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Mark Rothko

Die Wirklichkeit des Künstlers

Texte zur Malerei

Herausgegeben von Christopher Rothko

Mit einem Nachwort von Peter J. Schneemann

Aus dem Amerikanischen von Christian Quatmann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Einleitung

von Christopher Rothko

Das Dilemma des Künstlers

Kunst als biologische Funktion

Kunst als Form des Handelns

Die Kontinuität des Formenwandels

Kunst, Realität und Sinnlichkeit

Das Einzelne und das Allgemeine

Die Generalisierung seit der Renaissance

Emotionaler und dramatischer Impressionismus

Objektiver Impressionismus

Plastizität

Raum

Das Schöne

Naturalismus

Sujet und Sujetelement

Der Mythos

Versuche, den Mythos in der Gegenwart neu zu begründen

Der Einfluss der primitiven Kultur auf die moderne Kunst

Die moderne Kunst

Primitivismus

Indigene Kunst

Nachwort Zwischen Quellenschrift und Zeitdokument: The Artist’s Word
von Peter J. Schneemann

Personenregister

Sachregister

 

 

 

 

Für Kate, der ich fast alles verdanke

Danksagung

Bei den folgenden Menschen möchte ich mich für ihre Hilfe und Unterstützung bedanken: Marion Kahan für die endgültige Wiederentdeckung des Manuskripts; Janet Saines für ihren exzellenten Rat; Melissa Locker, Lauren Fardig und Amy Lucas für ihre Nachforschungen; Ilya Prizel; sowie William und Sally Scharf für viele Jahre ebenso kluger wie fürsorglicher Zuwendung.

Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Frau Lori Cohen und unseren Kindern Mischa, Aaron und Isabel für ihre unablässige Inspiration.

Christopher Rothko

Einleitung

von Christopher Rothko

DAS MANUSKRIPT. Für mich war es eine Art Legende – eine ferne Erinnerung irgendwo an der Peripherie meines Bewusstseins. Ja, der Text hatte für mich einen fast mythischen Status, den er – wie ich damals vermutete – inhaltlich gewiss nicht einzulösen vermochte, der mir jedoch umso realer erschien, je mehr sich das tatsächliche Manuskript unserem Zugriff entzog. Schließlich ist es doch vor allem das Mysterium, was uns das Unbekannte oder nur undeutlich Wahrgenommene so bedeutsam erscheinen lässt, und in den ebenso unübersichtlichen wie turbulenten Verhältnissen, in denen wir nach dem Tod meines Vaters zurückblieben, gab es für meine Schwester und mich in der Tat wenig konkret Greifbares.

Gleichwohl haben die meisten Legenden einen konkreten Hintergrund. Da ich das Manuskript nie mit eigenen Augen gesehen hatte, wusste ich allerdings nicht, wo die Legende aufhörte und die Wahrheit begann. Einen Teil seiner Aura verdankte der Text zweifellos meinem Vater, wenn auch nur indirekt. Unsere Informationen stammten vor allem von unserer Mutter, die freilich erst auf der Bildfläche erschienen war, als mein Vater den Kampf mit dem geplanten Buch bereits aufgegeben hatte. Natürlich hatten unsere Eltern bisweilen mit Freunden oder Kollegen über den Text gesprochen, allerdings nie mit meiner Schwester oder mit mir. Als dann nach dem Tod meines Vaters 1970 der Kampf um seine nachgelassenen Papiere entbrannte, nahm das Mysterium des geheimnisumwitterten Manuskripts schließlich fast übermenschliche Züge an.

Diese Situation ergab sich aus dem materiellen und dem geistigen Erbe, mit dem meine Schwester und ich uns nach dem ebenso plötzlichen wie unerwarteten Tod unserer Eltern auseinanderzusetzen hatten. So hat es zum Beispiel beinahe 20 Jahre gedauert, bis wir schließlich wussten, was es mit den Gerüchten um das legendäre Manuskript auf sich hatte. Über den wahren Umfang und den Inhalt des Textes haben wir sogar erst 34 Jahre nach dem Tod meines Vaters wirklich Klarheit gewonnen. Da das Manuskript jetzt in einer gründlich redigierten Fassung als Buch vorliegt, gerät der vorherige Zustand des Textes freilich leicht aus dem Blick. Doch während des größten Teils meines Lebens waren für mich die Spinnweben sichtbarer als die Substanz dahinter.

Wenn man an die Kunstwerke denkt, die mein Vater gemalt hat, nimmt sich diese sagenumwobene Geschichte schon sehr merkwürdig aus. Seine bekanntesten Bilder sind großformatig, sie scheinen beinahe zu vibrieren und gelten heute als Ikonen der modernen Kunst. Ja, sie sprechen unsere Aufmerksamkeit so direkt an, dass ein kleiner Stapel auf einer alten Schreibmaschine getippter, vergilbter Blätter dagegen völlig belanglos erscheint. Hinzu kommt, dass die Gemälde meines Vaters ihre intensivste Wirkung auf einer explizit vorsprachlichen Ebene entfalten. Tatsächlich haben sich nur wenige Künstler so eindeutig von allem Narrativen verabschiedet wie mein Vater. Wie in der Musik geht es auch in seinem Werk stets darum, das nicht Mitteilbare zum Ausdruck zu bringen. In der Sphäre, in die wir durch sein Schaffen verwiesen werden, gelten Wörter daher nichts. Da die Gemälde meines Vaters sich dem Betrachter ohne klar definierte Figuren, räumliche Situationen oder Bildtitel präsentieren, können wir sie verstehen, ohne auf weitere Bezugsgrößen zurückzugreifen, die ihnen nur äußerlich sind. Deswegen kann das geschriebene Wort die Erfahrung, die diese Bilder vermitteln, nur verfälschen; es vermag in diesem malerischen Universum nichts auszurichten.

Und dennoch hätte sich mein Vater gewiss über das immense Interesse gefreut, auf das sein unfertiges Manuskript bei zahlreichen heutigen Lesern stößt. Er hat sich nämlich keineswegs von dem unvollendet gebliebenen Text distanziert, den er bereits niedergeschrieben hatte, bevor er durch den für ihn typischen kühn-abstrakten Malstil berühmt werden sollte. Ja, er hat das Manuskript sorgsam gehütet und – ob bewusst oder unbewusst – die Neugier derjenigen geschürt, die gerüchteweise von der Existenz eines solchen Konvoluts gehört hatten. Mag sein, dass der Text – von außen betrachtet – etwas zusammenhanglos neben Rothkos Kunstschaffen zu stehen scheint. Dennoch verschafft er uns Einblick in eine Philosophie, die für meinen Vater auch dann noch von Bedeutung war, als die Malerei bereits zu seinem einzigen Ausdrucksmittel geworden war.

Nicht zuletzt ist die Faszination des Buches darauf zurückzuführen, dass Rothko sich ausdrücklich als Ideen-Maler verstanden hat. Darauf hat er selbst des Öfteren hingewiesen, und in der Tat schimmern die von ihm beschworenen Ideen immer wieder durch die Oberfläche seiner ansonsten so amorphen Abstraktionen hindurch. Ja, man könnte sagen: Wenn diese Kunst nicht um Ideen kreist, worum sonst? Doch was hat es nun mit diesen Ideen auf sich? Die Gemälde selbst bieten für die Beantwortung dieser Frage nur sehr allgemeine Anhaltspunkte. Tatsächlich gibt es nicht wenige Menschen, die sich zwar durch die Sinnlichkeit dieser Bilder ungemein angesprochen, durch ihre Abstraktheit hingegen überfordert fühlen. Da auf den Bildern so wenig konkret Fassbares zu sehen ist, fühlt sich der Betrachter, ob nun innerlich bewegt oder aber irritiert, nicht selten an undefinierbare Leerstellen erinnert.

Menschen, die von Rothkos Kunst ergriffen sind, werden ein Buch dieses Malers gewiss als Bereicherung empfinden. Schließlich haben wir es hier nicht mit irgendeinem Buch zu tun, sondern mit einem Text, in dem der Maler Mark Rothko seine Philosophie der Kunst darlegt. So erhalten wir Zugang zu einer mystischen Stadt, die wir bislang nur von außen bestaunen konnten.

Aber verhält es sich wirklich so?

Wie stets, wenn man es mit meinem Vater zu tun hat, ist die Wahrheit komplizierter, man könnte auch sagen dialektischer. Erstens: Er kommt in dem ganzen Text nicht mit einem einzigen Wort direkt auf sein Werk zu sprechen. Ja, er erwähnt seine Kunst so wenig wie den Umstand, dass er selbst Künstler ist. Zweitens: Der Abstraktion hat Rothko sich erst mehrere Jahre nach der Niederschrift seines Manuskripts endgültig zugewandt. Wenn es also manchmal so scheint, als ob der Autor dem Leser Aufschluss über die Bedeutung seiner eigenen schwebenden rechteckigen Formen geben wolle, so entspricht dies gewiss nicht seiner bewussten Absicht. Im Übrigen will uns der Text ohnehin nicht darüber aufklären, was Bilder bedeuten oder wie man es anstellt, diesen Sinn zu ergründen. In den Essays ist vielmehr die Rede davon, was der Künstler tut, wodurch sein Verhältnis zu den Ideen definiert ist und was er anstellen muss, um solche Ideen bildlich zum Ausdruck zu bringen.

Dies sind sehr konkrete Gründe, warum es sich bei Die Wirklichkeit des Künstlers keinesfalls um eine Art Schlüssel zu Rothkos Werk handelt, das heißt, sie gehen an der Sache vorbei. Etwas Sinnvolles über die Bedeutung eines Bildes auszusagen ist nämlich alles andere als einfach. Deshalb lassen sich die nötigen Regeln auch nicht nebenher in einem Buch kodifizieren. Rothko hätte einen solchen Leitfaden zur Interpretation seines Werkes gewiss abgelehnt. Sein Werk zu verstehen erfordert vielmehr einen hohen persönlichen Einsatz und verlangt uns vor allem ab, dass wir uns auf den mühsamen Prozess einlassen, in sein Schaffen wirklich einzudringen. Dieser Vorgang entspricht der «plastischen Reise», von der in seinem Kapitel «Plastizität» die Rede ist. Um die Bedeutung eines Gemäldes ganz zu erfassen, muss man sich innerhalb der Welt des betreffenden Bildes auf ein sinnliches Abenteuer einlassen. Deswegen kann Rothko uns auch nicht sagen, was es mit seinen eigenen oder mit den Gemälden anderer Künstler auf sich hat. Diese Bedeutung kann nur jeder von uns für sich selbst erfahren. Schließlich: Wäre mein Vater imstande gewesen, die Wahrheit – also die Essenz seiner eigenen Werke – in Worte zu fassen, hätte er sich die Mühe ersparen können, sie eigens zu malen. Wie seine Werke belegen, stehen die Malerei und das geschriebene Wort für unterschiedliche Arten des Wissens.

Die vorstehenden Erwägungen helfen uns zu verstehen, warum Rothko sein Manuskript zu Lebzeiten nicht veröffentlicht hat. Der Grund war nicht etwa, dass er mit seinen früheren Vorstellungen gebrochen oder sich wegen des Inhalts seines Textes geniert hätte. Wäre dies so gewesen, hätte er das Manuskript höchstwahrscheinlich zerstört und es gewiss nicht dem von ihm selbst ausgewählten Biografen als Material versprochen, wie meine Schwester und ich vermuten. Meiner Meinung nach hat er den Text vielmehr deshalb zurückgehalten, weil er dem Publikum nicht durch eine – und sei es noch so illusionäre – Erklärung seines Kunstschaffens die Möglichkeit eröffnen wollte, sich vor den notwendigen Fragen zu drücken. Außerdem hat er – zumindest im Hinblick auf sein eigenes Schaffen – womöglich befürchtet, dass sein Text das nur unzureichend vorgebildete Publikum auf eine falsche Fährte locken könnte. Und das, obwohl seine Malerei, wenn man sie nur aufmerksam genug betrachtet, ohnehin alles über sich selbst offenbart. Rothko sprach nur ungern über sein Schaffen, weil er um diese Gefahr wusste und immer wieder feststellen musste, dass er durch Erklärungen nur neue Missverständnisse auslöste. Zudem wollte er den Prozess, dessen es bedurfte, um sein Werk kennen zu lernen, nicht unzulässig verkürzen. Denn er wusste meiner Ansicht nach ganz genau, wie schwierig dieser Prozess sein konnte und dass sich die Leute dieser Mühe nur zu gerne entzogen. Andererseits hat er gewiss keinen Augenblick daran gezweifelt, dass es ungemein lohnenswert sein konnte, diese Anstrengung auf sich zu nehmen.

Ich habe mich deshalb mit gemischten Gefühlen – erst nach gründlicher Gewissenserforschung und in Absprache mit meiner Schwester Kate – entschlossen, Die Wirklichkeit des Künstlers herauszugeben. Dabei hat sich die Publikation des Buches als durchaus zweischneidige Angelegenheit erwiesen. Einerseits ist der Text nämlich für wissenschaftlich Interessierte zweifellos eine wahre Fundgrube und für die Bewunderer von Rothkos Schaffen gewiss außerordentlich anregend. Da das Manuskript jedoch aus einer relativ frühen Phase der künstlerischen Entwicklung meines Vaters stammt, zudem unvollendet geblieben ist und sich nicht direkt mit Rothkos eigenem malerischen Schaffen befasst, könnte es andererseits Anlass zu Missverständnissen bieten. Im Übrigen war mein Vater weder Philosoph noch Kunsthistoriker. Deshalb lassen sich gegen das – unvollendet gebliebene – Manuskript gewiss zahlreiche Einwände vorbringen, nicht zuletzt weil es der Argumentation des Autors bisweilen an Schliff oder Stringenz oder an beidem fehlen mag.

Letzten Endes waren meine Schwester und ich uns jedoch darin einig, dass diese Bedenken nicht den Kern der Sache betreffen. Rothko ist heute so bekannt, dass fast jeder Kunstliebhaber seinen Arbeiten schon einmal begegnet ist. Überdies dürfte es nur sehr wenige Leute geben, die dies Buch zur Hand nehmen, ohne sich zuvor eingehend mit Rothkos Kunst und ihren Wirkmechanismen beschäftigt zu haben. Manch einer mag auch hoffen, dass das Buch dabei hilft, einige bis heute mysteriöse Gemälde meines Vaters leichter zu verstehen. Freilich ist der Text so dicht geschrieben, dass er ein derart müheloses Verstehen gewiss nicht zu bieten hat. Deshalb werden solche Leser kaum umhin kommen, sich mit Rothkos Philosophie ähnlich intensiv auseinanderzusetzen wie mit seiner Malerei, falls ihnen wirklich daran gelegen ist, etwas Neues zu verstehen.

Möglich, dass die familieninterne Besorgnis darüber, wie das unvollendet gebliebene Manuskript unseren Vater als Autor und Denker erscheinen lässt, nicht ganz unbegründet ist. Jedenfalls erreicht seine Prosa hier nicht jenes Niveau, durch das sich die wenigen sonstigen Äußerungen auszeichnen, die er in schriftlicher Form fixiert hat. Auch lässt die Klarheit seiner Gedankenführung bisweilen zu wünschen übrig. Allerdings glaube ich nicht, dass der Leser dieses Buches sich primär für solche Dinge interessiert. Aber auch mit grundstürzenden neuen Erkenntnissen der Kunstphilosophie kann der Text nicht aufwarten (obwohl die Leistungen meines Vaters in diesem Bereich meinen Horizont vielleicht übersteigen). Vielmehr dürfte der Leser sich vor allem deshalb für die Ansichten meines Vaters interessieren, weil er davon beeindruckt ist, wie Rothko seine Auffassungen künstlerisch zum Ausdruck gebracht hat. Deswegen besteht der wahre Wert des Textes gewiss nicht in seiner erschöpfenden Gründlichkeit oder in der bezwingenden Logik, mit der mein Vater seine Argumente dort vorträgt. Seine Bedeutung liegt vielmehr darin, dass Rothko uns hier in schriftlicher Form einen selten detaillierten Einblick in die Weltsicht des bildenden Künstlers bietet.

Nach reiflicher Überlegung sind meine Schwester und ich zu der Ansicht gelangt, dass die – wissenschaftliche, aber auch die allgemein interessierte – Öffentlichkeit ein Anrecht darauf hat, diesen Text aus erster Hand zu kennen. Hätte mein Vater das Manuskript zerstört, wären meine Schwester und ich dieser schwierigen Entscheidung enthoben gewesen. Ja, selbst wenn er sich über die Existenz des Manuskripts ausgeschwiegen hätte, wären wir vielleicht zu einer anderen Einschätzung gelangt. Wie es scheint, hat er sich jedoch von dem Text genauso wenig distanziert wie von seinen frühen Bildern. Überdies hat er nirgends verlauten lassen, dass die Bedeutung des Manuskriptes im Lichte späterer Entwicklungen und Leistungen neu zu bewerten sei. Da das Manuskript also für ihn offenbar ein ganz selbstverständlicher Bestandteil seines künstlerisch-geistigen Erbes war, habe ich mich bemüht, den Text in Übereinstimmung mit dieser Intention so vollständig und authentisch wie möglich als Buch herauszugeben.

Aus diesem Grund möchte ich im Folgenden kurz die Geschichte des Manuskripts skizzieren. Mein Vater hat im Familienkreis fast nie über sein künstlerisches Schaffen gesprochen, und ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass er sich im Zusammenhang mit Die Wirklichkeit des Künstlers anders verhalten hat. Sollte dies gleichwohl der Fall sein, können Kate (die neunzehn Jahre alt war, als mein Vater starb) und ich (mit meinen damals sechs Jahren) uns daran wenigstens nicht erinnern. Da unsere Mutter Mary Alice (Mell) Rothko außerdem schon ein halbes Jahr nach meinem Vater verstorben ist, hat sie etwaige Kenntnisse dieser Art zumindest nicht an uns weitergegeben.

Erstmals thematisiert wurde das Manuskript aus Anlass der hässlichen Rechtsstreitigkeiten, zu denen es nach dem Tod meines Vaters kam. In diesem Streit standen meine Schwester und ich (das heißt vor allem meine Schwester, da ich noch zu klein war) den Nachlassverwaltern meines Vaters und der Marlborough Gallery gegenüber, die Rothkos Interessen in den letzten zehn Jahren seines Lebens vertreten hatte. In den ersten Monaten dieser Auseinandersetzung erfuhr meine Schwester irgendwann, dass mein Vater ein Buch geschrieben hatte. Und so kam es schon bald zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen den Nachlassverwaltern und Robert Goldwater, dem mein Vater ein Jahr vor seinem Tod den Auftrag erteilt hatte, eine kritische biografische Studie über sein Leben und Werk zu verfassen. Nach Kates Erinnerung hatten weder Goldwater noch die Nachlassverwalter das Manuskript bis dahin zu Gesicht bekommen. Da Goldwater weniger als ein Jahr nach meinem Vater ebenfalls verstarb, haben die streitenden Parteien das Manuskript damals offenbar aus dem Blick verloren. Und so kam es, dass der Text schließlich beinahe zwanzig Jahre in einem Pultordner mit der unverfänglichen Aufschrift «Diverse Papiere» lagerte.

Wie konnte es nun geschehen, dass meine Schwester und ich ein so wichtiges Dokument so lange (bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches insgesamt sogar knapp fünfunddreißig Jahre) einfach unbeachtet haben liegen lassen? Verstehen kann dies nur, wer weiß, dass Kate und ich zum Nachlass unseres Vaters ein nicht ganz unproblematisches Verhältnis haben. Zunächst einmal waren wir nach dem Tod unseres Vaters fünfzehn Jahre wegen dieses Nachlasses in Rechtshändel verwickelt. Während dieser Zeit absolvierte ich die Schule, meine Schwester studierte Medizin, machte ihre Facharztausbildung, heiratete, bekam die ersten beiden ihrer drei Kinder und agierte selbst als neue Nachlassverwalterin, da die drei ursprünglich mit dieser Aufgabe befassten Personen ihrer Funktion per Gerichtsbeschluss enthoben wurden. In all diesen Jahren verspürte keiner von uns beiden den dringenden Wunsch, nach dem Manuskript zu suchen, es zu bewerten oder auch nur allzu viel darüber nachzudenken.

Als die jahrelangen Auseinandersetzungen Mitte der 80er Jahre schließlich ein Ende fanden, war meine Schwester erschöpft und hatte – offen gestanden – erst einmal genug vom Kunstbetrieb. Was mein eigenes Verhältnis zum künstlerischen Schaffen meines Vaters anbelangt, fand ich überhaupt erst Gelegenheit, mir eines seiner Bilder an die Wand zu hängen, als die Stiftung Mitte der 80er Jahre geschlossen wurde. Außerdem musste ich ständig Formulare ausfüllen und den Sinn einer Unzahl von doppelt gelochten Dokumenten ergründen, auf denen das Kleingedruckte gegenüber den allgemeinverständlichen Passagen beträchtlich überwog. Und so erschien es mir nicht eben verlockend, auf der Suche nach dem geheimnisvollen Buch meines Vaters kistenweise juristischen Papierkram zu durchwühlen.

1988 schließlich entdeckte Marion Kahan, die mehr als siebzehn Jahre als Archivarin für uns tätig war und uns bei der Verwaltung des väterlichen Nachlasses geholfen hat, das Manuskript in einem alten Manila-Ordner zwischen den anderen eingelagerten Papieren (Tafel 1). Obwohl wir sie nicht eigens darum gebeten hatten, nach dem Text Ausschau zu halten, stieß sie zufällig bei der Inventarisierung irgendwelcher Unterlagen darauf. Sie machte sofort Fotokopien von den vergilbten, bereits mürbe gewordenen Blättern und setzte uns davon in Kenntnis, dass sie möglicherweise das Buch gefunden habe. Soweit ich mich erinnere, war Marion sich jedoch nicht ganz sicher und machte von ihrer Entdeckung nicht viel Aufhebens, obwohl sie die Situation im Rückblick heute völlig anders sieht. Jedenfalls war ich damals psychisch noch nicht in der Lage, aus ihrer Mitteilung die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ich studierte zu diesem Zeitpunkt noch und hatte die Regelung der Rothko-Belange gerade erst von meiner Schwester übernommen – eine in jenen Tagen größtenteils undankbare und langweilige Aufgabe.

Ich weiß noch, wie ich einige Zeit nachdem Marion mir die Papiere zugesandt hatte, in dem Manuskript und in einigen damit zusammenhängenden Schriftstücken blätterte. Allerdings nahm ich mir dafür nicht sehr viel Zeit und gelangte zu dem Schluss, dass der Text nicht besonders wichtig sei. Eine voreilige Schlussfolgerung. Heute bin ich sicher, dass ich damals gar nichts Bedeutsames finden wollte, weil mich das nur irritiert, mir eine lästige Verpflichtung aufgebürdet und mich lediglich von meinem Studium abgehalten hätte. Freilich hat es mir der Zustand des Manuskripts auch sehr leicht gemacht, zu dieser Einschätzung zu gelangen. Es war nachlässig getippt, durch zahllose handschriftliche Zusätze und Streichungen entstellt und enthielt zudem irrsinnig viele Tippfehler. Überdies ließ es weder eine eindeutige Ordnung noch eine narrative Richtung erkennen (Tafel 2). Falls der Text tatsächlich etwas Interessantes enthalten sollte – was auf den ersten Blick jedoch nicht der Fall war –, hätte es in der Tat eine immense Mühe erfordert, das Manuskript angemessen aufzubereiten.

Also ließen wir den Text unberührt liegen und dachten nur gelegentlich daran, seine Bearbeitung in fachkundige Hände zu legen. Ja, wir hielten sogar mehrmals nach einem Kunsthistoriker Ausschau, den wir mit der Abfassung jener umfassenden kritischen Bewertung von Mark Rothkos Schaffen beauftragen wollten, die Robert Goldwater nicht mehr hatte zu Papier bringen können. Wären wir fündig geworden, hätten wir einem solchen Experten gewiss auch Einblick in den von unserem Vater hinterlassenen Text gewährt. Doch verliefen alle unsere Bemühungen in dieser Richtung im Sande, und der Inhalt des Manuskripts blieb uns selbst ebenso unbekannt wie der übrigen Welt.

Es gab mehrere Gründe dafür, weshalb wir das Manuskript nicht gründlicher analysiert und so wenig unternommen haben, um es zu veröffentlichen. Einer davon war, wie gesagt, eine gewisse Ermüdung. Aber es gab, wie ich meine, noch ein anderes, tiefer liegendes Motiv: Wir konnten uns schlechterdings noch nicht dazu überwinden, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Die Gemälde unseres Vaters und wir selbst waren nach Mark Rothkos Tod in eine derart tumultuöse und langwierige Auseinandersetzung geraten, dass wir uns erst wieder neu orientieren mussten und uns vergewissern wollten, dass wir sicheren Boden unter den Füßen hatten. Deshalb fiel es uns auch so immens schwer, etwas aus der Hand zu geben, wofür wir so lange gekämpft hatten. Überdies ist man nach einer solchen Schlacht naturgemäß ziemlich misstrauisch. Erst jetzt, da Rothkos Schaffen beim Publikum wie bei der Kritik auf ein riesiges Interesse stößt, wie auch die kaum noch überschaubare Zahl der Ausstellungen seiner Werke bezeugt, können wir es uns erlauben, uns ein wenig zu entspannen.

Allerdings in der Tat nur ein wenig. Denn wer hat am Ende die Herausgabe dieses Buches übernommen? (Nach gründlicher Sichtung des geradezu furchterregenden Manuskripts hatte ich mir nämlich ursprünglich geschworen, mich mit dieser Aufgabe unter gar keinen Umständen zu befassen.) Was natürlich die Fragen aufwirft, warum ausgerechnet ich das Buch herausgebe und wieso wir es gerade jetzt publizieren. Dass ich als Herausgeber fungiere, hat vor allem einen Grund: nämlich dass ich (wenigstens für meine Schwester und mich selbst) eine berechenbare Größe bin. Wenn ich ein eindeutiges Interesse verfolge, dann das der Familie. Eine außenstehende Person, wie sachkundig und wohlwollend sie auch sein mag, hätte sich dem Projekt gewiss nicht mit derselben Sorgfalt gewidmet wie ein Familienmitglied. Was nicht heißen soll, dass eine solche Person diese Arbeit mit weniger Engagement durchgeführt hätte, freilich mit einer anderen Art von Engagement. Wir haben nämlich im Zusammenhang mit dem künstlerischen Schaffen unseres Vaters allzu oft auf Menschen außerhalb der Familie vertraut und sind damit mehrfach jämmerlich gescheitert. Hinzu kommt: Da ich mich seit nunmehr zehn Jahren intensiv mit dem Werk meines Vaters beschäftige, kenne ich seine Arbeiten sehr genau. Deshalb war ich der Meinung, dass ich sein Schaffen gut genug verstehe, um sein nachgelassenes Manuskript mit der gebotenen Sorgfalt herauszugeben.

Als man dann von wissenschaftlicher und von Verlagsseite an mich herantrat, habe ich das Manuskript schließlich nochmals sorgfältig in Augenschein genommen. Und man höre und staune: Bei dieser zweiten Durchsicht habe ich gleichsam einen völlig neuen Text entdeckt. Keine Frage: Das Manuskript ist unvollständig und stellenweise außerordentlich schwer verständlich. Doch ich war mir plötzlich sicher, dass ich einen wichtigen Text vor mir hatte, den ich der Öffentlichkeit nicht vorenthalten durfte. Das Manuskript war eindeutig als ein in sich geschlossenes Ganzes konzipiert und richtete sich an ein Publikum. Es beinhaltete also mehr als lediglich die privaten Betrachtungen eines Künstlers. Tatsächlich war es an der Zeit, dass dieser Text endlich das Licht der Welt erblickte, und obwohl ich tief durchatmen musste, bevor ich mich auf das Projekt einließ, wusste ich, dass es meine Aufgabe war, aus dem Manuskript ein Buch zu entwickeln.

Rothko in den frühen vierziger Jahren

Rothko hatte bereits in den zwanziger Jahren zu malen angefangen. Damals hatte er das Studium am Yale College abgebrochen und war nach New York gegangen. Dort hielt er sich mit Gelegenheitsjobs – unter anderem als Kunstlehrer – über Wasser. Trotz dieser zeitaufwendigen Tätigkeiten schaffte er es in den späten zwanziger und in den dreißiger Jahren, kontinuierlich Kunstwerke auf Leinwand und Papier zu produzieren. Dabei blieb er bis 1939 der figürlichen Malerei treu und kreierte in gedämpften Farbtönen Stadtlandschaften, Porträts, Akte und merkwürdige, psychologisch angehauchte Dramen.

Etwa 1940/41, also ungefähr zu der Zeit, als er dieses Manuskript verfasst haben muss, nahm sein künstlerisches Schaffen plötzlich einen merklich anderen Charakter an. Er ließ sich vom Surrealismus inspirieren, der zu dieser Zeit avantgardistischsten Richtung der europäischen Malerei, und fing an, fantastische Landschaften und völlig verfremdete synthetische Fig"uren mit mehreren Köpfen und zerstückelten Gliedmaßen zu malen. In seinem Text weist Rothko darauf hin, dass er nicht alle philosophischen Auffassungen dieser Kunstrichtung akzeptieren konnte, gleichwohl übernahm er einige stilistische Elemente des Surrealismus und teilte dessen Vorliebe für mythische Motive und die Bildwelt des kollektiven Unbewussten.

Wie es dann weitergeht, ist nicht ganz klar. James Breslin, der Rothkos Biografie geschrieben hat, berichtet, dass der Künstler nach eigenem Bekunden etwa 1940 fast ein ganzes Jahr mit dem Malen aufgehört und sich ausschließlich mit Philosophie und mythologischer Literatur beschäftigt hat. Er verweist ferner darauf, dass Rothko 1940 oder 1941 unter massiven Depressionen zu leiden hatte und das Malen deshalb längere Zeit völlig einstellte (James Breslin, Mark Rothko: A Biography, 1993). Auch wenn mir dies alles persönlich nicht bekannt ist, muss ich einräumen, dass Breslin die Ereignisse im Leben meines Vaters im Allgemeinen korrekt dargestellt hat. Daher vermute ich, dass es zu dieser Zeit in Rothkos Schaffen tatsächlich eine Unterbrechung gegeben hat. Obwohl nicht ganz klar ist, ob sich mein Vater bereits vor oder erst nach der Niederschrift seines Manuskriptes der mythologisch inspirierten surrealistischen Malerei zugewandt hat, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass der Text größtenteils während dieser Unterbrechung entstanden ist.

An dieser Stelle sollte ich kurz auf die Datierung des Textes zu sprechen kommen. Das einzige halbwegs brauchbare Indiz, auf das wir uns in diesem Zusammenhang stützen können, ist ein Blatt des Manuskripts, auf dessen Rückseite Rothko – unter dem Datum 23. März 1941 – den Entwurf eines Briefes getippt hat. Rothkos künstlerischer Mentor Milton Avery wiederum hat in einem Brief erwähnt, dass mein Vater bereits 1936 an einem Buch arbeitete (siehe Breslin). Auch wenn nicht absolut sicher ist, dass es sich dabei um denselben Text handelt, scheint es sehr unwahrscheinlich, dass Rothko noch ein zweites umfangreiches Manuskript produziert hat, das heute verschollen ist.

Freilich glaube ich nicht, dass wesentliche Passagen des Textes bereits so früh entstanden sind. So heißt es etwa in einem anderen Avery-Brief vom September 1941 (der ebenfalls bei Breslin zitiert wird), dass Rothko «zur Zeit nicht mehr ganz so intensiv an seinem Buch» arbeite; woraus wir schließen können, dass genau dies in den Monaten zuvor der Fall gewesen ist. Außerdem finden sich in Rothkos Manuskript mehrere Hinweise auf spätere Ereignisse, etwa die Weltausstellung von 1939 und auf Deutschlands «Krieger» (womit die Soldaten des Zweiten Weltkriegs gemeint sein dürften). Aber auch Rothkos Text und seine Gemälde selbst erlauben gewisse Rückschlüsse. So nimmt etwa die Rolle des Unbewussten für das Kunstschaffen in dem Manuskript breiten Raum ein. Überdies hat er mehr als ein Viertel seines Buches der Bedeutung des Mythos für die Kunst und die Gesellschaft gewidmet. Es ist gewiss kein Zufall, dass diese Themen in den frühen vierziger Jahren auch in seiner Malerei eine zentrale Rolle spielen. Mögen die Vorarbeiten zu Rothkos Buch auch früher datieren, so legt seine künstlerische Produktion gleichwohl den Schluss nahe, dass die Entstehung von Die Wirklichkeit des Künstlers in der uns vorliegenden Form mehr oder weniger mit Rothkos künstlerischer Neuorientierung zusammenfällt.

So also stellt sich der Werdegang des Künstlers und Denkers Mark Rothko dar. Der Mensch Mark Rothko hatte sich durch die Depressionszeit geschlagen, kaum in der Lage, für sich selbst zu sorgen. In den zurückliegenden Jahren hatte er so gut wie keine Bilder verkauft und kaum Ausstellungen gehabt. Seinen Lebensunterhalt hatte er sich durch die Mitarbeit an diversen WPA-Projekten gesichert. Bei diesen Projekten handelte es sich um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der US-Regierung, die unter dem Dach der Works Progress Administration (WPA) durchgeführt wurden. Seine stets stürmische Ehe hatte gerade einen neuen Tiefpunkt erreicht. 1940 oder 1941 war Rothko längere Zeit von seiner ersten Frau Edith Sachar getrennt, was möglicherweise die von Breslin erwähnten schweren Depressionen erklärt. Seiner Frau war es nämlich in den Jahren zuvor gelungen, sich als Schmuckdesignerin zu etablieren. Sie brachte Rothko dazu, in ihrem Atelier mitzuarbeiten, und forderte ihn mehrfach auf, das Malen endlich aufzugeben. Die Ehe der beiden ging 1943 endgültig auseinander.

Ich habe diese Hintergründe hier kurz skizziert, weil sonst etliche polemische Textstellen, auf die man in Die Wirklichkeit des Künstlers stößt, kaum zu verstehen sind. Die betreffenden Kapitel sind in einem aggressiven und verärgerten, bisweilen fast weinerlichen Ton geschrieben. Man spürt allenthalben die Frustration eines Mannes, der nach eigenem Empfinden eine Menge zu sagen hat und verzweifelt Gehör sucht. Wir sehen hier einen Künstler vor uns, der auf jedem Gemälde von neuem versucht, sein Verständnis der Wirklichkeit und seine Auffassung von der Wahrheit auszudrücken, jedoch niemanden findet, der davon Notiz nimmt. Dies sollten wir stets bedenken, wenn wir lesen, wie er über Maxfield Parrish herzieht, sich über die Cartoonisten auslässt oder die Pseudo-Primitiven verhöhnt. Was nicht auf die Verwirklichung höchster Ideale abzielte, hatte vor Rothkos Urteil keinen Bestand. Die vorgenannten «Künstler» waren sich nicht nur nicht zu schade, etwas Sekundäres, also Seelenloses zu schaffen, sie fanden damit auch noch Anklang beim Publikum. Währenddessen hockte Rothko auf seinem sprichwörtlichen Misthaufen und verfluchte das Schicksal, das ihn dort festhielt. Das Konzept einer «populären» oder einer «volkstümlichen» Kunst ist für ihn deshalb doppelt vorbelastet. Denn es steht nicht nur für Oberflächlichkeit, sondern verweist auch stets auf jene breite Anerkennung, die Rothko selbst so lange versagt blieb.

Was nicht heißen soll, dass nicht tatsächlich vieles von dem, was Rothko als seicht abtut, diese Qualifizierung verdient hat. Doch sein Ton erscheint zunächst befremdlich. Das Gefühl der Benachteilung gibt seinen Worten einen besonders bitteren Klang. Wäre er erfolgreich gewesen, hätte er womöglich überhaupt nicht den Drang verspürt, sich über die «angewandten» Künste auszulassen. Das Gleiche gilt übrigens auch für das, was Rothko im Kapitel über indigene Kunst zur Bewertung von Kunst anmerkt. Seine Ausführungen sind zwar anspruchsvoll und letztlich recht überzeugend, auch wenn ihnen vielleicht sprachlich jener letzte Schliff fehlt, den eine weitere Überarbeitung ihnen gewiss gegeben hätte. Besonders auffällig ist jedoch die Vehemenz, mit der er die Befürworter einer populären – oder gar volkstümlichen – Kunst angreift. Dieser erklärte Sozialist äußert hier mehrfach sein tiefes Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen – vor allem wenn diese in Massen auftreten – und sieht in ihnen offenbar nicht so sehr Verbündete im Kampf um die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit als vielmehr einen gefährlichen Mob. Die Bedeutung von Kunst danach zu bemessen, wie viel Zuspruch sie beim breiten Publikum findet, ist nach Rothkos Auffassung die sicherste Gewähr für ein äußerst bescheidenes Niveau.

Auf diese Form der Publikumsbeschimpfung stößt man in Rothkos Text immer wieder. So verweist er mal auf die Ikonoklasten früherer Zeiten, um sich andernorts über die Bilder zu beschweren, die beim Massenpublikum besonders gut ankommen. Da Rothko unter der Missachtung des Kunstpublikums leidet und vermutlich sogar mitunter Zweifel am Wert seines eigenen Schaffens hegt, schlägt er wie wild um sich.

Freilich lässt sich das Urteil meines Vaters über die Kunstöffentlichkeit auch wohlwollender bewerten, und das ganz unabhängig davon, dass die Geschichte seine Auffassungen meist bestätigt hat. Wer Rothko besser verstehen möchte, sollte nämlich stets bedenken, dass das Misstrauen meines Vaters gegenüber dem Publikum auch dann nicht erlosch, als er selbst bereits berühmt war. Doch mochte er das Publikum einerseits auch noch so sehr fürchten, auf der anderen Seite wusste er ganz genau, dass nur die Liebhaber seiner Kunst seine Gemälde mit einem Sinn erfüllen konnten. Er hat diese Ambivalenz in einer berühmt gewordenen – 1947 in der Zeitschrift Tiger’s Eye abgedruckten – Formulierung einmal sehr schön auf den Punkt gebracht. Dort heißt es: «Ein Gemälde braucht Gesellschaft, nur so kann es im Auge eines einfühlsamen Betrachters wachsen, lebendig werden. Ist dies unmöglich, kann es leicht sterben. Es ist deshalb stets aufs neue ein riskantes, ja herzloses Unterfangen, ein Bild in die Welt zu schicken.» Als er dies sagte, war er zwar noch nicht berühmt, die Feststellung deckt sich jedoch inhaltlich völlig mit dem, was er später im privaten Kreis des Öfteren geäußert hat, wenn wieder einmal eine Ausstellung anstand. Auch als er schon ziemlich berühmt war, ließ ihn die Angst nicht los, seine Malerei könne missverstanden oder am Ende gar durch ein gleichgültiges Publikum Schaden nehmen.

Zweifellos klingt in diesen Kapiteln des Textes eine gewisse Bitterkeit durch, noch deutlicher allerdings vermittelt Rothko dort den Eindruck, dass er uns in seinem Schaffen Einblick in sein Innerstes gewährt. Ja, in seiner Arbeit schwingt so viel von ihm selbst mit, und das Verständnis der Wirklichkeit, das sich dort offenbart, ist so vital und zutiefst persönlich, dass es in der Tat riskant ist, solche Gemälde in die Welt hinauszuschicken und dem Blick des Publikums preiszugeben. Rothkos Wut ist daher vor allem auf seine Verletzlichkeit zurückzuführen. Mag dieses Gefühl auch durch negative Resonanzen noch verstärkt werden, seine Ursachen liegen tiefer.

Im Übrigen verweist Rothko in seinem Text wiederholt auf den Unterschied zwischen dem technischen Können eines Künstlers und der Fähigkeit, eine bedeutende Wahrheit ebenso unmittelbar wie anrührend auszudrücken. Er zieht eine klare Grenze zwischen Illustration, Design und dekorativer Gebrauchskunst auf der einen und der Produktion echter Kunst auf der anderen Seite. Natürlich ist Rothko nicht der Erste, der diesen Unterschied bemerkt, und es gibt gewiss nur wenige, die seine Auffassung in diesem Punkt nicht teilen. Umso mehr stellt sich die Frage, warum diese Unterscheidung für ihn so wichtig ist. Meiner Meinung nach gibt es dafür vor allem zwei Motive: das eine hat etwas mit dem tiefsten Wesen seiner Kunst zu tun, das andere mit seinen persönlichen Erfahrungen.

Dass Rothko sich derart abfällig über das handwerkliche Können äußert, hat zunächst einmal einen ganz einfachen Grund: Die Bilder, die er selbst in seiner realistischen Periode gemalt hat, lassen dieses Können auf den ersten Blick völlig vermissen. Die kunstlos hingeworfenen, häufig plump wirkenden Figuren, die abgeflachte Perspektive, die kaum eine Raumillusion zulässt und die Armut an Details – dies alles vermittelt den Eindruck, dass wir es mit einem Künstler zu tun haben, dessen Arbeit nicht recht überzeugt (Tafel 3). Wer jedoch Die Wirklichkeit des Künstlers gelesen hat, weiß, dass Rothkos Stil zu dieser Zeit lediglich seine philosophisch begründete Vorliebe für das «Plastische» reflektiert. An irgendeiner Ähnlichkeit war ihm überhaupt nicht gelegen. Vielmehr wollte er seinen Bildern eine echte «Substantialität», ja ein spürbares Gewicht mitgeben. Die Bilder sollten eine eigene Wirklichkeit konstituieren und keineswegs unsere visuell wahrnehmbare Umwelt nachahmen.

Wie zahlreiche moderne Künstler musste sich aber auch Rothko den Vorwurf gefallen lassen, dass er nicht imstande sei, eine solche Ähnlichkeit zu produzieren. Auch wenn er sich in seiner Malerei vor allem von philosophischen Gesichtspunkten leiten ließ, fühlte er sich durch solche Angriffe tief getroffen. Wie etliche seiner frühen Handzeichnungen und Illustrationen belegen, war Rothko nämlich durchaus ein fähiger Zeichner. Später sollten seine surrealistischen Arbeiten zeigen, wie glänzend er sich auf die Handhabung der Feder und des Pinsels verstand (Tafel 4). Seine klassischen Abstraktionen schließlich machen deutlich, dass er geradezu virtuos mit der Farbe, dem Raum, der Luminosität und der Reflexivität zu spielen vermochte.

Doch Anfang der vierziger Jahre nützte ihm dies alles wenig. Vielmehr musste sich Rothko irgendwie mit den negativen Reaktionen auf seine Werke auseinandersetzen. Daher auch die Entlastungsangriffe, die er in dem Kapitel «Kunst, Realität und Sinnlichkeit» und an anderen Stellen seines Textes führt, wo er all jenen, die sich mit ihrem handwerklichen Können brüsten, die nötige Substanz und Selbsterkenntnis und die «wahre künstlerische Motivation» abspricht. Auch hier argumentiert er wieder durchaus überzeugend, obwohl sein Ton verrät, wie verbittert er darüber war, dass ihm die ersehnte Anerkennung versagt blieb und man ihn meist missverstand. Möglich, dass er sich in dieser Phase seines philosophischen Standpunkts bereits einigermaßen sicher war, in seinem künstlerischen Schaffen hatte er jedoch noch nicht jene Klarheit gewonnen, die es ihm gestattet hätte, Kritik an seinem Stil einfach beiseite zu schieben.

Rothkos Verbitterung hatte aber auch private Ursachen. Ich habe bereits weiter oben seine unglückliche erste Ehe erwähnt, eine Partnerschaft, die zu dieser Zeit völlig in die Brüche ging. Da Edith die Arbeit meines Vaters, wie es scheint, nicht zu schätzen wusste, musste er daheim offenbar eine Menge Kritik einstecken, was ihn nicht gerade ermutigt haben dürfte. Hinzu kam noch, dass Edith just zu dieser Zeit in der Welt des Schmuckdesigns einen rasanten Aufstieg erlebte. Ihr Erfolg, der sich neben seinem Misserfolg nur umso glanzvoller ausnahm, muss ihn mächtig gefuchst haben, vor allem als er sich mehr oder weniger gezwungen sah, als ihr Assistent zu arbeiten. Daher die zahlreichen Seitenhiebe, mit denen er Illustratoren und Designer bedachte, und seine generelle Ungeduld mit allem Schnickschnack und bloß Dekorativem. Der aggressive Ton, den Rothko in seinem Text bisweilen anschlägt, hat vor allem persönliche Gründe und richtet sich nicht zuletzt gegen seine eigene Frau.

Allerdings ist die negative Einstellung meines Vaters gegenüber den dekorativen Künsten nicht ganz frei von einer gewissen unfreiwilligen Komik. Dies betrifft zunächst einmal den von seiner Frau Edith kreierten Schmuck, den ich schon persönlich an einigen weiblichen Mitgliedern der Familie Sachar bewundern konnte. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Arbeiten um spektakuläre Stücke mit fließenden Linien und einer wundervoll organischen Gesamtwirkung. Jedenfalls hat mein Vater von Damenmode offenbar nicht allzu viel verstanden. Auch konnte er mit Zierwerk und rein dekorativen Dingen wenig anfangen. Doch selbst wenn dies alles anders gewesen wäre, hätte ihn sein Neid gewiss daran gehindert, den Wert dieser Dinge zu erkennen.

Die Ehe meines Vaters mit Mary Alice (Mell) Beistle, seiner zweiten Frau, die er ein paar Jahre später heiratete, hatte ebenfalls eine komische Komponente. Freilich verlief diese zweite Ehe im Großen und Ganzen wesentlich glücklicher. Auch konnte sich mein Vater über einen Mangel an moralischer Unterstützung durch meine Mutter nicht beschweren. Tatsächlich hat sie ihn sogar zu dem bedeutendsten Gemälde inspiriert, das ihm vor seinen klassischen Abstraktionen gelungen ist, nämlich Slow Swirl at the Edge of Sea (Mell-ecstatic) (Tafel 5). Sie war jedoch – und darin liegt die Ironie der Situation – eine sehr begabte Illustratorin. Wie mein Vater es angestellt hat, sich mit dieser Tatsache zu arrangieren, ist zu verwickelt, um hier näher darauf einzugehen. Im Großen und Ganzen kann man jedoch gewiss sagen: Die gehässigen Bemerkungen, mit denen er die angewandten Künste in seinem Text immer wieder bedenkt, haben weniger mit seiner Kunstphilosophie zu tun als mit dem Unglück seiner ersten Ehe.

Rothko gibt wiederholt einem starken Gefühl Ausdruck, das uns einen Eindruck von seiner Situation zu diesem Zeitpunkt vermittelt: einem Gefühl der Sehnsucht und des Verlangens, das in seinen Gedanken über die klassische Antike und die Renaissance mitschwingt. Wann immer er sich über die «innere Geschlossenheit» des antiken Weltbildes und dessen klar strukturierte Ordnung auslässt, spürt man, wie sehr diese alte Welt ihn in ihren Bann zieht. Offenbar hätte er nur zu gerne selbst in einem so klar gegliederten Kosmos gelebt. Zwar übt die frühchristliche Welt auf ihn keinen so starken Reiz aus, gleichwohl beneidet er die Künstler jener Jahrhunderte darum, dass sie ebenfalls in einer durch eine klare innere Logik gegliederten Welt zu Hause waren.

Trotzdem kritisiert Rothko wieder und wieder Klassizisten wie Jacques-Louis David, deren Übernahme des klassischen Formenkanons in seinen Augen kaum mehr als belanglose Nostalgie ist. Gerade deshalb mutet es umso merkwürdiger an, dass sich solche nostalgischen Elemente immer wieder auch in Rothkos eigene Philosophie einschleichen. In seinem Kunstschaffen selbst ist von diesem «Heimweh» freilich nichts zu spüren. Zwar greift Rothko in seinen surrealistischen Werken durchaus Motive aus der klassischen Mythologie auf, verwandelt und zerlegt sie aber zugleich so, dass wir nicht nur ihre De-, sondern auch ihre Rekonstruktion auf der Leinwand unmittelbar verfolgen können (Tafel 6). Dieser Rückgriff auf die Antike hat also nicht etwa nostalgische Gründe, er ist vielmehr einzig durch Rothkos Bedürfnisse als moderner Künstler diktiert.

Rothkos nostalgische Sehnsucht nach einem «ganzheitlichen» Wirklichkeitsverständnis hat aber gewiss auch existentielle Ursachen gehabt. Besonders verlockend erscheint ein derart in sich geschlossenes Bild der Wirklichkeit natürlich in einer Welt, die von den Natur- und den Sozialwissenschaften in immer kleinere Bestandteile zerlegt wird und in der gerade ein Krieg tobt, wie es ihn in seiner Destruktivität noch nie zuvor gegeben hat. Man könnte Rothkos Sehnsucht nach einem derart in sich geschlossenen Sinngefüge aber auch als den Versuch deuten, eine beginnende existentielle Krise abzuwehren – einer zusehends entropischen Welt dennoch einen inneren Zusammenhang, einen Sinn abzugewinnen.

Rothko gibt aber noch einem weiteren dringenden Wunsch Ausdruck: Er sehnt sich danach, denselben Status zu genießen wie die Künstler der Renaissance. Ungeachtet seiner Vorbehalte gegenüber den «Fortschritten» der Hochrenaissance bringt Rothko vielen Künstlern dieser Ära große Verehrung entgegen und zollt ihren Leistungen höchste Bewunderung. Vor allem erstaunt ihn jedoch die Bewunderung, ja die Verehrung, die viele dieser großen Gestalten in ihrer eigenen Zeit erfahren haben. Auch hier haben wir es wohl wieder mit einem gewissen Neid des «verkannten» Künstlers Rothko zu tun, der nicht nur von päpstlichen und königlichen Aufträgen ausgeschlossen war, sondern sich in der gerade hinter ihm liegenden Dekade vornehmlich mit Hilfe staatlicher Almosen über Wasser gehalten hatte. Rothko fühlte sich durch diese Abhängigkeit erniedrigt, und seine Verärgerung darüber, dass der Staat ihm vorschrieb, was er als WPA-Künstler zu malen hatte, klingt in seinem Text des Öfteren durch. In diesem Zusammenhang ist auch sein Staunen über die Freiheit des Renaissance-Künstlers zu verstehen, der ungeachtet politischer, ja sogar militärischer Grenzen von einem mächtigen Auftraggeber zum nächsten zieht, wobei Rothko gewiss den Druck unterschätzte, dem diese Künstler vonseiten ihrer Auftraggeber ausgesetzt waren.

Allerdings ist dieser Neid nicht primär materiell bedingt, er entspringt vielmehr Rothkos Wunsch, ebenfalls in solch herrlichen Zeiten zu leben. In seinen Augen hatte die Weltordnung der Renaissance eine inhärente Richtigkeit. Was für ein Traum, genau das zu malen, was man sieht und empfindet, genau das auf die Leinwand zu bringen, was man selbst für die Wahrheit hält, und dafür auch noch gepriesen zu werden. Rothko glaubte nämlich, dass die Künstler jener Zeit von den Mächtigen fortwährend gelobt und von den Massen angebetet wurden wie heute nur noch Fußballstars. Und das war Rothkos größter Wunsch: die Wahrheit so zu malen, wie er sie sah, und dafür von seiner eigenen Zeit geliebt und geachtet zu werden. In der Welt, nach der er sich sehnte, war der Künstler König, dessen Werke das Publikum in freudiger Spannung erwartete.

Dies sind also jene Bereiche, in denen sich uns Rothko ungeschützt präsentiert, wo wir ihn dabei ertappen, wie er Gefühle preisgibt, über die er in seinem Manuskript vermutlich gar nicht sprechen wollte. Bezeichnend ist aber auch, aus welch unterschiedlichen Positionen er sich in seinem Text an den Leser wendet. Eine dieser Positionen ist die des Lehrers. Auch wenn er diesen Standpunkt nicht durchgängig einnimmt, weist er dennoch gelegentlich ausdrücklich auf seine Erfahrungen als Lehrer hin. So gibt er etwa zu verstehen, dass er weiß, wie Kinder in elementaren künstlerischen Entscheidungssituationen reagieren. Ja, er bedient sich sogar der Vorlieben und Reaktionsmuster des Kindes, um die Grundstrukturen des künstlerischen Schaffensprozesses verständlich zu machen. Zugleich ist er sich sehr deutlich der gesellschaftlichen Verantwortung des Lehrers bewusst. So spricht er etwa am Anfang des Kapitels «Indigene Kunst» über kulturell vorgeprägte Einstellungen zur Kunst und erläutert, wie wichtig es ist, diese Prägungen durch eine angemessene Erziehung zu beeinflussen. Im Übrigen befassen sich auch die von Rothko hinterlassenen Papiere, die sich noch im Besitz der Familie befinden, vor allem mit Fragen des Kunstunterrichts. Rothkos sah in seiner Lehrtätigkeit also wesentlich mehr als lediglich einen Broterwerb, er maß ihr sogar eine beträchtliche Bedeutung bei.