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Über das Buch

In jeder Dunkelheit brennt ein Licht. Man muss es nur finden!

Leni ist glücklich, hat Träume und liebt ihr Leben. Bis sich etwas in ihr verändert. Plötzlich führt jeder Gedanke in Lenis Kopf ein chaotisches Eigenleben und ihre Gefühle drohen sie zu überwältigen. Ganz tief in sich drin spürt sie etwas, das vorher nicht da war – Leere, Traurigkeit und unendlich viel Angst. Was fehlt ihr? Und wie erklärt man etwas, das niemand sehen oder verstehen kann? Am wenigsten man selbst …

Das persönlichste Buch von Ava Reed

Emotional, leise, aber doch irgendwie so unglaublich laut. Das Buch ist anders, wichtiger, ehrlicher, intensiver – es berührt nicht nur das Herz, sondern auch die Seele. Eine ganz große Liebe.

Ivy Booknerd

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Trag mein Herz, du helle Hoffnung, übers tiefgraue Meer!

Richard Fedor Leopold Dehmel (1863–1920)

Inhalt

Ich bin wundervoll!

Vorwort

August

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

September

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Oktober

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Dezember

Kapitel 11

22. Januar

Kapitel 12

Februar

Kapitel 13

März

Kapitel 14

Matti 15

April

Kapitel 16

Kapitel 17

Matti 18

Matti 19

Mai

Kapitel 20

Matti 21

Kapitel 22

Matti 23

Kapitel 24

Matti 25

Juni

Kapitel 26

Matti 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Matti 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Matti 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Nachwort

Danksagung

Anlaufstellen

Über die Autorin

Impressum

Tagebucheinträge

»Ich bin wundervoll!«

Oh ja, das bist du!

Dieses Buch ist für dich! Es ist für alle, die jeden Tag einen unsichtbaren Kampf kämpfen. Gegen Krankheiten und Ängste, die zu viele haben und zu wenige verstehen. Gegen das Leben, gegen Hürden und Mauern. Dieses Buch ist für alle, die zusehen müssen, wie die Menschen, die sie lieben, mit sich hadern und an ihre Grenzen gehen. Und dabei selbst an ihre gelangen.

Und ihr, die kämpft: Hört nie auf damit. Kämpft – für euch, euer Leben und alles, was euch wichtig ist!

Das ist es wert.

Ihr seid es wert.

Und denkt immer daran, dass ihr, auch wenn es manchmal anders scheinen mag, nie allein seid.

Vorwort

Du hast dieses Buch gesehen, du hast es aufgeschlagen und hältst es nun in deinen Händen. Vielleicht stehst du noch im Buchladen und überlegst, ob du es mitnimmst, vielleicht ist es schon deines. Egal, was davon zutrifft: Ich würde mir nichts mehr wünschen, als dass du Leni und Matti auf ihrer Reise begleitest. Doch bevor du dieses Buch liest, gibt es ein paar Dinge, die du wissen solltest, damit du dich darauf vorbereiten kannst.

Die Geschichte ist erfunden, genau wie Leni und Matti. Ihre Krankheiten, Sorgen und Probleme sind es nicht. Es werden Themen behandelt wie Depressionen und Angstzustände. Dinge, die im Alltag unsichtbar scheinen und doch hinter jeder Ecke lauern und gegen die viele von uns kämpfen.

Darauf möchte ich hiermit aufmerksam machen. Diese Themen sind nicht für jeden leicht zu lesen.

Trotz dieser kleinen Vorwarnung solltest du wissen, dass meine Geschichten immer von Hoffnung und Mut geprägt sind.

Falls du dich nun entschließen solltest, Leni und Matti kennenlernen zu wollen, wünsche ich dir vor allem, dass du am Ende des Buches lächeln und vielleicht von dir sagen kannst, manche Dinge nun besser verstehen zu können.

Für jeden, der interessiert ist und mehr über alles wissen oder meine Gedanken dazu hören möchte, für jeden, der sich in Leni und Matti wiederfindet, gibt es das Nachwort.

Ich möchte noch kurz erwähnen: Die Tagebucheinträge und Zeichnungen sind von mir, sie wurden mit Liebe per Hand geschrieben und gezeichnet. Außerdem kommt diese Geschichte nicht mit heftigen Wendungen oder Actionszenen um die Ecke. Das soll sie auch nicht. Aber sie soll, falls möglich, Augen und Herzen öffnen und mit etwas Glück hilft sie jemandem da draußen. Irgendwie.

Danke!

Eure Ava

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August

6 Monate vor dem Wimpernschlag, der alles verändern und zu einem Tsunami werden wird.

1

Das matte dunkelbraune Leder fühlt sich kühl und weich an in meinen Händen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht fahre ich wieder und wieder über den Einband, sehe mir die kleinen Unebenheiten an, die es so unperfekt perfekt machen.

»Du kannst dich schon seit Jahren nicht entscheiden. Das war kaum auszuhalten.« Emma schnaubt laut. »Das hat jetzt ein Ende. Ich hab es gesehen und konnte nicht daran vorbeigehen. Es hat förmlich deinen Namen geschrien.« Sie plappert weiter und auch wenn es für manche so klingen mag, als wäre sie genervt oder gar unbeteiligt, weiß ich, sie freut sich mit mir und ist aufgeregt, schließlich hat sie es mir einfach so mitgebracht. Ja, sie ist sogar nervös. Das merke ich an der Art, wie sie ihr Geschenk in meinen Händen ansieht, wie sie mich und meine Reaktion darauf genau studiert.

Es ist ein Tagebuch.

Schon ewig trage ich den Wunsch, meine Gedanken und Erlebnisse aufzuschreiben, mit mir herum, aber ich entschied mich stets um. Meine Meinung und Entschlossenheit flogen regelmäßig von Ja zu Nein wie ein Jo-Jo von oben nach unten. Es hat mich beinahe selbst ein wenig genervt und auch geärgert, das gebe ich zu. Bis ich mich gefragt habe, ob es wirklich an mir liegt oder an anderen, die stets versucht haben, es mir auszureden, weil Tagebücher schließlich albern seien, nur etwas für Kinder oder für Menschen, die sonst keine Hobbies oder Freunde haben.

Das ist der Moment gewesen, in dem ich erkannt habe, dass es mir egal sein sollte, was andere denken und was sie davon halten. Wieso sollte ich mich davon abbringen lassen, wo ich es mir doch so sehr wünschte? Wahrscheinlich, weil es einfach ist, die Meinungen und Stimmen anderer ignorieren zu wollen, aber schwer, es auch tatsächlich zu tun. Deshalb habe ich bisher wohl nicht den Schritt gewagt, mir wirklich eines zu kaufen.

Das hat Emma mir nun abgenommen.

Ich denke kurz nach, gehe in mich, doch auch in diesem Moment, hier in meinem Zimmer stehend, mit dem Büchlein in der Hand, empfinde ich es nicht als uncool oder kindisch. Für mich fühlt sich das Tagebuch schon jetzt an wie ein weiterer Freund. Es ist ein Geheimnis-Hüter. Ein Gedanken-Bewahrer. Ich wollte eines, das zu mir passt und es wert war, ihm meine Geheimnisse zu verraten, es an meiner kleinen Welt teilhaben zu lassen. Und es fühlt sich an, als wäre das in meiner Hand genau das richtige dafür. Als wäre es nur für mich gemacht worden.

»Verrate es mir!«, entschlüpft es Emma, in einer Mischung aus Ungeduld und Genervtheit, weil ich immer noch nichts gesagt habe. Damit reißt sie mich aus meinen Gedanken, lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Es gehört jetzt dir und es hat bestimmt keine drei Sekunden gedauert, bis du ihm einen Namen verpasst hast.« Emma zieht ihre Nase kraus und deutet auf ihr Geschenk, was meine Freude darüber nur größer werden lässt.

Wie gut sie mich kennt.

Es stimmt, ich gebe Dingen Namen. Vielen sogar. Eigentlich allen, die zu meinem Leben gehören. Warum? Ich denke, genau das ist der Grund: Sie gehören zu meinem Leben. Damit sind sie wichtig. Und ich finde, wichtige Dinge verdienen einen Namen. Nicht nur irgendeine Bezeichnung.

»Emma«, antworte ich fröhlich. »Es ist eindeutig eine Emma.« Der Mund meiner Freundin kann sich nicht entscheiden, was er genau tun will. Er ploppt auf und zu wie der eines Fisches, bevor ihr linker Mundwinkel anfängt, komisch zu zucken. Ich lache auf und umarme sie überschwänglich, schließe sie in die Arme und danke ihr für das schöne Geschenk.

»Es ist perfekt, das weißt du, oder?«

»Ja, das war es. Bis du ihm meinen Namen verpasst hast.« Ihre Stimme klingt gedämpft durch meine Locken, die sie nun vermutlich überall im Gesicht hat.

Langsam löse ich mich von ihr und sie sich von meinen Haaren. Sie grinst mich an, schelmisch und freudig. Emma ist ganz anders als ich, aber es gibt mehr Dinge, die uns verbinden als trennen. Sie hat superglattes blondes Haar und blaue Augen, während ich mit hellbraunem, chaotischem, lockigem und dickem Haar aufwarten kann, das sogar rote Strähnen aufweist, wenn die Sonne im richtigen Winkel darauf scheint. Braune Augen. Ich sehe so stürmisch aus, wie sie ist, und sie so unscheinbar, wie ich bin. Darüber muss ich den Kopf schütteln. Sie ist meine beste Freundin, seit ich im Kindergarten einfach so meine Kekstüte und meinen Saft mit ihr geteilt habe. Und sie am Tag danach einen Jungen mit Sand aus dem großen Sandkasten beworfen, gefüttert und ihn überall in seiner Kleidung verteilt hat, nachdem er mich ausgelacht hat, weil ich es einmal nicht bis zur Toilette geschafft habe. Sie hat mächtig Ärger bekommen.

»Ich dachte, du magst deinen Namen?«

»Das stimmt. Aber du musst zugeben, deine Sachen haben ungewöhnliche Namen.« Sie zieht eine ihrer schön geschwungenen Augenbrauen nach oben. Etwas, das ich bis heute nicht geschafft habe. Bei mir heißt es beide oder keine.

»Beschwer dich nur weiter, ich weiß, du liebst es und bist ein wenig neidisch.«

Sie streckt mir belustigt die Zunge raus, während sich ihre Wangen rot färben. Sie ist nicht der Typ dafür, ihren Laptop Logan zu nennen und ihr Handy Chuck. Ihre Lieblingstasse heißt nicht Luke und ihr Lieblingssessel hat auch keinen Namen. Sie hat keine Ticks. Aber ich denke, manchmal hätte sie gerne welche. Und ich denke, sie ist gerührt, dass ich mein Tagebuch nach ihr benannt habe. Aber sie kann es nicht so zeigen wie andere. Deshalb lenkt sie ab.

»Wo sind Steph und Tom? Es ist ziemlich ruhig im Haus.«

Ich seufze, bevor ich mir noch mal über die müden Augen reibe. Heute Nacht habe ich schlecht geschlafen und ich werde einfach nicht richtig wach. Ich gähne und antworte irgendwie dazwischen.

»Mum ist schon im Büro, sie hat einen wichtigen Kunden an der Angel oder so. Sie darf irgendein tolles Penthouse einrichten, wenn alles gut geht. Dad …« Ich seufze erneut. »Heute hat er einige wichtige Termine, wie er sagt. Er ist gestern über seinen Papieren eingeschlafen«, erwidere ich.

»Das klingt nach viel Stress und den werden wir beide heute definitiv nicht haben. Also, das nehme ich jetzt einfach mal an – es sei denn, du schmeißt deinen Sommerpyjama nicht endlich von dir. Dann kommen wir nämlich zu spät zum Unterricht, und das am ersten Schultag nach den Ferien. Fänd ich echt schade.« Ihr sarkastischer Unterton entgeht mir nicht und ich boxe sie gegen den Arm. »Au! Schon gut, Rambo! Nun pack Emma Junior weg, schmeiß dir ein paar Sachen über, wir müssen los.«

»Wie spät ist es?«

»In dreißig Minuten klingelt es zur ersten Stunde.«

Oh nein! Wir brauchen mit Ves locker fünfzehn Minuten, eher zwanzig. Ich kann mir einen kräftigen Fluch nicht verkneifen, bevor ich zum Kleiderschrank und danach ins Badezimmer hechte. Hinter mir höre ich Emmas belustigte Stimme, die irgendwas von Ich hab’s dir ja gesagt faselt.

Im Bad stecke ich die Haare hoch, die ich zum Glück gestern Abend schon gewaschen habe. Morgens wäre das eine Katastrophe, sie brauchen ewig zum Trocknen.

Ab unter die Dusche! Vorhang zu, Hahn an.

Heilige Scheiße, ist das kalt. Das Wasser hat keine Zeit, warm zu werden, und ich keine, um darauf zu warten. Schnell einseifen, abspülen und auf den Zehenspitzen wie eine Bekloppte hin und her tänzeln.

Ich denke, ich bin jetzt wach …

Wir haben einen alten Boiler, den ich Tag um Tag verfluche, meine Mum ebenso, und ich glaube, wenn Dad nicht bald dafür sorgt, dass er ausgetauscht wird, erlebt er Mum das erste Mal richtig wütend. Okay, nicht das erste Mal, sonst wäre es ja keine Drohung. Aber glaubt mir, das will niemand. Es dauert ziemlich lange, bis ihr der Geduldsfaden reißt, aber wenn es so weit ist … Ich vergleiche sie gerne mit einem Vulkan. Sie sammelt alles in sich – in ihrem Fall Informationen –, Druck baut sich stetig auf und irgendwann explodiert sie einfach. Es wird alles aus ihr herausbrechen und zwar so heftig, dass sich jeder sofort in Sicherheit bringen sollte. Dann wird es nicht mehr nur um den Boiler gehen und warum wir erst warmes Wasser haben, wenn wir schon mit Duschen fertig sind, sondern plötzlich auch um die eine Lampe von vor vier Jahren, die Dad nicht sofort repariert hat, oder den Einkauf von vor drei Jahren, der von irgendwem mal vergessen wurde, oder um den Fleck auf ihrem geliebten Wohnzimmerteppich, der nicht mehr rausgeht und für den keiner verantwortlich gewesen sein will. Aus ihr werden ruckartig all unsere Fehlgriffe herausgepresst werden und niemand, ich wiederhole, niemand will das.

Zitternd stelle ich das Wasser ab und flüchte aus der Dusche. Kälte ist echt nicht mein Ding. Meine Hand greift hektisch nach einem Handtuch und während ich mich abtrockne, löse ich meine Haare wieder aus dem Zopf, sodass sie über meine Schultern bis zu den Rippen fallen. Manchmal träume ich davon, sie mir abschneiden zu lassen – aber nur manchmal, denn eigentlich liebe ich diese nervigen und widerspenstigen Flusen.

»Du hast wirklich nur noch zwei Minuten, Lenida!«, dringt Emmas ungeduldige Stimme zu mir ins Bad. Lenida, wie Leni und Merida. Sie hat mich vor ein paar Jahren so getauft, als meine Haare immense Ausmaße annahmen. Sie ist der festen Überzeugung, ich sehe aus wie die Disney-Heldin, nur mit braunen statt roten Haaren und, falls möglich, noch mehr davon. Die Emma, die nicht zugibt, dass sie Disney-Filme mag. Ich schmunzle noch heute darüber.

Die Bürste kommt nur ruckelnd und langsam voran, meine Locken springen vor und zurück und alle drei Sekunden verziehe ich vor Schmerz das Gesicht, weil ich sie gerade in Rekordzeit kämme. Eigentlich ist es mehr das Gefühl, sie sich samt Wurzeln auszureißen.

Ich friere, meine Kopfhaut brennt, meine Locken stehen zu allen Seiten ab. Ich schlüpfe in eine Unterhose und Jeansshorts, ziehe einen BH an und beginne, mir die Zähne zu putzen, während ich versuche, mir mit einer Hand das schwarze Top überzustülpen, das ich wahllos aus meinem Schrank gezogen habe. Kurz dachte ich, es wäre eine gute Idee und würde schneller gehen, aber es ist eine Katastrophe, weil ich mir die Zahnpasta ins ganze Gesicht schmiere und es jetzt noch mal waschen muss, nachdem ich mit Zähneputzen fertig bin. Ich spucke ins Waschbecken, spüle nach, wische mir das ekelhafte Zeug aus dem Gesicht. Bah! Der Geschmack und die Konsistenz von Zahnpasta finde ich einfach widerlich. Ich kann nicht einmal sagen warum. Er ist so eklig wie Pastinaken. Mum hat diese Dinger letztes Jahr gekauft und einem Gericht beigelegt. Dad war danach so übel, dass Mum kurz Panik hatte, sie hätte ihn womöglich vergiftet. Pastinaken-Tod.

»Leni, verflucht! Gleich fahre ich ohne dich!«

Ich blicke in den Spiegel. Schminke? Eigentlich benutze ich sowieso nicht viel davon. Ja, nein, vielleicht …

»LENIDA!«, dröhnt Emmas Stimme gleich einer Urgewalt durch die dünne Holztür und nimmt mir meine Entscheidung damit ab. Mein Gesicht verzieht sich zu einer Fratze, die die ganzen Sommersprossen auf meiner Haut tanzen lässt. Ganz toll! Na, dann also einfach nur Creme.

Ich reiße die Tür auf, stürme an Emma vorbei in mein Zimmer, schlüpfe in meine Sandalen und packe meinen Rucksack. Zurück bei Emma puste ich mir eine Locke aus dem Gesicht und strahle sie an. »Kann losgehen!«

»Ein Jahr vor dem Abi und wir kommen immer noch zu spät«, nölt Emma, nur um im gleichen Satz zu sagen: »Dann können wir eigentlich auch daheimbleiben.«

Ich ziehe sie mit mir durch den dunklen Flur, der voller Bilder ist, die schmale Treppe hinunter und raus aus der Wohnung. Ves steht direkt vor der Tür. Die kleine schwarze Vespa ist Emmas ganzer Stolz und wie immer hängen zwei Helme am Lenkrad.

»Gib Gas, Ves! Zeig uns, was du draufhast!« Ich rede ihm gut zu, während ich die Helmschnalle schließe und Emma angrinse. Sie ist schon bereit, startet den Motor und als ich mich hinter sie setze, die Arme um sie schlinge, dringt ihre gespielt ernste Stimme erneut an mein Ohr.

»Halt dich fest, ich hol heute alles raus!« Emma hört mein Lachen nicht mehr, weil sie uns mit Vollgas nach vorne katapultiert. Das Ganze ist lustig, weil Ves gerade mal vier PS hat oder so und, wenn Emma ihn über fünfundvierzig km/h kommen lässt, man ihm deutlich anmerkt, dass es ihm zu viel wird. Für uns reicht es allemal, wir wohnen in einer Großstadt und da werden schnelle Autos überbewertet. Wir würden ja mit der Bahn fahren, aber wir sind nun mal immer zu spät.

Emma schlängelt uns waghalsig an großen SUVs vorbei, an fluchenden Fahrern, elfenbeinfarbenen Taxi-Autos und natürlich an all den wunderschönen Gebäuden, die die Strahlen der Morgensonne entweder auffangen oder reflektieren. Ich liebe diese Stadt. Sie ist magisch, so voller Gegensätze und in ihrer Größe doch irgendwie klein. Die Stadt verbindet Altes und Neues. Sie ist überschaulich, man findet neben dem großen Fluss, der durch sie hindurchfließt, unzählige Grünanlagen und Parks, alles lässt sich bequem und gut erreichen und die Skyline gibt ihr, in Kombination mit den bestehenden historischen Gebäuden und unzähligen Museen, das gewisse Etwas. Man könnte sagen, Charme, Flair oder eine Art Zauber. Denn das fühlt man, wenn man die Skyline an sich vorbeirauschen sieht. Man ist verzaubert.

Wenn man von dem ganzen Verkehr und der üblichen Hektik absieht und davon, dass sich kein normaler Mensch hier ein Haus leisten kann, ist es wirklich toll. Aber das ist leider der Grund, weshalb wir immer noch in einer Wohnung leben.

Ich lasse meine Gedanken umherschweifen, während der Fahrtwind meine Haare nach hinten mit sich zieht und die Welt an uns vorbeifliegt. Langsam, aber stetig. Ab und an röhrt der Motor auf, Ves japst förmlich unter uns.

Wir lassen die Innenstadt hinter uns, düsen durchs Westend Richtung Norden, bis sich die Straßen und Hochhäuser etwas lichten und das Schulgebäude in Sicht kommt.

Ich wage einen Blick auf mein Handgelenk und ärgere mich sofort. Meine Armbanduhr liegt zu Hause. Auf dem Schreibtisch. Vergessen. Ich hab sie vergessen. Mein Gelenk fühlt sich plötzlich regelrecht nackt an, ich mag das nicht. Vielleicht sollte ich, wie alle anderen, mein Handy als Uhr nehmen und nur noch darauf schauen, aber das gelingt mir nicht so gut. Ich mag meine Armbanduhr, Uhren generell. Meine ist schlicht und alt. Ohne Schnickschnack. Sie zeigt einfach nur die Zeit, nicht mehr.

Keine Ahnung, wie spät es ist, und das macht mich wirklich nervös.

Als der Schulhof in Sicht kommt und ich einen Blick auf die Köpfe einiger Schüler erhaschen kann, atme ich erleichtert auf. Emma lenkt nach rechts ein, Ves knattert über den holprigen Steinboden vor den Parkplätzen und kommt schließlich an einer der Seiten, vor einer kleinen Mauer, neben Dutzenden von Fahrrädern zum Stehen. Die Klingel ertönt, Emma flucht laut und ziemlich wild. Sie sagt nichts mehr, als sie den Helm abnimmt und unter den Arm klemmt, ich absteige und sie ihre Tasche aus dem Stauraum unter dem Sitz holt, aber ich schwöre, sie flucht weiter, auch wenn kein Ton mehr aus ihr herauskommt. Ihre Lippen bewegen sich nämlich noch. Mit einem Knall rastet der Sitz wieder ein und als Emmas Hand plötzlich nach meiner greift, mich ruckartig nach vorne zieht und ich beinahe den Helm fallen lasse, kann ich einen ziemlich schrillen Schrei nicht unterdrücken. Emma sprintet über den Schulhof, mit mir im Schlepptau, die versucht, nicht zu stolpern und sich zeitgleich ihre Locken aus dem Mund zu ziehen. Ich kriege jetzt schon keine Luft mehr. Mein Körper ist gemacht für Vanillemuffins und Schokoladenkekse, nicht für Sprints.

»Emma!« Es soll ein verzweifelter Schrei sein, aber es klingt eher, als würde ich an meinem eigenen Atem ersticken.

»Aus dem Weg!«, ruft sie und die Schüler springen tatsächlich hektisch und überrascht zur Seite. Einige kennen uns, andere – nun ja, die kennen uns ab jetzt …

Emma reißt mir beinahe den Arm aus, mein Handgelenk droht sich auszukugeln und meine Lunge fragt mich verzweifelt, womit sie das verdient hat und warum ich in Gottes Namen nie Sport gemacht habe und dass sie sowieso nicht versteht, wieso ich noch einigermaßen schlank bin.

»Verflucht, Emma! Das war das erste Klingeln, wir kommen nicht zu spät«, keuche ich. Ich höre ihr Lachen, aber sie rennt weiter an den Spinten im Erdgeschoss vorbei auf die Treppe zu. Oh, bitte nicht die Treppe.

Ich hebe den Kopf, schaue die Stufen hinauf, die ich gleich werde im Laufmodus erklimmen müssen – und dann … steht er da und grinst.

Wäre ich nicht schon außer Atem, wäre ich es spätestens jetzt. Tim. Vollkommen außer Gefecht gesetzt, kann mein Hirn nur noch vor sich hin sabbern, während meine Füße weiterhin Emma nachjagen.

»Hey …«, beginnt Tim, der über die Sommerferien noch anziehender geworden ist, falls überhaupt möglich. Aber mein Leben wäre nicht mein Leben, wenn Emma nicht sofort schreien würde »Aus dem Weg!«, um mich danach in höchster Geschwindigkeit an ihm vorbeizuzerren.

»Wie immer eine Freude, Emma!«

»Du mich auch!«, brüllt sie zurück und hätte sie die Möglichkeit gehabt, wäre wahrscheinlich noch der Stinkefinger gefolgt.

Kurz darauf kommen wir an unserem Klassenraum an, vor dem Emma eine Vollbremsung hinlegt. Sie atmet ganz normal. Verflucht, wieso atmet sie normal? Meine Wangen stehen in Flammen, meine Lunge stellt sich tot, mein Herz rastet aus, mein Kopf – wir wollen davon gar nicht erst anfangen. Ich schwitze! Und Tim?

»Was. Zum. Ich meine …«

Mehr kriege ich gerade nicht zusammen, aber Emma grinst, streicht sich ihre blöden, perfekten Haare über die Schulter und antwortet: »Yoga hilft echt total. Und du weißt, Männer mit hässlichem Nachnamen sollte man nicht zu nah an sich ranlassen. Halt still.« Während ich versuche ihre Worte zu verarbeiten, richtet sie meine Frisur.

»Was hat denn Tims Nachname damit zu tun?«

»Boecker. Klingt, als würde sich gerade jemand übergeben. Sag es mal: Böööckaaa.« Dabei macht sie komische Geräusche, was mich unwillkürlich das Gesicht verziehen lässt.

»Du bist verrückt. Vollkommen verrückt.«

»Das ist ja nichts Neues.«

»Er hat mich angesprochen, Emma. Angesehen. Das erste Mal.«

»Er ist ein Idiot.«

»Das weißt du nicht.«

»Du solltest auf mich hören. Er wird dir nicht guttun.«

Ich reibe mir den Nasenflügel und kneife kurz die Augen zusammen. Langsam, aber sicher geht meine Atmung normal. Emma plappert derweil weiter. »Du wirst einen viel besseren Typen finden. Einen, der …«

»… nicht so verkorkst ist?«, verspotte ich sie.

Emma verdreht die Augen und nimmt mir den Wind aus den Segeln. »Das habe ich so nicht gemeint. Wir sind doch alle irgendwie verkorkst. Ich meine, irgendwann findest du einen, der zu dir passt.«

Ich schnaufe.

»Ich weiß, dass du ihn schon ewig anhimmelst. Jeder weiß das.«

Erschrocken reiße ich die Augen auf.

»Ach komm, Leni. Das war nicht zu übersehen. Wahrscheinlich kommt er jetzt nur an, weil du die Pubertät hinter dir hast und wie eine Amazone aussiehst. Typen wie Tim geht es ums Image.«

»Das weißt du nicht.«

»Du auch nicht! Aber manchmal … da hat man so ein Gefühl. So wie bei der Zuckerwatte letztens. Ich hab dir gesagt, iss sie nicht ganz! Und was war? Du hast es getan und danach vor Magenschmerzen gejammert hätte ich bloß auf dich gehört

Unweigerlich muss ich lächeln.

»Weißt du, du kannst deine eigenen Fehler machen. Ich bin die, die am Ende sagt: Ich hab’s dir ja gesagt. Aber wenn du Tim willst, bitte! Schnapp ihn dir. Wenn ich ihn danach verprügeln, umbringen und verschachern muss, bist du schuld und wirst mich gefälligst regelmäßig im Gefängnis besuchen.«

Emma fängt zeitgleich mit mir an zu lachen, laut und heftig.

Das zweite Klingeln ertönt, wir gehen in den Klassenraum, atmen die altbekannte stickige, abgestandene Luft ein, winken unseren Freunden zu und gehen zu unserem Platz.

Das letzte Schuljahr kann beginnen …

2

»Das Abschlussjahr liegt vor euch. Ich würde gerne sagen, dass es für jeden ein Spaziergang wird, aber das wäre gelogen.« Die tiefe Stimme unseres Tutors dringt zu uns, jeder im Raum ist still, sogar Nick, unser Klassenclown, der sonst keine Gelegenheit auslässt, die Dinge ins Lächerliche zu ziehen. Wahrscheinlich, weil auch ihm klar ist, dass nach diesem Jahr alles anders sein wird.

Wenn wir die Schule beendet haben, wartet die Welt auf uns.

»Manche von euch werden hart arbeiten müssen, wenn sie ihr Abitur haben wollen, anderen wird es zufliegen, einfach so«, sagt Herr Fuchs, während er eine wegwerfende Bewegung mit der rechten Hand macht und die Stirn leicht in Falten legt. Er lehnt sich an seinen Tisch und überkreuzt die Knöchel, bevor er weiterspricht. »Das wird eine von vielen Lektionen sein, die euch im Leben weiterbringen und die ihr nicht vergessen solltet: Das Leben ist nicht fair. Manche müssen härter arbeiten als andere.« Er steckt die Hände in seine glatt gebügelte Leinenhose und sieht uns nacheinander an. »Eine Sache, die euch das Leben vielleicht nicht beibringt, aber die ihr lernen werdet – entweder weil ich es euch jetzt sage oder weil ihr es irgendwann selbst verstehen und erkennen werdet – ist, dass es egal ist, wie oft ihr für etwas einstehen müsst. Es ist egal, wie oft das andere tun müssen. Jammern wird euch nicht voranbringen. Damit meine ich nicht, dass es nicht auch mal Tage geben darf, die nicht gut laufen. Das ist okay. Danach geht es aber weiter! Euer Leben ist das, was ihr daraus macht. Neid und Missgunst werden euch nicht weiterbringen, sie werden euch lähmen. Vergleiche sind nur sinnvoll zwischen Dingen gleichen Gehalts. Lasst es! Niemand ist weniger oder mehr wert als ihr. Er ist höchstens anders. Anders ist nichts Schlimmes. Merkt euch das. Jeder hat andere Talente, Wünsche und Interessen. Intelligenz ist vielfältig. So wie ihr. Vergesst das nicht. Sucht euch Vorbilder, seid selbst Mentoren, der Rest wird euch nicht glücklich machen. Zumindest ist das meine bescheidene Meinung.«

Niemand bewegt sich. Es ist, als verharren selbst die Staubpartikel in der Luft, vollkommen bewegungslos, als habe dieser Raum den Atem angehalten. Wir sind still, beinahe paralysiert. Es ist, als würden die Worte in uns wabern und widerhallen, als wollten sie uns mit aller Macht begreiflich machen, wie wichtig sie sind. Wir starren unseren Lehrer an, den, der immer zu streng und zu zielgerichtet war. Grimmig. Der stets nur erwähnte, was wir falsch machten und was wir besser konnten. Nicht, was wir gut gemacht haben. Bis sein Räuspern diese Stille zerreißt. Ich wäre beinahe zusammengezuckt.

»So, und nun beginnen wir damit, euch auf euren Abschluss vorzubereiten. Punkt eins auf der Liste: der Stundenplan und voraussichtliche Prüfungszeiträume.«

Sechs Stunden Unterricht, vollgepackt mit so viel Input, dass mir der Kopf schwirrt. Ich bin müde, fühle mich gerädert, als ich meine Sachen in den Rucksack packe und ihn dann auf den Rücken hieve. Ein paar Freunde winken mir zu, verabschieden sich, bevor sie den Klassenraum verlassen, und ich möchte genauso fröhlich aussehen, aber irgendwie ist das gerade nicht so einfach. Schwer atme ich aus, versuche, dieses fremde Gefühl abzuschütteln. Meine Hand schnappt sich den Helm, ich gehe um meinen Tisch und Emma kommt neben mir zum Stehen, legt ihren Arm schwungvoll um meine Schultern.

»Was für ein Tag! Ich bin aufgeregt, was dieses Jahr passieren wird.« Sie lacht und das ist auf eine gewisse Art beruhigend – sogar ansteckend. Das Gefühl von eben, so kurz es da war, ist wieder weg und ich fühle mich mit Emma neben mir leichter. Doch in dem Moment, als wir als Letzte aus dem Klassenraum treten und sie beginnt, über ihre Zukunft, Ziele und Träume zu reden, voller Motivation und Hingabe, schleicht sich das Gefühl so schnell zurück, dass es mir die Kehle zuschnürt.

Wir haben bereits ein paar Mal darüber gesprochen, aber nie so wie jetzt. Sie klingt anders. Und mir wird bewusst, wie nah das alles plötzlich ist und dass ich mich in diesem Jahr nicht nur entscheiden muss, was ich im Leben will und wer ich sein möchte, sondern dass unser Tutor heute früh über Emma und mich gesprochen hat. Sie wird das Abi im Schlaf bestehen und ich werde so hart dafür arbeiten müssen, dass mir schon jetzt davor graut.

Ich schlucke schwer, während meine Augen in das fröhliche Gesicht meiner besten Freundin blicken, die gar nicht erwarten kann, erwachsen zu werden. Ich beneide sie. Das erste Mal in meinem Leben beneide ich sie wirklich tiefgehend um etwas und ich kann es ihr nicht sagen.

3

Ruhig. Es ist ruhig zu Hause. Mum und Dad sind noch auf der Arbeit. Sie kommen, seit ich denken kann, spät heim und haben viel zu tun. Das ist okay. An manchen Tagen mag ich die Stille unserer Wohnung, an anderen finde ich sie unerträglich. Dann mache ich laute Musik an oder lasse irgendeine Serie auf Netflix im Hintergrund laufen. Emma muss nachmittags meist auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen. Ich habe keine. Auch das ist okay, ich kenne es ja nicht anders. Heute ist sie allerdings noch eine Weile geblieben und erst gegen drei nach Hause gefahren. Wir haben zusammen Käsetoasts gemacht und gegessen, nachdem unsere Mägen fürchterlich laut geknurrt haben. Anschließend haben wir über alles Mögliche geredet, wie immer, wenn wir zusammen sind. Auch wenn es heute etwas ernster war als sonst.

Nachdem Emma sich verabschiedet hat, zappte ich ein wenig durchs TV. Dabei bin ich wohl eingeschlafen. Nach den Sommerferien und somit wochenlangem Ausschlafen ist es kein Wunder, dass mir der Tag in den Knochen sitzt.

Ich stehe auf, schaue auf die Uhr und erschrecke mich. Anscheinend habe ich nicht nur ein kleines Nickerchen gemacht, sondern mehr als vier Stunden geschlafen.

Mein Blick fällt auf das Tagebuch, das Emma mir geschenkt hat und das auf meinem Schreibtisch liegt. Meine Beine schwingen sich über die Bettkante, ich stehe auf. Beim Tisch angekommen greife ich nach Emma Junior, hebe es hoch und schlage es das erste Mal auf. Weiße Seiten starren mich an, Dutzende von ihnen. Das Papier raschelt, als ich eine nach der anderen umblättere, obwohl mir bewusst ist, dass jede Seite so leer ist wie die vorherige. Es ist wunderschön. Ich setze mich auf meinen Schreibtischstuhl, lege das Buch wieder auf dem Holztisch ab und will nach dem Füller greifen, der in einem der Stiftebehälter steckt, aber ich entscheide mich um und schnappe mir einen der Kugelschreiber und einen Letteringstift.

Die erste Seite zu beschreiben und zu füllen hat unerklärlicherweise etwas Magisches an sich und ich frage mich, wie man das anstellt. Also, einfach mit dem Schreiben anzufangen. Gibt es so etwas wie einen Tagebuchkodex?

Ich schürze die Lippen, während der Stift über dem Papier schwebt. Hmm. Was soll ich nur erzählen? Womit fängt man an?

Auf einmal komme ich mir dämlich vor, weil das hier nun wirklich keine besonderen Fähigkeiten erfordert, aber ich kann nicht anders, als über die Wichtigkeit der ersten Seite nachzudenken. Ich werde sie nicht ändern können und ich finde, Worte sollten klug gewählt werden. Man kann sie nicht zurücknehmen. Natürlich kann ich sie auf dem Papier durchstreichen, aber weg sind sie dadurch nicht. Nicht wirklich. Die erste Seite ist wie der erste Blick durch eine Tür in ein Zimmer. Man sollte nicht zu viel sehen oder verraten bekommen, aber genug, damit man in das Zimmer hineingehen möchte, weil man neugierig geworden ist. Das ist das Verrückte daran, denn Tagebücher schreibt man nur für sich, nicht für andere. Gleichzeitig macht es das so logisch, denn welche geschriebenen Worte sind ehrlicher als die, die man nie jemandem zeigen wird?

Sollte ich stumpf und schlicht irgendetwas erzählen? Wie oft will ich überhaupt etwas hineinschreiben? Jeden Tag? Jede Woche? Und will ich das wirklich festlegen? Ich schüttle den Kopf. Nein, ich denke, ich werde hineinschreiben, was ich will, wann ich es will.

Was mache ich nun mit der ersten Seite? In Tagebücher gehören persönliche Wahrheiten, das stimmt, aber …

Mir kommt ein Gedanke. Unwillkürlich muss ich grinsen. Emma würde die Augen verdrehen, natürlich voller Zuneigung, und mir sagen, dass nur ich auf so etwas kommen würde. Ich mache mich bereit loszulegen. Ja, ich denke, ich habe etwas gefunden, was zur ersten Seite passt.

Ich sollte mich kurz vorstellen. Es wäre doch irgendwie unhöflich, das nicht zu tun, oder?

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Langsam entferne ich die Mine des Kugelschreibers vom Papier, hebe ihn von der Seite des Tagebuchs ab. Der allerersten Seite, die ich je in ein solches geschrieben habe. Ich finde sie genau richtig und das macht mich auf irgendeine Art glücklich. Ich lege den Stift beiseite, fahre vorsichtig über die geschriebenen Worte, die zum Glück schon getrocknet sind, und klappe das Buch zu.

Es ist Zeit, sich dem Schulkram zu widmen. Ich schnappe mir meinen Rucksack, ziehe alle Notizen und Informationen heraus, die wir heute bekommen haben, und sogleich verpufft die gute Laune, wird ersetzt durch eine Art von Schwere, die sich in meiner Brust festsetzt und dazu beiträgt, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildet.

Der Abschluss. So viele Dinge, die zu tun sind.

Und danach? Ein Studium? Eine Ausbildung? Reisen?

Ich wünschte, in mir würde sich auch nur eine Kleinigkeit formen, der Ansatz einer Antwort, aber da ist nichts als Leere.

Ich weiß es nicht.

Verzweifelt lasse ich den Kopf in meine Hände fallen, fahre durch meine Haare, durch sie hindurch über meinen Nacken und kann meine eigene Stimme hören, die mich selbst leise fragt, worin ich eigentlich gut bin. Ob ich etwas ganz Besonderes kann oder gerne tue. Und ich würde sie gerne mit einem Kissen ersticken, weil ich das nicht hören will. Weil ich Fragen hasse, auf die ich keine Antwort weiß. Normalerweise schaue ich nach, recherchiere. Ja, ich bin neugierig. Aber die Antwort auf diese Art der Fragen werde ich nirgendwo finden können, außer in mir selbst.

Und da sind sie nicht.

Mein Blick wandert zu dem Foto neben meinem Fenster, das gerade von Licht umrahmt wird. Emma, die lacht, mit roten Wangen und einem Partyhütchen, wie sie gerade eine Konfettikanone abfeuert, Liz und Julia daneben, ebenfalls mit Partyhut, sie sind Freunde von uns, und ich mittendrin. Das war bei Emmas Geburtstagsparty letztes Jahr, wir waren alle verrückt und glücklich und unbeschwert. Natürlich waren wir auch da genervt von der Schule, vom Lernen und den Prüfungen. Von unseren Eltern, dem neuen Pickel auf der Stirn und dem Jungen, der uns nicht mochte. Aber wir waren trotzdem auf eine schräge Art glücklich. Nein, wir waren lebendig.

Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus und ich genieße es in vollen Zügen, während einige der letzten warmen Strahlen der Sommersonne mein Zimmer fluten.

So lange, bis ich mich all dem Zeug zuwenden muss, das vor mir liegt. Und all dem, das in meinem Kopf herumschwirrt. Ich werde den Gedanken nicht los, dass es für mich schwerer ist als für andere, und ich lache kurz und freudlos auf, weil ich das zum ersten Mal denke und weil Selbstmitleid stinkt. So kenne ich mich nicht.

»Los, ein Jahr noch. Das schaffst du«, wispere ich mir zu, als plötzlich das Quietschen der Wohnungstür, die Dad noch immer nicht geölt hat, an meine Ohren dringt und einen Moment danach die Stimmen meiner Eltern. Ich stehe auf, eile nach unten und verspreche mir selbst: Danach folgen die Hausaufgaben und Vorbereitungen für die nächsten Wochen. Ich werde das schaffen. Und weil aufschieben es nur schlimmer macht. Die Erfahrungen, die ich auf diesem Gebiet sammeln durfte, sind gigantisch und ich kenne alle Stufen der Prokrastination und Verzweiflung, die in Verbindung damit stehen. Seitdem bin ich gerne vorbereitet.

Meine Füße entlocken den alten, schiefen Holztreppen komische Laute, während sie ihren Weg nach unten antreten. Ich höre meine Eltern in der Küche, da halten sie sich nach der Arbeit am liebsten auf. Mum holt Dad abends meist ab, morgens fährt er mit dem Bus oder der Bahn. Wir haben nur ein Auto. Immer wenn man das jemandem erzählt, klingt es, als entschuldige man sich dafür. Das ist bescheuert! Überhaupt ein Auto zu haben ist doch toll. Oder nicht?

Dad sitzt an dem hohen Tisch auf einem Hocker, weil er dort Mum zuhören und gleichzeitig weiter seine Papiere lesen kann. Zumindest versucht er es, er war nie ein großes Multitasking-talent. Während Mum sich trotz der späten Uhrzeit noch einen Kaffee macht und frischer aussieht als die meisten Menschen nach einem Zwölf-Stunden-Arbeitstag, wirkt Dad erschöpft. Das Ticken der Küchenuhr ist wie eine leise beruhigende Melodie im Hintergrund.

»Hey, Liebes. Na, wie war der erste Schultag?«, fragt Mum und stellt ihre Lieblingstasse unter die Kaffeemaschine. Sie lächelt mich warm an. Dann hebt sie den Finger, zeigt mir an, dass ich kurz warten soll, geht zu Dad und haut ihm auf den Hinterkopf.

»Verflucht! Was hab ich schon wieder gemacht?« Vollkommen verwirrt hebt er den Kopf und ich muss mir ein Lachen verkneifen. Meine Mum zeigt auf mich und endlich hellen sich seine Züge auf. »Oh, hallo, Schatz! Wie war dein erster Schultag?«

Mum verdreht die Augen und stöhnt auf und ich kann mein Lachen nicht mehr zurückhalten. Dad zieht die Augenbrauen zusammen. »Was ist? Was hab ich gesagt?«

Mum nuschelt irgendwas vor sich hin, das klingt wie wieso wundert mich so was noch?, und sucht nach dem Zucker, also ziehe ich einen der Hocker zu mir und setze mich zu Dad. Er sieht tatsächlich müde und abgespannt aus, hat rötliche Augen und blasse Haut.

»Du solltest mal eine Pause machen«, sage ich und Dad beginnt sich über sein Gesicht zu reiben und zu gähnen.

»Ja, vielleicht«, gibt er zu und schiebt die Akten zur Seite.

»Also?«, fragt Mum erneut und setzt sich samt Kaffee zu uns. Ich habe zwar Dads Gesichtszüge geerbt, aber eindeutig Mums Haare. Sie fallen an jeder Seite aus ihrem Zopf, Locke um Locke. Nur dass sie trotzdem nicht chaotisch und wild aussieht damit.

»Es war okay?« Verdammt, es sollte keine Frage sein.

Dad sieht Mum an, Mum hebt eine Augenbraue, sie kann das so gut wie Emma, und mich erfasst der Fluchtinstinkt.

»Ja, super okay. Wirklich.«

»Was beschäftigt dich? Ist es, weil es das letzte Jahr ist? Oder ist es der Ferienblues?«

»Ich weiß es nicht«, gebe ich auf Dads Frage hin zu. »Ich glaube, heute habe ich das erste Mal darüber nachgedacht, was ich werden will. Und …«

»Und?«, hakt Mum vorsichtig nach, bevor sie an ihrem Getränk nippt und sich die Zunge verbrennt.

»Und nichts. Da ist nichts.« Das auszusprechen war wirklich nicht einfach. Meine Stimme hat am Ende versagt.

»Das ist in Ordnung, Leni.« Dad tätschelt meine Hand. »Das kommt. Du hast noch genug Zeit, dich damit zu befassen.«