Einschätzung sind steigende Einkommen und eine bessere Ernährung für rund 25 Prozent des Zuwachses an Lebenserwartung verantwortlich. Noch wichtiger jedoch erscheinen ihm Innovationen im öffentlichen Gesundheitswesen wie die Bekämpfung von Krankheitserregern, Medikamente und Schutzimpfungen.4 Die staatliche Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung spielen eine Schlüsselrolle. Man denke nur an Kampagnen, die das Risiko des Rauchens für die Lebenserwartung ins öffentliche Bewusstsein hoben.

Egal, wo wir geboren sind, wir werden länger leben

Es ist bemerkenswert, dass alle Daten in Abbildung 1.1 und 1.2 aus den reicheren Industrieländern stammen. Von den heute in Entwicklungsländern geborenen Kindern können sehr viel weniger damit rechnen, 100 Jahre alt zu werden. Langfristig jedoch werden dieselben Kräfte, die in den Industrieländern für eine höhere Lebenserwartung gesorgt haben, in den Entwicklungsländern denselben Effekt erzielen. Mit steigenden Einkommen, einer besseren Ernährung und Gesundheitsversorgung ging in der westlichen Welt die Kindersterblichkeit zurück. Dieses Phänomen lässt sich heute weltweit beobachten. Ärmere Länder starten zwar mit einer geringeren Lebenserwartung als reiche Länder, aber die Zuwachsraten sind dieselben.

Nehmen wir als Beispiel Indien, wo die Lebenserwartung im Jahr 1900 24 Jahre betrug – gegenüber 49 Jahren in den Vereinigten Staaten. 1960 war die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten auf 70 Jahre gestiegen, in Indien dagegen nur auf 41 Jahre. Die Kluft zwischen diesen beiden Ländern hatte sich also vergrößert. Als jedoch Indien wirtschaftlich erfolgreicher wurde, verringerte sich diese Kluft. 2014 betrug in Indien die durchschnittliche Lebenserwartung 67 Jahre, und den demografischen Prognosen der Vereinten Nationen zufolge wird sie mit einer Quote von etwa zwei Jahren pro Jahrzehnt weiter steigen. Indien startet also zwar mit einer geringeren Lebenserwartung als die Vereinigten Staaten, aber die Steigerungsrate verläuft parallel. Dasselbe gilt für viele andere Länder der Erde: Das 100-jährige Leben wird zu einem globalen Phänomen, auch wenn die reichen Länder diese Schwelle zuerst überschreiten.

Werden wir ewig leben?

Wenden wir uns nun erneut Abbildung 1.2 zu und stellen uns vor, die Kurve gehe immer weiter nach oben. Vielleicht fragen Sie sich, ob bei einer Steigerungsrate von zwei bis drei Jahren pro Jahrzehnt irgendwann eine Obergrenze erreicht sein wird. Die Mehrheit der heute in der westlichen Welt geborenen Kinder kann damit rechnen, über 100 Jahre alt zu werden. Aber warum sollte es an diesem Punkt aufhören? Warum nicht 150, 200 oder noch älter?

Wie in den meisten wissenschaftlichen Debatten gibt es auch hier viele gegensätzliche Ansichten, doch im Mittelpunkt steht meistens die Frage, ob es für das menschliche Leben eine natürliche Obergrenze gibt, und wenn ja, wo sie liegen könnte.5 Die Pessimisten argumentieren, die Ernährung sei heute bereits optimal und die Säuglings- und Kindersterblichkeit erfolgreich bekämpft; heute seien es Zivilisationskrankheiten, eine sitzende Lebensweise und die zunehmende Fettleibigkeit, die einen weiteren Zuwachs der Lebenserwartung verhindern.

Andere sind optimistischer und meinen, die Bildung werde – neben technologischer Innovation – auch in Zukunft ein Motor für eine weitere Steigerung der Lebenserwartung sein. Historisch betrachtet haben Bildung, technologischer Fortschritt, eine frühzeitige Krankheitsdiagnose und effizientere Therapien die alten Grenzen der Lebenserwartung durchbrochen. Warum sollte das nicht so weitergehen?

Tatsächlich gibt es unter diesen Optimisten einige, die, fast schon verstiegen, behaupten, es gebe für das menschliche Leben keine natürliche Grenze und der wissenschaftliche und technologische Fortschritt werde zu einer Lebenserwartung von vielen Hundert Jahren führen.

Das ist die Ansicht von Ray Kurzweil, der bei Google ein Team zur künstlichen Intelligenz leitet. In seinem Buch, das er zusammen mit seinem Arzt Terry Grossman geschrieben hat6, entwickelt er eine Drei-Brücken-Strategie für eine Lebensspanne von mehreren Hundert Jahren. Die erste Brücke ist die Befolgung evidenzbasierter medizinischer Ratschläge, um das eigene Leben so weit zu verlängern, bis die zweite Brücke erreicht ist und man von der bevorstehenden medizinisch-biotechnologischen Revolution profitieren kann. Die dritte Brücke sind Nanotechnologie und künstliche Intelligenz, die auf molekularer Ebene sämtliche Teile eines alternden Körpers nachbauen und damit ersetzen können. Diesen Optimisten der Altersforschung zufolge lassen sich die natürlichen Grenzen des Lebens sehr viel weiter ausdehnen, als es bisher vorstellbar ist.

Die Antwort auf die Frage, welcher dieser Denkansätze richtig ist, hat weitreichende Konsequenzen. Abbildung 1.2 legt nahe, dass wir eine Obergrenze, wenn es sie überhaupt gibt, nicht so schnell erreichen werden. Die Best-Practice-Lebenserwartung würde sich stabilisieren, wenn ein Höchststand erreicht wäre. Die Grafik jedoch zeigt, dass die Kurve wie in den vergangenen 200 Jahren weiter nach oben geht. Die Autoren dieses Buches neigen zur Ansicht der gemäßigten Optimisten. Wir gehen davon aus, dass sich der Anstieg der Lebenserwartung bei 110 oder 120 Jahren abzuschwächen beginnt. So genau kann das freilich niemand wissen. Wichtig für uns ist aber, dass die Idee eines 100-jährigen Lebens keine Science-Fiction ist und keine wilde Spekulation und dass 100 Jahre auch keine Höchstgrenze sind, die nur ein paar wenige Glückliche erreichen. Die Frage ist gerade deshalb so spannend, weil es stichhaltige Belege dafür gibt, dass heute geborene Kinder bedeutend älter werden als 100 Jahre.

Und noch einen – eher technischen Aspekt – gilt es bei der Diskussion über die höhere Lebenserwartung zu berücksichtigen. Die Prognosen darüber, wie alt ein Mensch tatsächlich werden kann, sind sehr widersprüchlich, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Modelle zur Berechnung der künftigen Lebenserwartung.

Für die Prognose der Lebenserwartung eines achtjährigen Kindes müssen die Demografen dessen Sterberisiko mit zunehmendem Alter berücksichtigen. Von welcher Lebenserwartung sollte man bei einem heute Achtjährigen ausgehen, wenn er 55 Jahre alt sein wird (und damit das derzeitige Durchschnittsalter der Autoren dieses Buches erreicht hat)? Hat das Kind, wenn es in 47 Jahren 55 ist, dieselbe Lebenserwartung wie wir heute? Oder sollte man davon ausgehen, dass die Lebenserwartung eines heute 55-Jährigen in den kommenden 47 Jahren infolge einer besseren Bildung und der weiterentwickelten Gesundheitstechnologie zusätzlich steigen wird?

 Abbildung 1.1 1.2