DIGITALE BILDKULTUREN

Durch die Digitalisierung haben Bilder einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Dass sie sich einfacher und variabler denn je herstellen und so schnell wie nie verbreiten und teilen lassen, führt nicht nur zur vielbeschworenen »Bilderflut«, sondern verleiht Bildern auch zusätzliche Funktionen. Erstmals können sich Menschen mit Bildern genauso selbstverständlich austauschen wie mit gesprochener oder geschriebener Sprache. Der schon vor Jahren proklamierte »Iconic Turn« ist Realität geworden.

Die Reihe DIGITALE BILDKULTUREN widmet sich den wichtigsten neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern und ordnet sie kulturgeschichtlich ein. Selfies, Meme, Fake-Bilder oder Bildproteste haben Vorläufer in der analogen Welt. Doch konnten sie nur aus der Logik und Infrastruktur der digitalen Medien heraus entstehen. Nun geht es darum, Kriterien für den Umgang mit diesen Bildphänomenen zu finden und ästhetische, kulturelle sowie soziopolitische Zusammenhänge herzustellen.

Die Bände der Reihe werden ergänzt durch die Website www.digitale-bildkulturen.de. Dort wird weiterführendes und jeweils aktualisiertes Material zu den einzelnen Bildphänomenen gesammelt und ein Glossar zu den Schlüsselbegriffen der DIGITALEN BILDKULTUREN bereitgestellt.

Herausgegeben von

Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich

 

01

Wer ein Selfie macht, macht sich selbst zum Bild. Das ist etwas anderes, als nur ein Bild von sich selbst – ein Selbstporträt – zu machen. Ein Selfie zu machen heißt, ein Bild von sich zu machen, auf dem man sich selbst zum Bild gemacht hat. Ein Selfie ist also eigentlich ein Bild von einem Bild. Eine solche Beschreibung klingt paradox und spitzfindig; sie erweckt den Eindruck, die Analyse von Selfies sei höchst anspruchsvoll. Das aber widerspricht der üblichen Einschätzung von Selfies. Vielen erscheinen sie nämlich als besonders trivial; sie werden oft als etwas Defizitäres, sogar als dekadent beschrieben.

02

Der häufigste Vorwurf gegen Selfies lautet, sie seien schrille Symptome eines narzisstischen Zeitalters. Für den Autor und Journalisten Will Storr zeugt es von Selbstverliebtheit, dass die Smartphone-Technik so oft für Selfies genutzt wird – entsprechend nennt er ein Buch, in dem er der heutigen Mentalität in westlichen Ländern nachgeht, Selfie.1 Immer wieder werden Studien vorgelegt, die beweisen wollen, »dass jene, die häufig inszenierte Selbstportraits in sozialen Netzwerken verbreiten, eher Narzissten sind, als Menschen, die sich damit zurückhalten«.2 Manchen Studien zufolge gilt dies nur für Männer.3 Oder man beweist (sogar in derselben Fachzeitschrift) das Gegenteil: Vor allem Frauen mit narzisstischen Eigenschaften wie Dominanzstreben und Gefallsucht hätten einen ausgeprägten Drang zu Selfies.4 Oder es wird entdeckt, dass Selfies nicht nur von Narzissmus zeugen, sondern diesen noch weiter steigern.5 Insgesamt gibt es kaum eine Publikation über Selfies, die ohne das Schlagwort ›Narzissmus‹ auskommt.6

Gerne wird auch unterstellt, der Narzissmus lasse bei immer mehr Menschen, die von ihrer Selfie-Sucht getrieben seien, das Bewusstsein für gefährliche Situationen schwinden. Geschichten über Selfie-Unfälle gehören zu den Topoi der Gegenwart; standardmäßig finden sich in der Boulevard-Presse und auf Online-Portalen Schlagzeilen wie diese: »Selfie-Irrsinn: Chinesin posiert zu nah am Gleis – tot!«;7 »Hübsche Blondine will Selfie machen und stürzt in den Tod.«8 Es wird sogar suggeriert, der Selfie-Tod gehöre mittlerweile zu den statistisch relevanten Todesarten: »Dieses Jahr schon 73 tödliche Selfie-Unfälle.«9 Und die englischsprachige Version von Wikipedia listet in einem eigenen Artikel alle im Zusammenhang mit Selfies gemeldeten Unglücks- und Todesfälle auf.10

Fast immer bleibt es aber bei einer kurzen Meldung. Offenbar genügt es, ›Selfie‹ und ›Tod‹ in einen kausalen Zusammenhang zu bringen: Als sei der Tod die gerechte Strafe, zumindest aber das unvermeidliche Risiko, das Menschen eingehen, die Selfies machen. Damit hat das christliche Dogma der Todsünden eine weltliche Nachfolge gefunden: Der mit Selfies ausgelebte Narzissmus gilt heute als todeswürdig, so wie ehedem ›superbia‹ – Hochmut, Stolz, Eitelkeit. Die US-amerikanische Rundfunkredakteurin und (katholische) Lebensberaterin Teresa Tomeo warnt davor, dass der Selfie-Kult Beziehungen und Freundschaften ruiniere, das Familienleben (zer)störe, die Menschen besinnungslos mache und sie von Gott entfremde. Ein ganzes Buch widmet sie den »Lastern«, die durch Selfies entstünden, und gibt Ratschläge, was sich zu ihrer Vermeidung tun lasse.11

Die heftige Kritik an Selfies unterscheidet diese von anderen Bildgattungen, gerade auch von Selbstporträts. Zwar mochte es in der Kunstgeschichte vereinzelt Künstler gegeben haben, die Argwohn auf sich zogen, weil sie vor allem sich selbst zum Sujet wählten, doch gab es niemals einen Diskurs, in dem die Anfertigung von Selbstbildnissen als Laster verurteilt wurde. Das könnte daran liegen, dass immer nur wenige Menschen Selbstporträts schufen, diese also schon allein aus Gründen der Quantität nicht folgenreich für die Gesellschaft sein konnten. Aber vielleicht spielt auch der Umstand eine Rolle, dass ein Selfie, anders als ein Selbstporträt, nicht nur ein Bild ist, das eine Person von sich selbst macht, sondern dass es zugleich das Bild einer Person ist, die sich dafür selbst zum Bild macht.

03

Was aber heißt es überhaupt, sich selbst zum Bild zu machen? Und wie genau entsteht ein Selfie? Ganz allgemein sind Selfies Statusmitteilungen, die genauso schnell, wie sie entstehen, auch versendet werden können, sei es an einzelne Adressaten oder an die große Netz-Community. Mit Selfies wird – gerne live – mitgeteilt, wo man gerade ist, wie es einem geht und was man erlebt; mit ihnen lässt sich eine Botschaft oft schneller, witziger, subtiler, eindringlicher ausdrücken als mit Worten.

Selfies sind daher erst mit der Smartphone-Technik möglich geworden. Die Einführung von Rollfilm-, Polaroid- oder Digital-Kameras erlaubte es zwar bereits viel mehr Menschen als je zuvor, rasch und unkompliziert Bilder zu machen, doch erst dank der Smartphones kann man durch Bilder mit anderen Menschen in Verbindung treten, und erst dank der Sozialen Medien gibt es genügend Orte, um sie zu publizieren. Den Selfie-Boom mit einer technischen Entwicklung zu erklären ist allein deshalb plausibel, weil er sich andernfalls kaum so explosionsartig hätte ereignen können. Die Selfie-Kritiker, die einen psychosozialen Wandel für den Boom verantwortlich machen, tun sich hingegen schwer, zu erklären, warum dieser innerhalb weniger Jahre stattgefunden haben soll: Wieso sollten Millionen von Menschen schlagartig zu Narzissten geworden sein? Und das fast überall auf der Welt zur selben Zeit?

Es ist also ein großes Ereignis, dass sich erstmals in der Kulturgeschichte ganz alltäglich und in jedem Moment mit Bildern Nachrichten, Meinungen, Gefühle austauschen lassen. Auch früher schon mochten Bilder den Charakter von Signalen oder Botschaften besessen haben; sie sollten eine Stimmung ausdrücken oder etwas zugespitzt in Szene setzen, aber sie waren viel zu schwerfällig, zu fest an einen materiellen Bildkörper gebunden, um zwischen beliebig weit voneinander entfernten Orten in Echtzeit gesendet werden zu können.

Dass Bilder heute viel sichtbarer und mobiler sind als je zuvor, führt nicht zuletzt zu einem Phänomen, das oft mit Befremden wahrgenommen wird und für den schlechten Ruf von Selfies mitverantwortlich ist. So erscheinen ihre Protagonisten häufig mit verzerrten, grimassenhaften, exaltiert-übertriebenen Gesichtszügen. Das aber ist oft ein Selbstschutz, denn wer immer ein Selfie postet, muss auch kritische Kommentare und mögliche Shitstorms fürchten, zumal sich nie kontrollieren lässt, wer sie sieht und wo überall sie zirkulieren. Eine eigens inszenierte Selfie-Grimasse aber kann unerwünschten Folgen vorbeugen, wird das Selfie damit doch nicht nur ironisch kommentiert und in seiner Bedeutung heruntergespielt, sondern auch alle Aufmerksamkeit gebunden, um von Dingen – etwa einer unreinen Haut oder unordentlichen Frisur – abzulenken, für die man sich geniert. Der gesamte Akt des Postens wird also ins Lustige und Groteske gezogen, und die Verzerrung erfüllt eine apotropäische Funktion – nicht anders als ehedem bei Skulpturen fratzenhaft-hässlicher Gesichter oder Tiere, die als Wasserspeier oder Neidköpfe an Gebäuden angebracht waren und böse Geister abwehren sollten. (Bilder 1a–d)

Bilder 1a–d: Typische Selfie-Grimassen und ein Neidgesicht