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Angela Y. Davis

Freiheit ist ein ständiger Kampf

Mit einem Vorwort von Cornel West
und einer Einführung von Frank Barat
 
Aus dem Amerikanischen von Sven Wunderlich

 

 

 

 

U N R A S T

Angela Y. Davis ist politische Aktivistin, Autorin, Rednerin und emeritierte Professorin der University of California. Seit den 1970er Jahren gilt sie als Symbolfigur der Bewegung für die Rechte von politischen Gefangenen in den USA und setzt sich bis heute für die Befreiung der Schwarzen ein, kämpft gegen rassistische, Geschlechter- und Klassendiskriminierung sowie gegen den gefängnisindustriellen Komplex in den USA.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

Angela Y. Davis: Freiheit ist ein ständiger Kampf

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-028-4

 

© UNRAST Verlag, Münster

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Erstveröffentlichung 2015 bei Haymarket Books, Chicago

© Angela Davis 2016

 

Übersetzung: Sven Wunderlich

Umschlag: kv, Berlin

Satz: Andreas Hollender, Köln

Vorwort

von Cornel West

Angela Davis gehört zu den wenigen großen, unermüdlichen, intellektuellen Freiheitskämpfer*innen auf der Welt. Von den revolutionären Massenbewegungen der 1960er Jahre bis zu den rebellischen Vorstößen in der Gesellschaft unserer Tage hat sie ihren Hauptfokus unerschütterlich auf die abgehängten Menschen unserer Erde gelegt. Im scharfen Gegensatz zu den meisten links denkenden Akademiker*innen haben ihre Gesellschaftsanalyse und ihr couragiertes Handeln beträchtliche Nachteile für ihr Leben und ihr Wohlbefinden mit sich gebracht. Als sie in Kalifornien Assistenzprofessorin für Philosophie wurde, verteufelte sie der damalige kalifornische Gouverneur Ronald Reagan. Das Direktorium der University of California entzog ihr die akademische Position, weil sie Mitglied der Communist Party war. Das FBI setzte sie auf die Liste der ›Meistgesuchten‹, Angela floh vor der Polizei des US-Imperiums, wurde gefangen genommen und inhaftiert. Während des darauffolgenden historischen Gerichtsprozesses elektrifizierten ihr Charme und ihre Würde die Welt. Ihre Entschlossenheit, im intensiven Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit ihren revolutionären Ansichten die Treue zu halten, ist den Menschen eine Inspiration gewesen.

Während Schwarze Aktivist*innen systematisch vom Staat eingesperrt oder exekutiert worden sind und Schwarze Expert*innen zur Regierung überliefen, sind Angelas Verstand und ihre moralische Leidenschaft ungebrochen geblieben. Während des nunmehr dreißigjährigen Eiszeitalters neoliberaler Herrschaft ist Angelas Hingabe für die Befreiung verarmter und arbeitender Menschen ungebrochen geblieben. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten über Frauen, Arbeiter*innen und People of Color halfen, während der Regierungszeiten Reagans und Bushs eine revolutionäre Vision, Betrachtung und Praxis am Leben zu halten. Ihre bahnbrechende Analyse und politische Arbeit über die rasante Ausbreitung des Gefängnissystems legte mit den Grundstein für die Ära Ferguson. Ihre allgegenwärtigen Vorträge, ihre großartige Lehrtätigkeit und ihre couragierte Solidarität mit jedem Winkel der Welt halten in den kalt-schaurigen Tagen der neoliberalen Hegemonie Kerzen der Zuversicht am Brennen. Nach über fünfzig Jahren des Kämpfens, Durchhaltens und Engagierens bleibt sie das markanteste Gesicht der Linken im US-Imperium.

In den vorliegenden jüngsten Essays ihres intellektuellen Werkes präsentiert Angela ihre brillanten Analysen und ihre Erfahrungen aus dem Widerstand in den USA und andernorts. In klarer und präziser Weise verdeutlicht und reflektiert sie ›Intersektionalität‹ – die tragende taktische und politische Antwort auf das herrschende Kräftespiel aus Gewalt, weißer[1] Vormachtstellung, Patriarchat, Staatsmacht, kapitalistischen Märkten und imperialistischer Politik.

Ich schätzte mich glücklich, am 3. Dezember 2014 an der Seite meiner teuren Schwester und Kameradin Angela Davis gestanden zu haben, um in Gedenken an den 50. Jahrestag des großen Auftritts von Malcolm X an den Diskussionen der Oxford Union[2] teilzunehmen. Es war ein großartiges Ereignis – Angela ließ in glänzender Weise Malcolms Geist wieder aufleben. Eben dieser Geist durchzieht das gesamte Buch und ruft uns herbei, um an der beständigen Freude teilzuhaben, für die Menschen zu kämpfen!

Einführung

von Frank Barat

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in meinem kleinen Büro in Brüssel. Der Juni ist fast vorüber und die Hitze des Sommers gerade eingetroffen.

In dem Gebäude, in dem ich arbeite, sind verschiedene Verbände und Wohlfahrtsorganisationen untergebracht, die für Gerechtigkeit auf der Welt eintreten. Manche richten ihr Augenmerk auf die Westsahara, andere auf Palästina, wieder andere auf Lateinamerika, Afrika oder Foltermissstände. Meine Arbeit in dieser Atmosphäre ist angenehm, denn ich bin umgeben von Menschen, die eine gerechtere, bessere Gesellschaft für möglich halten und beschlossen haben, in diesem Sinne zu handeln. Sie haben ihr Leben dem Versuch verschrieben, die Welt zu verändern. Das mag utopisch klingen, doch die Betonung dabei liegt auf etwas anderem, als man denken könnte: auf dem Wort Versuch. Versuchen, immer wieder versuchen, niemals aufgeben – das an sich ist schon ein Erfolg. Alle Menschen und all unsere Wahrnehmungen sagen uns, als ›Außenseiter*in‹ werde man keinen Erfolg haben, es sei bereits zu spät, wir würden in einem Zeitalter leben, in dem keine Revolutionen mehr möglich seien und revolutionärer Wandel der Vergangenheit angehöre. Man könne zwar ein Leben als Außenseiter*in führen, aber nicht außerhalb des Systems, und man könne zwar politische Überzeugungen – selbst revolutionäre – haben, doch nur wenn sie innerhalb der Grenzen des Zulässigen verbleiben, innerhalb jener Seifenblase, welche die Herrschenden für uns geschaffen haben.

Mein Büro liegt nur wenige Schritte vom Hauptsitz der Europä-ischen Kommission entfernt, einem imposanten Gebäude aus fahlem Grau und Glas. Jeden Morgen fahre ich mit dem Fahrrad an diesem Ort vorbei, der mittlerweile von Soldat*innen und privaten Sicherheitsunternehmen bewacht wird. Oft frage ich mich, welchem Zweck sie eigentlich dienen: Schützen sie die Menschen im Inneren des Gebäudes, oder schützen die den Ort selbst, die in ihm verkörperte Weltanschauung und Ideologie?

Heute Morgen habe ich mir in Gedanken Griechenland vorgestellt, inmitten der Proteste gegen die Austeritätspolitik: Ich sah das umkämpfte ›Europa‹, Menschen aus allen Gesellschaftsschichten und Generationen auf der Straße, Gesänge anstimmend, Flaggen hissend, aufbegehrend. Ich sah, wie die Menschen sich organisierten, Lokalversammlungen bildeten und wie Freiwillige Krankenhäuser führten. Ich erblickte die Akropolis, das athenische Stadtviertel Exarchia, den Syntagma-Platz. Ich sah Olivenbäume, die Sonne und dēmokratia – die Herrschaft und Macht des Volkes, eben jenes Grundprinzip, das in der heutigen Welt seine Bedeutung größtenteils verloren hat. Dieses Prinzip wird von den ›Mächtigen‹ Europas (Deutschland, Frankreich, Italien, die Europäische Zentralbank und die Europäische Kommission selbst) nur dann als zulässig erachtet und hochgehalten, wenn es ihren Weltanschauungen und globalen Plänen zupass kommt. In den letzten Monaten, seit den wegweisenden, bahnbrechenden griechischen Wahlen, hat in Europa erstmals eine linksgerichtete Partei, die sich gegen die Austeritätspolitik zur Wehr setzt, die Regierung übernommen, und die besagten Mächtigen wollen nun sicherstellen, dass sie zerfällt und wieder verschwindet. Doch Syriza – und noch wichtiger, die von der Partei verkörperte Botschaft, ihre Idee – ist in Gefahr: die Vorstellung, dass eine andere, kollektive Organisation unseres Lebens möglich wäre, dass wir, die 99 Prozent, uns selbst regieren könnten, statt von Bürokrat*innen, Banken und Konzernen regiert zu werden. Während ich diese Zeilen schreibe, liegt die Zuversicht, die in den Straßen und Wohnhäusern überall in Griechenland zum Ausdruck kommt, in einer Bewegung – eine Bewegung, die inmitten im gewaltigen materiellen Wohlstandsverlusts der Durchschnittsgriech*innen entstanden ist. Darin steckt eine Botschaft für uns alle, und sie lautet: Man kann sich zusammentun, eine Demokratie von unten kann die Oligarchie bekämpfen, inhaftierte Migrant*innen können befreit werden, der Faschismus kann überwunden werden, Gleichheit bedeutet Befreiung.

Aber auch die Mächtigen haben uns eine Botschaft zukommen lassen: Fügt euch! Wenn ihr eine Befreiung Aller anstrebt, werdet ihr kollektiv bestraft werden. Im Falle Europas entspricht die Bestrafung der Gewalt durch die Austeritätspolitik und durch Landesgrenzen, an denen Migrant*innen, die in ›Sicherheitszonen‹ im Meer ertrinken, das Recht auf Leben verweigert wird. Im Falle der Vereinigten Staaten werden Schwarze und Indigene Amerikaner*innen durch die Vormachtstellung der Weißen systematisch gewürgt. Diese erweckt die Unterdrückung und den Siedlerkolonialismus zu neuem Leben, gestützt von Drohnen, Landentzug und Identitätsverlust bei Millionen Menschen, Masseninhaftierung, Entmenschlichung und Ressourcenraub. Diese Entwicklungen sprechen Menschenleben und unserem Planeten ihren Wert ab. Überall hält man uns eindringlich dazu an, wir sollten uns nicht darum kümmern. Man sagt uns: Schließt euch nicht zusammen, wehrt euch nicht!

Angela

Was können wir tun? Wie können wir dabei vorgehen? Mit wem gemeinsam? Mit Hilfe welcher Taktik? Wie können wir eine Strategie finden, die allen zugänglich ist – auch der breiten Öffentlichkeit, die ein solches Ausmaß an Entpolitisierung erreicht hat, dass ihr Grausamkeiten annehmbar erscheinen? Welche Zukunftsvision schwebt uns vor Augen? Wie können wir sicherstellen, dass ›wir‹ für ›alle‹ sprechen? Wie können wir beständige, grenzübergreifende, revolutionäre Bewegungen stärken und untereinander verbinden? Solche Fragen stellen sich viele Aktivist*innen tagtäglich – es sind in der Gegenwart verwurzelte Fragen, die unsere Zukunft bestimmen werden.

Man kann sich leicht entmutigt fühlen und die Dinge einfach geschehen lassen – das ist keine Schande. Letztlich befinden wir uns in einem Kampf, der, wenn wir die politische Mainstream-Ordnung als Maßstab anlegen und die Welt mit den Augen der Massenmedien sehen, nicht zu gewinnen ist. Doch wenn wir andererseits ein wenig Abstand nehmen, die Dinge von einem umfassenderen Standpunkt aus betrachten und darüber nachdenken, was weltweit geschieht und in der Geschichte des Widerstandskampfes geschehen ist – in der Geschichte solidarischer Bewegungen –, so wird klar, manchmal sogar ganz deutlich, dass scheinbar unzerstörbare Kräfte dank der Willensstärke, Aufopferung und Handlung von Menschen leicht zerschlagen werden können.

 

Als ich zum ersten Mal mit dem Gedanken spielte, mit Angela Davis gemeinsam ein Buch herauszubringen, wollte ich vor allem über unseren Kampf als Aktivist*innen sprechen, ihn in klaren, greifbaren Worten beschreiben, wollte versuchen, zu verstehen, was er für die Aktivist*innen selbst bedeutet. Wo und wie beginnt ein solcher Kampf? Endet er irgendwann? Welche Grundbedingungen müssen erfüllt sein, um eine Bewegung aufzubauen? Was bedeutet eine Bewegung physisch, philosophisch und psychisch?

Ich wollte unbedingt über solche Widerstandskämpfe mit Angela sprechen, denn für mich und viele andere ist sie ein Quell des Wissens und des Ansporns, und wir müssen aus ihrer Erfahrung lernen und die daraus gewonnenen Einsichten nutzen, unabhängig davon, in welche Art von Kampf wir verwickelt sind. Angela hat nie aufgehört zu kämpfen; bis heute lebt sie diesen Kampf tagtäglich. Sie verkörpert die Widerstandsbewegung, und ich erkenne, wie sich ihre unablässige Tätigkeit und Präsenz in vielen kollektiven Befreiungsbewegungen, die wir heute sehen, widerspiegelt und sie beflügelt. Ihr Wirken spiegelt sich in der Auffassung von Gefängnissen als Teil eines industriellen Komplexes, der in der Sklaverei und im Kapitalismus wurzelt, wider, sowie in der zunehmenden Popularisierung der Prison-Abolition-Bewegung.[3] Es zeigt sich an ihrer Unterstützung antikolonialistischer Kämpfe weltweit, auch in Palästina, wo zahlreiche Aktivist*innen, ich selbst eingeschlossen, sich an solidarischem Aktivismus vor Ort beteiligt haben.

Wie bei meinen vorherigen, gemeinsam mit Noam Chomsky und Ilan Pappé herausgebrachten Büchern, ist die Idee dieses Buches, ein fließendes Gespräch zu führen und gleichzeitig Raum für mehrere, weiter ins Detail gehende Essays von Angela zu lassen, um verbleibende Lücken zu füllen und unser Gespräch zu vertiefen.

Ein Hauptfokus unserer Gespräche – von denen wir eines in Brüssel kurz nach den Ferguson-Aufständen führten, ein weiteres in Paris, direkt nachdem ein Gericht den Polizisten und Mörder an Michael Brown freigesprochen hatte – war Palästina und die Frage, wie eine wirklich globale Gesellschaftsbewegung rund um ein Problem aufgebaut werden könnte, dessen Lösung zu den dringlichsten unserer Zeit zählt und uns zeigen könnte, wo wir als Bewegung und Menschen im Moment stehen. Unser Augenmerk lag auf der Frage, wie Querverbindungen zu anderen sozialen Kämpfen geschaffen werden könnten, wie man den Menschen in Ferguson verständlich machen könnte, dass die Ereignisse in Palästina auch sie selbst betreffen, und umgekehrt. Wie könnte man den Widerstandskampf tatsächlich globalisieren, sodass alle Bewohner*innen unserer Erde eine Rolle darin spielen und sich ihrer Rolle bewusst sind? Wie begegnen wir gemeinsam der Militarisierung unserer Gesellschaften? Welche Rolle kann die Schwarze Frauenbewegung dabei spielen? Was bedeutet es heutzutage genau, in der Prison-Abolition-Bewegung aktiv zu sein?

Unsere Gespräche befassen sich mit diesen und anderen Fragen. Einige werden nachfolgend ausführlicher und tiefgehender in Essays von Angela fortgeführt. Darin beschreibt sie insbesondere die Gerechtigkeitskämpfe in Ferguson und Charleston und wie diese deutlich zeigen, dass der Kampf für Gleichheit und Freiheit weit davon entfernt ist, beendet zu sein.

Die letzten beiden Kapitel enthalten Angelas Gedanken über die politischen Kämpfe seit den 1960er Jahren bis ins gegenwärtige Zeitalter von Obama, sowie Überlegungen zur länderübergreifenden Solidarität. Beide Beiträge sind wegweisend und können uns Werkzeuge und Argumente an die Hand geben, um den Widerstandskampf aufzunehmen und andere zu motivieren, tätig zu werden und sich uns anzuschließen.

»Angela ist wie ein Wunder«, meinte einmal die US-Autorin, Poetin und Aktivistin Alice Walker mir gegenüber. Angela ist einzigartig, aber nicht außergewöhnlich, denn ihr Vorbild und ihr Werk haben dazu beigetragen, neue Stimmen ertönen zu lassen, neue Forscher*innen und Aktivist*innen, die ihre Gedanken aufgreifen und weiterführen. Ich denke, als Alice Angela als ein Wunder bezeichnete, wollte sie damit sagen, dass Angela der lebende Beweis dafür ist, dass es möglich ist, zur selben Zeit zu überleben, Widerstand zu leisten und die brutale Gewalt der Konzernmacht und des Staates zu überstehen, die sich auf die Zerstörung von Einzelpersonen konzentriert, wenn diese die kollektive Solidarität stärken. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass die Macht des Volkes Wirkung zeigt, dass eine Alternativmöglichkeit existiert und der Kampf dafür wunderbar und belebend sein kann. Eine solche Erfahrung brauchen wir deshalb, weil wir Menschen sind.

Wir alle haben die Möglichkeit, uns an diesem Kampf zu beteiligen.

 

Brüssel, im Juni 2015

Inhalt

 

 

Vorwort von Cornel West

Einführung von Frank Barat

Kapitel 1 – Progressive Kämpfe gegen den trügerischen kapitalistischen Individualismus
Interview von Frank Barat

Kapitel 2 – Ferguson zeigt uns die Bedeutung des globalen Zusammenhangs
Gespräch mit Frank Barat in Brüssel (21. September 2014)

Kapitel 3 – Wir müssen über einen Systemwandel sprechen
Gespräch mit Frank Barat in Paris (10. Dezember 2014)

Kapitel 4 – Palästina, G4S und der gefängnisindustrielle Komplex
Vortrag an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London (13. Dezember 2013)

Kapitel 5 – Schlussstriche und Kontinuitäten
Vortrag an der Birkbeck University in London (25. Oktober 2013)

Kapitel 6 – Von Michael Brown bis Assata Shakur – der rassistische Staat USA besteht fort
Ursprünglich erschienen in The Guardian (1. November 2014)

Kapitel 7 – Das Truth Telling Project: Gewalt in Amerika
Vortrag in St. Louis, Missouri (27. Juni 2015)

Kapitel 8 – Frauenbewegung und Abschaffung der Gefängnisse: Theorie und Praxis im 21. Jahrhundert
Vortrag am Center for the Study of Race, Politics, and Culture (4. Mai 2013)

Kapitel 9 – Politischer Aktivismus und Protest von den 1960er Jahren bis zur Ära Obama
Vortrag am Davidson College, North Carolina (12. Februar 2013)

Kapitel 10 – Länderübergreifende Solidarität
Vortrag an der Boĝaziçi Üniversitesi in Istanbul (9. Januar 2015)

Index

Anmerkungen

Kapitel 1

Progressive Kämpfe gegen den trügerischen kapitalistischen Individualismus

Interview von Frank Barat (per Email über mehrere Monate des Jahres 2014 hinweg geführt)

Oft sprichst du über kollektive Stärke und betonst die Wichtigkeit einer Bewegung, statt Einzelpersonen hervorzuheben. Wie können wir eine solche Bewegung aufbauen, wo doch in der Gesellschaft eine Stimmung vorherrscht, die Selbstsucht und Individualismus befördert?

Seit dem Aufstieg des globalen Kapitalismus und der neoliberalen Ideologien ist es besonders wichtig geworden, die Gefahren des Individualismus aufzuzeigen. Progressive Kämpfe – ob gegen Rassismus, Unterdrückung, Verarmung oder andere Dinge – sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht gleichzeitig ein Bewusstsein über den trügerischen Siegeszug des kapitalistischen Individualismus zu schaffen versuchen. Selbst Nelson Mandela verwies stets darauf, dass seine Erfolge kollektiver Natur waren – immer ebenso erreicht von anderen Männern und Frauen, seinen Kamerad*innen –, doch die Medien versuchten, ihn als heroische Einzelperson zu glorifizieren. Ähnlich war es bei Dr. Martin Luther King, den man Mitte des 20. Jahrhunderts von den zahllosen Frauen und Männern abzugrenzen versuchte, die das eigentliche Herzstück der US-amerikanischen Freiheitsbewegung bildeten. Wir müssen uns unbedingt dagegen wehren, dass die Geschichte als Werk heroischer Einzelpersonen dargestellt wird, damit heutige Akteure ihr potenzielles Handeln als Teil eines sich ständig ausweitenden kollektiven Widerstandskampfes begreifen.

 

Was ist von der Black-Power-Bewegung heute geblieben?

Die Black-Power-Bewegung – oder Schwarze Befreiungsbewegung, wie wir sie damals nannten – betrachte ich als eine von mehreren Bewegungen im Schwarzen Freiheitsstreben. In vieler Hinsicht war sie eine Reaktion auf das, was wir als Grenzen der Bürgerrechtsbewegung wahrnahmen: Wir mussten nicht nur die in der bestehenden Gesellschaft festgeschriebenen Rechte, sondern umfassendere Rechte einfordern – im Hinblick auf Arbeitsplätze, Wohnungsversorgung, Gesundheit, Bildung usw. – und die Gesellschaftsordnung an sich infrage stellen. Solche Forderungen – die sich auch gegen rassistische Haftstrafen, Polizeigewalt und kapitalistische Ausbeutung richteten – hat die Black Panther Party (BPP) in ihrem Zehnpunkteprogramm zusammengefasst.

Obwohl Schwarze in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Hie-rarchien aufgestiegen sind (das spektakulärste Beispiel war die Wahl von Barack Obama 2008), ist die überwältigende Mehrheit der Schwarzen weiterhin Rassismus ausgesetzt, in Wirtschaft und Bildung genauso wie in Gefängnissen, weit mehr als zur Zeit vor der Bürgerrechtsbewegung. Aus vielen Gründen sind die Forderungen des BPP-Zehnpunkteprogramms heute noch mindestens genauso relevant wie bei ihrer erstmaligen Formulierung in den 1960er Jahren.

 

Viele haben die Wahl von Barack Obama als Sieg über den Rassismus gefeiert. Hälst du das für ein Ablenkungsmanöver? Wurde dadurch die Linke für geraume Zeit paralysiert, auch Afroamerikaner*innen, die für eine gerechtere Welt kämpfen?

Vieles, was hinsichtlich Obamas Wahl als bedeutend gilt, ist völlig abwegig, besonders wenn ein Schwarzer Mann im US-Präsidentenamt als Symbol für die Überwindung der letzten rassistischen Barriere hingestellt wird. Ich halte die Wahl selbst jedoch für bedeutsam, vor allem weil die Bevölkerungsmehrheit – auch die meisten Schwarzen – die Wahl eines*einer Schwarzen ins Präsidentenamt anfangs für unmöglich gehalten hatte. Die jüngeren Generationen haben erfolgreich eine Bewegung – genauer gesagt eine Cyber-Bewegung – aufgebaut, der für unmöglich Gehaltenes gelungen ist.

Das Problem war, dass diejenigen, die sich dieser Bewegung zugehörig fühlten, ihren kollektiven Einfluss nicht weiter geltend machten, um Druck auf Obama auszuüben. Dieser Druck hätte ihn womöglich zwingen können, progressivere Wege einzuschlagen (beispielsweise sich gegen weitere militärische Vorstöße in Afghanistan zu stellen, oder für eine zügige Schließung des Gefangenenlagers in Guantánamo und eine bessere medizinische Versorgung einzutreten). Doch während wir Obama kritisieren, sollten wir zugleich unterstreichen, dass wir mit Mitt Romney im Weißen Haus nicht besser dran wären. Was uns in den letzten fünf Jahren gefehlt hat, war nicht der richtige Präsident, sondern entsprechend organisierte Massenbewegungen.

 

Was verstehst du unter der ›Schwarzen Frauenbewegung‹? Welche Rolle kann sie in der heutigen Gesellschaft spielen?

Die Schwarze Frauenbewegung entstand als Versuch, theoretisch und praktisch zu zeigen, dass Rassen-, Geschlechter- und Klassenfragen in unseren sozialen Umgebungen untrennbar miteinander verbunden sind. Als die Bewegung aufkam, wurden Schwarze Frauen häufig aufgefordert, zu sagen, ob sie die Schwarze Bewegung oder aber die Frauenbewegung für wichtiger hielten. Die richtige Antwort darauf lautete, dass die Frage abwegig war. Besser wäre die Frage gewesen, welche Intersektionen und Querverbindungen zwischen beiden Bewegungen bestanden haben. Uns steht weiterhin die Aufgabe bevor, die komplexen Verflechtungen von Rasse, Klasse, Geschlecht, Sexualität, Nationalität und menschlichen Fähigkeiten aufzuschlüsseln – aber auch die Frage, wie wir über diese Kategorien hinaus gehen können, um die Zusammenhänge zwischen Vorstellungen und Vorgängen, die unabhängig und ohne Bezug zueinander erscheinen, zu begreifen. Entschlossen geltend zu machen, dass Querverbindungen zwischen den Kämpfen und dem Rassismus in den USA einerseits und den Kämpfen der Palästinenser*innen gegen die israelische Unterdrückung andererseits bestehen, ist in diesem Sinne Teil der Frauenbewegung.

 

Ist es für die Menschen nicht an der Zeit, sich von den politischen Mainstream-Parteien vollständig zu lösen, von dem, was unsere ›Führer‹ ›repräsentative Demokratie‹ nennen? Wenn sich die Menschen an diesem korrupten, verdorbenen System beteiligen, in dem Geld und Gier regieren, wird es doch legitimiert, nicht wahr? Was, wenn wir diese Farce beenden würden – wenn wir nicht mehr wählen gingen und anfingen, etwas von Grund auf Neues und Lebendiges aufzubauen?

In meinen Augen können die existierenden politischen Parteien natürlich nicht unser Hauptkampfplatz sein, aber dennoch könnte der Wahlkampf als Ort der Organisation genutzt werden. In den USA brauchen wir seit Langem eine unabhängige politische Partei – eine antirassistische, feministische Arbeiterpartei. Ich gebe dir auch ganz Recht damit, wenn du Aktivismus an der Basis der Gesellschaft als wichtigstes Element zum Aufbau revolutionärer Bewegungen benennst.

 

Die Arabische Welt hat in den letzten Jahren einen ungeheuren Wandel durchgemacht, in vielen Ländern dauern die Revolutionen an. Im Westen scheinen wir das zu begrüßen, ohne aber die Vorgänge in unseren eigenen Ländern zu betrachten, oder die Verstrickung unserer ›Führer‹ in die arabischen Diktaturen. Ist die Zeit nicht reif, im Westen eigene Revolutionen zu haben?

Vielleicht sollten die Forderungen des Westens umgedreht werden: In meinen Augen wäre es völlig angebracht, wenn die Menschen in der Arabischen Welt fordern, dass wir im Westen unsere Regierungen daran hindern, unterdrückerische Regime zu stützen – insbesondere Israel. Der sogenannte ›Krieg gegen den Terrorismus‹ hat der Welt unermesslichen Schaden zugefügt, dazu gehört auch der stärker gewordene antimuslimische Rassismus in den USA, in Europa und Australien. Vielen Progressiven im Globalen Norden ist zweifellos noch nicht bewusst geworden, inwieweit der Westen für die Fortsetzung militärischer und ideologischer Kriegsführung gegen Bevölkerungen der Arabischen Welt verantwortlich ist.

 

Unlängst hast du in London einen Vortrag über Palästina, G4S (Group 4 Security, das größte private Sicherheitsunternehmen der Welt) sowie den gefängnisindustriellen Komplex gehalten. Würdest du uns die Zusammenhänge zwischen diesen drei Vortragsthemen erläutern?

Unter dem Deckmantel von ›Sicherheit‹ und ›Sicherheitsstaat‹ hat sich G4S in das Leben der Menschen weltweit eingeschlichen – besonders in Großbritannien, den USA und Palästina. Hinter Walmart und Foxconn ist G4S der drittgrößte Privatkonzern der Welt, und auf dem afrikanischen Kontinent ist er der größte private ›Arbeitgeber‹. Das Unternehmen hat gelernt, aus Rassismus, Maßnahmen gegen Immigrant*innen und Strafvollzugstechniken in Israel und weltweit Profit zu schlagen. G4S ist direkt dafür verantwortlich, welche Art der politischen Gefangenschaft Palästinenser*innen erfahren, ebenso wie für Teile der israelischen Apartheid-Mauer, der südafrikanischen Gefängnisse, der gefängnisähnlichen Schulen in den USA und der Mauer entlang der US-mexikanischen Grenze. Wie ich auf der Londoner Tagung überraschenderweise erfuhr, betreibt G4S außerdem Einrichtungen in Großbritannien, die mit sexueller Gewalt befasst sind.

 

Wie profitabel ist der gefängnisindustrielle Komplex? Oft sagst du, er käme einer ›modernen Sklaverei‹ gleich.

Der globale gefängnisindustrielle Komplex vergrößert sich fortwährend, wie sich am Fall von G4S sehen lässt. Wir können also davon ausgehen, dass seine Rentabilität weiter wächst. Mittlerweile schließt er nicht mehr nur öffentliche und private Gefängnisse ein (öffentliche Gefängnisse sind stärker privatisiert, als man denken könnte, und unterliegen zunehmend Profitdiktaten), sondern auch Jugendhaftanstalten, Militärgefängnisse und Vernehmungslager. Den lukrativsten Sektor der privaten Gefängnisbranche bilden aber Auffanglager für Immigrant*innen. Das erklärt, warum die repressivsten Gesetze gegen Immigrant*innen von privaten Sicherheitsfirmen formuliert worden sind. Es ist der unverhüllte Versuch ihrer Profitmaximierung.

 

Ist eine gefängnis- oder haftfreie Gesellschaft utopisch oder möglich? Wie könnte sie funktionieren?

Ich halte eine Gesellschaft ohne Gefängnisse für eine realistische Zukunftsmöglichkeit – allerdings in einer neugestalteten Gesellschaft, in der nicht Profite, sondern menschliche Bedürfnisse die Triebfeder sind. Gleichzeitig scheint die Prison-Abolition-Bewegung gerade deshalb utopische Ziele zu verfolgen, weil Gefängnisse und die ihnen zugrundeliegenden Ideologien in unserer heutigen Welt so tief verwurzelt sind. In den USA sitzen Massen von Menschen hinter Gittern – rund zweieinhalb Millionen –, und Haftstrafen dienen zunehmend als Strategie, um von tieferliegenden Problemen abzulenken – Rassismus, Verarmung, Arbeitslosigkeit, Bildungsmangel usw. –, die nie wirklich angegangen wurden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis allmählich erkannt wird, dass Gefängnisse die falsche Lösung sind. Die Abschaffung der Gefängnisse zu befürworten kann und sollte damit einhergehen, bessere Bildung, antirassistische Jobmöglichkeiten und kostenlose Gesundheitsversorgung zu fordern, unter Einbeziehung anderer progressiver Bewegungen. Das wiederum könnte dazu beitragen, die Kritik am Kapitalismus lauter werden zu lassen und Bewegungen in Richtung Sozialismus zu stärken.

 

Was sagt uns der Aufschwung des gefängnisindustriellen Komplexes über unsere Gesellschaft?

Die sprunghaft steigende Zahl der Gefangenen weltweit und die zunehmenden Profitmöglichkeiten aus den Methoden, sie gefangen zu halten, zählen zu den drakonischsten Beispielen für die zerstörerischen Kräfte des globalen Kapitalismus. Es besteht aber eine Verbindung zwischen den obszönen Profiten aus der Masseninhaftierung und den Profiten der Gesundheitsindustrie, des Bildungssektors und weiteren kommerzialisierten Dienstleistungen, die eigentlich für alle frei verfügbar sein sollten.

 

Im Black Power Mixtape, einem Dokumentarfilm über die Black-Panther/Black-Power-Bewegung, der vor ein paar Jahren herauskam, wurdest du gefragt, ob du Gewalt billigen würdest. Du entgegnetest darauf: »Sie fragen mich, ob ich Gewalt billige!? Das ergibt keinerlei Sinn«. Kannst du näher darauf eingehen?