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Heinz Fischer (Hg.)
unter Mitarbeit
von Andreas Huber und
Stephan Neuhäuser

100 Jahre Republik

Meilensteine und Wendepunkte
in Österreich 1918–2018

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In Zusammenarbeit mit dem Beirat für das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 des Bundeskanzleramtes der Republik Österreich

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Fischer, Heinz / Huber, Andreas / Neuhäuser, Stephan (Hg.): 100 Jahre Republik.

© 2018 Czernin Verlags GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Vorwort

Heinz Fischer

Die Gründung der Republik (1918)

John W. Boyer

Demokratisierung und Frauenwahlrecht (1918/19)

Birgitta Bader-Zaar

Das Bundes-Verfassungsgesetz (1920)

Thomas Olechowski

»Schattendorf« und Justizpalastbrand 1927. Fragile politische Stabilität und Eruptionen der Gewalt

Gerhard Botz

Der Anfang vom Ende. Österreich 1933/34

Kurt Bauer

»Anschluss« 1938. Geschichte und Gedächtnis

Heidemarie Uhl

Unbeugsame Hunderttausend. Österreicherinnen und Österreicher im Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Gerhard Baumgartner

1945: Befreiung und Geburtsstunde der Zweiten Republik

Ina Markova

Staatsvertrag und Neutralität (1955)

Wolfgang Mueller

»Schmerzliche Anteilnahme«: Österreich und der ungarische Volksaufstand 1956

Manfried Rauchensteiner

Die Ära Klaus 1964–1970

Helmut Wohnout

Prager Frühling 1968 und das Wiener Mai-Lüfterl

Oliver Rathkolb

»Für ein modernes Österreich«. Die Ära Kreisky (1970–1983)

Maria Wirth/Elisabeth Röhrlich

Österreich ergrünt. Die Besetzung der Hainburger Au

Verena Winiwarter/Sophia Rut

Der Fall des Eisernen Vorhangs. Ursachen, Strukturen, Verläufe und Wirkungen

Michael Gehler

Österreichs Weg in die Europäische Union

Christoph Grabenwarter

»Wiedergutmachungs«-Verhandlungen als Störfaktor des österreichischen Opfermythos

Helga Embacher

»Wiedergutmachung«? Das Unmögliche versuchen – Der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus

Hannah M. Lessing/Maria Luise Lanzrath

2001–2010. Unruhe am Beginn – Beruhigung am Ende

Anton Pelinka

Ungeliebte, unsichtbare Minderheit. Zur Geschichte der Kärntner Slowenen bis in die Gegenwart

Brigitte Entner

Anmerkungen

Personenregister

Abkürzungsverzeichnis

Bildnachweis

Autorinnen und Autoren, Herausgeber

Heinz Fischer

Vorwort

Die Frage, wie ein Land mit seiner Geschichte oder mit einzelnen Phasen und Ereignissen seiner Geschichte umgeht, sagt sehr viel über die Befindlichkeit dieses Landes aus. Wann, wenn nicht zum 100. Geburtstag eines Landes, sollte man sich intensiv mit dessen Geschichte auseinandersetzen? Die Geschichte kann sehr dramatisch sein und Emotionen auslösen. Sie kann aber auch Sicherheit und Zuversicht geben. Und in der Praxis trifft man oft beides zugleich an.

In der Regel kann alles, was mehr als 100 Jahre beziehungsweise mehr als drei oder vier Generationen zurückliegt, relativ leidenschaftslos diskutiert werden – es »brennt« nicht mehr auf der Seele, es weckt nicht mehr allzu starke Gefühle und es gibt auch kaum noch direkte oder indirekte Verbindungen (etwa Zeitzeugen) zu den damals handelnden, leidenden oder betroffenen Personen. Je kürzer die Distanz zu historischen Ereignissen ist, umso intensiver sind vielfach noch die Emotionen, umso unterschiedlicher die persönlichen Sichtweisen und Beurteilungen. Das lässt sich auch an unserer eigenen Geschichte studieren, selbst wenn wir seit 1945 auf eine außergewöhnlich lange Zeit einer ruhigen und im Wesentlichen kontinuierlichen Entwicklung zurückblicken.

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Der Übergang von der Monarchie zur Republik, nach einem verlorenen Krieg vor 100 Jahren, war ein dramatischer Einschnitt in der Geschichte unseres Landes. Nicht nur deshalb, weil der Krieg eine entsetzlich große Zahl von Toten und Verletzten zur Folge hatte und die Kriegsteilnehmer mit aufwühlenden Erlebnissen heimkehrten, sondern auch deshalb, weil der Übergang von der Monarchie zur Republik von einem abrupten Abstieg – um nicht zu sagen: Absturz – begleitet war. Aus einer großen jahrhundertealten Monarchie (und führenden Macht Europas mit mehr als 50 Millionen Einwohnern) war eine amputierte, kaum lebensfähige, von den Siegermächten selbstherrlich und herablassend behandelte Republik mit weniger als sieben Millionen Einwohnern geworden. Diese Republik war ihrer wichtigsten wirtschaftlichen Existenzgrundlagen beraubt und auf diese Situation nicht vorbereitet. Zudem untersagten die Siegermächte ihr jenen Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich, den sie (unter den damals gegebenen Umständen) als stärkste Zukunftshoffnung anstrebte.

»Der Staat, den keiner wollte«, wurde die junge Republik später von Hellmut Andics genannt;1 ein Diktum, das allerdings nicht unwidersprochen hingenommen werden kann. Denn es gab auch begeisterte Republikaner – nicht nur weil viele von der Monarchie enttäuscht waren und das Kaiserhaus für den verlorenen Weltkrieg verantwortlich machten, sondern auch weil sie trotz des Chaos der Gegenwart auf eine helle Zukunft, auf die Entwicklung und Festigung der Demokratie, auf eine »neue Gesellschaft« und sogar auf einen »neuen Menschen« hofften.

Zwar gab es zum Zeitpunkt des Überganges von der großen Monarchie zur kleinen Republik in der Bevölkerung unterschiedliche Ideologien, unterschiedliche Ziele, unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Einstellungen zur Staatsform, zur Regierungsform und bei wichtigen Verfassungsfragen (und manche dieser Differenzen haben bis heute Spuren hinterlassen). Aber die schreckliche Notlage zu Kriegsende, der Hunger, der Druck von außen – nicht zuletzt auch die von sehr vielen als Bedrohung empfundene Radikalität der Bolschewistischen Revolution in Russland – veranlassten die Akteure der Jahre 1918/19 zu einem »Burgfrieden«, zu Kompromissen und zu gemeinsamen Anstrengungen. Das gelang aber im Wesentlichen nur für knapp zwei Jahre, also bis zum Ende der ersten Großen Koalition der Sozialdemokraten mit den Christlichsozialen im Sommer 1920. Und die höchst effiziente Arbeit der Konzentrations- beziehungsweise der Koalitionsregierung in der Frühzeit der Republik ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten.

Der erste Jahrestag der Republikgründung am 12. November 1919 wurde noch gemeinsam begangen. Die Konstituierende Nationalversammlung hatte nämlich am 25. April 1919 beschlossen, den 12. November zum »Staatsfeiertag« zu erklären. Aber ein wachsender Teil der Bevölkerung empfand die Republik Österreich, wie sie sich zu Beginn der 1920er Jahre darstellte, nicht als die erhoffte und vertrauenerweckende Heimat, sondern entfremdete sich der jungen Republik immer mehr, wobei es auch viele gab, die weiterhin Hoffnungen in diese junge Republik und ihre engagierte Sozialpolitik setzten. Die Gesellschaft begann sich zu spalten.

Die Kluft zwischen den Lagern wurde aber auch durch den von den Siegern des Weltkriegs diktierten Friedensvertrag von Saint Germain-en-Laye und angesichts der existenzzerstörenden Inflation größer. Die politischen und sozialen Spannungen nahmen weiter zu und erreichten mit den Freisprüchen im »Schattendorfprozess«, dem anschließenden kollektiven Wutausbruch führungsloser Massen, der zum Brand des Justizpalastes führte und in weiterer Folge durch das panikartige Agieren bewaffneter Polizeikräfte, das mehr als 80 Tote zur Folge hatte, einen ersten Höhepunkt an feindseliger Stimmung zwischen links und rechts im neunten Jahr seit der Gründung der Republik.

Dementsprechend »gespalten« gestaltete sich auch der zehnte Jahrestag der Republikgründung am 12. November 1928. Die Sozialdemokratie feierte die Republik enthusiastisch mit einem kämpferischen Aufmarsch auf der Ringstraße und mit der Enthüllung eines Republikdenkmales (zwischen Parlament und Justizpalast), das allein den sozialdemokratischen Republikgründern Victor Adler, Ferdinand Hanusch und Jakob Reumann gewidmet war. Der christlichsoziale Nationalratspräsident Wilhelm Miklas hielt zwar im Parlament eine würdige Ansprache, aber seine Partei verhielt sich insgesamt sehr zurückhaltend zum Zehn-Jahres-Jubiläum der Republikgründung.

Dann folgten bekanntlich die Ausschaltung des Nationalrates im März 1933, der kurze Bürgerkrieg im Februar 1934 und die Errichtung der Kanzlerdiktatur mit 1. Mai 1934. In dieser Phase unserer Geschichte wurde auch der 12. November als Staatsfeiertag wieder abgeschafft. Allein schon aus diesem Grund, aber vor allem auch weil die »Republik Österreich« im März 1938 durch den sogenannten »Anschluss« an Hitlerdeutschland zu existieren aufgehört hatte, konnte der 20. Jahrestag der Republikgründung im November 1938 nicht mehr gefeiert werden. Hingegen erlangte die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sowohl in Wien als auch in anderen »deutschen Städten« durch die brutalen Novemberpogrome gegenüber der jüdischen Bevölkerung traurige Berühmtheit.

Obwohl der Zweite Weltkrieg und die Diktatur Hitlers im Jahr 1945 zu Ende gingen und Österreich »in den Grenzen von 1938« wiederhergestellt wurde, konnte auch am 12. November 1948 der 30. Jahrestag der Republikgründung nicht als »Staatsfeiertag« gefeiert werden. Denn der alte Staatsfeiertag war 1934 abgeschafft worden, aber ein neuer Staatsfeiertag zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefunden, geschweige denn beschlossen worden. Zwar veranstaltete die Sozialistische Partei Österreichs rund um den 12. November 1948 in Wien einen Parteitag, in dessen Programm auch eine Republikfeier im Großen Musikvereinssaal eingebaut war, bei der Bundespräsident Karl Renner eine leidenschaftliche Gedenkrede hielt, in der er die Gründung der Republik vor 30 Jahren würdigte. In dieser Zeit wurde aber auch diskutiert, ob man nicht – um den Vorbehalten gegenüber dem 12. November entgegenzukommen – einfach den Gründungstag der Zweiten Republik, also den 27. April 1945, zum neuen Staatsfeiertag machen sollte. Dieses Datum war ja auch mit dem Ende der NS-Diktatur und dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbunden, aber ein weiteres Faktum, nämlich der Beginn der Besetzung Österreichs durch Soldaten der vier Alliierten Mächte im Frühjahr 1945, war ein Wermutstropfen, der im Verlaufe der Zeit immer mehr Gewicht bekam.

Es ist etwa interessant, zu beobachten, dass sich Bundekanzler Leopold Figl in seiner ersten Regierungserklärung im Nationalrat am 21. Dezember 1945 direkt an die in einer Loge des Sitzungssaales anwesenden Hochkommissare der vier Alliierten Mächte wandte und sich bei ihnen überschwänglich für die Befreiung Österreichs bedankte, worauf alle Mitglieder des Nationalrates sich von den Sitzen erhoben und den Hochkommissaren stehende Ovationen darbrachten. Eine solche Szene wäre einige Jahre später, nach einschlägigen Erfahrungen mit den Lasten und Problemen durch Besatzungssoldaten (vor allem in der sowjetischen Zone), nicht mehr denkbar gewesen.

Umso größer war daher der Jubel, als im Frühjahr 1955 die zehnjährigen Verhandlungen über den Abschluss des österreichischen Staatsvertrages positiv beendet werden konnten und am 15. Mai 1955 der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet wurde. Wie ansteckend und befreiend dieser Jubel war, habe ich noch in guter persönlicher Erinnerung, weil ich an diesem Sonntag als Gymnasiast mit meinem Fahrrad von Hietzing zum Belvedere gefahren bin und vor dem Belvedere inmitten einer großen Menschenmenge der berühmten Szene auf dem Balkon mit Figl und den Außenministern der vier Signatarstaaten heftigen Beifall gespendet habe.

Tatsächlich hat Leopold Figl die berühmten Worte »Österreich ist frei« zweimal ausgesprochen: Zunächst in der schon erwähnten Regierungserklärung am 21. Dezember 1945 als Bundeskanzler, und ein zweites Mal nach der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages am 15. Mai 1955 als Außenminister – und beide Male hatte er recht, wenngleich es sehr unterschiedliche Unfreiheiten waren, aus denen das Land befreit wurde. Denn von 1938 bis 1945 gab es in Österreich eine unmenschliche totalitäre Diktatur und fast sechs Jahre Krieg, und von 1945 bis 1955 gab es in Österreich Demokratie und keinen Krieg und eine mit dem Zweiten Alliierten Kontrollabkommen immer unabhängiger werdende österreichische Regierung.

Zwei Daten im Jahr 1955 hatten besondere Relevanz: Der soeben erwähnte 15. Mai, an dem der österreichische Staatsvertrag im Belvedere unterzeichnet wurde, und der 25. Oktober 1955, an dem der letzte ausländische Besatzungssoldat nach den Bestimmungen des Staatsvertrages das Gebiet der Republik Österreich verlassen musste. Somit war der 26. Oktober 1955 der erste Tag seit dem »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland, an dem ein freies, selbstständiges und demokratisches Österreich frei von Soldaten fremder Mächte war und außerdem das Verfassungsgesetz über die österreichische Neutralität beschlossen wurde.

Zu diesem Zeitpunkt begann die Diskussion über einen österreichischen Staats- oder Nationalfeiertag intensiver zu werden. Vier historische Daten kamen diesbezüglich in die engere Wahl:

Die Rückkehr zum 12. November, also dem Tag der Gründung der Republik im Jahr 1918.

Der 27. April (1945) als der Tag der Befreiung von der Naziherrschaft und Tag der Gründung der Zweiten Republik.

Der 15. Mai (1955) als Tag, an dem der Österreichische Staatsvertrag unterzeichnet wurde.

Der 26. Oktober (1955) als der erste Tag der Freiheit von ausländischen Besatzungssoldaten und Tag der Beschlussfassung über das Bundesverfassungsgesetz betreffend die immerwährende Neutralität Österreichs.

Jede dieser vier Varianten hatte ihre Vorteile und ihre Nachteile.

Es war der damalige Unterrichtsminister Heinrich Drimmel, der im Herbst 1955, zu einem Zeitpunkt, als die letzten ausländischen Besatzungstruppen noch in Österreich waren, in einem Erlass anordnete, den 25. Oktober (und nicht den 26. Oktober!) an Österreichs Schulen durch das feierliche Hissen der österreichischen Fahne so zu begehen, dass die Bedeutung dieses Tages »von der Jugend tief und unverlierbar erfasst wird«. Daraus entwickelte sich zunächst ein »Tag der Fahne«, und schon im nächsten Jahr (1956) beschloss der Ministerrat – neuerlich auf Antrag von Unterrichtsminister Drimmel –, alljährlich den 26. (!) Oktober in ganz Österreich als »Tag der Österreichischen Fahne« feierlich zu begehen.

Der Wechsel vom 25. zum 26. Oktober sollte die Bedeutung der Neutralitätserklärung besonders unterstreichen. Dementsprechend hieß es in der Begründung des Antrages an den Ministerrat noch vorsichtig, dass der Tag der Fahne, »ohne einen neuen Staatsfeiertag schaffen zu wollen«, die Bedeutung des Wiedererstehens Österreichs als selbstständiger, neutraler Staat sowie den Tag der Beschlussfassung über das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs im Nationalrat würdigen soll.2 Dieser Zustand blieb mehrere Jahre aufrecht, aber der Umstand, dass Österreich zwar einen Tag der Fahne hatte, aber – zum Unterschied von den allermeisten anderen Staaten – keinen vollwertigen Staats- oder Nationalfeiertag, wurde immer deutlicher hinterfragt. Dazu kam, dass in den frühen 60er Jahren die Diskussion darüber, ob es überhaupt eine österreichische Nation gibt, oder ob die ÖsterreicherInnen nicht vielmehr – wie das noch 1918 gesehen wurde – Teil der deutschen Nation sind, sich wieder stärker bemerkbar machte (siehe z. B. die Theorien des damaligen Hochschulprofessors Taras Borodajkewycz).

Mitte der 1960er Jahre kam es daher auf mehreren Ebenen und in verschiedensten Formen zu einer breiten Diskussion über das Wesen und das optimale Datum eines österreichischen Nationalfeiertags, und obwohl keines der in Frage kommenden Daten – wie schon erwähnt – völlig frei von Einwendungen blieb, setzte sich schließlich der 26. Oktober durch. Tatsächlich beschloss der österreichische Nationalrat am 25. Oktober 1965 – also im letzten vollständigen Jahr der ersten, von 1945 bis April 1966 dauernden Phase der Großen Koalition – einstimmig, den 26. Oktober zum Nationalfeiertag zu erklären.3

Offenbar hatten aber schon in dieser Zeit in der FPÖ intern unterschiedliche Meinungen zu einem österreichischen Nationalfeiertag geherrscht, denn als knapp zwei Jahre später, am 28. Juni 1967, der österreichische Nationalfeiertag durch ein Bundesgesetz zum gesetzlichen, arbeitsfreien Feiertag erklärt wurde, stimmten die FPÖ-Abgeordneten dagegen und bezeichneten die österreichische Nation als »Retortengeburt« (Abgeordneter Gustav Zeillinger) oder als »erfundene und konstruierte Nation« (Abgeordneter Otto Scrinzi), wobei Klubobmann Friedrich Peter die damalige Position der FPÖ folgendermaßen zusammenfasste: Die FPÖ bekennt sich zu einem Staatsfeiertag, sie kann sich aber »nicht zu einem sogenannten österreichischen Nationalfeiertag bekennen, der neue Gräben zwischen den Bevölkerungsteilen dieses Landes aufreißt. Die freiheitliche Fraktion kann sich darüber hinaus nicht zu einem österreichischen Nationalfeiertag bekennen, der nichts anderes als eine Abkehr von der historischen Wahrheit darstellt. Aus diesem Grunde sagt die freiheitliche Fraktion zum österreichischen Nationalfeiertag nein.«4

In der Zwischenzeit hat sich die Idee eines österreichischen Nationalfeiertages aber voll durchgesetzt. Und dennoch steht im Jahr 2018 nicht der 26. Oktober (also der 63. Jahrestag der Beschlussfassung des Neutralitätsgesetzes) im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern der 100. Jahrestag der Gründung unserer Republik und der 80. Jahrestag des sogenannten »Anschlusses« an Hitlerdeutschland.

Zu feiern ist, dass diese anfangs so leidgeprüfte und zwischenzeitlich sogar untergegangene und von der Landkarte ausradierte Republik im April 1945 wiedererstanden ist, wieder aufgerichtet werden konnte und sodann ihren eigenen Weg durch die Geschichte gefunden hat und heute, im Jahr ihres 100. Geburtstages, als gefestigte Demokratie mit vielen positiven Eigenschaften ein angesehenes Mitglied der EU und der internationalen Völkerfamilie ist.

Auf dem nunmehr 73-jährigen Weg durch die Zweite Republik sind zweifelllos der Abschluss des Staatsvertrages im Jahre 1955 und der Beitritt zur EU mit 1. Jänner 1995 die markantesten Daten, denen in diesem Buch ebenfalls Beiträge gewidmet sind. Und es werden auch anderen wichtigen Entwicklungen der Ersten und Zweiten Republik, wie zum Beispiel der Kelsen-Verfassung, der Ungarnkrise (1956), der ersten ÖVP-Alleinregierung in der Zweiten Republik von Josef Klaus (1966–1970), der Regierung Kreisky (1970–1983), der Krise rund um das geplante Kraftwerk in Hainburg (1984), dem Fall des Eisernen Vorhangs (1989), dem EU-Beitritt Österreichs (1995), dem besonderen Thema der sogenannten Wiedergutmachung, der Minderheitenproblematik in Österreich und dem ersten Jahrzehnt im 21. Jahrhundert Beiträge gewidmet. Aber die Jubiläumsjahre, mit denen wir uns heuer besonders befassen, sind eben die sogenannten »8er Jahre«, und daher nach 1848, 1918 und 1938 auch das Jahr 1948 (Beschlussfassung der internationalen Menschenrechtsdeklaration) 1968, das Jahr des brutal niedergeschlagenen Prager Frühlings, der für die weitere historische Entwicklung in Europa große Bedeutung hatte.

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Wenn wir heuer den 100. Geburtstag der Republik feiern, muss hinzugefügt werden, dass Österreich natürlich nicht erst im Jahr 1918 seinen Anfang nahm, sondern auf eine sehr lange Geschichte zurückblickt. Wer der Meinung ist, dass man aus der Geschichte lernen kann und dass die Vergangenheit auf die Gegenwart Einfluss hat, der muss sich bewusst sein, dass auch die Vergangenheit von der Vorvergangenheit mit geprägt und beeinflusst wird.

Insofern ist es logisch, anlässlich des 100. Geburtstages unserer Republik auch das Revolutionsjahr 1848 ins Auge zu fassen, die Staatsgrundgesetze von Dezember 1867 nicht unbeachtet zu lassen und die Kontinuität des Parlamentarismus und des Parteiensystems bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückzuverfolgen. Auch die Vorgeschichte des 1907 durchgesetzten, allgemeinen Wahlrechts für Männer oder des im Jahr 1918 beschlossenen Frauenwahlrechts reicht bis weit in das 19. Jahrhundert zurück.

Bei den 23 Autorinnen und Autoren der Beiträge in diesem Buch handelt es sich um eine sorgfältig ausgewählte Mischung zwischen verschiedenen Generationen, zwischen jungen, vielversprechenden Wissenschaftlern und erfahrenen Persönlichkeiten, zwischen Männern und Frauen, zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Auffassungen und Lehrmeinungen, wobei auch mehrere Mitglieder des von der Bundesregierung eingesetzten Beirates zur Vorbereitung des Gedenk- und Erinnerungsjahres 2018 Beiträge für dieses Buch geliefert haben.

Dieses Vorwort schafft die Gelegenheit, mich bei allen Autorinnen und Autoren dieses Buches sehr herzlich zu bedanken, ganz besonders auch bei Andreas Huber und Stephan Neuhäuser, die einen Großteil der mit der Herausgabe des Buches verbundenen Arbeit geleistet haben. Gleichzeitig wünsche ich dieser Publikation eine gute Aufnahme in der Öffentlichkeit und darf der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die Bemühungen zu einer würdigen und sinnvollen Gestaltung des Gedenk- und Erinnerungsjahres 2018 Früchte tragen, die sich auf die Zukunft unseres Landes positiv auswirken.

Wien, Februar 2018

Heinz Fischer

Anmerkungen

1Hellmut Andics, Der Staat, den keiner wollte. Österreich 1918–1938, Wien 1962.

2Gustav Spann, Zur Geschichte des österreichischen Nationalfeiertages, in: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport. Abteilung Politische Bildung (Hg.), 26. Oktober. Zur Geschichte des österreichischen Nationalfeiertages, Wien o. J., 27–34.

3Siehe Stenographisches Protokoll der 89. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, X. Gesetzgebungsperiode, 25. 10. 1965.

4Ebd., 62. Sitzung, XI. Gesetzgebungsperiode, 28. 6. 1967, 4882.

John W. Boyer

Die Gründung der Republik (1918)

Der Zusammenbruch der Monarchie

Die österreichische Revolution im Herbst 1918 nahm ihren Ausgang in den Räumen des Niederösterreichischen Landhauses in der Wiener Herrengasse, wo sich sieben Jahrzehnte zuvor die Revolutionäre von 1848 versammelt hatten. Am 21. Oktober 1918 trat dort die Provisorische Nationalversammlung zusammen, um über eine Regierung zu beraten, die dem Regime Kaiser Karls nachfolgen sollte. Diese Provisorische Nationalversammlung bestand aus 210 Abgeordneten. Sie kamen aus Wien, den in den Alpen gelegenen Kronländern sowie aus den deutschsprachigen Gebieten in Böhmen, Mähren und Schlesien und waren bereits 1911 in den Reichsrat der alten Monarchie gewählt worden. Die Provisorische Nationalversammlung vereinigte legislative und exekutive Gewalt, überließ aber die eigentliche Verwaltungstätigkeit einem »Vollzugsausschuss« (dieser wurde am 30. Oktober in »Staatsrat« umbenannt). Der Staatsrat hatte einen rotierenden Vorsitz, der von den drei dominierenden politischen Parteien – also abwechselnd von der Sozialdemokratischen, der Christlichsozialen und der Großdeutschen Partei – besetzt wurde. Im Zuge der folgenden zehn Tage bis zum 31. Oktober sollte der Staatsrat nach und nach sämtliche bisherige Aufgaben und Zuständigkeiten des Kaisers übernehmen. Der Staatsrat ernannte Karl Renner zum Leiter der Staatskanzlei und Julius Sylvester zum Staatsnotar; gemeinsam mit den drei Vorsitzenden bildeten sie das Staatsdirektorium. Am 30. Oktober 1918 ernannte der Staatsrat außerdem die Staatssekretäre, die zusammen de facto als Ministerrat agierten. Einer der wichtigsten Posten im Staatsrat war der des Staatssekretärs des Äußeren, der mit Victor Adler besetzt wurde (dem sehr bald Otto Bauer folgen sollte), Heinrich Mataja übernahm das Innen- und Otto Steinwender das Finanzressort.

Die führenden Köpfe der Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen lehnten die Auffassung Kaiser Karls ab, dass sie aufgrund des kaiserlichen »Völkermanifests« vom 16. Oktober als Abgeordnete des Reichsrats tätig wären. Vielmehr bestanden sie darauf, genauso wie Tschechen, Südslawen oder Polen, bereits als legitime Regierung mit Exekutivgewalt an der Umsetzung einer neuen politischen Ordnung zu arbeiten.1

In wenigen Tagen etablierte sich der Sozialdemokrat Karl Renner faktisch als Regierungschef. Der Grund dafür war die Vorsitzführung Renners während der ersten gemeinsamen Sitzung der Staatssekretäre am 31. Oktober – eine Position, die er nicht mehr abgab.2 Renner wies sein Büro an, dem Staatsrat regelmäßige Politikberatung sowie detaillierte administrative Handlungsanweisungen zukommen zu lassen; umgehend wurde er als »Staatskanzler« bezeichnet.3

Der endgültige Untergang der Monarchie kann mit dem Morgen des 11. November 1918 festgesetzt werden, als Kaiser Karl das von Renner, Ignaz Seipel und Josef Redlich formulierte Memorandum unterzeichnete, in dem er auf »jeden Anteil an den Staatsgeschäften« verzichtete, was einer Abdankung gleichkam. Am nächsten Tag wurde von der Provisorischen Nationalversammlung das von Karl Renner entworfene Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich angenommen. Dieses definierte den neuen Staat als demokratische Republik innerhalb (als »Bestandteil«) der Deutschen Republik (die bereits am 9. November proklamiert worden war). Die Modalitäten des Anschlusses an das republikanische Deutschland sollten wohl im Verhandlungsweg vereinbart werden.4 Die allgemeine Zustimmung zur Errichtung einer Republik war Anfang November 1918 überwältigend und machte jegliche Diskussion über ein allfälliges Beibehalten der monarchischen Staatsform hinfällig. Sogar die Wiener Christlichsozialen, von denen der Großteil von der monarchischen Staatsform zutiefst überzeugt war, mussten die Republik akzeptieren. Der deutschnationale Abgeordnete der Provisorischen Nationalversammlung Robert Freissler erinnerte sich retrospektiv daran, dass sich »jeder […] klar darüber [war], dass die einzige Möglichkeit, den Staat und seine Einrichtungen vor Zertrümmerung zu bewahren, in dem augenblicklichen Bekenntnis zur Republik lag«.5

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Hofzug mit Exkaiser Karl und seiner Familie auf dem Weg in die Schweiz, Station Eckartsau bei Kopfstetten, 24. März 1919

Die Ereignisse des Herbstes 1918, die in hohem Tempo über die Parteiführer hereinbrachen, ließen diese mitunter ratlos zurück, statteten sie aber mit Macht und umfangreicher Verantwortung aus. Mit dem Untergang des habsburgischen Regimes endete auch der autoritäre Regierungsstil, und endlich konnten die Massenparteien die Kontrolle übernehmen. Zum allerersten Mal in seiner Geschichte sollte das österreichische Volk von Volksvertreterinnen und -vertretern regiert werden, die aus demokratischen und gleichberechtigten Parlamentswahlen hervorgingen. Die von allen großen politischen Parteien getragene nationale Revolution hatte allerdings für die Sozialdemokraten einen beunruhigenden Aspekt, wie ein englischer Zeitzeuge berichtete:

Sie »mussten die Republik, die ihnen wie eine überreife Birne in den Mund gefallen war, gegen innere und äußere Feinde verteidigen […]; sie waren nicht stark genug, die Republik alleine ohne Koalitionen mit den nicht sozialistischen Parteien zu regieren, die ihre erbittertsten Feinde waren. Das bedeutete den kapitalistischen Staat in dem Moment anzuerkennen, in dem viele glaubten, dass er – ohne diese Koalition – gestürzt werden könnte; sie abzulehnen, hätte bedeutet, Reaktionen zu riskieren.«6

Das aufgegebene Wien

Die Entscheidung, einen neuen deutsch-österreichischen, republikanischen Staat zu gründen, wurde nach einem viereinhalb Jahre dauernden blutigen Krieg getroffen, der den Staat nachhaltig geschwächt und Millionen Tote und Verletzte gefordert hatte. Trotzdem hofften noch Ende September 1918 zahlreiche Politiker aus den deutschsprachigen Teilen des Kaiserreichs auf den Erhalt der Monarchie, insbesondere in ihren alten Grenzen und damit auch in geopolitischer Hinsicht. Im Oktober 1918 fanden alle diese Hoffnungen ihr schmerzliches Ende. Schwer wog in diesem Zusammenhang die Antwort des amerikanischen Außenministers Robert Lansing auf das österreichisch-ungarische Friedensangebot vom 7. Oktober 1918: Lansings Note stellte das Existenzrecht der Monarchie durch die explizite Anerkennung der Tschechoslowakei als kriegsführende Macht und Bündnispartner der Alliierten unmissverständlich in Frage.7

Zeitgenössische Polizeiberichte aus den letzten Oktoberwochen 1918 betonen die Kriegsmüdigkeit und Verbitterung der Bevölkerung, den weit verbreiteten Wunsch nach Frieden sowie die grassierende Hungersnot. Die Lebensmittelknappheit trug besonders zur Sorge und Verzweiflung in weiten Kreisen der Bevölkerung bei.8 Die Unterernährung wurde durch den Ausbruch einer aggressiven Influenza-Epidemie zusätzlich verschärft. Ihren Höhepunkt erreichte diese »Spanische Grippe« nur wenige Wochen vor der Revolution und führte, auch weil es an Medikamenten und ärztlichem Personal mangelte, zu Hunderten Toten.9 Abgesehen von lokalen Polizeikräften war jegliche staatliche Autorität verschwunden, niemand fühlte sich für ein geregeltes Vorgehen gegen die Auswüchse der Krise verantwortlich, Verordnungen wurden bedeutungslos – die Beamtenschaft war zutiefst verunsichert und praktisch handlungsunfähig. Der für Ernährungsfragen zuständige Spitzenbeamte Hans Loewenfeld-Russ schrieb am 20. Oktober 1918 an seine Eltern:

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Massendemonstration vor dem Parlament anlässlich der Ausrufung der Republik Deutschösterreich am 12. November 1918

»Man hat die Empfindung, im luftleeren Raum zu amtieren, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Jede Arbeit scheint einem überflüssig, weil durch den Gang der Ereignisse überholt. Österreich scheint durch eine russische Elendszeit durch zu müssen, es wird ihm nicht erspart bleiben, wenn auch später der Staat in anderer Form wieder aufstehen wird. Diejenigen aber, die diese schreckliche Zeit jetzt mitmachen müssen, und wir stehen erst am Beginn, fiebern jede Stunde, die der Tag bringt […]. Ich habe nur die Sehnsucht: fort, wenn es ginge.«10

Im kriegsmüden und verängstigten Wien fanden sich außerdem Massen an zurückströmenden Soldaten ein, die sich an allen Ecken der Stadt versammelten und politisierten. Zahlreiche Flüchtlinge und frühere Kriegsgefangene belasteten die Stadt zusätzlich. Die Polizei berichtete, dass kaiserliche Insignien und Orden auf den Uniformen der Soldaten in der Zivilbevölkerung unverhohlene Aggressivität auslösten. Zur gleichen Zeit desertierte der Großteil der regulären Truppe der Wiener Garnison, die unter dem Kommando General Johann von Mossigs stand, und überließ der Polizei die Kontrolle über die brodelnde Stadt.11 Vermutlich verhinderten das Wetter – während der ersten Novembertage regnete es – und die allgemeine physische Ermattung der Bevölkerung während der Frühphase der Revolution eine Eskalation der Gewalt auf der Straße.12 Wien war herrenlos geworden, die Bewohner versteckten sich hinter ihren verschlossenen Wohnungstüren, während Grüppchen von Agitatoren jeden schikanierten und beschimpften, der mit der Staatsgewalt in Verbindung gebracht werden konnte; aufgebrachte und verängstigte ehemalige Soldaten, die mit den Kommunisten sympathisierten, schlossen sich den Roten Garden an und zogen durch die Straßen. Die ganze Stadt war, wie sich Loewenfeld-Russ ausdrückte, ein »schrecklicher Wirrwarr«.13

Die zentrale Bedeutung Renners

Die Konstituierung des Staatsrates und die Proklamierung der Republik boten die Grundlage für die Errichtung einer funktionierenden Regierung als auch für die Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919, die am 1. Oktober 1920 die endgültige Verfassung der Republik annahm. Karl Renners Führungsqualitäten waren von entscheidender Bedeutung für die ersten beiden Jahre der jungen Republik: Renner moderierte zwischen Zentralregierung und den Ländern, die zu extremem Föderalismus tendierten. Er entwickelte die Vision einer alle Klassen inkludierenden demokratischen Republik des Bürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiter. Seine Verhandlungstaktik war aber innerhalb der eigenen Partei nicht immer unumstritten und wurde insbesondere von der Parteilinken kritisiert, die Renner bereits während des Weltkrieges misstraut hatte und in ihm einen Repräsentanten des Ancien Régime sah. Renner lud bereits im November 1918 den jungen, an der Universität Wien tätigen Juristen Hans Kelsen in seinen Mitarbeiterstab ein, um Unterstützung in Verfassungsangelegenheiten zu bekommen. Renner beauftragte Kelsen im Mai 1919 offiziell mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für eine neue Verfassung. Und es war wiederum Renner, der die definitive Fassung des Staatsvertrags von Saint-Germain-en-Laye mit den Alliierten koordinierte, verhandelte und den Vertrag für die Republik Österreich signierte. Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags wurde der Kriegszustand am 10. September 1919 offiziell beendet und der Anschluss an Deutschland endgültig untersagt. Nicht zuletzt führte Renner den neuen Staat knapp zwei Jahre lang durch massive ökonomische, fiskalpolitische und kulturelle Verwerfungen, konfrontiert mit einer Unzahl von unlösbar scheinenden politischen Herausforderungen. Letztere oszillierten zwischen der Bewältigung des Alltags (Währungsverfall, Inflation, Arbeitslosigkeit, Energieversorgung, Lebensmittel- und Kleiderknappheit usw.) und der hohen Politik (heftige Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Bedeutung kollektiver und individueller Rechte im Friedensvertrag sowie in der österreichischen Verfassungsdebatte).

Die Revolution in Österreichs Geschichte

Welche Bedeutung hatte die Revolution? War sie von besonderen Wesensmerkmalen geprägt? Vor der Beantwortung dieser Fragen soll zunächst auf einige Besonderheiten hingewiesen werden: Erstens begann die Gründung der Republik als politisch-nationaler Verteidigungsakt, was die Bereitschaft der Wiener Sozialdemokratie zur Zusammenarbeit in einer politischen Koalition erklärt, der unter anderem auch deutschnationale Fraktionen aus Böhmen und Mähren sowie Repräsentanten der Christlichsozialen Partei aus den deutschsprachigen Kronländern angehörten. Allerdings war diese nationale Revolution von starken sozialen und kulturellen Spannungen geprägt, die anfangs auf die ehrgeizigen Ambitionen der Sozialdemokratie zurückzuführen waren, die sich für einen radikalen institutionell-legistischen Systemwechsel einsetzte, der insbesondere die Rechte der urbanen Arbeiterschaft stärken sollte. Ferdinand Hanuschs Sozialstaatsprogramm und die darauf beruhenden Gesetze sind ein Kind dieser Zeit, genauso wie die Etablierung der Sozialisierungskommission oder das Gesetz zur Einrichtung von Betriebsräten vom 15. Mai 1919.14 Allerdings stießen diese ambitionierten Vorhaben gegen Jahresende 1919 auf einen wachsenden, massiven Widerstand, der einerseits von verängstigten und verbitterten bürgerlichen Kreisen in Wien und anderen österreichischen Städten und – besonders heftig – von der ländlichen Bevölkerung getragen wurde. Bereits im Verlauf des Jahres 1919 hatte Ignaz Seipel gemeinsam mit der Wiener Fraktion der Christlichsozialen Partei eine entschlossene Kampagne gegen die von Renner geführte »große Koalition« begonnen. Seipels allmählicher Aufstieg zum unnachgiebigen Führer der Christlichsozialen Partei nahm 1919 seinen Anfang und läutete ein Jahrzehnt der Konflikte zwischen der politischen Linken und Rechten ein. Die nationale Revolution war zwar vorüber, aber die Auffassungsunterschiede über die (unfertige) Revolution von 1918 bis 1920 blieben und führten regelmäßig zu hitzigen öffentlichen Debatten und emotionalen Konflikten, die direkt in den Bürgerkrieg von 1934 mündeten.

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Karte von Deutschösterreich entsprechend den Vollzugsanweisungen des Deutschösterreichischen Staatsrates vom 3. Jänner 1919

Zweitens fußte die Gründung der Republik auf der vagen und unsicheren Hoffnung, dass der neue Staat auch die deutschsprachigen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens umfassen würde – als »Deutschböhmen« beziehungsweise »Sudetenland«. Folgerichtig verabschiedete die Provisorische Nationalversammlung am 22. November 1918, also zehn Tage nach Ausrufung der Republik, ein Gesetz, das diese Gebiete zu einem Teil des neuen Staates erklärte.15 Allerdings war der Großteil der von Deutschösterreich beanspruchten Gebiete in Böhmen, Mähren und Schlesien von tschechischen Truppen besetzt, sodass dort die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 nicht durchgeführt werden konnten. Deshalb blieben von 255 Parlamentssitzen 85 frei, die – entsprechend den Wahlergebnissen von 1911 – größtenteils dem deutschnationalen Lager zuzurechnen gewesen wären. Mit Unterstützung der Entente gelang es den Tschechen, gewissermaßen einem Teil der revolutionären Wiener Dreierkoalition die soziale Basis zu entziehen, indem das Kernland des alten Deutschen Nationalverbands in der Tschechoslowakei verblieb. Das führte dazu, dass der jungen Republik die Option einer starken, nicht klerikalen bürgerlichen Kraft, die um die Jahrhundertwende einen Teil des Erbes des alten Liberalismus angetreten hatte, entzogen wurde. Im Dezember 1918 bezeichnete Josef Redlich die »deutsch-böhmische Frage« treffend als »sedes mali« der modernen österreichischen Geschichte, ein Problem, das erst mit den Wahlen von 1919 gelöst werden konnte.16 Auf indirekte Weise hatten die Westalliierten also das bipolare politische System Österreichs erschaffen, das auf den beiden großen ideologischen Milieu-Parteien des späten 19. Jahrhunderts beruhte – der Christlichsozialen und der Sozialdemokratischen Partei –, die die österreichische Politik bis in die 1980er und 1990er Jahre prägen sollten.17 Zwar war diese Bipolarität im Oktober 1918 noch nicht zwingend vorgezeichnet, aber der alte triadische Charakter der österreichisch-deutschen Politik, der sich seit den frühen 1880ern herausgebildet hatte, war jedenfalls vorüber.

Drittens führten die letzten Monate des Krieges zu einem dramatischen Verfall des Ansehens der Herrscherdynastie, sodass der Antimonarchismus ein bestimmender politisch-kultureller Faktor auf Seiten der österreichischen und insbesondere der Wiener Linken bis weit in das 20. Jahrhundert hinein blieb. Die Entscheidung der Konstituierenden Nationalversammlung vom 3. April 1919, das sogenannte Habsburgergesetz anzunehmen, aufgrund dessen der ehemalige Kaiser Karl und dessen Familie des Landes verwiesen und das habsburgische Vermögen enteignet wurde, zeigt das ausgeprägte Unbehagen der Sozialdemokratie mit der unvollständigen Abdankung des Kaisers und der fehlenden Einigung über dessen Vermögensverhältnisse. Außerdem verdächtigten die Sozialdemokraten die Habsburger, das Ende der Monarchie nicht akzeptiert zu haben (nicht ganz zu Unrecht, wie der ehemalige Kaiser Karl bei seiner Ausreise in die Schweiz bewies, als er den Thronverzicht vom 11. November 1918 im sogenannten Feldkircher Manifest vom 23./24. März 1919 widerrief).18 Das Habsburgergesetz ist aber auch Ergebnis des massiven Verfalls des Ansehens der Dynastie in der öffentlichen Meinung während der letzten Kriegsjahre. Betrachtet man die große Anzahl von Gerüchten und Witzen, die ab Winter 1917 beziehungsweise Frühling 1918 über den jungen Kaiser, seine Frau Zita, die Regierung und über die immer wahrscheinlicher werdende Niederlage der Mittelmächte zirkulierten, war Respekt für das kaiserliche Regime rar. Die Situation verschlimmerte sich bis Juli 1918 derart, dass sich der Innenminister zu einer vertraulichen Anweisung an die Statthalter in den Kronländern gezwungen sah, Personen auszuforschen, die »abscheuliche Gerüchte« über den Kaiser verbreiteten.19 Der deutsche Botschafter Graf Wedel berichtete am 26. Oktober 1918 nach Berlin, dass er mit führenden österreichischen Politikern gesprochen habe, die Karl als »zur Regierung nicht geeignet« und die Erzherzöge als »Drohnen«, die den Staat belasteten, bezeichnet hätten.20

Noch im Juni 1914 beruhte das politische System des habsburgischen Staates auf dem moralischen Kompass, dem »Gottesgnadentum« und der Reputation des Herrschers, der die strukturelle Einheit des Staates und dessen streng hierarchischen Aufbau garantierte, der sozialen Status, Rang und Ansehen bestimmte. Knapp fünf Jahre später, im April 1919, schienen die Österreicher im Gegensatz geradezu versessen darauf, die Gespenster der Vergangenheit, nämlich von Kaiser Karl und dessen Vorfahren, zu vertreiben.21 Diese Besessenheit spiegelte sich in den unermüdlichen Bemühungen der Sozialdemokratie, die Habsburger aus der österreichischen res publica auszuschließen, um das Rätsel der Revolution vom 12. November zu lösen: War das neue Österreich Rechtsnachfolger der alten Monarchie oder, wie es vor allem Hans Kelsen hartnäckig vertrat, doch ein völlig neuer Staat, der mit der imperialen Vergangenheit formalrechtlich nichts zu tun hatte?22

Der Erste Weltkrieg markiert einen tiefen Einschnitt in der österreichischen Geschichte; am Ende des Krieges standen eine Revolution und eine Republik, die sich auch ohne Blutvergießen und Gewalt durchsetzten. Der stille Krieg, den die kaiserliche Regierung und insbesondere die österreichische Armee gegen die eigene Bevölkerung geführt hatte, machte den Zusammenbruch des Regimes unvermeidbar. Abgesehen von den auseinanderstrebenden Ethnien der Monarchie und der Einflussnahme fremder Mächte, sind die dramatischen Ereignisse im Oktober und November 1918 nicht zu verstehen, ohne die weitreichende soziale und psychologische Implosion innerhalb der österreichischen Zivilbevölkerung zu berücksichtigen. Letztere wurde durch die völlige Inkompetenz des dynastischen Staates selbst herbeigeführt. Es waren nicht die Völker des Vielvölkerstaates, die das Kaiserreich zerstörten. Vielmehr hatte der dynastische Staat seine eigene Glaubwürdigkeit verspielt und damit den verschiedenen Nationen von sich aus den Weg in die Unabhängigkeit geebnet. In Anbetracht des sozialen Chaos Ende Oktober 1918 sind die Bemühungen Karl Renners, gemeinsam mit seinen Kollegen quasi über Nacht eine neue republikanische Regierung aus dem Boden zu stampfen, als umso bewundernswerter einzuschätzen. Es galt, nicht nur die Monarchie durch eine Republik zu ersetzen, sondern vielmehr auch eine ganze Reihe neuer staatlicher Institutionen zu schaffen, die nun unter der Kontrolle dStaates leisten derer beiden Massenparteien standen. Zugleich mussten diese Politiker die legitime öffentliche Ordnung auf der Basis des neutralen Rechtsstaates wiederherstellen, dessen Grundlagen bereits in der Monarchie gelegt worden waren. Dieses Dilemma – nämlich der Konkurrenzkampf um die Weiterentwicklung des staatlichen Gemeinwohls, der erbittert und mit extremer ideologischer Parteilichkeit geführt wurde – sollte die neue Republik noch jahrzehntelang prägen.

Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Neuhäuser

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An das deutsche Volk in Österreich! Die deutsche Nationalversammlung hat gestern das provisorische Grundgesetz des neuen deutschösterreichischen Staates beschlossen. Auf der Grundlage dieses Gesetzes hat sie den Staatsrat gewählt, der nunmehr die Regierungs- und Vollzugsgewalt in Deutschösterreich übernimmt. Der Staatsrat wird unverzüglich die erste deutschösterreichische Regierung ernennen, die die Friedensverhandlungen führen, die Verwaltung der deutschen Gebiete Österreichs und die Befehlsgewalt über die deutschen Truppen übernehmen wird. Damit ist dem einmütigen Willen des deutschen Volkes entsprechend der deutschösterreichische Staat zu lebendiger Wirklichkeit geworden, und dieser Staat wird fortan von freigewählten Vertrauensmännern des deutschen Volkes selbst regiert werden. Die Übernahme der Regierungsgewalt durch die neue Regierung des deutschösterreichischen Volksstaates kann sich nur in Ruhe und Ordnung vollziehen. Die Behörden des bisherigen österreichischen Staates leisten der Übernahme der Verwaltung durch die neue Volksregierung keinen Widerstand. Es besteht daher kein Grund, diese Behörden zu bedrohen. Gewalttätigkeiten können die Übernahme und Ausübung der Regierung durch die Vertrauensmänner des deutschen Volkes nicht fördern, nur erschweren. Ebenso ist es unzulässig, gegen Angehörige anderer Nationen Gewalt zu üben; die Regierung Deutschösterreichs wird nationalen Minderheiten im deutschen Gebiete ihren vollen Schutz gewähren. Sie erwartet, dass die nationalen Regierungen der anderen Nationen gleichen Schutz auch den deutschen Minderheiten in slawischen Gebieten gewähren werden. Der Staatsrat fordert das deutsche Volk in Österreich auf, Ruhe und Selbstzucht zu bewahren und alles zu vermeiden, was die Übernahme der Regierungsgewalt durch das deutsche Volk und die Herbeiführung des von der deutschen Volksregierung selbst im Einvernehmen mit dem Deutschen Reiche zu schließenden Friedens erschweren könnte.

Wien, 31. Oktober 1918 Im Namen des deutschösterreichischen Staatsrates:

DinghoferHauserSeitz

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Verlautbarung von Franz Dinghofer, Johann Nepomuk Hauser und Karl Seitz am 31. Oktober 1918

Weiterführende Literatur

Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Wien 1923.

John W. Boyer, Silent War and Bitter Peace: The Revolution of 1918 in Austria, in: Austrian History Yearbook 34 (2001), 1–56.

Wilhelm Brauneder, Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht, Wien 2000.

Rudolf Neck (Hg.), 1918. Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente, Wien 1968.

Reinhard Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage in Österreich. Die Entstehung des Verfassungsprovisoriums der Ersten Republik 1918–1920, München 1987.

Birgitta Bader-Zaar

Demokratisierung und Frauenwahlrecht (1918/19)

Die Ausrufung der demokratischen Republik (damals noch) Deutschösterreich am 12. November 1918 bedeutete für die Bevölkerung dieses Gebiets nicht nur eine neue Staatsform, sondern auch die Verwirklichung der Gleichberechtigung im Wahlrecht. Bei den Wahlen am 16. Februar 1919 konnten erstmals Männer und Frauen gleichwertig ein nationales Parlament – die Konstituierende Nationalversammlung – bestimmen. Ihre politischen Überzeugungen fanden zudem durch das System der Proportionalwahl eine gerechtere Vertretung. Die hier erfolgte Demokratisierung politischer Mitbestimmung bedeutete einen entscheidenden Bruch mit der Habsburgermonarchie.

Das Wahlrecht am Ende der Habsburgermonarchie

In der Habsburgermonarchie hatte es für die österreichischen Länder ein verwirrendes Gemisch an Bestimmungen darüber gegeben, wer an Wahlen teilnehmen konnte, ob Frauen ausgeschlossen waren oder nicht und wie stark einzelne Stimmen und Minderheiten durch Abgeordnetenzahlen repräsentiert waren. Das 1907 eingeführte allgemeine und gleiche Männerwahlrecht galt nur auf parlamentarischer Ebene – für das Abgeordnetenhaus des Reichsrats. Es war an den zumindest einjährigen dauerhaften Aufenthalt in einer Gemeinde geknüpft. Diese vorgeschriebene Sesshaftigkeit bedeutete also den Ausschluss mancher Männer, zum Beispiel der Saisonarbeiter und Hausierer. Auf Gemeindeebene galt bis zum Ende der Monarchie überall noch ein ungleiches, auf Grundbesitz, Steuern oder Bildung beruhendes