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MARE MANUSCHA

Innenansichten aus Leben und Kultur
der Sinti & Roma

Herausgegeben von
Romeo Franz und Cornelia Wilß

Mit Fotos von
Alexander Paul Englert

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Wir danken den Förderern für die freundliche Unterstützung:

Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Heinrich Böll Stiftung

Rudolf Augstein Stiftung

Hildegard Lagrenne Stiftung

Faust Kultur Stiftung

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© 2019 Edition Faust, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Textfassung der Interviews: Cornelia Wilß, Frankfurt am Main

Lektorat: Regine Strotbek

Umschlagfotos: Alexander Paul Englert

(außer unten links: Hamze Bytyci, Foto: Stephanie Ballantine)

Gestaltung: Bayerl & Ost, Frankfurt am Main

Alle Fotos im Buch, wenn nicht anders vermerkt,

von Alexander Paul Englert, Frankfurt am Main

Druck: BELTZ, Bad Langensalza

Printed in Germany

Weitere Titel des Verlags unter www.editionfaust.de

ISBN 978-3-945400-57-9

ePUB 978-3-945400-64-7

INHALT

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VORBEMERKUNG

ALFRED ULLRICH

„Die Katastrophe ist für mich nichts Außergewöhnliches, weil ich in einer Katastrophe lebe“

NEDJO OSMAN

„Ich träume einen Ort für ein Sinti- und Roma-Theater herbei“

ILONA LAGRENE

„Die Bürgerrechtsarbeit war der Inhalt unseres Lebens“

HRISTO KYUCHUKOV

„Bis ich zwanzig war, hieß ich Hussein"

MANOLITO MARIO FRANZ

„Es ist für mich eine große Gnade, eine große Freude, auf hohem musikalischen Niveau arbeiten zu dürfen“

ROMEO GITANO

„Ich mach nur noch mein Ding – es muss mir gefallen“

DEJAN JOVANOVIC

„Ich bin befreundet mit dem Leben und befreunde mich mit mir selbst“

VALÉRIE LERAY

„Orte, die Geschichte schreiben“

IMRICH TOMÁŠ

„Als Maler ist man Komponist, Dirigent und Interpret zugleich, auf gewisse Weise ist man freier“

HAMZE BYTYCI

„Im Maxim Gorki Theater dürfen wir unsere radikale Diversität feiern“

NICOLETA BITU

„Meine Verletzlichkeit hat mich stark gemacht“

RICCARDO M SAHITI

„Die Leidenschaft für die Musik und das Orchester … nur das hat mich gerettet“

ROGER MORENO

„Ich gehöre nicht in dieses System“

Udo Engbring-Romang

SINTI UND ROMA – EIN UNBEKANNTES VOLK?

Christian Petry

ÜBER ROMEO FRANZ

Cornelia Wilß

MARE MANUSCHA … EIN WORT ZUR HERAUSGEBERSCHAFT

BIOGRAFIEN DER MITWIRKENDEN

DANKSAGUNG

VORBEMERKUNG

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Auch wenn in jüngster Zeit einzelne Werke der Kunst und Literatur von Roma und Sinti erschienen sind, so liegt kaum ein Buch vor, das Innenansichten aus der Perspektive der Sinti und Roma über ihr Leben und Wirken in Deutschland und Europa vorstellt.

Wir – der Verlag, Romeo Franz und ich – fanden den Weg zueinander und entschieden, Kunst und Kultur von Menschen mit Romno-Hintergrund anhand biografischer Interviews und Fotografien zu zeigen. Im Mittelpunkt sollte der Dialog stehen mit einem kleinen Ausschnitt von Künstlerinnen und Künstlern aus den Sparten Theater, Musik, Malerei, Film, Literatur und Fotografie, die mehrheitlich ihren Arbeitsschwerpunkt in Deutschland haben oder vorwiegend in Deutschland und anderen europäischen Ländern rezipiert werden. Zudem lässt der Band Aktivistinnen und Aktivisten aus der Bürgerrechtsbewegung zu Wort kommen.

Welche Rolle spielen aber Kunst und Kultur im Spannungsfeld zwischen Minderheit und Mehrheit? Hat der Antiziganismus, also die verbreiteten und tief verwurzelten Ressentiments gegen die Minderheit der Roma und Sinti auf allen Ebenen, das Kunstschaffen dieser Minderheit beeinflusst? Wie hat sich Kreativität unter dem Einfluss des Antiziganismus entwickelt? Kann Kunst das Trauma der Verfolgung überwinden? Welche Zukunftsträume und welche Lebensentwürfe haben „unsere Menschen“, Mare Manuscha, denen wir den Titel des vorliegenden Bandes widmen?

Das Buch zeigt mit den Worten von Romeo Franz, „dass Menschen mit Romno-Hintergrund in Europa keine homogene Gesellschaft, vielmehr ganz unterschiedlich sozialisiert und immer Bürgerinnnen und Bürger ihres Heimatlandes sind – und das seit Jahrhunderten. Aber trotz unserer Heterogenität verbindet uns etwas Gemeinsames, und das ist die kollektive Erfahrung, vom Antiziganismus betroffen zu sein, der uns seit Jahrhunderten eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft der Mehrheit verwehrt.“

Hören wir zu. Schauen wir hin. Führen wir einen Dialog. – Wir haben uns viel zu sagen.

Cornelia Wilß

ALFRED ULLRICH

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„Ich arbeite mit dem Material und gegen es, was sich eigentlich auch übersetzen lässt für meine künstlerische Arbeit – ich arbeite mit der Gesellschaft und gegen sie, um herauszufinden, in welchem Verhältnis sich die Gesellschaft zu den Sinti und Roma heute befindet.“

An einem späten Nachmittag im September 2016 sind wir mit dem Künstler Alfred Ullrich in Berlin verabredet. Seine Ausstellung „ROLLING HOME“ wird in der Galerie Kai Dikhas gezeigt. Ullrich steht hinter einem Biertisch vor seinem Wohnwagen – einer „rollenden“ Werkstatt, mit der er unterwegs ist und Workshops für Drucktechniken anbietet.

Mütterlicherseits stammt Ullrich aus einer Wiener Sinti-Familie. Der Heranwachsende kam früh in Kontakt mit der Wiener Bohème und machte sich in den 1960er Jahren auf Wanderschaft durch Europa. Ab 1976 arbeitete Ullrich in München in einer Werkstatt für manuelle Druckverfahren. Die dort erlernten Techniken sind prägend für sein künstlerisches Schaffen.

Sein Berliner Galerist Moritz Pankok schreibt über Alfred Ullrichs (Druck-)Arbeiten, dass sie im „reizvollen Spannungsfeld zwischen Schönem und Grobem, zwischen Anmut und Provokation“ liegen: „Seine Druck-Kunst scheint sich auf den ersten Blick nicht mit seiner Herkunft zu beschäftigen; er setzt dort die Mittel des Druckhandwerks auf experimentelle Weise ein und schafft abstraktere Formationen. Er bevorzugt die Radierung, eine komplizierte Technik, die Präzision und Konzentration verlangt. Das Ergebnis sind zarte, zumeist abstrakte Bilder, die das Verfahren des Drucks selbst aufzeigen und das Gegenständliche auflösen. Betrachtet man die Arbeiten genauer, wird seine Spielfreude deutlich und Widersprüche erkennbar: die Strukturen bilden eine vielfältige Oberfläche, auf der Formen und Farben widerstreitende Wechselspiele eingehen. Bei den gedruckten Formen handelt es sich um Spuren physischer Zerstörung der Druckplatten, sei es durch Ätzungen oder Walzungen der Platten selbst oder etwa durch Abdrücke von in performativen Aktionen überfahrenen Bierdosen.“

Viele Jahre beschäftigte sich Ullrich, der seit 1980 im Landkreis Dachau lebt und arbeitet, in seinem Kupferdruck-Atelier mit ästhetischen Fragestellungen, in die sich immer stärker gesellschaftliche Inhalte hineindrängten.

Ullrich ist ein kritischer Beobachter, der auf Unbedachtes, Verstecktes aufmerksam macht, das andere übersehen. Fast täglich fuhr er am Dachauer „Landfahrerplatz“ vorbei. Lange vermied es Ullrich, der seine Großeltern, seinen älteren Bruder Alfred und zwölf seiner Onkel und Tanten in den Konzentrationslagern verlor, diesen Platz und die sogenannte KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Im Jahr 2006 veränderte sich seine Haltung gegenüber dem Platz. Er nutzte seine in der Neuen Galerie Dachau gezeigte Ausstellung „TRANSIDENTITIES“, um auf den verwahrlosten Zustand des „Landfahrerplatzes“ hinzuweisen. Mit der Ausstellung „Gadschi, Roma, Sinti, Manouches“ in der Galerie der Künstlervereinigung Dachau geriet fünf Jahre später der Name des Platzes selbst in den Fokus. Ullrich stellte öffentlich die Frage, weshalb so viele Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reiches solche diskriminierenden Begriffe weiterhin scheinbar arglos verwendet würden. „Mit der Zwei-Kanal-Videoinstallation ‚Crazy Water Wheel, 2011‘ und Dokumenten aus dem Stadtarchiv Dachau sowie verschiedenen Objekten versuchte ich das Publikum und besonders die Dachauer Obrigkeit zu einer Stellungnahme zu bewegen”, erinnert er sich. Das Publikum und die Presse nahmen sein Ansinnen auf, nicht so die „Obrigkeit“. Der Dachauer Oberbürgermeister reagierte erst, als sich auch Dachauer Bürger dafür einsetzten, das Schild zu entfernen. Es verschwand über Nacht. Eine weitere Auseinandersetzung fand nicht statt. Heute sieht Alfred Ullrich das Geschehen damals mit anderen Augen: „Ich hätte es begrüßt, wenn das Schild mit historischen Erläuterungen stehen geblieben wäre.“ Den Platz gibt es nicht mehr. Doch mit seinem Verschwinden ist auch das Angebot, sich mit der Geschichte des Ortes auseinanderzusetzen, verloren gegangen, bedauert Ullrich.

„Die Katastrophe ist für mich nichts Außergewöhnliches, weil ich in einer Katastrophe lebe“

Cornelia Wilß: Ihre Mutter hat eine bewegende Lebensgeschichte. Möchten Sie sie erzählen?

Alfred Ullrich: Meine Mutter, die in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, hat ihre Eltern, zwölf ihrer 15 Geschwister und ihren ersten Sohn in den deutschen Konzentrationslagern verloren. Sie ist 1916 in Niederösterreich geboren worden. Gleich am Anfang, 1939, hat man sie in Konzentrationslager verschleppt, erst 1945 kam sie frei. Ich war immer stolz darauf, dass meine Mutter als österreichische Staatsbürgerin – darauf habe ich Wert gelegt – eine der wenigen Österreicherinnen war, die Widerstand geleistet hatten. Als sie im „Arbeitslager“ Ravensbrück war, hat sie Sabotage betrieben und Projektile unbrauchbar gemacht. Sie sprach oft darüber, wie sie gelitten hatte, weil sie hatte zusehen müssen, wie ihre Schwestern im KZ starben, und sie ihnen nicht zur Seite stehen konnte. Nach der Befreiung durch die Amerikaner aus dem KZ Buchenwald lernte sie meinen Vater auf dem Weg wahrscheinlich von Buchenwald nach Wien bei Enns in der Nähe von Linz in einem Lager für Displaced Persons kennen. Angeblich war er deutscher Soldat, angeblich war er sogar bei der SS gewesen. Mit der gemeinsamen Geschichte meiner Eltern habe ich mich deswegen nie besonders identifizieren können. Was bin ich? Wer bin ich?

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Um deutliche politische Zeichen zu setzen, verlässt sich Alfred Ullrich nicht mehr nur auf seine Druckkunst allein, sondern tritt auch mehr und mehr als Aktionskünstler in Erscheinung.

Jedenfalls ist sie mit meinem Vater nach Schwabmünchen, Richtung Neugablonz, gezogen, wo sich viele Sudetendeutsche nach dem Krieg niedergelassen hatten, die nicht mehr nach Hause konnten. Die beiden haben geheiratet, deswegen heiße ich Ullrich. Meine Schwester Lilly und ich sind in Schwabmünchen geboren worden, meine Schwester Puppa stammt aus einer anderen Beziehung. Die Ehe mit dem Deutschen hat nicht gehalten.

Unsere Mutter pendelte eine Weile zwischen Schwabmünchen und Wien hin und her, bis sie schlussendlich mit uns Kindern in Wien geblieben ist. In den ersten Jahren lebten wir zu viert in einem Planwagen, im Wienerischen heißt der Plochenwogn. Das war ein Wohnwagen, der mit einer einfachen Plane bespannt war und vorn einen Kutschbock hatte. Die Frauen haben im Wageninneren und ich habe im Schragl geschlafen. So nennt man das Gestell am Ende des Wagens, wo üblicherweise Stroh und Heu mitgeführt werden. Das war ein sehr gesunder Schlafplatz. (lacht)

Cornelia Wilß: Wo stand der Plochenwogn genau in Wien?

Alfred Ullrich: Auf einem freien Platz an der Alten Donau am Ringelseeplatz in Wien-Floridsdorf. Dort lebten schon seit vielen Generationen Sinti, aber auch Roma und sehr viele Lovara.

Cornelia Wilß: Lovara? Gehören die zu den Roma-Gruppen?

Romeo Franz: Ja. Die Lovara handelten hauptsächlich mit Pferden und waren oft wohlhabende Leute. Sie sind heute noch stolz auf ihre Herkunft. Lovara sind gute Geschäftsleute.

Alfred Ullrich: Ja, sehr erfolgreich und wohlhabend. Wie wir als Kinder aufgewachsen sind, mit Pferd und Wagen, das war sehr schön, vor allem im Sommer. Ich erinnere mich an die kilometerlangen Kirschbaum-Alleen im Burgenland und an die Dörfer der Roma hinterm Hügel neben den Häusern von Kroaten und Deutschstämmigen, die in mit Maisstroh gedeckten Lehmhäusern lebten. Wenn es stark geregnet hat, haben sich die Häuser aufgelöst. Die Dörfler sammelten Pilze und Beeren. Wiener Gemüsegroßhändler haben ihnen die gerne abgekauft. Manche Roma haben damals in Wien Arbeit gefunden.

Romeo Franz: Während du erzählst, geht mir die ganze Zeit über die Frage durch den Kopf, ob deine Mutter von ihren eigenen Leuten ausgegrenzt wurde, weil sie mit einem Deutschen zusammen war.

Alfred Ullrich: Sagen wir es so: Meine Mutter wurde geduldet. Als Kind habe ich gespürt, dass wir nicht ganz dazugehörten, und mich geweigert, auf Romanes zu antworten, wenn ich angesprochen wurde. Aber wir hatten auch Kontakt zu anderen Sinti. Ich erinnere mich, dass wir im Sommer mit den Verwandten gefahren sind, um Vorhänge anzubieten: in Wien, in Niederösterreich, im Burgenland und in der südöstlichen Steiermark – im Burgenland bis zum an der Südspitze gelegenen Jennersdorf, in der Steiermark etwa bis Fürstenfeld und bis zur Grenze zu Niederösterreich. Hier und da traf man sich. Das war damals ein bisschen so wie ein Heiratsmarkt. Man hat die Kinder miteinander bekannt gemacht.

Romeo Franz: Wie hat deine Mutter es geschafft, als Überlebende, alleinerziehend und in einem Planwagen lebend euch drei Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen?

Alfred Ullrich: Unsere Mutter war Analphabetin, legte aber Wert darauf, dass meine beiden Schwestern und ich zur Schule gingen und einen Beruf erlernten. Die Lilly ist Buchbinderin geworden, die Puppa Schneiderin und ich … Lebenskünstler … (lacht) Vorher habe ich aber verschiedene Berufe ausgeübt. Ich war Lebensmittelverkäufer, habe Schriftsetzer gelernt, die Postfacharbeiterprüfung abgelegt, im Bronzeguss und an Münchner Bühnen als Bühnenarbeiter gearbeitet … Na ja, meine Mutter ist hausieren gegangen und hat eine Gadji, die selber drei Kinder hatte, als Kindermädchen für uns engagiert, damit sie auf Geschäft gehen konnte.

Romeo Franz: Nun, ihr ist ja nichts anderes übrig geblieben. Sie hatte ja drei Kinder. Die wollten essen. Was sollte sie machen?

Cornelia Wilß: Die Familie zog 1959 in die Wiener Josefstadt, in ein Haus mit einem eisernen Gang …

Alfred Ullrich: Ja, wir bekamen eine Wohnung zugeteilt, in einem alten Biedermeierhaus, sehr romantisch anzuschauen, im 8. Bezirk, in der Josefstadt. Es war ein einfaches Haus mit eisernen Gängen, Pawlatschen nennt man die, gleich hinterm Wiener Rathaus, von wo aus man zu Fuß ins Stadtzentrum gehen konnte. Als wir nach Wien zogen, sah man in unserem Viertel noch zerbombte Häuser, und es standen ausgebrannte Autos herum. Auf diesen Schutthalden haben meine Geschwister und ich gespielt.

Die Atmosphäre dort war besonders. Es gab da einen Treffpunkt am Donaukanal, wo sich in der Vorkriegszeit und während des Krieges die „Schlurf“ getroffen hatten. Wisst ihr das? Das waren junge Männer mit längeren Haaren, die karrierte Sakkos trugen und nicht zur Hitlerjugend wollten. Die wollten zu Jazzmusik tanzen und rauchen. Manche von ihnen sind deswegen ins KZ gekommen. Nach dem Krieg bildete sich dort ein neuer Szenetreff. Ohne es zu wissen, trafen sich die jungen Leute wieder genau an jener Stelle am Donaukanal, wo sich die „Schlurf“ im Krieg gern aufgehalten hatten. Später sollte dort sogar eine Art Jugendrepublik gegründet werden. Das war um 1968. Die bestand wohl nur einige Jahre.

In der Josefstadt gab es Künstlercafés und Jazzclubs, es war ein gewisses Bohème-Milieu. Eine Zeit lang verdiente ich Geld mit Pflastermalen. Weil ich nicht besonders gut zeichnen konnte, gab es nicht ganz so viel Geld. Als ich mich dann auf picassoartige Abstraktionen verlegte, waren immer ein paar hundert Schilling im Hut. Das reichte locker für den Kaffeehausbesuch. Wenn man gut zeichnen konnte, zum Beispiel den Mann mit dem Goldhelm, konnten es auch schon mal ein paar tausend Schilling am Tag sein. Ich hatte damals die kaufmännische Lehre fertig und keine Lust, im Büro zu arbeiten. Ich bin lieber mit den Künstlern zusammen gewesen, anstatt meine Mutter zu unterstützen. Meine Schwestern haben damals noch die Schule besucht.

Irgendwann hielt ich das alles nicht mehr aus und ging fort. Andere reisten nach Indien oder woandershin. Ich war in München, Berlin und dann sehr gern in Skandinavien unterwegs, überwiegend in Schweden, habe Kunstschaffende kennengelernt und manchmal als Aushilfe am Theater gearbeitet. Das ging über viele Jahre so.

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Alfred Ullrich: Caravan 2010, Kaltnadel blau überrollt Courtesy Galerie Kai Dikhas

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Alfred Ullrich: Patterns 2018, Farbradierung von drei Platten Courtesy Galerie Kai Dikhas

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Alfred Ullrich: Überlagerung, 1998, Experimenteller Tiefdruck. Courtesy Galerie Kai Dikhas

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Alfred Ullrich: Metamorphosis, 1998, eine von 13 Variationen, Farbradierung von mehreren Platten. Courtesy Galerie Kai Dikhas

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Aktuelle Reinzenierung der Kunstaktion Gadschi, Sinti, Roma, Manouches… Positionen zwischen Ausgrenzung und Akzeptanz, die erstmals 2011 am Ortsrand von Dachau stattfand

Cornelia Wilß: Sie haben gerade gesagt, dass Sie viele unterschiedliche Berufe ausgeübt haben. Wann kam der Zeitpunkt, ab dem Sie ausschließlich als Künstler gearbeitet haben?

Alfred Ullrich: Das war ein fließender Prozess. Mitte der 1970er Jahre habe ich in Bayern im künstlerischen Bronzeguss gearbeitet. Danach war ich an Münchner Bühnen als Bühnenarbeiter angestellt. Später habe ich in einer Werkstatt für manuelle Druckverfahren für andere Künstler Auflagen gedruckt. Künstlerisch tätig zu sein, das war schon eine gewisse Leidenschaft, obwohl ich als Autodidakt eher zufällig zur Kunst gefunden habe. Mir haben dieses Milieu und die Möglichkeit gefallen, selber etwas zu gestalten: im Bronzeguss, durch Modellieren, Formen – mit den Händen. Das ist es: etwas sozusagen zu be-greifen. Über das Konkrete entsteht eine Idee im Kopf, die sich damit verknüpft.

Cornelia Wilß: Sie leben seit 1980 im Landkreis Dachau. Warum kamen Sie ausgerechnet nach Dachau?

Alfred Ullrich: Die Amerikaner hatten in den letzten Kriegstagen das halbe Dorf in Schutt und Asche gelegt. Ich zog 1980 in ein Haus, das aus Schutt wiederaufgebaut worden war. Es gab dort genug Platz, und ich konnte mir eine Werkstatt für Kupfer-Druckgrafik einrichten. Das Haus übernahm ich von einer Wohngemeinschaft. 1984 wurde ich in die Künstlervereinigung Dachau und in den Berufsverband Bildender Künstler München und Oberbayern aufgenommen.

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Alfred Ullrich: Perlen vor die Säue (Performance-Dokumentation)

Cornelia Wilß: Um deutliche politische Zeichen zu setzen, sind Sie in den letzten Jahren als Aktionskünstler hervorgetreten. Ihre erste Kunstaktion im Jahr 2001 hieß „Perlen vor die Säue“. Da standen Sie vor einem Gatter und ließen Perlen vor dem Tor der Schweinefarm bei Lety in Tschechien auf den Boden fallen …

Alfred Ullrich: Auf die jährlich wiederkehrenden Aktionen und Demonstrationen von Roma gegen einen Schweinemastbetrieb auf dem ehemaligen Gelände des Konzentrationslagers Lety hat mich die Künstlerin Barbara Scotch aufmerksam gemacht. Ich hatte früher schon öfters mit ihr zusammengearbeitet. Sie war sehr engagiert in dieser Sache. Als ich meiner Schwester Lilly davon erzählte, gab sie mir ihre Perlenkette, eine echte Perlenkette, die sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte, und sagte: „Du kannst sie ruhig da vor die Schweine werfen: Perlen für die Säue eben.“ Alan Levi, ein Freund von Barbara Scotch, der die Emigrantenzeitung Prager Post für Tschechen, die in den USA leben, herausgegeben hat, begleitete uns. Auch eine Fotografin kam mit. Einen Teil der Perlen habe ich vors Tor geworfen, die anderen in Kränze gelegt, die die Roma dort auf einer Wiese zum Gedenken niedergelegt hatten. Alan Levi hat damals geschrieben: „Man konnte die Schweine zwar nicht sehen, aber man konnte sie riechen“, so würde es übersetzt heißen.

Cornelia Wilß: Es gibt mehrere Drucke, auf denen überfahrene Bierdosen zu sehen sind, aus denen das Bier spritzt. Was wollten Sie damit zeigen?

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Alfred Ullrich: Von Ottakring ins neu(e) Himmelreich. Videostill I

Alfred Ullrich: Ja, das Pils spritzt, ganz schaumig, sämig (freut sich) … Die Kluft zwischen den historischen Fakten und der heutigen Selbstdarstellung einer Wiener Großbrauerei als junge Partybrauerei mit langer Tradition hat mich zu dieser Aktion veranlasst. Die Firmengeschichte der Ottakringer Brauerei lässt die Arisierungsgeschichte, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zur Zufriedenheit aller aufgearbeitet wurde, einfach aus. Ich wollte, dass die Leute davon erfahren, und so bin ich mit der Lilly – sie hatte damals eine tolle große, richtige Fernsehkamera – in den Partyshop der Ottakringer Brauerei und habe eine Lage Pils, „Gold Fassl“, genommen und bin gleich vor dem Geschäft mit meinem Auto drübergefahren. Und die Lilly hat die Kamera draufgehalten. Man muss diese Dosen übrigens tausendmal überfahren, bis sie richtig glatt werden.

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Alfred Ullrich: Von Ottakring ins neu(e) Himmelreich. Videostill II

Ich habe mit der Aktion aber auch gezeigt, dass ich selbst nicht weiß, wie ich mit der Geschichte umgehen kann. Ich muss in diesem Land mit den Nachkommen jener Menschen leben, die meiner Familie so viel Leid zugefügt haben, und Umgangsformen dafür finden. Das war eine Art Verzweiflungsaktion, eigentlich verrückt, aber ich musste mir irgendwie Luft machen.

Romeo Franz: Alfred, hast du Diskriminierung kennengelernt?

Alfred Ullrich: Auf subtile Weise. Ich habe mich in Dachau erst 2006 mit der Ausstellung „TRANSIDENTITIES“ als Künstler, der aus einer Wiener Sinti-Familie stammt, geoutet. Davor habe ich mich an Ausstellungen von Dachauer Künstlern, die die (noch) nicht erfolgte Rezeption Dachaus in der Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reflektierten, beteiligt, weil Angehörige von mir auch in diesem Konzentrationslager waren. Auch in Dachau. Die kunstinteressierte Öffentlichkeit zeigte sich wesentlich aufgeschlossener als manche lokalen Politiker. Aber mittlerweile werde ich ab und an von der öffentlichen Hand mit Gestaltungen in öffentlichen Gebäuden beauftragt. Außerdem werden in themenbezogenen Ausstellungen Werke von mir angekauft, das sehe ich als Erfolg auch in der Wahrnehmung der Belange der Sinti und Roma.

Romeo Franz: Könnte man sagen, dass sich die Ethnisierung deiner Kunst jetzt wieder relativiert?

Alfred Ullrich: Ich habe inzwischen viele Ausstellungen in München und im Umkreis mit anderen Künstlern auf die Beine gestellt. Eine Zeit lang arbeitete ich auch mit Flüchtlingen zusammen. Heute spricht man gar nicht mehr so viel darüber, dass ich ein Sinto-Künstler bin. In den letzten Jahren habe ich durch die Zusammenarbeit mit anderen Kunstschaffenden ein breites Erfahrungsfeld gewonnen, das ich jetzt für eigene druckgrafische Arbeiten nutzen kann. Früher war ich sehr farbenfroh, habe aufwendig mit mehreren Platten gearbeitet, farbige Strukturen übereinandergelegt und verschränkt. Das war, denke ich heute, durch die Mutter bedingt, durch ihre Haltung. Sie hat oft bei der Hausarbeit gesungen und gepfiffen. Sie hat Kleider aus bunten Stoffen genäht und Freude am Leben gehabt, obwohl sie so viel Leid erfahren hatte. Das hat mich und meine Kunst stark geprägt.

Cornelia Wilß: Wie meinen Sie das?

Alfred Ullrich: Ich lasse mich von Katastrophen nicht mehr beeindrucken. Die Katastrophe ist für mich nichts Außergewöhnliches, weil ich ja in einer Katastrophe lebe. Ich wurde einmal in Dachau in der KZ-Gedenkstätte gefragt, wie ich mich dort fühle, und ich habe geantwortet: „Das ist mein Zuhause, da komme ich her.“ Meine Schwester hat einen Film gemacht, in dem ich in Zeitlupe im Krematorium auf sie zuschreite. Da hört man die Steine knirschen, und ich komme aus dem Ofen heraus. Und so fühle ich es auch: dass ich aus dem Ofen heraus geboren bin. Diese diskriminierende Situation war natürlich meinem Selbstbewusstsein in meiner Jugend nicht dienlich, erst allmählich, jetzt im Alter von 68 Jahren, finde ich eine gewisse Selbstverständlichkeit und kann mit mehr Ruhe arbeiten.

Romeo Franz: Alfred, würdest du dich als Wiener bezeichnen, der in Dachau lebt, oder eher als Bayer, als Dachauer?

Alfred Ullrich: Ach, sagen wir es so: Wien hat mich, meine Kindheit und meine frühe Jugend, geprägt. Das alte Österreich-Ungarn, dieser Vielvölkerstaat, hat sich dem Wesen der Wiener und ihrer Lebensart eingeprägt. Die haben einen anderen Humor als die Bayern. Der Wiener kann aus einer kleinen Geschichte stundenlang einen ganzen Abend gestalten. Folgendes ist mir vor vielen Jahren passiert: Abends gab es eine Party, und ich habe den Herrn Karl imitiert, wie er im Lagerkeller seines Feinkostladens steht. Ihr wisst schon, der, der 1945 das Hitlerbild abhängte und einen Schweinskopf in die Auslage stellte. In Wien hat man das Hitlerbild hinter den Kohlenkisten im Keller versteckt für den Fall, dass er wiederkommt. Man kann ja nie wissen. Die Partygäste haben das für bare Münze genommen und wollten mich, weil sie meine Herkunft verkannten, bierernst von dem Fest wegprügeln. In Bayern hat es die Satire nicht leicht …

NEDJO OSMAN

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„Besser, ich spreche über die Roma, als dass es die anderen tun. Es spielt keine Rolle, ob ich stolz darauf bin, dass ich ein Rom bin: Ich bin es einfach.“

Wir treffen Nedjo Osman, den bekannten Schauspieler, Regisseur und Theatermann, der auch oft in Fernsehproduktionen zu sehen ist, im November 2016 im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln. Er hat dort auf der Abschlussveranstaltung des Projektes „Junge Roma aktiv – JUROMA“ gesprochen und dafür geworben, jungen Roma in Deutschland eine Chance zu geben, sich in der deutschen Gesellschaft selbstbewusst und stark zu behaupten. Dafür setzt der Schauspieler Methoden der Theaterpädagogik ein. Es ist ihm ein großes Anliegen, jungen Romnija und Roma Kompetenzen wie Disziplin, sicheres Auftreten und eine klare Ausdrucksund Sprechweise zu vermitteln.

Nedjo Osman lebt seit vielen Jahren in der Stadt am Rhein und leitet seit 1995 gemeinsam mit seiner künstlerischen Partnerin und Lebensgefährtin Nada Kokotovic das bundesweit angesehene TKO-Theater, das mit bekannten Stoffen und Themen des realen Lebens experimentiert. „Die Lebensformen und Probleme der unterschiedlichen Nationalitäten und Sprachgemeinschaften in Europa und speziell in Deutschland werden in multikulturellen Theaterformen visualisiert und in Szene gesetzt. Dementsprechend arbeitet dieses Theater mehrsprachig und genreübergreifend; die Roma-Thematik ist ein weiterer Schwerpunkt“, heißt es programmatisch auf der Homepage des TKO-Theaters (http://www.tkotheater.de).

1958 in Mazedonien geboren und aufgewachsen, war Osman der erste ausgebildete Roma-Schauspieler Jugoslawiens. Später war er langjähriges Mitglied des in Nordrhein-Westfalen ansässigen Roma-Theaters „Pralipe“. Das Ensemble des freien Theaters war 1991, nach Ausbruch des Kriegs in Jugoslawien, auf Einladung von Roberto Ciulli, dem künstlerischen Leiter des Theaters an der Ruhr, von Skopje nach Mülheim an der Ruhr umgesiedelt. Die männlichen Hauptrollen der Stücke, die „Pralipe“ in viele europäische Städte führten, wurden mit Nedjo Osman besetzt.

Er gab den Leonardo in Federico García Lorcas Bluthochzeit, in Shakespeare-Aufführungen den Romeo in Romeo und Julia oder den Othello im gleichnamigen Drama und brillierte in vielen anderen Rollen unter der Regie von Rahim Burhan.

Die Rolle des Othello ist dem Schauspieler auf den Leib geschnitten. Nada Kokotovic, eine bekannte Theater-Regisseurin im früheren Jugoslawien, die aktuell an verschiedenen Bühnen in Deutschland und Österreich inszeniert, hatte das früh erkannt und den späteren Lebensgefährten noch während seiner Ausbildung an der Kunstakademie in Novi Sad am serbischen Nationaltheater als Othello engagiert. Das ist seine Lieblingsrolle bis heute, wie Nedjo Osman in unserem Gespräch erklärt. Am Theater verfüge er über ein großes Rollenrepertoire. Bei der Besetzung von Filmrollen sei es etwas anders. „Ich habe in 22 Filmen fürs Fernsehen und Kino mitgespielt. Aber ich frage mich schon, wie lange ich noch einen Mafioso spielen muss.“

Nedjo Osman ist ein Mann mit vielen Talenten. Er schreibt Gedichte auf Romanes und auf Deutsch: „Ich bin Künstler, ob ich spiele, Gedichte schreibe oder Regie führe, es ist die gleiche Energie, die mich antreibt. Schon in früher Jugend entdeckte ich die Leidenschaft fürs Schreiben. Meine Gedichte sind in der Türkei, in Serbien, Mazedonien, Kroatien und Deutschland erschienen.“

„Ich träume einen Ort für ein Sinti- und Roma-Theater herbei“

Cornelia Wilß: Wann stand für Sie fest, dass Sie Schauspieler werden wollen?

Nedjo Osman: Mein Traum, Schauspieler zu werden, reicht tief in meine Kindheit zurück. Ich sage immer, dass meine Mutter beim Theater war. (lächelt) Sie hat dort als Putzfrau gearbeitet. Ich war damals noch sehr klein, ein Jahr alt, aber sie hat mich mitgenommen, und ich habe bei den Proben zugeschaut. Das ging über viele Jahre so. Diese Erfahrungen haben mich geprägt. Zu Hause habe ich Stücke aufgeführt, und die Kinder, die oft zu uns kamen, waren mein erstes Publikum. Ich wollte Schauspieler werden, aber ich dachte immer, dass dieser Wunsch ein Traum bliebe, weil ich aus einer Roma-Familie stamme und dieser Beruf für weiße Leute bestimmt sei. Aber es ist anders gekommen. Mein Traum begann sich nach meiner Rückkehr aus Deutschland, wo ich seit 1979 für Fortuna Düsseldorf Handball spielte, zu erfüllen. Als ich 1980 nach Mazedonien zurückkehrte, bin ich auf das Roma-Theater „Pralipe“ – auf Deutsch: Brüderlichkeit – in Skopje gestoßen, ein freies Theater, das später in ganz Europa bekannt wurde. Dort habe ich mit der Schauspielerei angefangen und schnell gemerkt, dass ich genau das in meinem Leben machen möchte. Nach zwei, drei Jahren bin ich an die Kunstakademie im serbischen Novi Sad gegangen und habe ein Studium an der Film- und Theaterakademie unter anderem bei Rade Šerbedžija abgeschlossen.

Cornelia Wilß: Wie war das Miteinander an der berühmten Akademie in Novi Sad? Sind Sie offensiv mit Ihrer Kultur umgegangen?

Nedjo Osman: In der Grundschule in Skopje war ich jeden Tag der „Zigeuner, Zigeuner, Zigeuner“ … Das hat mich geschmerzt. Was kannst du machen, wenn die Kinder und Lehrer dich ausgrenzen? Du kannst dich in einem Mauseloch verstecken, oder du kämpfst, beginnst Streit und bist aggressiv, oder aber du sagst, ich muss besser sein als die anderen. Ich habe den dritten Weg eingeschlagen. Damit das gelingen kann, musst du stark sein. Du musst dir selbst treu bleiben, du musst authentisch sein. Ich hatte kein Stipendium. Ein Jahr lang übernachtete ich heimlich in der Akademie, weil ich mir kein Zimmer in der Stadt leisten konnte. Aber morgens war ich immer der Erste in der Akademie. Ich war der einzige Rom, der damals dort studierte, und ich hatte mir geschworen, dass sie hier nicht mit mir machen durften, was sie mit mir in der Grundschule und im Gymnasium gemacht hatten. Deshalb sang ich jeden Tag ein Roma-Lied, oder ich sprach ständig über die Roma. Meine Strategie war: Besser, ich spreche über die Roma, als dass sie es tun. Es spielt keine Rolle, ob ich stolz darauf bin, dass ich ein Rom bin: Ich bin es einfach.

Romeo Franz: Nedjo, war das eine Überlebensstrategie?

Nedjo Osman: Ja, das war so. Wisst ihr, die Diskriminierung der Roma war so stark. Das ist auch heute noch so eine Krankheit. Ich glaube, wir müssen eine neue Strategie entwickeln, und wir müssen unser Image ändern. Für mich ist es so, dass ich ein besserer Schauspieler sein wollte als viele andere.

Cornelia Wilß: Besser sein als die anderen – das können nicht alle Menschen. Das verlangt einem Menschen viel Kraft ab …

Romeo Franz: Ich habe lange Zeit auch so empfunden. Aber heute versuche ich, anders mit diesem Druck umzugehen. Wir sind immer in der Rechtfertigungsrolle. Ich muss mich für mein bloßes Dasein, für meine Ethnie rechtfertigen und der Mehrheitsgesellschaft zeigen, wie gut ich bin. Das ist so anstrengend. Ich möchte einfach das Recht haben, normal zu sein oder einmal einen Fehler zu machen, ohne dass ich dann als „Zigeuner“ beschimpft werde. Ich möchte auch, wenn ich es will, einfach faul sein können, weil ich Romeo bin, nicht weil ich ein „fauler Zigeuner“ bin. Man darf mir sagen, dass ich faul bin, aber man darf es nicht meiner Ethnie zuschreiben. Verstehst du, Nedjo?

Nedjo Osman: Ich verstehe dich. Mich macht es traurig, wenn ich persönlich nicht weiterkomme, nicht wegen des Wortes „Zigeuner“… Ich muss gut sein, um diesem schlechten Image etwas entgegenzusetzen. Wir hören doch ständig, die wollen nicht in die Schule gehen, die arbeiten nicht, die betteln … Ich muss die Kontexte verändern, zeigen, dass „Zigeuner“ Intellektuelle und Künstler sind. Wir müssen die Deutungshoheit über uns selbst bekommen.

Cornelia Wilß: Welche Rolle spielt es in diesem Zusammenhang, dass ihr beide Künstler seid? Ist die Chance, sich von den Zuschreibungen anderer zu befreien, in der Welt der Künste nicht viel größer als in anderen Berufen?

Romeo Franz: Ich nutze die Kunst nicht mehr als ein Instrument. Ich muss mich nicht mehr beweisen. Ich gehe mit meinen Fähigkeiten viel selbstverständlicher um. Auf eine gewisse Weise bin ich abgeklärter als früher.

Nedjo Osman: Ich bin seit 37 Jahren in der Theaterwelt und habe mich darin behauptet. Das ist der Grund, warum ich gerne mit jungen Leuten arbeite. Ich möchte, dass sie sich entwickeln können, dass sie der Gesellschaft, in der sie leben, ihre Fähigkeiten und Talente zeigen. Ich selbst habe kein Problem, inmitten der Gadje zu leben. Die wissen genau: Ich bin Nedjo Osman!

Cornelia Wilß: Sie haben 1995 das „Pralipe“-Theater verlassen und in Köln mit Nada Kokotovic das Theater „TKO – Europäisches Roma Theater“ gegründet – mit großem Erfolg. Gehen die Kölner ins Roma-Theater, weil sie den Schauspieler Nedjo Osman sehen wollen oder weil sie ein Roma-Theater besuchen möchten?

Nedjo Osman: Das ist eine gute Frage. Ist es wichtig, dass es ein Roma-Theater gibt oder ob ich ein Roma-Schauspieler bin? Das ist doch eine Frage, die man deutschen Schauspielern auch stellen könnte: Ist es wichtig, ein deutscher Schauspieler zu sein oder an einem deutschen Theater zu arbeiten? Ja oder nein? Ja, denn es betrifft ganz wesentlich die Kultur und die Sprache eines Volkes. In unserem Haus wird die Kultur der Roma gespiegelt. Für uns Roma ist es wichtig, zu sehen, dass unsere Kultur sehr vielfältig ist, dass unsere Künste sich nicht nur in der Musik und im Tanz ausdrücken. Darin sind wir Experten, aber es gibt noch viel, viel mehr.

Mein Traum ist ein Gebäude, an dessen Fassade „Roma- und Sinti-Theater“ steht. Es geht um einen virtuellen und konkreten Raum für uns Roma. Wann sich dieser Traum erfüllt? Ich weiß es nicht. Aber ich arbeite darauf hin, weil wir hier in Köln und auch anderswo in diesem Land kein richtiges Theater für Roma und Sinti haben. Ich bin das Theater! Ich will mich auch nicht mehr damit abfinden, dass wir vielleicht ein Projekt machen können. Das ist doch keine Lösung! Mein Traum ist es, mit professionellen Schauspielern und Schauspielerinnen ein Sinti- und Roma-Theater, das institutionell abgesichert ist, aufzubauen und bald eine Akademie, einen festen Ort für die Kunst und Kultur der Roma, zu gründen.

Cornelia Wilß: Wie ist das TKO im Kölner Kulturbetrieb verankert?

Nedjo Osman: Unser Theater ist in der Kölner Theaterlandschaft bekannt. Das TKO wird vom Kulturbüro und von anderen Stiftungen finanziert.

Cornelia Wilß: Welche Stücke stehen auf dem Spielplan?

Nedjo Osman: Wir spielen verschiedene Sachen, von Heiner Müller, den ich sehr mag, bis Shakespeare, aber wir bearbeiten auch immer Roma-Themen, zum Beispiel in Rukeli, einem Schauspiel über den Sinto-Boxer Rukeli, den die Nazis im Konzentrationslager ermordet haben, aber auch in dem Theaterstück Schwarzbrot, in dem es um Abschiebung geht, und in ZigeunerSchnitzel.

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Szenenfoto aus Rukeli Foto: TKO-Theater