HEIKO VON PRITTWITZ UND GAFFRON

Im hohen

Berg und
tiefen Tal

GLÜCKSMOMENTE
EINES JÄGERLEBENS

KOSMOS

Für meine Kinder

„Gucki“ – Kora Marie-Therese Hella,

„Maxi“ – Maximilian-Lennart Moritz,

„Trissi“ – Tristan Benedict Moritz und

„Vinni“ – Vincent-Hendrik Moritz

Inhalt

Auf die Aspenlaub-Gams

Füchse und andere Jäger

Der zerborstene Drilling

Fuchskapriolen

Der Tod der Geröllhaldengams

Der Fuchs, der Alte und der Wolf

Im Wechsel der Jahreszeiten

Fuchs, Bock, Sau … Bock!

Überraschung am Berg

Jagdlicher Anhang

Eine Weihnachtsüberraschung

Die Rülpser-Methode

Der Bergbock

Von vielen Füchsen und fiesen Verlusten

In der Dämmerung

Der Raufbold

Auf Murmel

IN DER STEIERMARK

Auf die Aspenlaub-Gams

Die Gams hatte mit einer Aspe tatsächlich nichts zu tun. Oder mit deren Laub. Populus tremula gab es hier heroben auf den Zweitausendern nicht. Nein, es waren Franz und ich, die beizeiten „wie Aspenlaub gezittert hatten“. Das Zittern aber war der Gams geschuldet – der fahlen Geiß von der Gartleralm.

Tags zuvor hatten wir einen Bock, dann eine Geiß vom Bergkessel in den Schattenhang und hoch hinaus über den Grat ziehen sehen. Die Geiß, wie sie halbstundenlang auf dem Gugel unterhalb der Geröllhalde unerreichbar weit im weiten Rund gestanden und unablässig gesichert hatte, war uns aufgefallen – ihre Decke hell und fahl, die Krickel von guter Höhe, im Gebäude feist und schwer und offensichtlich ohne Kitz. Wenn denn auch nicht wirklich steinalt, so doch ein Stück, das man guten Gewissens der Wildbahn entnehmen durfte. Vorausgesetzt, Artemis, mehr noch Petrus, ließen uns gewähren. Anno 2013 inmitten des Oktobers – der Winter war mit seinen Vorboten über Berg und Tal und uns hereingebrochen, und das Wild war deswegen sehr genügsam in Bewegung oder gar nicht. Von der Hütten, der oberen Gartleralmhütte, stocherten wir mit Glas und Spektiv im Dunst herum, um das Wild, das nur spärlich in Anblick kam, zu bestätigen, zu bewerten, immer auf der Suche nach einem guten Stück. Nebel- und Wolkenbänke im Wechsel taten uns die Augen- und Bergpirsch schwer, wenn wir denn überhaupt in den Berg stiegen. An Passion und Willen mangelte es nicht, und so war uns trotz widrig-winterlicher Witterung nicht bange.

Drunten im Tal, im Flecken Krakauschatten, beim Jagawirt, waren einmal mehr unsere Familienlager aufgeschlagen: Thomas, Petra und Luis; und Conny, Maxi, Trissi, Vinni und ich. Dazu erstmals Jungjägeranwärter und Neffe Raoul. Nicht alle wollten, konnten oder durften in den Berg, drum arrangierten wir der passionierten Jugend eine Fischerei am Schattensee auf Hecht und Barsch, und am örtlichen Badesee eine Fischwaid auf Forelle, Saibling und Renke. Uns Jünger in Huberto zog es derweil mächtig zum Berg – der Gamsen wegen. Onkel Franz und Neffe Hans, Bergbauer der eine, Hausbauer der andere, wollten und sollten uns wie ehedem führen.

Die ersten Tage schleppten sich so dahin, die grandiose Kulisse, teils im Dunst, teils im Flockengewirbel verhüllt, erahnten wir mehr, als dass wir sie bewundern konnten. Wenn aber die Sonne durch den Nebel brach, dann war der Ausblick atemberaubend.

So auch der Aufstieg. Denn nun hieß es, eiligst die Gunst der Stunde nutzen, und da hatten wir uns nach schwersteilem Aufstieg in den Sonnenhang gehockt, und von höchster Warte auf unerreichbarem Piz schaute ein starker Gams zu uns herab, recht herablassend, so meinte man, denn der Platzbock war sich seiner überlegenen Position sicher. Im himmelhohen Blau darüber kreisten zwei Steinadler, auch sie auf Beute aus, nun da die Sicht auf endlos war. Eilige Tannenhäher flogen hin und her, Kolkraben riefen hie und da, und weiter unten kollerte der kleine Hahn zur Hahnenfalz, derweil weit herüben im lichten Bergwaldhang Rotwild stand – es schien, als erwachte die Bergwelt zum Leben, wann immer die Sonne schien.

Franz war morgens daheim geblieben, angesichts der allgemeinen Wetterlage deuchte ihm unser Unterfangen gleichermaßen furchtlos wie fruchtlos. Aber wir vier lagen da oben in Sonnenschein und Schnee, der glitzerte und gleißte, und mochten mit nichts und niemandem das Dasein im Berge tauschen.

Das halbe Dutzend Scharwild links im Hang, das Freund Hans als Erster ausgemacht hatte, stand oder zog äsend von Beerkräutern zu Wachholderplacken, oder ruhte dort, wo es Windschatten gab. Da war kein Hinkommen, es hätte wohl für einen Schuss gereicht, aber die Schlucht war abgründig steil an beiden Flanken und zum Tal, und bizarrer Fels und dichtes Gesträuch hätten von vornherein ein Nachstellen und Bergen der gedachten Beute vereitelt. Und von ganz oben lugte der starke Gams und lockte!

Beobachten macht Reiz und Hunger! Speck und Brot und harter Käse, dazu eine gute Thermoskanne Tee mit Tuner – die Vesper aus dem Rucksackl – hätte königlicher nicht sein können. Am Bergspitz bildete sich ein Tuch von Grau, das Tuch wurde zum wölkenden Brodem: Das Wetter drängte zum Abbruch, Aufbruch und Abstieg.

Gerade da entdeckte Hans den Bock im Gegenhang! Weit entfernt. Zielstrebig zog er aus dem tiefer gelegenen Kessel diagonal die Schattenwand, die Geröllhalde herauf, ohne Unterlass und Pause. Mal verloren wir ihn im Steilhang aus den Augen, dann entdeckte einer ihn schon weiter oben, bis der Bock in einer Rinne, vom Fels verdeckt, auf den Grat gelangte und auf das Plateau zog. Da verhielt er einmal, sicherte über sein Revier und entschwand endgültig hinter einem Felsköpferl.

Plötzlich sah ich unten auf dem Rundkopf die Geiß! Und die war heiß, die passte! Nach einer schieren Ewigkeit trollte und folgte sie auf unsichtbarem Pfad dem Wechsel in den Berg, hoch und höher zog sie hinauf, als sich unsere Gläser und Spektive an ihr festsogen. Die Geiß tat es dem Bock nach, und als sie am Grat verschwunden war, begaben wir uns eiligst zu Tale.

Es war auch allerhöchste Zeit, das Wetter hatte umgeschlagen, grau greinten nun die Wolken, wild wirbelten die Flocken, und der Wind fetzte Nebel allüberall und in die Gartleralm. Als wir das Gebirgsbächle überschritten, welches an der Hütte breit gefächert über Rasen und Geröll und unaufhörlich zu Tale plätscherte, da quoll dicker Rauch aus dem Hüttenschlot und vergesellte sich mit dem Nebel. Franz hatte sich vom Tal zur Hütte aufgemacht, und da es ihn immerzu fror, denn auch er rauchte wie ein Schlot, hatte er ein behagliches Feuer im Kamin entfacht.

Wir traten in die warme Stub’n, da stand Franz schmauchend am Ofen, den Blick hinaus zum Fenster in das graue, weiß-wallende Wirrwarr, und er begrüßte uns auf allerliebste Weise: „Pfuit Eich, Sacklzement, zefix nochamal, a Scheißn is!“ Damit war alles gesagt – was folgte, war ein langer, feuchter Hüttennachmittag, herinnen wie heraußen … Nunc est bibendum!

Überhaupt der Franz, der Beständer! Ein kerniger Bergbauer ist er, ein Jager vor dem Herrn, hoch aufgewachsen, gertenschlank, zäh, sehnig und ausdauernd, mit tausend Lachfalten um die stahlblauen Augen, dreimal durchs Ohr gekniffen und verschalkt, und bei Damen sehr charmant – ein Hans Albers der Berge! Mit seinen 63 Jahren steigt er einer Bergziege gleich den steilsten Pfad hinauf, balanciert seelenruhig auf schmalstem Grat am schroffen Hang, pafft dabei ständig eine „Ernte 23“, denn der Wind muss geprüft werden! Sein „Kimmst scho?!“, dabei den Rauch der Zigarette ausblasend, ist legendär: etwas von oben herab in Position wie Bedeutung, wenn er dann gerade leichtfüßig auf einen Block von Fels gefedert ist, auf einen herabblickt und wartet, während man selber dampfend und schwitzend versucht, seinen langen Haxen einigermaßen erhaben und würdig zu folgen … Augen hat er wie ein Luchs. Gott sei es gedankt, dass er relativ wortkarg ist, und diese Bescheidenheit im Umgang mit dem Worte durch zwar ebenso sparsame, aber bedeutungsvolle wie inhaltsreiche Bewegungen kompensiert – von seinem obersteirischen Gespräch verstand ich nämlich rein gar nichts. Bestenfalls zwanzig Prozent, wenn ich mich gehörig anstrengte und Franz hochdeutsch sprach! Ersteres passierte immer, Letzteres nimmer.

Und dann der Hans! Der Neffe vom Franz. Auch so ein Bergler, ein strammer. Jahrgang 1957. Ein Ferrari del Monte. Ein Bergfex. Wenn man meinte, bereits im vierten Gang bergauf oder bergab zu steigen, so war das für Hans in etwa der Kriechgang. Mit der Sicherheit, Schnelligkeit und Eleganz einer Gams schritt er vom Berg herab, dass es eine Freude war, ihm dabei zuzuschauen. Leider war einem das selten vergönnt, man fiel sonst hoffnungslos zurück. Wenn ich an Waidgerechtigkeit denke, an die Kunst der Jagd, an Bescheidenheit, dann denke ich an Hans. Ein guter, ein treuer, ein bester Freund!

Hans und Franz: Die beiden konnten über ein komplexes Thema eine angeregte, interessant-tiefgründige Unterhaltung auf Stunden führen und dabei vielleicht ein halbes Dutzend Sätze austauschen: „Chra … woißt scho … di Goisn?!“ Pause. „Chra … no.“ Pause. „Chra … nix is, di ganget do heroben nüber. Chra?!“ Pause. „Chra … no.“ … So in etwa klang ihre Unterhaltung auf Hochdeutsch über die Länge einer Viertelstunde. Der Flachländler durfte nun auf gar keinen Fall den unverzeihlichen Fehler begehen, dieses wortreiche Gespräch als oberflächlich, unergiebig und wenig zielführend wie langsam abzutun. Das genaue Gegenteil war der Fall! Denn ihm waren die unterschiedlichen tonalen Nuancen der „Chra’s“ und „No’s“ und damit deren verschiedenste inhaltliche Bedeutungen gar nicht klar, nie nicht gegenwärtig. Interpretationswelten waren das! Und wiewohl ich kein einziges Wort verstanden hatte, hatten Hans und Franz sich ausgiebig über einen komplizierten, jagdlichen Sachverhalt ausgetauscht und waren zu einem der Sachlage entsprechenden und durchaus profunden Ergebnis gekommen. Quod erat demonstrandum!

Anderntags brachen wir beizeiten zur oberen Gartleralmhütte auf: Hans, Franz, Tom und ich. Denn das Wetter und unsere Schädel klarten zunehmend auf! Raoul war an diesem Morgen freiwillig bei unseren vier Jungs geblieben und wollte mit ihnen Fischen gehen, die Damen eine Spazier- und Shoppingfahrt ins nahegelegene Murau machen.

Neffe Raoul hatte am Vortag beim Abstieg aus dem Berg trotz aller körperlichen Fitness aufgrund einer noch nicht vollständig ausgeheilten Knieverletzung unser Tempo nur mit großer Mühe halten können. Und heute sollte es hoch hinaus gehen, und am besten mit Beute zurück! Dabei wollte er uns kein Klotz am Bein sein, wie er wort- und gestenreich erläutert hatte, zumal er denn auch noch nicht selber jagen, sehr wohl aber die Fischwaid aufgrund seines kürzlich erworbenen Fischereischeines ausüben durfte. Nobel, nobel, wollte man meinen. Allerdings beschlich Tom und mich der leise Verdacht, dass es ihm nach dem Hüttenzauber vom Vortage am Kopfe doch noch recht schwer war …

Ja, Raouls denkwürdige Fischereiprüfung: Wie es seinem Temperament, seiner Intelligenz und Fantasie entsprach, hatte er sich gründlichst vorbereitet, und er hatte nun detailliert und kenntnisreich dem – wohlgemerkt – in allen Fischereiarten seit Jahrzehnten sehr erfahrenen Prüfer die Nachteile einer gewissen Abu-Garcia-Baitcaster-Rolle beim Brandungsangeln erläutert. Das Notenergebnis der Prüfung war dann auch „Eins plus, mit Sonderpunkten für Klugscheißerei“!

An der Hütte empfing uns die ganze Pracht der Bergwelt, die Sonne strahlte vom blauen Himmel, ein laues Lüftchen säuselte vom Berg herab ins Tal, das Bacherl gluckerte vor sich hin, hie und da lag noch Schnee, aber so viel und lange wir auch in die umgebenden Gipfel spekulierten, es war nicht ein einziges Stück zu finden. Lediglich zwei Steinadler zogen ihre Kreise im großen Rund. Wir hockten uns auf das Hüttenbankerl und beratschlagten. Genauer gesagt: Hans und Franz beratschlagten, und Tom und Heiko versuchten, so viel als irgend möglich zu verstehen – fast gar nichts. Nur so viel, als dass wir in den Schattenhang aufsteigen und uns hernach trennen wollten.

Unser Aufstieg hatte eine gute Stunde gedauert, und schon kurz nach der Gartleralm hatten Hans und Tom einen anderen Steig genommen, denn sie wollten die Jagd auf der Hochebene suchen, dort, wo am Vortag die Gamsen hinaufgezogen waren. Im hohen Föhren- und Lärchenwald waren Franz und ich in steilem Gebiet über Gesteinsbrocken, Harsch- und Weichschnee und wirre Krautplacken gekraxelt, oder auch nicht, wenn meistens ich in einem der unsichtbaren Lunker hüfttief versank. Ich fragte mich, wie es Franz schaffte, nicht in diese Löcher zu geraten, obwohl ich doch fast nur in seine Stapfen trat. Aber nur fast! Und angesichts der körperlichen Herausforderung hatte ich wenig übrig für die frische Rothirschfährte aus der letzten Nacht. – „Kimmst scho?!“

Endlich angekommen, hockten wir uns unter eine Zirbel, nahe der Stelle, an der ich im Vorjahr eine betagte Einser-Gamsgeiß aus dem Berg geschossen hatte. Allerdings war heuer unser Sitzplatz kommoder – Franzens andere Jagdgäste hatten erst im August ein Bankerl aus Lärchenholz gezimmert, recht roh, aber gerecht und durchaus dem Zwecke genügend sowie landschaftlich eingepasst. Man konnte ermüdungsfrei in den steilen Berg anhalten.

Der Hang war leer. Ein Lüftchen wehte vom Berg herab, was, nachdem wir Platz genommen hatten, Franz links, ich rechts an der mächtigen Zirbel, mit einer „Ernte 23“ bestätigt und für gut befunden wurde. Nach dem Aufgang war mir heiß, und so streifte ich lediglich meine leichte Jacke über, nicht aber meine dicke Lodenjoppe. Das war ein Fehler! Wir saßen im Sonnenschein, der eine paffte, der andere gaffte, und Franz meinte, er müsse, wenn die Schachtel leer sei, schnell hinab ins Tal schreiten, um eine neue „Ernte“ zu beschaffen. So viel verstand ich dann doch, und als ich ihn entgeistert ansah, da grinste er schalkhaft und zog eine neue Schachtel aus seinem Rucksackl hervor. Und schon glimmte der Stängel – Gott war es gedankt, dass das Lüftchen und der Tobaksqualm zur Linken gen Tal wehten.

Ich legte mein Glaserl auf die Brüstung und besichtigte die Gegend, Franz legte sein Stirnderl auf die Brüstung und besichtigte auch die Gegend, aber mehr so nach innen! Mir war es recht, es war ruhig, die Stimmung friedevoll, blauer Himmel, die Sonne stand gerade über dem Grat und wärmte. Wo mochten wohl Hans und Tom sein? Franz betrachtete jetzt etwas geräuschvoller sein Inneres, und nur gelegentlich bewegte er sich und schob und zupfte seine Decke oder Joppe zurecht. Ich schaute mir die Augen aus dem Kipferl, aber soviel ich auch glotzen mochte, eine Gams wollte sich partout nicht zeigen.

Die Sonne war jetzt hinter einem hohen Gipfelspitz verschwunden, die Luft bewegte sich wenig schneller, und es begann mir zu frösteln. Aber zu faul, meine Joppe, die ich der Einfachheit halber als Sitzdecke zweckentfremdet hatte, unter meinem Allerwertesten hervorzuziehen, oder eine Wolldecke aus meinem Rucksack zu zaubern, fröstelte ich lieber vor mich hin. Außerdem sollte Franzens Schönheitsschlaf nicht unterbrochen werden, mir dünkte, er würde dann doch nur den Wind prüfen müssen!

Es war so gegen zehn Uhr, wir hatten wohl um eine Stunde auf der Bank gehockt, da entdeckte ich oben am Grat im Weiß eine Gams, und die Gams stand schwarz gegen das Weiß und gegen das Blau des Himmels, und sie stand nur so da und schaute unverwandt hinab in den Steilhang. Aus dem Nichts war sie gekommen, die fahle Gamsgeiß vom Vortag, und nur der Scherenschnitt machte sie dunkel im Kontrast.

Ich knuffte Franz in die Rippen, und er kramte seinen Entfernungsmesser heraus, und die Gams stand unbeweglich mehr als dreimal hundert Meter entfernt. Ich nahm Maß mit der Kipplaufbüchse, aber die Gams stand weit und hoch, und sie lugte hinab in den Hang. An einen Schuss war nicht zu denken, denn sie stand zu weit, und hätte ich sie getroffen, so wäre sie unrettbar verloren gewesen, denn zu schroff war der Hang unter ihr. Da legte ich die Büchse zur Seite und betrachte die Gams, wie sie unverwandt in den Kessel schaute.

„A Ruh is“, murmelte Franz und zündete sich eine Zigarette an. Mich fror und den Franz fror es auch, aber die Gams stand am Grat und äste von was auch immer dort oben an Flechten, Moosen und Kraut gedeihen mochte. Als sie hinter einem Kipferl verschwand, da senkte Franz seine schwere Stirn auf die Brüstung und ließ den Herrgott einen guten Mann sein. Ich, vom Ehrgeiz getrieben, glaste die nähere und weitere Bergwelt ab, verrenkte mir bald das Kreuz und entdeckte nichts.

Einmal nur nahm der Franz den Stecher vor seine stahlblauen Augen, schaute nach oben ins Blau und raunte mir etwas von einem „Luserl“ und einem „Schlaucherl“ zu. Verblüfft schaute ich erst zum Franz und dann zum Grat, und tatsächlich, da lagerte doch die Gamsgeiß solcherart direkt hinter dem Bergkamm am Spitz, dass gerade nur ein Schlauch und ein Lauscher gegen den Himmel zu sehen waren. Und da hatte ich doch die ganze Zeit hinaufgeguckt und nichts gesehen … Franz ging nun wieder seiner zweitliebsten Beschäftigung nach, dem Stirnruhen.

Ich schaute ab und an zur Geiß, und es mochte wohl so eine weitere Viertelstunde vergangen sein – es war jetzt zur elften Stunde am Vormittag – da waren Luser und Schlauch verschwunden, und die Geiß erschien von hinterwärts am Spitz, zog jetzt schnell und sicher über den Grat zum Steilhang. Ich griff meine Büchse und piekte Franz in die Weichen, und die Gams zog hurtig den Schattenhang hinunter, und ich war drauf und fragte den Franz „Wie weit?“ Die Gams war nun auf 250 Meter herunter, ich war immer drauf und zog mit, und die Gams zog schnell und jetzt quer im Geröllhang und war von Buschwerk verdeckt. Dann war sie wieder frei auf 250 Meter, und Franz sagte, fragte „Koannst schiassn?!“, und ich presste ein „Ja“ hervor.

Ich zog mit, und die Gams drehte herum und tat sich auf einem Felsvorsprung nieder, und da lagerte sie auf 250 Meter mit dem Haupt zum Berg, dem Stert zum Tal, zu uns, und ich tat das Gewehr zur Seite, und ich zitterte wie Aspenlaub! Ich zitterte, aber es war mir nicht mehr kalt, jetzt war es der Jagdschüttler, der mich unbarmherzig in seinen Klauen hielt, ich bekam mich gar nicht in den Griff und dachte verzweifelt an etwas anderes als die Gams und die Jagd, aber es fiel mir nichts ein. Und es schüttelte mich wie Aspenlaub im Wind, und der Wind ging auch ein wenig mehr, aber das Jagdfieber verdrängte alle Kühle, und ich konnte mich gar nicht beruhigen.

An Schießen wäre jetzt nicht zu denken gewesen, wäre die Gams hochgekommen, aber sie kam nicht hoch, und ich hätte wohl nicht einmal den Berg getroffen, hätte ich schießen können. Ich saß da und schlotterte gottserbärmlich. Mir war es sehr peinlich, was sollte der Franz von mir denken, wo ich doch die Bank schaukelnd bald zum Kentern brachte? Ich blickte verstohlen nach links. Und was ich jetzt erblickte, das war mir so freundlich, nicht weil geteiltes Leid halbes Leid ist, sondern weil geteilte Freud doppelte Freud, und gemeinsame Passion zwiefache Passion ist: Der Franz schaukelte und zitterte wie Aspenlaub im Zweiertakt. Gemeinsam schlotterten wir auf der Bank herum, und nur die vereinten, rhythmischen, synchronen Bewegungen hatten uns des jeweils anderen Jagdfieber nicht bemerken lassen. Der Franz, obwohl gar kein Gewehrle dabei, war ebenso vom Jagdfieber erfasst wie ich selbst!

Es dauerte wohl so an die zwanzig Minuten, bis ich mich einigermaßen entzittert hatte. Franz rauchte derweil eine „Ernte 23“, auch er noch mit zittrigen Händen, legte dann seinen Kopf nieder und überließ es mir, die Gamsgeiß zu beobachten. Die lagerte seelenruhig auf dem Felsvorsprung. Und lagerte und lagerte und lagerte.

Eine weitere Stunde mochte vergangen sein, es war jetzt ein wenig nach der zwölften Stunde, ich blieb aufmerksam wie ein Schießhund, da kam das Haupt der Gams ruckweise hoch, der Träger ward lang und länger, sie spähte über die Kruppe nach rückwärts in die Geröllhalde, dahin, vorher der Wind kam. Ich spekulierte dorthin, aber der Hang war leer, kein Lebewesen war dort zu sehen. Was hatte sie nur? Jetzt sicherte die Gams nach vorn und links, aber da war nur eine steile unpassierbare Felswand, davor eine Föhrengruppe, da gab es kein Passieren und Entrinnen.

Zweifelsohne hatte die Gams von etwas Wind bekommen, das ihr sehr missfiel. Von uns konnte sie unmöglich Wind haben, dank Franzens „Ernte 23“-Dampf wussten wir genau, wohin er wehte, es musste etwas anderes sein. Aber was?

Es ging jetzt blitzschnell. Die Geiß wurde hoch, ich piekte Franz wieder in seinen Wams, da war er blitzwach, und ich griff meine Kippläufige. Die Gams wurde schnell, und ich war drauf, aber die Gams sprinttrollte sich nach vorne weg und verschwand hinter den Föhren unter der Felswand, ohne dass ich auch nur die geringste Chance auf einen Schuss gehabt hätte.

Ich verstand die Welt nicht mehr und blickte in die Geröllhalde, um den vermeintlichen Störenfried ausfindig zu machen. Aber da war nichts und niemand! Franz rieb sich die Augen, und ausnahmsweise war es nicht der Qualm, der ihn reizte. Auch er war ratlos. Was war hier los? Warum hatte die Gams wie von der Tarantel gestochen das Weite gesucht? Ich war einigermaßen fassungslos – nach mehr als zwei Stunden der Geiß so nah und doch so fern!

Da sah ich mit einem Male die Gams aus der Sackgasse unter der Felswand und den Föhren hervorpreschen, diesmal nach rechts in den Hang hinein, und ganz schnell war sie unterwegs. Mein „Franz, da ist die Gams wieder!“ ging einher mit dem Aufnehmen der Waffe, und ich war drauf, aber die Gams war sehr flott, und ich fragte Franz „Wie weit, wie weit?“, und er sagte „280 Meter, 270 Meter“. Dann verlor ich sie, und ich fand sie wieder, und Franz fragte mich, ob ich sie noch sähe, und ich sagte „Ja“. Er hatte sie verloren, und ich sagte ihm, wo, und ich fragte „Wie weit?“ und zog mit, und Franz sagte „260 Meter“. Die Geiß war jetzt im Hang oberhalb der Geröllhalde und über dem Strauchkomplex links und rechts von der steilen Rinne, und sie zog vor nach rechts und ich war drauf. „240 Meter!“ zischte Franz, und die Gams verhielt jetzt oberhalb der Rinne. Das Fadenkreuz stand knapp über dem Widerrist, als der Schuss brach. Durchs Zielfernrohr blickend sah ich die Gams zusammenbrechen.

Franz rief „Waidmannsheil“, und die Gams roulierte die steile Rinne herab, 90 Meter schwarz-weißes, wildes Gestöber und Gestrudel, und dann kam sie zum Liegen. Aber, oh Graus, langsam kam die Gams wieder hoch …

„Hoast woach g’schosse?“, fragte Franz und auf Hochdeutsch „Jetzat muaßt repetiere!“

„So eine Schiete, nein, ich bin gut vorne abgekommen, vielleicht habe ich sie gekrellt!“, antwortete ich und stopfte eine brandneue 6,5x57R Kegelspitz nach.

Die Geiß zog sichtlich beeindruckt und behindert nach links durch das Strauchwerk, wurde aber zunehmend behänder, das Fadenkreuz stand auf dem Blatt, aber Strunk und Strauch hinderten noch den Schuss. Dann war die Gams heraußen, verhielt auf 160 Meter, und der Schuss traf sie tödlich, sie rutschte noch etliche Meter herab und lag dann auf einem Felsabsatz gamstot und rot im Schnee.

„Die liegt!“ sagte Franz und brannte sich einen Glimmstängel an, und ich sah sie auch liegen und lud nach, nein, ich versuchte nachzuladen. Aber ich kriegte die Kipplaufbüchse nicht zu, und versuchte es erneut, aber es gelang mir nicht, und ich konnte keinen Fehler entdecken.

Meine Hände waren zittrig, wen wunderte es nach den letzten Minuten, und Franz schaute mich an wie normalerweise nur ein alter Fuchs einen jungen Dachs anschaut: „Jetzat brauchst nimmermehr drauf schiaßn, die Goisn liegt! Waidmannsheil!“

Ich dankte und meinte nur, dass sicher sicher sei. Doch das verdammte Gewehr ließ sich nicht schließen, und ich konnte wieder keinen Fehler finden! Verfluchte Aufregung! Aber ich war glücklich, dass die Gams, und Artemis sei Dank, lag. Ich legte das geöffnete Gewehr zur Seite, die Patrone war vorerst nicht aus dem Lager zu bewegen.

Und dann fragte Franz in bestem Hochdeutsch (!) diese Frage, die gar keine Frage war: „Gehst du die Gams holen oder soll ich sie bergen?“

Es war seine ultimative Aufforderung an mich, die Gams aus dem Berg zu holen! Sie lag so 150 Meter oberhalb von unserem Stand, und es musste eine Rinne passiert werden und dann ging es steil in die Geröllhalde nach oben.

„Ich erledige das schon“, sagte ich mit dem Brustton der Überzeugung und riss mir meine Kleider vom Leib angesichts der zu erwartenden sportlichen Ertüchtigung und der mit ihr verbundenen Erhitzung.

„Chra, bist narrisch? Dös is nix. Den Tod holst dir!“

Also blieben Joppe und Wams angelegt, und nicht lange im Berg, da bereute ich meine Gefügigkeit, denn das Terrain war steil, der Schnee tiefschwer, die Blocken waren groß, und als ich schließlich bei der Gams angelangt war, da lief der Schweiß in Strömen.

Ich begutachtete die Geiß, ein ordentliches, feistes Stück, siebenjährig war sie und hoch hatte sie auf. Ich konnte den ersten Schuss von rechts nicht finden, weder den Einschuss, noch den Ausschuss, aber sie musste ihn haben, denn sie hatte ja ganz augenscheinlich gezeichnet und war auch ganz augenscheinlich schwer gezeichnet gewesen. Der zweite, finale Schuss von links saß kurz hinter dem Blatt mit Ausschuss.

Ich blickte nach unten und sah, wie Franz sich eine Zigarette ansteckte und in der Rinne auf mich wartete. Ich legte der Gams den Strick um den Träger und dann ging es bergab. Der Schnee machte die Sache leichter, ich musste nur die Lunker und Blocken umschiffen, mal war die Gams oben, mal war ich oben, und so ging es Meter für Meter im Schnee bergab. Die Gams lag am Strick oberhalb, und als ich einen Moment unachtsam war und heftig zog, da rutschte die Gams, wurde schneller, sauste auf mich zu, der Kadaver rauschte unten durch und riss meine Beine weg. Die Haxen waren in der Luft, aber ich ließ nicht locker, und die Gams rutschte und sauste mit mir am Banderl bergab, und Gams und Jager und Hut rollten und trudelten im Knäuel an die zwanzig Meter den Steilhang herab. Gott sei es gelobt, dass kein Fels im Wege oder aber gnädig von federndem Schnee bedeckt war … Endlich kam ich mit der Beute wohlbehalten in der Rinne an. Franz überreichte fröhlich grienend Erlegerbruch und letzten Bissen, und dann suchten wir und fanden gemeinsam den Ein- und Ausschuss der ersten Kugel: Der Schuss saß in der Tat hoch in den Federn, hatte Muskelfleisch durchschlagen, kurzfristig das Stück betäubt, und wäre letztendlich noch tödlich gewesen, aber eben erst nach einer ungewissen Zeit des Leidens. Insgeheim dankte ich Diana und Artemis für die glückliche Fügung der schnellen, zweiten Kugel!

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Franz steckte sich eine weitere Zigarette an, und bevor wir, ich mit der Gams im Schlepp, zur Gartleralmhütte abstiegen, wo ich nach anstrengendem Schleif die Gams aufbrechen würde, erörterten wir den Anlass für die jähe und panikartige Flucht. Wir kamen zu dem einzig logischen Schluss, dass Hans und Tom da heroben auf dem Plateau gepirscht waren. Und der Wind, obwohl auf das Plateau zustehend, hatte an der Bergkante gekuselt und dem Stück die Witterung derart zugetragen, dass es den Feind vom Geröllhang kommend ortete. Daher die Flucht in die Felswand. Und dann war der Wind gekippt und über die Kante geweht, was die Gams aus der Felswand in die Geröllhalde zurückgetrieben hatte. Hans und Tom bestätigten später, dass sie nahe dem Grat unterwegs gewesen waren – die Erklärung!

Erklärung brauchte auch meine havarierte Kipplaufbüchse. Ich klaubte Jagdgeraffel und Waffe am Zirbelsitz auf und fummelte die nigelnagelneue Patrone mit dem Messer aus dem Patronenlager. Und siehe da! Das Gewehrle ließ sich wie ehedem zuklappen. Ich stopfte eine andere Patrone ins Lager – die Büchse ließ sich mühelos schließen! Daraufhin betrachtete ich die Patrone vom eventuellen dritten Schuss genauer: Am Hülsenmund, an der Bördelung, standen einige Grate erhaben ab – ein eklatanter Fabrikationsmangel! Und das von einem renommierten deutschen Premiumhersteller! Die Patrone war nicht vollständig ins Lager zu treiben. Ich stellte mir vor, ich hätte diese Patrone zum ersten oder zum zweiten Schuss erwischt – bei dem Gedanken zitterte ich noch im Nachhinein wie Aspenlaub.

CARNIVORI SEMPER VENANTUR

Füchse und andere Jäger

In einschlägigen Medien gibt es Ranglisten, wer denn nun das gefährlichste aller Raubtiere sei. Meist sind diese reißerisch aufgezogen – recht unterhaltsam, aber mit wenig fachlichem Mehrwert. Dabei gilt der Begriff „Raubtier“ als überholt, man spricht stattdessen von „Beutegreifer“, „Prädator“ oder „Karnivore“. Sei’s drum. Zweifelsohne ist aber der Mensch das gefährlichste aller Raubtiere – zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

Draußen herrschte unwirkliche Stille. Die Luft war schneidend kalt, von Osten ging ein leichter Wind. Oben funkelten die Sterne, und die Sichel des Mondes stand noch am Firmament. Und Puderschnee, so weit das Auge reichte! An diesem Winterabend ging es auf Raubwild: Fuchs oder Marder, Marder oder Fuchs. Zahllose Spuren verliefen im Schnee. Droben am Hang stand der Wald aus Kiefern, Fichten und Eichen, fest mit Schnee bedeckt, und fast brachen die Zweige und Äste der Bäume unter der Last der weißen Decke.

Jeder Schritt, obwohl behutsam pirschend gesetzt, knirschte und knurpste gottserbärmlich zum Himmel. So schien es ihm, doch tatsächlich dämpfte der Schnee, und nur unweit vom Jäger war kein Mucks zu hören. Überhaupt verschmolz er in Schneehemd und -hose mit der Landschaft in perfekter Harmonie.

Derweil am Luderplatz sprang, kratzte und biss ein Steinmarder. Steinhart gefroren war das Luder; und dennoch eine willkommene Kost, denn der strenge Frost und die hohe Schneelage machten die Jagd zu einem anstrengenden Geschäft. Kein Beutetier wollte zur Beute werden, indem es leichtsinnigerweise im tiefen Schnee flanierte oder im hohen Baum parierte. So waren die Luderbrocken eine gute Wahl.