Über Alexandra Christo

Als Alexandra Christo mit vier Jahren erfuhr, dass sie keine Fee werden konnte, beschloss sie, stattdessen Autorin zu werden. Sie hat einen Abschluss in Kreativem Schreiben und arbeitet als Texterin in London. ›Elian und Lira – Das wilde Herz der See‹ ist ihr Debüt.

 

 

Petra Koob-Pawis wurde 1961 geboren. Sie studierte an der Universität Würzburg Anglistik und Germanistik, ging anschließend einer wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universität Würzburg nach. Seit 1987 arbeitet Petra Koob-Pawis freiberuflich für verschiedene Verlage als Lektorin und Übersetzerin. Sie lebt in der Nähe von München.

Über das Buch

»ICH HABE EIN HERZ FÜR JEDES JAHR MEINES LEBENS.«

 

Lira ist die Tochter der Meereskönigin und dazu verdammt, einmal im Jahr einem Prinzen das Herz zu rauben. Als Lira einen Fehler begeht, verwandelt ihre Mutter sie zur Strafe in einen Menschen. Und stellt ihr ein Ultimatum: Bring mir das Herz von Prinz Elian oder bleib für immer ein Mensch.

ELIAN ist der Thronerbe eines mächtigen Königreichs und das Meer ist sein Zuhause. Er jagt Sirenen, vor allem die eine, die bereits so vielen Prinzen das Leben genommen hat. Als er eine junge Frau aus dem Ozean fischt, ahnt er nicht, wen er da an Bord geholt hat …

 

DIE SIRENE UND DER PIRATENPRINZ - HOCHATMOSPHÄRISCHE FANTASY VOLLER ABENTEUER, LEIDENSCHAFT UND GEFÜHL!

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

© 2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2018 Alexandra Christo

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›To Kill a Kingdom‹,

2018 erschienen bei A Feiwel and Friends Book,

an imprint of Macmillan Publishing Group, LLC

175 Fifth Avenue, New York, NY 10010

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43488-1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71859-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434881

 

 

 

 

Ich habe ein Herz für jedes Jahr meines Lebens.

Siebzehn liegen im Sand meines Schlafzimmers vergraben. Immer wieder wühle ich im Untergrund, um nachzusehen, ob sie noch da sind. Blutig und in der Tiefe verborgen. Ich zähle sie, um sicherzugehen, dass keines über Nacht gestohlen wurde. Die Sorge ist nicht unbegründet. Herzen bedeuten Macht, und wenn es etwas gibt, was mein Volk mehr schätzt als das Meer, dann ist es Macht.

Ich habe so einiges gehört: Geschichten von gestohlenen Herzen und harpunierten Frauen, die für ihren Verrat bestraft und zuhauf auf dem Grund des Ozeans zurückgelassen wurden. Dort litten sie furchtbare Qualen, bis ihr Blut am Ende zu Salzkristallen erstarrte und sie sich im Meerschaum auflösten. Das sind die Frauen, die uns unsere menschliche Beute wegnehmen wollen. Nixen, mehr Fisch als Fleisch, mit einem Oberkörper, der zu den üppigen Schuppen ihrer Flossen passt.

Nixen sind ganz anders als Sirenen. Ihre Haut ist blau und anstelle von Haaren haben sie Tentakel. Ihre kieferlosen Münder sind so groß wie kleine Boote, sodass sie einen Hai in einem Stück

Wie alle Monster sind sie durchaus fähig zu töten, aber im Gegensatz zu den Sirenen, die verführen und morden, erliegen die Meernixen der Faszination der Menschen. Sie rauben wertlosen Tand und folgen den Schiffen in der Hoffnung, dass Schätze über Bord fallen. Manchmal retten sie sogar Seeleuten das Leben und erfreuen sich daran. Das allein ist ihnen Lohn genug. Wenn sie die Herzen stehlen, die wir hüten, geht es ihnen dabei nicht um Macht. Sie glauben, sie müssten sich nur möglichst viele Menschenherzen einverleiben, um irgendwann selbst zu einem Menschen zu werden.

Ich hasse Nixen.

Meine Haare winden sich schlangengleich über meinen Rücken. Sie sind rot wie mein linkes Auge – doch nur mein linkes, denn das rechte Auge jeder echten Sirene hat die Farbe des Meeres, in dem sie geboren wurde. In meinem Fall ist es das große Meer von Diávolos. Sein Wasser hat die Farbe von Äpfeln und Smaragden. In diesem Ozean liegt das Königreich Keto.

Alle Sirenen sind berühmt für ihre Schönheit, doch das Haus Keto zeichnet sich durch eine ganz besondere Anmut aus. Unsere Wimpern bestehen aus Eisbergsplittern und das Blut der Seeleute verleiht unseren Lippen ihr einzigartiges Rot. Es ist beinahe verwunderlich, dass wir noch unseren Gesang brauchen, um Herzen zu stehlen.

»Wen hast du gewählt, Cousine?«, fragt Kahlia mich in Psáriin.

Sie sitzt auf dem Felsen neben mir und beobachtet das Schiff in der Ferne. Ihre Schuppen glänzen rotbraun und ihre blonden Haare reichen bis knapp über ihre Brüste, die von einem Band aus geflochtenem Seetang bedeckt sind.

»Mach dich nicht lächerlich«, erwidere ich. »Du weißt genau, wen.«

Diesmal ist es das einzige in der Flotte, das bemalt ist und von dessen Mast eine Tigerflagge weht. Auf diesem Schiff reist der Prinz von Adékaros. Eine leichter Fang für alle, denen der Sinn nach Jagd steht.

Die Sonne brennt auf meinen Rücken. Ihre Hitze legt sich über meinen Nacken und macht, dass meine Haare auf der nassen Haut kleben bleiben. Ich sehne mich nach dem eisigen Meer, dessen scharfe Kälte wie köstliche Messerstiche in meine Glieder fährt.

»Was für eine Schande«, seufzt Kahlia. »Er sieht aus wie ein Engel. So ein hübsches Gesicht.«

»Sein Herz ist noch viel hübscher.«

Kahlia lächelt boshaft. »Es ist schon eine Ewigkeit her, seit du zum letzten Mal getötet hast, Lira«, sagt sie scherzhaft. »Hast du denn gar keine Angst, aus der Übung zu sein?«

»Ein Jahr kann man schwerlich als Ewigkeit bezeichnen.«

»Kommt darauf an, wer zählt.«

Ich seufze. »Dann verrate mir, wer es ist, damit ich ihn umbringen und dieses Gespräch beenden kann.«

Kahlias Lächeln ist grausig. So grinst sie nur, wenn ich ganz besonders abscheulich bin. Denn das schätzen Sirenen untereinander am allermeisten. Je boshafter und grausamer wir sind, desto besser. Freundschaft und Familienbande sollen uns so fremd bleiben wie das Land dem Meer, das bringt man uns von klein auf bei. Unsere Treue gehört allein der Meereskönigin.

»Wie könnte ich herzlos sein?«, entgegne ich. »Unter meinem Bett sind siebzehn vergraben.«

Kahlia schüttelt das Wasser aus ihren Haaren. »So viele Prinzen haben deine Lippen schon gekostet.«

Sie sagt es wie etwas, auf das man stolz sein kann. Kahlia ist noch jung und hat erst zwei Herzen geraubt. Keines davon war königlich, denn das ist allein mein Vorrecht, mein ureigenstes Privileg. Kahlias Bewunderung hat zum Teil damit zu tun. Sie fragt sich, ob die Lippen eines Prinzen anders schmecken als die eines gewöhnlichen Menschen. Aber ich kann ihr auf diese Frage keine Antwort geben, denn ich kenne nur den Geschmack von Prinzen.

Seit unsere Göttin Keto von den Menschen ermordet wurde, ist es bei uns Brauch, jedes Jahr im Monat unserer Geburt ein Herz zu stehlen. Damit feiern wir das Geschenk des Lebens, das Keto uns gegeben hat, und nehmen Rache an den Menschen für ihren gewaltsamen Tod. Als ich noch zu jung zum Jagen war, hat meine Mutter diese Pflicht für mich übernommen, so wie es Tradition bei uns ist. Sie hat mir stets einen Prinzen gebracht. Manche waren nicht älter als ich selbst. Andere waren alt und zerfurcht oder nachgeborene Kinder, die nie den Thron bestiegen hätten. Der König von Armonía hatte einst sechs Söhne und in meinen ersten Lebensjahren hat meine Mutter mir einen nach dem anderen zum Geburtstag geschenkt.

Als ich schließlich alt genug war, um selbst hinauszuziehen, kam es mir nie in den Sinn, auf königliches Blut zu verzichten und wie meine Artgenossen einfache Seeleute zu wählen. Man kann mir wahrhaftig nicht nachsagen, dass ich die Traditionen meiner Mutter nicht in Ehren halte.

»Hast du deine Muschel dabei?«, frage ich meine Cousine.

Kahlia streicht ihre Haare zurück und zeigt mir die orange Muschel, die sie sich um den Hals gebunden hat. Auch ich trage

»Wir werden uns schon nicht verlieren«, sagt Kahlia.

Bei allen meinen anderen Cousinen wäre es mir gleich, wenn sie sich in einem fremden Ozean verirren würden. Sie sind eine langweilige Sippe ohne Ehrgeiz und Vorstellungskraft. Nach dem Tod meiner Tante sind aus ihnen ehrfürchtige Dienerinnen meiner Mutter geworden. Was töricht ist, denn man soll die Meereskönigin nicht verehren. Man soll sie fürchten.

»Denk daran, dir nur einen Einzigen herauszupicken«, sage ich zu Kahlia. »Konzentriere dich ganz auf ihn.«

Kahlia nickt. »Welchen soll ich nehmen?«, fragt sie. »Wird sein Blut zu mir singen?«

»Die Einzigen, die singen, sind wir«, erwidere ich. »Unser Gesang wird alle verzaubern, und wenn du einen aussuchst, wird er sich so rettungslos in dich verlieben, dass er noch im Ertrinken deine Schönheit preist.«

»Für gewöhnlich bricht der Zauber im Sterben«, entgegnet Kahlia.

»Weil du für alle singst. In ihrem tiefsten Inneren wissen sie, dass dein Herz keinem von ihnen gehören wird. Du musst dich nach ihnen genauso sehr sehnen wie sie sich nach dir.«

»Aber sie sind grässlich«, wendet Kahlia ein. Sie klingt nicht

»Du hast es hier ja nicht mit einfachen Matrosen zu tun, sondern mit Königsangehörigen. Königtum bedeutet Macht. Und Macht ist immer begehrenswert.«

»Königsangehörige?«, wiederholt Kahlia atemlos. »Ich dachte …«

Sie beendet den Satz nicht. Sie dachte, ich würde alle Prinzen für mich beanspruchen und sie mit niemandem teilen. Und das stimmt sogar. Aber wo Prinzen sind, da sind auch Könige und Königinnen, und für die hatte ich noch nie etwas übrig. Regenten werden allzu leicht vom Thron gestoßen. Prinzen hingegen sind wie ein verheißungsvolles Versprechen. Sie sind die nächste Generation, die einmal die Macht in ihren Händen halten wird. Indem ich sie vernichte, vernichte ich die Zukunft – so, wie es meine Mutter mich gelehrt hat.

Ich ergreife Kahlias Hand. »Du kannst die Königin haben. Die Vergangenheit interessiert mich nicht.«

Kahlias Augen glänzen. Das rechte schimmert im vertrauten Saphirgrün der See von Diávolos, aber das linke – dessen Pupille so hellgelb ist, dass sie sich kaum vom Weiß des Augapfels abhebt – funkelt in seltener Freude. Wenn sie zu ihrem fünfzehnten Geburtstag ein königliches Herz raubt, wird sie das Wohlwollen meiner ewig zornigen Mutter erringen.

»Und du nimmst den Prinzen«, sagt Kahlia. »Den mit dem hübschen Gesicht.«

»Sein Gesicht ist nicht wichtig.« Ich lasse ihre Hand los. »Ich will nur sein Herz.«

»So viele Herzen«, säuselt sie sanft. »Bald wirst du keinen Platz mehr finden, um sie alle zu vergraben.«

Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. »Kann sein«, sage ich. »Aber eine Prinzessin braucht nun mal einen Prinzen.«

Die Bordwand fühlt sich rau unter meinen langen Fingern an. Das Holz splittert und die Farbe ist rissig und blättert ab. Das Schiff durchpflügt das Wasser in einem abgehackten Rhythmus wie die Klinge eines stumpfen Messers, die drückt und stößt, bis sie schließlich schneidet. Überall hängt Unrat, der Gestank lässt mich die Nase rümpfen.

Es ist das Schiff eines verarmten Prinzen.

Die Königlichen sind nicht alle gleich. Manche tragen kostbare Gewänder und unglaublich große Juwelen, deren Gewicht den Träger doppelt so schnell auf den Meeresboden sinken lässt. Andere sind einfach gekleidet, mit nur einem oder zwei Ringen am Finger und einer Bronzekrone, die mit Gold übermalt ist. Aber das ist mir egal. Ein Prinz ist ein Prinz.

Kahlia und ich schwimmen Seite an Seite neben dem Schiff her, das die Wellen zerteilt. Wir können mühelos mithalten. Das Warten ist quälend, während wir auf unsere Beute lauern. Es dauert eine Weile, bis der Prinz endlich an Deck kommt und seinen Blick aufs Meer richtet. Er kann uns nicht sehen. Wir sind viel zu nah und schwimmen viel zu schnell. Kahlia sieht mich

Wir tauchen aus der Gischt auf und öffnen unsere Lippen.

In vollkommenem Gleichklang singen wir in der Sprache von Midas. Sie ist unter den Menschen am gebräuchlichsten und jede Sirene kennt sie. Dabei kommt es auf die Worte gar nicht an. Es ist die Musik, die verzaubert. Unsere Stimmen dringen bis in den Himmel hinauf und kehren mit dem Wind zu uns zurück. Sie schwellen an wie der Gesang eines Chors, und während die eindringliche Melodie steigt und fällt, schmeichelt sie sich in die Herzen der Mannschaft, bis das Schiff immer langsamer wird und schließlich anhält.

»Hörst du das, Mutter?«, fragt der Prinz. Seine Stimme ist hell und verträumt.

Die Königin steht neben ihm an Deck. »Nein, ich –«

Ihre Stimme stockt, als die weiche Melodie nun auch sie in Bann schlägt. Der Gesang ist wie ein Befehl, alle Menschen auf dem Schiff halten inne und verharren, nur ihre Blicke huschen über das Wasser. Ich schaue den Prinzen an und singe sanft. Es dauert nicht lange und sein Blick trifft meinen.

»Bei den Göttern«, stößt er hervor. »Du bist es.«

Er lächelt und aus seinem linken Auge rinnt eine einzelne Träne.

Ich höre auf zu singen und summe nur noch leise.

»Du Liebe meines Lebens«, seufzt der Prinz. »Endlich habe ich dich gefunden.«

Er hält sich an den Webleinen fest und lehnt sich vor. Die Brust gegen die Reling gepresst, streckt er die Hand nach mir aus. Er trägt ein cremefarbenes Hemd. Die Schnüre an seiner Brust sind lose und die zerrissenen Ärmel sind an manchen Stellen von Motten zerfressen. Seine Krone ist aus dünnem Blattgold, sie wirkt zerbrechlich, als könnte sie bei jeder Bewegung zerspringen. Der junge Prinz sieht trostlos und arm aus.

Weich und rund mit einer Haut wie poliertes Holz und Augen, die nur einen Hauch dunkler sind. Seine Haare kräuseln sich zu einem wunderschönen Durcheinander von Locken. Kahlia hat recht; er sieht aus wie ein Engel. Sein Herz wird eine wertvolle Trophäe sein.

»Du bist so wunderschön«, sagt die Königin und starrt Kahlia bewundernd an. »Ich weiß nicht, wie ich jemals Augen für jemand anderen als dich haben konnte.«

Kahlias Lächeln ist aufrichtig, als sie den Arm ausstreckt und der Königin winkt.

Ich wende mich wieder dem Prinzen zu, der verzweifelt versucht, meine Hand zu ergreifen. »Meine Geliebte«, fleht er. »Komm zu mir!«

Ich schüttle den Kopf und summe weiter. Das Heulen des Windes ist die Begleitmusik für mein Lied.

»Dann komme ich zu dir!«, ruft der Prinz. Als hätte er je eine Wahl gehabt.

Mit einem verzückten Lächeln stürzt er sich ins Meer. Keine Sekunde später spritzt das Wasser erneut auf, als die Königin sich meiner Cousine auf Gedeih und Verderb ausliefert. Das Platschen, mit dem sie in die Wellen eintauchen, reißt die Schiffsmannschaft aus ihrer Erstarrung. Lautes Geschrei bricht los. Alle an Deck beugen sich über die Reling, fünfzig Seeleute, die sich an Taue und Planken klammern und entsetzt das grausige Schauspiel im Meer mit ansehen. Keiner von ihnen wagt es, von Bord zu springen, um die Königsfamilie zu retten. Ich rieche ihre Furcht, in die sich Verwirrung mischt, weil unser Gesang plötzlich verstummt ist.

Ich schaue meinem Prinzen in die Augen und streiche über seine zarte Haut. Eine Hand an seine Wange, die andere auf seine magere Schulter gelegt, küsse ich ihn sanft. Meine Lippen berühren die seinen und im selben Moment ziehe ich ihn unter Wasser.

Noch im Ertrinken streicht er über seine Lippen.

Kahlias Königin aber schlägt wie wild um sich. Sie greift an ihre Kehle und stößt meine Cousine weg. Wütend packt Kahlia sie am Knöchel und hält sie fest. Mit verzerrtem Gesicht versucht die Königin sich loszureißen. Vergeblich. Der Griff einer Sirene ist unerbittlich.

Ich streichle meinen sterbenden Prinzen. Mein Geburtstag ist erst in zwei Wochen. Unser Ausflug war ein Geschenk für Kahlia. Ihr fünfzehntes Herz sollte ein königliches sein. Eigentlich darf ich nicht zwei Wochen zu früh auf Jagd gehen, ich breche damit die oberste Regel. Und doch haucht gerade ein Prinz vor meinen Augen sein Leben aus. Braune Haut, meeresblaue Lippen. Haare, die ihn umfließen wie schwarzer Seetang. Etwas an seiner Reinheit erinnert mich an meine allererste Jagd. An den kleinen Jungen, den meine Mutter dazu benutzt hat, mich zu dem Ungeheuer zu machen, das ich nun bin.

So ein hübsches Gesicht, denke ich.

Ich fahre mit dem Daumen über die Lippen des armen Prinzen und genieße den Anblick seines friedvollen Gesichts. Dann stoße ich einen durchdringenden Schrei aus. Es ist ein Laut, der Knochen splittern lässt und die Haut aufreißt. Ein Laut, der meine Mutter mit Stolz erfüllen würde.

In einer einzigen Bewegung stoße ich meine Faust durch die Brust des Prinzen und reiße sein Herz heraus.

Im Grunde genommen bin ich ein Mörder. Aber in meinen Augen ist das eine meiner besseren Eigenschaften.

Ich halte meinen Dolch ins Mondlicht und bewundere den Glanz des Blutes, bevor es vom Stahl aufgesogen wird und verschwindet. Die Waffe ist an meinem siebzehnten Geburtstag für mich geschmiedet worden. Für den Prinzen von Midas schicke es sich nicht, rostige Klingen am Gürtel zu tragen, hatte der König gesagt. Seither habe ich einen magischen Dolch, der das Blut der Opfer so rasch verschluckt, dass mir kaum Zeit bleibt, es zu bewundern. Was anscheinend schicklicher ist. Allerdings auch etwas theatralisch.

Ich betrachte das tote Ding an Deck.

Die Saad ist ein mächtiges Schiff, doppelt so lang wie ein normales. Es könnte eine Mannschaft von achtzig Matrosen vertragen, aber es sind nur vierzig an Bord, weil es mir bei meinen Leuten vor allem auf Treue ankommt. Alte schwarze Laternen schmücken das Heck und das Bugspriet ist lang und spitz wie eine Klinge. Die Saad ist viel mehr als nur ein Schiff. Sie ist eine Waffe. Das Holz ist mitternachtsblau gestrichen. Die Segel schimmern elfenbeinfarben wie die Haut der Königin und das Deck glänzt bronzen wie die Haut des Königs.

»Müsste sie nicht schmelzen?«

Die Frage kommt von Kolton Torik, meinem ersten Maat. Torik ist Anfang vierzig, hat einen makellos weißen Schnurrbart und ist gut vier Zoll größer als ich. Seine Arme haben den Umfang meiner Beine, er ist ein wahres Kraftpaket. An warmen Sommertagen wie diesem trägt er auf Kniehöhe abgeschnittene Hosen und ein weißes Hemd unter einer schwarzen Weste, die von einer roten Schärpe zusammengehalten wird.

»Mir wird ganz mulmig, wenn ich es ansehe«, sagt Torik. »Obenrum könnte man es glatt für einen Menschen halten.«

»Der Anblick gefällt dir, was?«

Torik läuft rot an und wendet den Blick von den nackten Brüsten der Sirene ab.

Ich weiß natürlich, was er meint, aber irgendwo in den Weiten des Meeres ist mir das Gefühl der Bestürzung abhandengekommen. Ich kann weder die Flossen noch die blutroten Lippen ausblenden und auch nicht die Augen, die zwei unterschiedliche Farben haben. Männer wie Torik – gute Männer – sehen, was diese Kreaturen sein könnten: Frauen und Mädchen, Mütter und Töchter. Aber ich sehe nur, was sie sind: Scheusale und Ungeheuer, Bestien und Teufelinnen.

Ich bin kein guter Mann. Schon lange nicht mehr.

Vor unseren Augen beginnt die Haut der Sirene zu schmelzen. Ihre Haare verwandeln sich in grünen Seetang und ihre Schuppen zerfließen. Ihr Blut wird schäumend zu Gischt. Eine Minute später ist auch davon nichts mehr übrig.

Ich bin froh darüber. Wenn eine Sirene stirbt, wird sie wieder Teil des Meeres. Dadurch bleibt uns erspart, Leichen zu verbrennen oder verwesende Körper über Bord werfen zu müssen. Ich bin vielleicht kein guter Mensch, aber so abgebrüht bin ich nun auch nicht, dass es mir auf diese Art nicht lieber wäre.

»Was jetzt, Cap?«, fragt Kye, mein Steuermann, und steckt sein Schwert zurück in die Scheide. Dann stellt er sich neben Madrid, meine

Grinsend schaue ich Kye von der Seite an. Ich mag es, wenn er mich Cap nennt. Captain. Alles ist besser als mein Gebieter. Mein Prinz. Eure Königliche Hoheit Sir Elian Midas. Keiner der vielen Ehrentitel, die mir katzbuckelnde Untertanen zwischen endlosen Verbeugungen in die Ohren säuseln, passt auch nur annähernd so gut zu mir wie Cap. Denn im Grunde bin ich mehr Pirat als Prinz.

Seit meinem fünfzehnten Geburtstag ist das so, und in den letzten vier Jahren ist mir der Ozean vertrauter geworden als alles andere. In Midas sehnt sich mein Körper ständig nach Schlaf. Dort muss ich allen den Prinzen vorspielen, und das erschöpft mich. Die Gespräche mit den Höflingen, die mich als einen der Ihren betrachten, sind so ermüdend, dass mir die Augen zufallen. An Bord der Saad hingegen schlafe ich nur selten. Hier verfliegt jede Müdigkeit. Auf dem Schiff rauscht mein Blut und rast mein Puls, als würden Blitze durch meine Adern jagen. Ich bin immer hellwach und in fieberhafter Aufregung. Während der Rest meiner Mannschaft schläft, liege ich an Deck und zähle die Sterne.

Ich erkenne Formen in ihnen und spinne Geschichten daraus. Sie handeln von all den Orten, an denen ich schon war oder irgendwann sein werde. Von Meeren und Ozeanen, die ich entdecken will. Von Männern, die ich anheuern werde. Von Teufeln, die ich besiegen muss. Der Nervenkitzel hört nie auf, auch wenn im Meer der Tod lauert. Wenn der vertraute Gesang meine Seele berührt und mich für einen

Als Elian Midas, Kronprinz und Thronerbe des Reichs, bin ich ein echter Langweiler. Meine Gespräche drehen sich um Staatsangelegenheiten und Besitztümer und um die Fragen, an welchen Bällen ich teilnehme, welche Dame das hübscheste Kleid trägt und ob eine unter ihnen ist, für die ich mich erwärmen könnte. Jedes Mal, wenn ich im Hafen von Midas anlege und in diese Rolle schlüpfen muss, kommt es mir wie pure Zeitverschwendung vor. Ein Monat, eine Woche, ein Tag – unwiederbringlich verloren. Eine verpasste Gelegenheit. Ein Leben, das ich nicht retten konnte. Ein weiterer Königssohn, den ich den Fängen jener Sirene überlassen habe, die man Fluch der Prinzen nennt.

Aber als Elian, Captain der Saad, bin ich ein anderer Mensch. Wenn das Schiff vor einer Insel anlegt, die ich mir als nächsten Halt ausgesucht habe, und meine Mannschaft bei mir ist, kann ich so sein, wie ich bin. Ich kann trinken, bis mir schwindlig wird, und mit Frauen scherzen, deren Haut von unzähligen Berührungen glüht. Frauen, die nach Rosen und Gerste duften und die losprusten, wenn sie hören, dass ich ein Prinz bin, und mir lachend sagen, dass ich trotzdem meine Zeche bezahlen muss.

»Cap?«, fragt Kye noch mal. »Und was jetzt?«

Ich springe die Stufen zum Vorderdeck hinauf, ziehe das goldene Teleskop aus meiner Gürtelschlaufe und drücke es an mein mit Kohle schwarz umrandetes Auge. Unter dem Bugspriet erstreckt sich der Ozean. Meile um Meile bis in die Unendlichkeit. Wohin man auch schaut, nichts als klares Wasser. Ich fahre mir über die Lippen, denn ich lechze nach mehr.

In meinen Adern fließt königliches Blut, aber die Sehnsucht nach dem Abenteuer ist stärker. Für den Prinzen von Midas, hatte mein Vater gesagt, schicke es sich nicht, rostige Klingen am Gürtel zu tragen oder auf das offene Meer hinauszusegeln und monatelang wegzubleiben. Es zieme sich nicht, mit neunzehn Jahren immer noch keine

Es gehöre sich nicht, als Pirat auf Sirenenjagd zu gehen, statt als Prinz meine Pflichten zu erfüllen.

Seufzend drehe ich mich zum Bug. Auch hier erstreckt sich der weite Ozean, aber in der Ferne, für das Auge nicht sichtbar, liegt das Land. Die Insel Midas. Die Heimat.

Ich lasse den Blick über meine Mannschaft gleiten. Vierzig Matrosen und Krieger, die meine Mission ehrenwert und mutig finden. Sie denken anders über mich als die Höflinge, die in mir einen jungen Prinzen sehen, dem die Abenteuerlust ausgetrieben werden muss. Die Männer und Frauen auf dem Schiff sehen in mir einen Anführer, dem sie ihre uneingeschränkte Treue geschworen haben.

»Also gut, ihr wilder Haufen von Sirenentötern«, rufe ich ihnen zu. »Lasst unsere Dame nach Backbord segeln.«

Die Mannschaft jubelt. Ich werde dafür sorgen, dass sie in Midas so viel essen und trinken können, wie sie wollen. Sie sollen volle Bäuche und herrlich seidene Bettlaken haben – mehr Luxus, als sie es von der Saad oder den Hafenwirtshäusern kennen, in denen wir auf Landgang übernachten.

»Meine Familie wird wissen wollen, wie es uns ergangen ist«, sage ich zu ihnen. »Wir segeln nach Hause.«

Stampfendes Fußgetrappel folgt meinen Worten. Die Ankündigung löst Begeisterungsstürme aus. Ich bemühe mich, ein fröhliches Gesicht zu machen. Ich werde meine Gefühle nicht zeigen. Denn so kennen meine Leute mich: nie beunruhigt, nie erzürnt, nie verzagt. Immer Herr meines Lebens und meines Schicksals.

Das Schiff schwenkt hart nach Steuerbord und schlägt einen weiten Bogen, während meine Matrosen geschäftig übers Deck eilen und es kaum erwarten können, nach Midas zurückzukehren. Nicht alle von ihnen sind dort geboren. Einige stammen aus benachbarten Königreichen wie Armonía oder Adékaros – Länder, derer sie überdrüssig geworden oder in denen nach dem Tod ihrer Prinzen Unruhen

Die Insel, die wir ansteuern, ist nur ein Zwischenhalt.

In Midas glitzert das Meer golden. Zumindest hat man diesen Eindruck. Tatsächlich ist das Wasser genauso blau wie in jedem anderen Meer. Aber Licht bringt Erscheinungen hervor. Unerklärliche Dinge. Licht kann lügen.

Das Schloss erhebt sich hoch über der Insel. Es ist die größte aller Pyramiden und aus purem Gold gemacht. Jeder Stein, jeder Ziegel fängt das Sonnenlicht ein und gibt es tausendfach zurück. Am Horizont reihen sich hohe Statuen, und die Häuser der Unterstadt haben alle die gleiche Farbe. Straßen und Pflastersteine schimmern gelb. Wenn die Sonnenstrahlen aufs Wasser treffen und reflektiert werden, erstrahlt das Meer in einem unvergleichlichen Glanz. Nur in den dunkelsten Stunden der Nacht kommt das wahre Blau der Midasanischen See zum Vorschein.

Als Prinz von Midas müsste ich Gold in meinem Blut haben. Jedes Land der hundert Königreiche hat seine eigenen Mythen und Geschichten, die sich um ihr Königshaus ranken: Die Herrscherfamilie von Págos wurde von den Göttern aus Schnee und Eis gemeißelt. Haare wie Milch und Lippen so blau wie der Himmel sind ihr Geschenk, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Fürsten von Eidýllio

Der Legende nach blutet meine Familie kostbare Reichtümer. Mein Blut ist schon oft geflossen. Schon mehr als einmal haben sich die Klauen einer Sirene in meine Arme gebohrt. Ich habe mehr Blut vergossen als jeder andere Prinz und ich kann versichern, dass es nie golden war.

Meine Mannschaft weiß das. Denn meine Getreuen sind auch diejenigen, die meine Wunden säubern und mich wieder zusammenflicken. Trotzdem spinnen sie die Legende weiter – sie lachen und nicken vielsagend, sobald die Rede auf goldenes Blut kommt. Niemals würden sie das Geheimnis meiner Gewöhnlichkeit preisgeben.

»Natürlich«, sagt Madrid zu jedem, der sie fragt. »Der Captain besteht aus den reinsten Sonnenstrahlen. Ihn bluten zu sehen ist, als würde man den Göttern in die Augen blicken.«

Kye beugt sich dann vor und senkt seine Stimme wie jemand, der alle meine Geheimisse kennt: »Nachdem er mit einer Frau zusammen war, weint sie eine Woche lang Tränen aus flüssigem Metall. Zum einen, weil sie sich so schrecklich nach seiner Berührung sehnt, zum anderen, weil sie sich damit ihren Stolz zurückkaufen kann.«

»Ja«, stimmt Torik stets zu. »Außerdem scheißt er Regenbögen.«

Ich bleibe noch eine Weile auf dem Vorderdeck der Saad, die im Hafen von Midas vor Anker gegangen ist. Nach so vielen Wochen auf See beunruhigt mich der Gedanke, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. So ist es immer. Noch unwohler fühle ich mich bei der Vorstellung, dass ich mein wahres Ich auf der Saad zurücklassen muss, wenn ich mich auf den Weg zur Pyramide und zu meiner Familie mache. Ich bin fast ein Jahr lang unterwegs gewesen, aber obwohl ich sie vermisst habe, kommt mir die Zeit viel zu kurz vor.

Kye steht neben mir. Der Rest der Mannschaft ist schon an Land gegangen, aber er weicht mir nicht von der Seite, solange ich ihn nicht dazu auffordere. Er ist mein Steuermann, bester Freund und

Was ihn nicht daran hinderte, das Geld von meinem Vater anzunehmen. So, wie er sich oft Dinge nimmt, nur weil er es kann. Das liegt daran, dass er der Sohn eines Diplomaten ist. Wenn Kye seinen Vater schon enttäuscht, indem er sich meiner Sirenenjagd anschließt, statt sein Leben in den Dienst der Politik zu stellen, dann will er wenigstens keine halben Sachen machen. Er widmet sich seiner Aufgabe mit Leib und Seele. Schließlich hat sein Vater die Drohung, ihn zu enterben, längst wahr gemacht.

Um mich herum schimmert alles. Gebäude und Straßen, ja sogar der Hafen. Zur Feier meiner Rückkehr schweben am Himmel Hunderte von kleinen goldenen Laternen. Der Berater meines Vaters stammt aus dem Land der Wahrsager und Propheten, daher weiß er im Voraus, wann ich komme. Bei meiner Ankunft tanzen immer flackernde Lichter am Himmel und funkeln mit den Sternen um die Wette.

Ich nehme den vertrauten Duft meiner Heimat in mich auf. Midas riecht nach Früchten. Nach Butterbirnen und gelbfleischigen Pfirsichen mit der cremigen Beschaffenheit von Honig und der Likörsüße von Aprikosen. Und dazwischen mischt sich der flüchtige Geruch von Süßholz und Kautabak, der von der Saad kommt und von mir.

»Elian.« Kye legt den Arm um meine Schultern. »Wenn wir heute Abend noch etwas zu essen haben wollen, sollten wir los. Du weißt genau, dass die Gierhälse alles wegfuttern, wenn sie können.«

Mein Lachen klingt eher wie ein Seufzen.

Ich nehme meinen Hut ab. Meine Schiffskleidung habe ich bereits gegen die einzigen respektablen Kleider eingetauscht, die ich an Bord habe. Ein cremefarbenes Hemd mit Knöpfen statt Schnüren, dazu eine mitternachtsblaue Hose mit goldenem Gürtel. Nicht unbedingt angemessen für einen Prinzen, aber auch keine Piratenkluft. Ich habe sogar

»Also gut.« Ich hänge den Hut über das Steuerruder. »Bringen wir es hinter uns.«

»Es wird schon nicht so schlimm werden.« Kye stellt seinen Kragen hoch. »Vielleicht findest du ja noch Gefallen an den Verbeugungen. Womöglich gibst du die Seefahrt auf und lässt uns alle im goldenen Land stranden.« Er zerzaust mein Haar. »Wäre gar nicht mal so übel«, sagt er. »Ich mag Gold ganz gern.«

»Ein wahrer Pirat.« Ich versetze ihm spielerisch einen Stoß. »Aber das kannst du dir schön aus dem Kopf schlagen. Wir gehen zum Palast, überstehen den Ball, den sie zu meinen Ehren veranstalten werden, und bevor die Woche um ist, stechen wir wieder in See.«

»Ein Ball?« Kyes Augenbrauen schießen in die Höhe. »Welche Ehre, mein Gebieter.« Die Hand auf den Bauch gelegt, verbeugt er sich tief.

Ich versetze ihm noch einen Stoß, diesmal etwas fester. »Bei allen Göttern«, seufze ich. »Lass das.«

Er verbeugt sich wieder, prustet aber fast los. »Ganz wie Ihr wünscht, Hoheit.«

 

Meine Familie erwartet mich im Thronsaal. Er ist mit schwebenden Kugeln aus Gold geschmückt. Fahnen mit dem Wappen von Midas zieren die Wände. Auf einem großen Tisch türmen sich Juwelen und Geschenke. Gaben des Volks für den heimgekehrten Prinzen.

Nachdem ich Kye in den Speisesaal geschickt habe, bleibe ich an der Tür stehen und betrachte meine Familie. Ich bin noch nicht so weit, ihnen entgegenzutreten.

»Nicht, dass ich es ihm nicht gönnen würde«, sagt meine Schwester.

Amara ist sechzehn. Ihre Augen haben die Farbe von grünem Molokhia und ihre Haare sind so schwarz wie meine, aber mit Gold und Edelsteinen durchflochten.

»Allerdings bezweifle ich, dass er es haben möchte.« Amara hält ein goldenes Armband in Form eines Blatts hoch, um es dem König und

»Nennt man Diebstahl neuerdings Gefallen?«, fragt die Königin. Als sie sich zu ihrem Mann umdreht, schwingen die schmalen Zöpfchen an ihren Schläfen hin und her. »Sollen wir sie nach Kléftes zu all den anderen Dieben schicken?«

»Das würde ich im Traum nicht wagen«, erwidert der König. »Wie ich meine kleine Dämonin kenne, stiehlt sie den Wappenring und Kléftes sieht dies als Kriegserklärung an.«

»Unsinn«, sage ich und betrete den Raum. »Sie wäre klug genug, sich gleich die Königskrone zu schnappen.«

»Elian!«

Amara eilt auf mich zu und wirft sich mir um den Hals. Ich reiße sie von den Füßen, als ich ihre stürmische Umarmung erwidere. Ich freue mich genauso sehr über unser Wiedersehen wie sie.

»Da bist du ja endlich!«, ruft sie, als ich sie wieder abgesetzt habe.

Mit gespielter Empörung blicke ich sie an. »Kaum bin ich fünf Minuten da, schon willst du mich ausrauben.«

Amara knufft mich in den Bauch. »Nur ein kleines bisschen.«

Mein Vater erhebt sich vom Thron. Seine bronzene Haut lässt seine strahlend weißen Zähne noch heller blitzen. »Mein Sohn.«

Er nimmt mich in die Arme und klopft mir auf den Rücken. Meine Mutter tritt zu uns heran. Sie ist zierlich und reicht meinem Vater gerade mal bis an die Schulter. Ihre Gesichtszüge sind zart und anmutig, ihr Haar ist kinnlang geschnitten. Sie hat die grünen Augen einer Katze, die sie noch durch schwarze, lang gezogene Lidstriche betont.

Der König ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von ihr. Er ist groß und muskulös. Sein Kinnbart ist mit Perlen verziert. Das Braun seiner Augen passt zu seiner Haut und sein Kiefer ist kantig. Die Symbole von Midas, die sein Gesicht schmücken, zeichnen ihn als Krieger aus.

Meine Mutter lächelt. »Wir dachten schon, du hättest uns vielleicht vergessen.«

»Wenn, dann nur kurz.« Ich küsse ihre Wange. »Als wir im Hafen

»Hast du schon etwas gegessen?«, fragt mich meine Mutter. »Im Bankettsaal gibt es ein Festmahl. Ich glaube, deine Freunde haben sich bereits dort versammelt.«

Mein Vater knurrt. »Zweifellos vertilgen sie alles außer dem Besteck.«

»Wenn du wolltest, dass sie das Besteck essen, hättest du es aus Käse schnitzen lassen sollen.«

»Also wirklich, Elian.« Meine Mutter gibt mir einen Klaps auf die Schulter, dann streicht sie mir das Haar aus der Stirn. »Du siehst müde aus«, sagt sie.

Ich nehme ihre Hand und küsse sie. »Mir geht es gut. So sieht man aus, wenn man seine Nächte auf einem Schiff verbringt.«

Ich bin mir ganz sicher, dass die Müdigkeit mich erst befallen hat, als ich die Saad verlassen und den Fuß auf das goldbemalte Pflaster von Midas gesetzt habe. Nur ein Schritt, und schon ist alles Leben aus mir entwichen.

»Du solltest mehr als ein paar Nächte im Jahr in deinem eigenen Bett schlafen«, sagt mein Vater.

»Radames«, unterbricht ihn meine Mutter tadelnd. »Fang nicht wieder davon an!«

»Ich unterhalte mich nur mit meinem Sohn! Da draußen gibt es nichts als den Ozean.«

»Und Sirenen«, entgegne ich.

»Ha!« Sein Lachen klingt wie ein Bellen. »Und es ist allein deine Aufgabe, sie aufzuspüren, nicht wahr? Wenn du nicht aufpasst, ergeht es uns bald wie Adékaros.«

»Was soll das heißen?«, frage ich stirnrunzelnd.

»Am Ende wird deine Schwester den Thron besteigen müssen.«

»Dann gibt es ja keinen Grund zur Sorge.« Ich lege den Arm um Amara. »Sie gibt sicherlich eine bessere Königin ab als ich.«

»Sie ist sechzehn«, weist mich mein Vater zurecht. »Ein Kind sollte sein Leben genießen dürfen und nicht gezwungen sein, sich um ein ganzes Königreich zu kümmern.«

»Aha.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Sie darf das, aber ich nicht?«

»Du bist der Ältere.«

»Ach ja?« Ich gebe mich kurz nachdenklich. »Dabei strahle ich doch so viel Jugendlichkeit aus.«

Mein Vater öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, aber meine Mutter legt ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Radames«, sagt sie. »Ich denke, Elian braucht dringend etwas Schlaf. Morgen findet der Ball statt. Er hat einen anstrengenden Tag vor sich und sieht sehr erschöpft aus.«

Ich ringe mir ein gequältes Lächeln ab und verbeuge mich kurz. »Ganz wie Ihr meint«, sage ich und wende mich zum Gehen.

Mein Vater hat nie verstanden, wie wichtig es ist, was ich tue. Bei jeder Rückkehr gebe ich mich der Hoffnung hin, dass er ein einziges Mal seine Liebe zu mir über die Liebe zu seinem Königreich stellt. Aber wenn er um meine Sicherheit fürchtet, dann geht es ihm vor allem um die Krone. Er hat zu viele Jahre damit verbracht, das Volk auf mich als den zukünftigen Herrscher einzustimmen, und ist nicht gewillt, daran etwas zu ändern.

»Elian!«, ruft Amara hinter mir her.

Ich achte nicht auf sie, sondern verlasse mit großen, schnellen Schritten den Saal. Zorn wallt in mir hoch. Ich könnte meinen Vater nur stolz machen, indem ich alles aufgebe, was mir wichtig ist.

»Elian«, sagt meine Schwester entschlossen. »Eine Prinzessin darf nicht rennen. Und wenn doch, dann werde ich es verbieten lassen, falls ich je Königin werde.«

Widerwillig bleibe ich stehen und drehe mich zu ihr um. Sie seufzt erleichtert und lehnt sich gegen die Wand. Sie hat ihre Schuhe ausgezogen und ist jetzt noch kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich

»Du machst ihn wütend«, sagt sie und nimmt meinen Arm.

»Aber erst, nachdem er mich wütend gemacht hat.«

»Mit deinem Eifer für Wortgefechte wirst du auf dem diplomatischen Parkett sicher eine gute Figur abgeben.«

Ich schüttle den Kopf. »Nicht, wenn du den Thron besteigst.«

»Dann kriege ich wenigstens das Armband.« Sie sieht mir ins Gesicht. »Wie war die Reise? Wie viele Sirenen hat der große Pirat denn erlegt?«

Sie sagt es mit einem schiefen Lächeln, denn sie weiß genau, dass ich nichts von meiner Zeit auf der Saad erzähle. Ich lasse meine Schwester an vielem teilhaben, aber niemals daran. Ich möchte, dass Amara mich als Held sieht und nicht als jemand, der tötet. Mörder sind viel zu oft Schurken.

»Fast keine«, antworte ich. »Ich war bis oben hin voll mit Rum, daher habe ich kaum einen Gedanken an sie verschwendet.«

»Du bist wirklich ein Lügner«, sagt Amara. »Und mit wirklich meine ich wirklich schlecht

Wir sind vor ihren Gemächern angelangt und bleiben stehen. »Und du bist wirklich neugierig«, erwidere ich. »Das kenne ich gar nicht von dir.«

Amara geht über meine Bemerkung hinweg. »Willst du nicht noch in den Bankettsaal zu deinen Freunden?«, fragt sie.

Ich schüttle den Kopf. Die Palastwachen werden dafür sorgen, dass meine Seeleute bequeme Betten für die Nacht haben, und ich bin viel zu müde, um noch länger ein Lächeln aufzusetzen.

»Ich gehe schlafen«, sage ich zu ihr. »Ganz wie die Königin es befohlen hat.«

Amara nickt, dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Bis morgen«, sagt sie. »Über deine Heldentaten kann ich einfach Kye befragen. Ich glaube nicht, dass er als

Ich bleibe noch einen Augenblick stehen.

Die Vorstellung, dass meine Schwester mit meiner Mannschaft Geschichten austauscht, gefällt mir nicht, aber zumindest kann ich mir bei Kye sicher sein, dass seine Schilderungen nicht allzu blutrünstig ausfallen. Er hat sehr viel Fantasie, aber er ist nicht dumm. Er weiß genau, dass ich mich nicht so benehme, wie ein Prinz es tun sollte, denn er benimmt sich auch nicht wie ein Diplomatensohn. Das ist mein größtes Geheimnis. Man kennt mich als Sirenenjäger und die Leute bei Hof reden mit Wohlwollen und einem Anflug von Belustigung über mich: Ach, Prinz Elian versucht uns alle zu retten. Wenn sie wüssten! Die schrecklichen, unerträglichen Schreie der Sirenen. Die Leichen der Frauen an Deck, bevor sie zu Gischt zerfließen. Wenn sie das einmal mit eigenen Augen sehen würden, stünde ich nicht länger in ihrer Gunst. Ich wäre nicht mehr ihr Prinz, aber sooft ich mich auch danach sehne, über meine Erlebnisse zu sprechen, bin ich doch klug genug, mein Geheimnis für mich zu behalten.

Der Palast von Keto liegt inmitten der See von Diávolos. Dort leben seit jeher unsere Königinnen. Die Menschen haben für jeden Fleck der Erde einen König oder eine Königin. Aber der Ozean kennt nur eine Herrscherin. Nur eine Königin. Das ist meine Mutter. Eines Tages werde ich es sein.

Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft. Nicht dass meine Mutter zu alt zum Regieren wäre. Das Leben einer Sirene kann hundert Jahre dauern. Wir altern jedoch nur um wenige Jahrzehnte. Das führt dazu, dass Töchter bald wie ihre Mütter aussehen und Mütter wie Schwestern, sodass man kaum sagen kann, wie alt eine Sirene ist. Das ist ein weiterer Grund, warum es bei uns Brauch ist, Herzen zu sammeln. Das Alter einer Sirene ist nicht an ihrem Gesicht abzulesen, sondern zeigt sich daran, wie viele Leben sie schon geraubt hat.

Es ist das erste Mal, dass ich gegen diese Tradition verstoßen habe, und meine Mutter ist außer sich vor Zorn. Sie hat sich drohend vor mir aufgebaut, ganz die herrschsüchtige Tyrannin. Sie macht nicht den Eindruck, als müsste sie in ein paar Jahren abdanken.

»Wie viele hast du jetzt, Lira?«, fragt die Meereskönigin und blickt drohend auf mich herab.

Wiederstrebend neige ich den Kopf. Kahlia ist dicht hinter mir. Ich muss sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie es mir gleichtut.

»Achtzehn«, antworte ich.

»Achtzehn«, wiederholt die Königin nachdenklich. »Wie seltsam, dass du achtzehn Herzen hast, obwohl dein Geburtstag erst in zwei Wochen ist.«

»Ich weiß, aber –«

»Lass mich dir sagen, was ich weiß.« Die Königin nimmt auf ihrem Knochenthron Platz. »Ich weiß, dass du deine Cousine begleiten solltest, wenn sie ihr fünfzehntes Herz raubt, aber anscheinend war das zu viel verlangt.«

»Eigentlich nicht«, sage ich. »Ich habe sie ja begleitet.«

»Und bei der Gelegenheit hast du dir ein kleines Andenken mitgenommen.«

Sie schlingt ihre Tentakel um meine Taille und zieht mich zu sich heran. Ich spüre, wie meine Rippen unter ihrem eisernen Griff knirschen.

Jede Königin ist früher eine Sirene gewesen. Aber die Magie der Krone beraubt sie ihrer Flossen und verleiht ihr stattdessen mächtige Tentakel, die so stark sind wie ganze Armeen. Ihr Leib nimmt die Gestalt eines Tintenfischs an, und aus dieser Verwandlung bezieht sie ihre unbeugsamen, majestätischen Kräfte,

Ich habe meine Mutter nicht gekannt, als sie noch eine Sirene war, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie je wie alle anderen ausgesehen hat. Ihr Oberkörper ist von uralten roten Symbolen und Zeichen bedeckt, die sich bis über ihre herrlichen Wangenknochen erstrecken. Das Schwarz und Scharlachrot ihrer Tentakel fließen ineinander wie Blut, das sich mit Tinte vermischt, und ihre Augen sind längst zu roten Kristallsteinen geworden.

Ihre Krone ist ein prunkvoller Kopfschmuck, der über ihrer Stirn in spitze Hörner mündet und sich über ihren Rücken fortsetzt wie lange Gliedmaßen, die hinter ihr im Wasser treiben.

»Dafür werde ich an meinem Geburtstag nicht jagen«, versichere ich ihr atemlos.