Sophienlust – 261 – Meine Freundin Bessy

Sophienlust
– 261–

Meine Freundin Bessy

Wenn ein Kätzchen der einzige Trost bleibt …

Marisa Frank

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-973-2

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Mit der linken Hand hielt Denise von Schoenecker den Telefonhörer ans Ohr, während sie mit der anderen Hand automatisch die genannte Adresse auf einen Notizblock notierte.

»Sie müssen etwas unternehmen«, hörte sie wieder die erregte Stimme.

»Vielleicht können Sie mir noch etwas mehr sagen.« Denises Finger spielten mit dem Kugelschreiber. »Vor allem, wie ist Ihr Name? Sie haben ihn bis jetzt noch nicht genannt.«

Nun war nur noch heftiges Atmen zu hören. »Hallo!«, rief die Verwalterin des Kinderheimes Sophienlust in den Hörer. Da wurde auf der anderen Seite aufgelegt.

Denise von Schoenecker hielt den Hörer noch in der Hand, als Frau Rennert, die Heimleiterin, das büroähnliche Empfangszimmer betrat. Diese schon etwas ältere, aber mütterliche Frau erkannte sofort, dass Denise von Schoenecker eben kein alltägliches Gespräch geführt hatte. Langsam trat sie heran.

Mit einem vagen Lächeln sah De­nise hoch. »Eigentlich halte ich nichts von anonymen Anrufen, aber trotzdem glaube ich nicht, dass die Anruferin denunzieren wollte.«

Fragend hob Frau Rennert die Augenbrauen.

»Ich wurde soeben gebeten«, erklärte Denise und schob sich dabei eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn, »mich um ein Kind zu kümmern. Es soll in einer Wohnung festgehalten werden. Ja, die Anruferin sagte sogar gefangen gehalten.« Nachdenklich klopfte Denise mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. »Das Kind soll drei Jahre alt sein und Dirk heißen.«

»Und sonst?« Auch Frau Rennerts Interesse war geweckt.

»Nichts!« Denise zuckte mit den Schultern. »Die Anruferin legte auf.«

»Ein Scherz war es wohl nicht?«, fragte Frau Rennert vorsichtig.

Entschieden schüttelte Denise von Schoenecker den Kopf. »Es wurde mir ja auch eine Adresse genannt.«

Frau Rennert beugte sich vor und las die auf dem Notizblock stehende Anschrift. Es war eine Stuttgarter Adresse. »Handelt es sich bei dieser Sara Voigt um die Mutter?«

»Nicht einmal das weiß ich. Zuerst sprach die Anruferin ununterbrochen. Ich hatte das Gefühl, es mit einer verzweifelten Frau zu tun zu haben. Die Stimme klang übrigens jung. Dann, als ich zu fragen anfing, wurde aufgelegt.«

Die Heimleiterin, die wusste, dass dieser Anruf der hübschen Gutsbesitzerin nicht mehr aus dem Kopf gehen würde, stand auf und holte das Stuttgarter Telefonbuch. Ihr Zeigefinger fuhr über die Seiten, dann stellte sie fest: »Die Adresse stimmt. Frau Voigt hat sogar Telefon.«

»Eigenartig«, murmelte Denise. Sie versuchte sich jedes Wort der Anruferin in Erinnerung zu rufen.

»Was werden Sie tun?« Ein feines Lächeln spielte bei der Frage um Frau Rennerts Mundwinkel. Sie wusste genau, dass Denise von Schoenecker keine Strapazen scheute, wenn es um das Wohl eines Kindes ging. Nicht umsonst wurde das Kinderheim Sophienlust das »Heim der glücklichen Kinder« genannt. Auch wenn sie und Schwester Regine sich stets liebevoll um die Kinder kümmerten, so war Frau von Schoenecker doch die Seele und der gute Geist von Sophienlust. Dabei verwaltete sie das Kinderheim nur für ihren Sohn Dominik von Wellentin-Schoenecker. Dieser hatte das ehemalige Gut von seiner Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, geerbt und zwar mit der Auflage, daraus ein Heim für elternlose oder Geborgenheit suchende Kinder zu machen.

Nachdenklich betrachtete Denise die Adresse, die Frau Rennert inzwischen durch die entsprechende Telefonnummer ergänzt hatte. Dann sagte sie: »Mein Mann würde sagen, dass ich schon genug zu tun habe. Wenn an dem Hinweis wirklich etwas Wahres sein sollte, dann wäre das Jugendamt zuständig.« Denise seufzte. »Er hat ja recht. Wir sind fast bis zum letzten Platz belegt. Und trotzdem! Schon allein der Gedanke, dass da ein kleiner Junge der Laune irgendeiner Erwachsenen ausgeliefert ist, lässt mir keine Ruhe.«

Frau Rennert antwortete darauf nichts. Wieder wusste sie, dass Denise von Schoenecker trotz aller Einwände etwas unternehmen würde. Mit glücklicher Hand hatte sie schon oft in das Schicksal von Kindern eingegriffen. Frau Rennert kannte aber auch Alexander von Schoenecker, Denises Gatten, gut. Sie wusste, es war kein Wunder, dass er sich um seine Frau sorgte. Er hatte Angst, dass sie sich bei der großen Aufgabe in Sophienlust übernehmen könnte. Er selbst war ja auch ein vielbeschäftigter Mann, da er das Gut Schoeneich, einen alten Familienbesitz, selbst verwaltete.

»Vielleicht sollte ich mit Frau Voigt sprechen. Ich könnte sie anrufen«, spann Denise ihre Gedanken weiter. »Ich könnte sie einfach nach Dirk fragen.« Schon griff ihre Hand nach dem Hörer, aber nachdem sie die ersten Ziffern gewählt hatte, hielt sie inne.

»Viel Sinn hat so ein Gespräch sicher nicht«, sagte sie und legte den Hörer auf die Gabel zurück. »Ich muss mir diese Sara Voigt schon selbst ansehen. Und wenn etwas an dieser Anschuldigung wahr ist, werde ich den Fall an das Jugendamt weitergeben.«

Nun begann Denise von Schoenecker in ihrem Terminkalender zu blättern. »Das trifft sich gut«, sagte sie erfreut. »Nächste Woche habe ich sowieso in Stuttgart zu tun. Ich werde auf alle Fälle bei dieser Frau Voigt vorbeisehen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wenigstens ein Körnchen Wahrheit hinter diesem anonymen Anruf steckt. Aber jetzt wollen wir uns der täglichen Arbeit zuwenden.«

In der nächsten halben Stunde besprachen die zwei Frauen dies und das. Hin und wieder machte sich Denise einige Notizen. Dann war durch das geöffnete Fenster Lärm zu hören. Das war ein Zeichen dafür, dass der Schulbus eingetroffen war.

»Ich glaube, das Wichtigste hätten wir.« Denise trat ans Fenster und sah hinaus. Das ehemalige Herrenhaus stand mitten in einem großen Park. Von dem großen schmiedeeisernen Tor führte eine Auffahrt bis zur Freitreppe. Dort stand nun ein roter Kleinbus, der die Aufschrift »Kinderheim Sophienlust« trug. Mit solchen Bussen wurden die Kinder von Sophienlust zur Schule gefahren. Die Kleineren zur Volksschule in Wildmoos, die Größeren zum Gymnasium in Maibach.

Denise hob die Hand und winkte einem hoch aufgeschossenen, gut aussehenden Jungen zu. »Nick«, rief sie, »ich bin noch hier. Du kannst mit mir nach Schoeneich fahren.«

»Fein, Mutti«, antwortete Dominik von Wellentin-Schoenecker, der von allen nur Nick genannt wurde. »Ich muss nur noch schnell etwas mit Pünktchen besprechen.« Nach diesen Worten wandte er sich einem blondhaarigen Mädchen zu, das dicht hinter ihm aus dem Bus geklettert war.

»Die beiden sind und bleiben ein Herz und eine Seele«, stellte Denise fest und lächelte dabei. Sie hatte Angelina Dommin, die wegen ihrer unzähligen Sommersprossen von allen nur Pünktchen genannt wurde, selbst in ihr Herz geschlossen. Pünktchen gehörte zu den Dauerkindern von Sophienlust und lebte schon lange hier.

Auch Frau Rennert, die an Denises Seite getreten war, schmunzelte. »Sie ist auch ein liebenswertes Geschöpf«, meinte sie. »Uns ist sie bereits eine große Hilfe. Sie kümmert sich so liebevoll um die Kleinen und Neuen.«

Wenig später saß Denise mit ihrem sechzehnjährigen Sohn im Auto und fuhr durch den Wald nach Schoen­eich. Eine Privatstraße verband das Kinderheim Sophienlust mit dem Gut Schoeneich. Daher aß Denise auch sooft sie es einrichten konnte, in Schoeneich. Sie nutzte gern die Mittagspause zu einem Gespräch mit Mann und Kindern. Außer Nick gab es ja auch noch Henrik. Dieser war neun Jahre alt und das Nesthäkchen der Familie.

Nick lehnte sich im Sitz zurück. »Hat es etwas Besonderes gegeben?«, erkundigte er sich. Da er Kinder und Tiere liebte, tat er viel für die Schützlinge von Sophienlust. Er war stolz auf das Kinderheim und handelte gern selbstständig, wenn es darum ging, einem Kind zu helfen.

Denise erzählte von dem anonymen Anruf.

»Da musst du etwas unternehmen«, rief Nick sofort.

»Was schlägst du vor?«, entgegnete seine Mutter ruhig. Sie hatte gewusst, dass Nick so reagieren würde.

»Du musst dir die Frau vornehmen.« Empört blitzten Nicks dunkle Augen. Er machte eine so heftige Bewegung, dass ihm eine Strähne seines schwarzen Haares in die Stirn fiel. Mit einer kurzen Kopfbewegung warf er sie wieder zurück. »Wenn ich mir vorstelle, dass es ein armes wehrloses Kind ist …«

»Nun, wir wollen nicht gleich übertreiben«, mahnte Denise. »Vielleicht war es nur eine gehässige Freundin, die anrief.«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Nick und sah seiner Mutter ins Gesicht.

»Nein, eigentlich nicht«, gab De­nise zu.

»Und was wirst du machen?« Auch Nick kannte seine Mutter und wusste, dass ihr dieser Anruf keine Ruhe lassen würde.

»Ich werde mir diese Frau Voigt ansehen. Ich werde sie mit dem Anruf konfrontieren.«

»Das wird das beste sein. Dann siehst du gleich, wie sie darauf reagiert. Weißt du was? Ich komme mit. Vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Das geht nicht«, wehrte Denise ab.

»Und warum nicht?«

»Erstens ist ausgemacht, dass Henrik mich das nächste Mal begleiten darf«, sagte Denise, denn in dieser Hinsicht herrschte zwischen den beiden Brüdern ein wenig Rivalität. »Und zweitens fahre ich am Vormittag nach Stuttgart. Da drückst du die Schulbank.«

»Muss das sein?« Nick seufzte.

»Was? Willst du dich etwa vor der Schule drücken?«

»Nein«, stellte Nick richtig. »Ich meinte nur, du könntest doch ein andermal nach Stuttgart fahren. An einem Nachmittag zum Beispiel.«

»Das geht nicht, mein Junge. Ich habe nächste Woche in einer anderen Sache in Stuttgart zu tun. Da kann ich beides miteinander verbinden.«

»Natürlich! Aber du musst der Frau hart auf den Zahn fühlen.« Nick wurde wieder eifrig. »Sieh zu, dass du diesen Jungen selbst zu Gesicht bekommst. Vielleicht kannst du mit ihm sprechen. Die Frau wird sicher alles abstreiten.«

Denise unterbrach ihren Sohn lächelnd. »Glaubst du vielleicht, dass ich mit der Frau allein nicht zurechtkommen werden?«

»Entschuldige, Mutti.« Verlegen räusperte sich der Junge. »Ich weiß ja, du verfügst über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Du siehst meist auf den ersten Blick, ob jemand die Wahrheit sagt.«

»Nun, hoffentlich gelingt mir das auch bei Frau Voigt.« Denise ließ das Auto ausrollen. Der Stammsitz der Familie von Schoenecker war erreicht. Wie in Sophienlust lag auch hier das Wohnhaus in einem großen Park. Nur war Gut Schoeneich ein schlossähnlicher Bau, der sogar einen Turm besaß. Besucher fühlten sich auf Schoeneich stets in ein Märchenland versetzt, denn an den dunklen Mauern rankte sich wilder Wein empor.

*

Denise von Schoenecker hatte ihr Auto auf einem Parkplatz abgestellt. Nun ging sie die Uhlandstraße entlang, wobei ihr Blick immer wieder suchend über die Häuserfronten glitt. Vor einem Haus mit kleinem Garten blieb sie stehen. Wenn die angegebene Adresse stimmte, musste Frau Sara Voigt hier wohnen.

Während Denise sich noch umsah, öffnete sich die Haustür. Eine Katze huschte durch den Türspalt und verschwand im Blumenbeet.

»Dirk«, hörte Denise eine ärgerliche Stimme sagen, »du hast schon wieder nicht aufgepasst. Du solltest Bessy doch festhalten. Ich habe dir doch gesagt, dass sie uns nicht begleiten kann.« Nun erschien eine Frau auf der Schwelle, an der sich ein kleiner blondhaariger Junge vorbeidrängte.

»Bessy, Bessy«, rief der Junge und streckte seine Bubenhand aus.

Die Frau – Denise hatte sie mit einem raschen Blick taxiert – seufzte. »Nun ist sie uns wieder entwischt.«

Treuherzig sah der Kleine zu ihr empor. »Bessy will eben nicht allein zu Hause bleiben.«

»Mitkommen darf sie aber nicht.« Die Stimme der Frau klang streng.

Trotzdem versuchte der Junge es noch einmal. »Aber allein ist ihr doch so langweilig. Wahrscheinlich hat sie auch Angst«, setzte er trotzig hinzu.

»Schluss jetzt, kein Wort mehr! Geh und suche die Katze. Sie muss wieder ins Haus.« Die Frau trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Da entdeckte sie Denise. »Guten Tag«, grüßte sie freundlich. »Suchen Sie etwas?«

Denise erwiderte den Gruß, dann meinte sie: »Ich glaube, ich habe bereits das gefunden, was ich suchte. Sie sind doch Frau Voigt?«

»Sie wollen zu mir? Sie müssen entschuldigen, aber wenn Sie eine Vertreterin sind …«

»Nein, bin ich nicht.« Denise lächelte. Dann stellte sie sich vor.

»Sie verwalten ein Kinderheim?« Das Erstaunen von Frau Voigt war echt. Verwirrt öffnete sie die Gartentür. »Bitte, kommen Sie herein. Ich verstehe zwar nicht, was Sie zu mir führt …«

Ehe Denise antworten konnte, ertönte Dirks Freudenschrei. Er hatte Bessy gefunden. Die Katze fest an sich gepresst, kam er angelaufen.

»Sieh nur, Sara, sie will nicht.«

»Aber sie muss«, entgegnete die Frau. Danach wandte sie sich erklärend an Denise. »Der Junge liebt die Katze heiß. Am liebsten würde er sie überallhin mitschleppen.«

»Ein süßes Kind.« Denise lächelte Dirk zu, dann fragte sie: »Ihr Sohn?«

»Ja«, sagte Frau Voigt eine Spur zu hastig. »Aber er nennt mich nur selten Mama. Meistens ruft er mich bei meinem Vornamen. Das hat er von einem Nachbarjungen. Nun, gegen die heutige Jugend kommt man einfach nicht an.« Sie zuckte die Achseln. Dann strich sie Dirk, der herangekommen war, über das Haar.

»Wer bist denn du?« Dirk starrte Denise mit offenem Mündchen an. Er musterte sie unbefangen, dann verzog sich sein Mund zu einem Lächeln. Das, was er sah, gefiel ihm offensichtlich. Er hielt Denise die Katze entgegen und meinte: »Du kannst auf Bessy aufpassen, solange ich mit Sara weg bin.«

»Aber, Dirk, du hast die Dame noch nicht einmal begrüßt.« Sara Voigt seufzte. »Sie müssen entschuldigen, aber Dirk hat, wie ich schon sagte, nur seine Katze im Kopf.«

Dirk schien dieser Vorwurf nicht zu stören. Er streckte seine Bubenhand unbefangen Denise entgegen. »Kommst du mich besuchen?«, fragte er.

»Ja«, sagte Denise. Nachdem sie die kleine Bubenhand gedrückt hatte, strich sie Bessy über das weiche Fell. »Das ist aber eine schöne Katze«, sagte sie und gewann mit dieser Feststellung das kleine Bubenherz auf Anhieb.

»Nicht wahr?« Dirks Augen strahlten auf. »Sie ist auch stubenrein und ganz, ganz lieb. Miauen tut sie nur selten. Kannst du nicht doch auf sie aufpassen?«

»Vielleicht ein andermal«, tröstete Denise. »Heute bin ich hier, um deine Mutter etwas zu fragen.«

»Dirk, du kannst inzwischen mit Bessy spielen«, schaltete sich Frau Voigt ein. »Geh mit ihr zur Sandkiste, aber pass auf, dass sie nicht verschwindet.«

»Wenn ich dabei bin, dann haut sie nicht ab«, entgegnete Dirk und reckte seine Nase herausfordernd empor. »Willst du nicht auch mit ihr spielen?« Er sah Denise an. »Du musst keine Angst haben, Bessy beißt und kratzt nicht.«