Über den Autor

Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, ist mit mehr als dreißig veröffentlichten Büchern einer der weltweit populärsten US-Gegenwartsautoren. Als Reiseschriftsteller erlangte er Weltruhm. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii und auf Cape Cod. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt der Roman Mutterland (2018) sowie die Reisebücher Tief im Süden (2015) und Ein letztes Mal in Afrika (2017). Im Atlantik Taschenbuch erschien zuletzt Hotel Honolulu (2018).

Sein Mut zeigte mir, dass es etwas gibt, das stärker ist als der Tod.

Ich danke ihm für seine Geduld und für die freundliche Art, mit der er auf meine ahnungslosen Fragen reagierte. Möge er an dieser sichereren Küste den Frieden finden, den er verdient. Naksaa.

 

P. Th.

Bananen boot

An Tiny Polskis Herrschaftshaus vorbei fuhren wir zur Hauptstraße und dann weiter die fünf Meilen nach Northampton hinein. Vater redete den ganzen Weg über Wilde, Eingeborene und die Schrecklichkeit von Amerika – dass es sich immer mehr in eine rauschgiftsüchtige, Türen versperrende, verpestete Gefahrenzone tollwütiger Geier und krimineller Millionäre und moralischer Heuchler verwandelte. Und schau dir die Schulen an. Und die Politiker. Und kein Harvard-Absolvent, der eine Reifenpanne beheben oder zehn Liegestütze machen könnte. Und in New York City gab es Leute, die von Katzenfutter lebten, die einen glatt wegen ein paar Münzen umbrachten. War das noch normal? Wenn nicht, warum fand sich dann jedermann damit ab?

»Ich weiß es nicht«, sagte er, sich selbst die Antwort gebend. »Ich denke nur laut.«

Bevor wir Hatfield verließen, hatte er den Pick-up-Truck auf einer höhergelegenen Stelle der Straße geparkt und nach Süden gedeutet.

»Da kommen die Wilden«, sagte er; von einer kleinen Baumgruppe aus zogen sie in langer Reihe über die Felder, hinter ihnen die gummiartigen, hitzeflimmernden Umrisse von Polskis Ställen. Sie waren dunkel, und ihre Kleidung war lumpig; einige hatten sich Lumpen um die Köpfe gewickelt, andere trugen breitkrempige Hüte. Es waren Männer und Jungen, ein paar nicht älter als ich; alle trugen sie lange Messer.

Vaters Finger jagte mir mehr Angst ein als die Männer. Er deutete immer noch damit. Das letzte Glied des Zeigefingers fehlte bis zu dem großen Knöchel. Der Fingerstumpf endete breit in genähten

»Warum kommen die überhaupt erst her?«, sagte er. »Geld? Das kann es doch nicht sein?«

Er schien die Fragen aus seiner Zigarre herauszukauen.

Es war Vormittag, für Massachusetts im Mai schon zu heiß. Wir hatten einen trockenen Frühling, das Tal sah verbrannt aus, und die flachen Gräben dampften wie frische Kuhfladen. In den Furchen, die das Feld von einem Ende zum anderen aufrissen, zeigten sich nur winzige Palmwedel von Wunder-Mais. Kein einziger Vogel zwitscherte hier. Und die Spargelfelder, zu denen die Männer unterwegs waren, wirkten so braun und glatt, als wäre der Erde der grüne Skalp des Grases abgezogen und die ganze Kahlheit glattgewalzt worden.

Vater schüttelte den Kopf. Er löste die Handbremse und spuckte aus dem Fenster. Er sagte: »Hundertprozentig ist es nicht das Geld. Heutzutage ist ein Dollar bloß noch zwanzig Cent wert.«

Hinter Hatfield und Polskis Haus, am oberen Rand der Talmulde, ragten belaubte Zinnen auf, manche so blass wie Zitronenschaum, andere dunkle Buckel und einzelne Buschhaufen und Staketen berstender Äste; so stellte ich mir den Dschungel vor. Als wir vor ein paar Stunden die Augen aufgeschlagen hatten, war der Boden mit den Glitzerperlen kalten Taus bedeckt gewesen. Sommereis, so nannte ich es bei mir. Mein Atem hatte Nebelwolken erzeugt. Wolkenfetzen hatten sich über den Himmel gezogen. Jetzt stand die Sonne hoch, füllte das Tal mit Licht und Hitze, die gegen diese Männer loderte und sie in hagere Dämonen verwandelte.

Vielleicht lag hier der Grund, weshalb ihr Anblick mich genau wie Vaters Finger erschreckt hatte, obwohl ich diese Männer zuvor schon gesehen hatte – die Wilden, genau an dieser Stelle und nah genug, um die schwarzen Flecken, die die Sonne in ihre lederbraune Haut brannte, zu erkennen.

»Den Teil jetzt hasse ich«, sagte er, als wir in Northampton

Die Main Street runter (»Alles Drogensüchtige«) fuhren wir an einer Getty-Tankstelle vorbei, und Vater jaulte bei dem Benzinpreis auf. ZWEI TOTE BEI SCHIESSEREI knallte uns von einem Zeitungsstand entgegen, und er sagte: »Scheißblatt.« Allein das Wort Sammlerstücke an einer Ladenfront irritierte ihn. Und in der Nähe der Eisenwarenhandlung gab es einen Automaten, der Eis im Beutel verkaufte.

»Sie verkaufen Eis – zehn Pfund für einen Quarter. Aber Wasser gibt’s genauso umsonst wie die Luft. Diese Geldgeier verkaufen Wasser! Wasser ist die neue Wachstumsindustrie. Mineralwasser, Quellwasser, Wasser mit Kohlensäure. Die größte Neuigkeit – Wasser ist gut für Sie! Bier mit wenig Kalorien – weißt du, was drin ist? Warum es einen schlank hält? Weißt du, warum es mehr als das normale Bier kostet? Wasser!«

Vater sagte Wassa, nach Art der Yankees.

Immer mürrischer werdend, kurvte er herum, bis er eine noch nicht abgelaufene Parkuhr fand. Dann parkte er, und wir marschierten zurück zur Eisenwarenhandlung.

»Ich brauch einen Gummischlauch, zweieinhalb Meter mit Schaumfütterung«, sagte Vater, und während der Mann den Schlauch holte, meinte er: »Wahrscheinlich ist Benzin deswegen so teuer. Sie tun Wasser rein. Du glaubst mir nicht? Wenn du darauf bestehst, dass es im Geschäftsleben so was wie Moral gibt« – ich hatte kein Wort gesagt –, »dann hast du vielleicht die Freundlichkeit, mir zu erklären, wieso zwei Drittel des von der Regierung untersuchten Fleisches krebserzeugende Nitrate in überreichlichem Ausmaß

Der Verkäufer kehrte mit einem zusammengerollten Schlauch zurück und reichte ihn Vater, der ihn untersuchte und zurückgab.

»Will ich nicht«, sagte er.

»Das haben Sie verlangt«, sagte der Mann.

Vater machte ein mitleidiges Gesicht. »Was ist mit Ihnen, arbeiten Sie für die Japaner?«

»Wenn Sie’s nicht wollen, sagen Sie’s doch.«

»Ich hab’s gerade gesagt. Kommt aus Japan. Ich hab keine Lust, dass sich meine schwerverdienten Dollars in Devisen für die Söhne Nippons verwandeln. Ich will keine weitere Generation von Kamikaze finanzieren. Ich will ein amerikanisches Stück Gummischlauch, mit Schaum – arbeiten Sie hier oder nicht?« Er fluchte, weil der Mann sich entfernt hatte und einen anderen Kunden bediente.

Vater bekam seinen Gummischlauch in einem kleineren Eisenwarenladen in einer Nebenstraße, aber als wir schließlich zu dem Pick-up zurückkamen, war er einem Schlaganfall nahe: Was hätte er doch alles in dem ersten Geschäft sagen sollen. »Ich hätte ›Sayonara‹ sagen sollen, eine Riesenszene hätte ich machen sollen.«

Ein Polizist lehnte an unserer Parkuhr, die Hände darübergelegt, sein Kinn ruhte auf den Fingern, wie ein Arbeiter, der Pause machte und sich auf seine Schaufel stützte. Er schaute Vater an und lächelte eine Art Begrüßungslächeln; dann sah er mich und nagte an seiner Lippe.

»Müsste der Kleine nicht in der Schule sein?«

»Krank«, sagte Vater, ohne den Schritt zu verlangsamen.

Der Polizist folgte Vater zur Tür des Wagens, klemmte die Daumen in seinen Revolvergurt und sagte: »Moment mal. Warum ist er dann nicht im Bett?«

»Mit einer Fußpilzinfektion

Der Polizist bückte sich etwas und starrte mich über den Sitz hinweg an.

Ich löste die Schnürsenkel meiner Segeltuchschuhe, als der Polizist sagte: »Schon gut.«

»Bloß keine Entschuldigung«, sagte Vater und lächelte dem Polizisten zu. »Höflichkeit ist ein Zeichen von Schwäche. Auf die Weise lässt sich das Verbrechen nicht bekämpfen.«

»Wollen Sie was?« Der Polizist presste die Kiefer zusammen und rückte drohend näher. Er war jetzt wütend. Er wirkte schwergewichtig, auf der Hut vor allem Möglichen.

Vater lächelte immer noch. »Ich hab nur laut gedacht.«

Er sagte nichts mehr, bis wir die Straße nach Hatfield erreicht hatten.

»Hättest du wirklich deine Schuhe ausgezogen und dem Bullen deine gesunden Zehen gezeigt?«

»Du hast es doch gesagt«, erwiderte ich.

»Richtig«, sagte er. »Aber was muss das für ein Land sein, das aus friedlichen Ladenkunden Verräter und aus ehrlichen Männern Lügner macht? Nicht einer, der daran denkt, dieses Land zu verlassen. Charlie, ich denke jeden Tag daran!«

Er fuhr weiter.

»Und zwar deswegen, weil ich der letzte Mann bin!«

 

Das war unser Leben hier, die Farm und die Stadt. Vater arbeitete gern auf Polskis Farm, aber die Stadt löste Anfälle bei ihm aus. Das war der Grund, warum er mich der Schule fernhielt – genau wie Jerry und die Zwillinge.

Später am Tag, als wir eine Pumpe am Rande eines Feldes reparierten, sahen wir die Wilden wieder.

»Sie stammen aus dem Dschungel. Wanderarbeiter. Hatten keine Ahnung, dass es ihnen gut ging. Ich hätte jederzeit mit ihnen getauscht. Sie halten das hier fürs Paradies. Wären besser geblieben, wo sie waren.«

»Du hältst das für schlimm? Ganz im Gegenteil. Es sind die leeren Räume, die uns retten werden. Keine komischen Bunnies, keine Bullen, keine Ganoven, keine Räuber und Totschläger, keine süchtigen Schnüffler, keine Pestizide. Ich hab mich nicht verirrt, wie die da.« Er deutete auf die Wilden. »Ich kenn den Weg hinaus.«

Er berührte die verschiedenen Teile der Pumpe, so wie ein Arzt ein Baby nach Schwellungen abtastet, und immer noch redete er über leere Räume und Wilde. Ich schaute auf und sah sie. Sie schienen geradewegs aus der Wildnis gekrochen zu kommen, die er eben beschrieben hatte. Wir beobachteten, wie sie sich ihren Weg zu den oberen Feldern bahnten, und obwohl ich wusste, dass sie nur Spargel stechen würden, machten sie auf mich den Eindruck, als wären sie auf der Suche nach ein paar Fingern zum Abhacken.

»Sie kommen vom sichersten Platz der Erde – aus

Die Wilden gingen über die Felder, vornübergebeugt, hin und her schwankend. Die winzigen Köpfe eingezogen, so liefen sie in ihren riesigen Schuhen am Wald entlang und erschreckten die Krähen, die krächzend aufstiegen. Die Vögel flogen wie schwarze, von einer Leine gerissene Handschuhe rückwärts hoch, plusterten mit jedem Flügelschlag ihre Federn auf.

»Kein Fernsehen dort, wo sie herkommen. Kein japanischer Videodreck. Gib mir mal das Ölkännchen. Hier oben ist die Natur noch jung. Aber das Öko-System in den Tropen ist unendlich alt und hat sich von Anbeginn der Welt nicht verändert. Warum meinen sie, wir wüssten die Antworten? Meinst du, es sei der Glaube? Bedeutet Glaube nur, fromme Lieder wie ›Komm zu Jesus‹ zu singen?«

Mit dem Schraubenschlüssel machte er sich über das Gewinde des hervorstehenden Rohres her, hielt dann die Öffnung der Ölkanne an das Rohrgelenk und spritzte. Mit beiden Händen befreite er das Rohr und seufzte.

»Nein, Sir. Glaube bedeutet, an etwas zu glauben, von dem man weiß, dass es nicht stimmt. Ha!«

Er steckte seinen kurzen Finger in das rostige Getröpfel des Pumpengehäuses und zog eine Messingklappe unter einem Schwall Wasser heraus.

»Dort, wo diese Wilden herstammen, kannst du das Wasser nicht trinken. Da sind Lebewesen drin. Würmer. Winzige Kreaturen. Sie haben nicht genug Verstand, um es zu kochen und zu reinigen. Noch nie was von Filtrierung gehört. Die Keime gelangen in ihre Körper, und sie werden grün, wie das Wasser, und sterben. Die anderen denken sich, hier kann man’s nicht aushalten – Spinnen von der Größe junger Hunde, Moskitos, Schlangen, Überschwemmungen, Sümpfe, Alligatoren. Von geothermischer Energie haben sie keinen

Das Wasser strömte nun gleichmäßig aus der Pumpe, die inneren Mechanismen tickten und maßen.

»Ich fahr nicht mehr nach Northampton. Regt mich zu sehr auf. Ich hab’s satt, Leute zu treffen, die Sachen wollen, die ich bereits besessen und wieder abgelegt hab. Ich hatte jeden Dollar, den ich mir je gewünscht hab, Charlie. Und erzähl mir nichts von Erziehung und von Bildung. Der Bulle heute Morgen besaß Schulbildung – dieser Beamtenfaulenzer –, und alles, was er will, ist das, was ihm im Fernsehen vorgeführt wird. Ich würd den Kerl nicht mal nach Sandwiches schicken! Ich hab alles gehabt – alles, hinter dem die Leute her sind. Es funktioniert nicht, und es ist irritierend zu hören, wie es so ahnungslos angepriesen wird.«

Er sah mich lächelnd an.

Er sagte: »Es ist eine unvollkommene Welt.«

Jetzt betrachtete er lächelnd seinen abgeschnittenen Finger.

»Was unternehmen die Russen, während diese Leute in den Fernseher glotzen? Sie führen ein paar äußerst interessante Experimente mit Wasser durch. Sie entgasen es, lassen alles herausblubbern, einschließlich Sauerstoff und Stickstoff. Und wenn sie alles rausgepresst haben, versiegeln sie es in Steinkrügen, wie eingemachte Pfirsiche. Stellen es für eine Weile beiseite. Wenn sie dann dieses Wasser für Pflanzen verwenden, dann wachsen die zwei- oder dreimal so schnell – große, gesunde Monsterpflanzen. Bohnen klettern über ihre Stangen hinaus, Sommerkürbisse so groß wie Ballons, rote Rüben wie Volleybälle.«

Er machte eine Handbewegung zum Wasser hin.

Ich sagte, ich wüsste es nicht.

»Glaubst du, jemand sollte mal ein Wort mit Gott reden, dass er sich Gedanken übers Wetter macht? Ich sage dir, Charlie, es ist eine unvollkommene Welt. Amerika steckt in der Klemme.«

Er schob seine gewölbten Hände unter das spritzende Wasserrohr und hob sie zum Mund. Dann schlürfte er. »Das ist für diese Wilden wie Champagner.«

Mit schmatzenden Lippen deutete er an, wie wunderbar es war.

»Dinge, die du und ich für selbstverständlich halten, wie Eis. In ihrem Land gibt es so was nicht. Beim Anblick eines Eiswürfels würden sie wahrscheinlich denken, sie hätten irgendeinen Diamanten oder ein Juwel vor sich. Kein Eis – das ist nicht der Weltuntergang, scheint es. Aber denk mal drüber nach. Stell dir mal die Probleme vor, die sie ohne richtige Kühlung haben.«

»Vielleicht haben sie keine Elektrizität«, sagte ich.

Vater sagte: »Natürlich nicht. Wir reden vom Dschungel, Charlie. Aber du kannst auch ohne Strom Kühlung erzeugen. Du brauchst nur ein Saugsystem. Lass einen Staubsauger laufen, und du hast Kühlung. Hör zu, du kannst aus Feuer Eis machen.«

»Wieso wissen sie das nicht?«

»Keine Chance«, sagte er. »Eben weil sie Wilde sind.«

Er fing an, die Pumpe wieder zusammenzubauen.

Er sagte: »Müssen alle möglichen Krankheiten haben.« Er deutete mit dem Schraubenschlüssel in die Richtung, die die Männer eingeschlagen hatten. »Sie – sie haben Krankheiten.«

Die Männer schienen ihn zu faszinieren und zugleich abzustoßen, und er vermittelte mir diese Gefühle, indem er mir etwas Interessantes sagte und mich dann ermahnte, mich nicht zu sehr dafür zu interessieren. Ich hatte mich gefragt, woher er all das über die Männer wusste, die er Wilde nannte. Er behauptete, er wüsste es aus eigener Erfahrung, er habe in unzivilisierten Gegenden und unter

Die Krähen kehrten zum Wald zurück, schossen auf die Wipfel zu, kreisten vorsichtig darüber und ließen sich auf ihren Schlafplätzen nieder.

Ich sagte: »Sind diese Männer gefährlich?«

»Nicht so gefährlich wie der Durchschnittsamerikaner«, sagte er. »Und nur, wenn sie durchdrehen. Du erkennst es daran, dass sie lächeln. Das ist das Zeichen, wie bei Hunden.«

Er wandte sich mir zu und lächelte über das ganze Gesicht. Ich wusste, er wollte, dass ich weitere Fragen stellte.

»Und dann?«

»Dann verwandeln sie sich in Tiere. Killer. Tiere haben so eine Art Lächeln, kurz bevor sie einen beißen.«

»Beißen diese Männer?«

»Ich geb dir ein Beispiel. Weißt du, wie sie’s tun? Wie sie dich töten? Ich werd’s dir sagen, Charlie-Boy. Sie höhlen dich aus.«

Bei seinen Worten beschlich mich das Gefühl, als würden hundert scharfe Klauen an meinem Skalp zerren.

»Deswegen gehört Mut dazu, dorthin zu gehen – nicht nur das übliche bisschen Mumm, sondern Vier-Uhr-morgens-Mut. Wer hat so was schon?«

Wir arbeiteten draußen, bis der Himmel rot aufflammte, dann gingen wir zum Abendessen heim.

»Gib’s zu«, sagte Vater, »das ist besser als Schule.«

In dieser Nacht öffnete ich die Augen im Dunkeln und wusste, dass mein Vater nicht im Haus war. Das Gefühl, dass jemand fehlt, ist stärker als das Gefühl, wenn jemand da ist. Nicht nur, dass mir sein pfeifendes Schnarchen fehlte (gewöhnlich hörte es sich an wie eines seiner selbstgefertigten Druckventile) oder dass alle Lichter gelöscht waren. Es war ein Gefühl einsamer Leere, als befände sich ein menschenförmiges Loch in der Luft, dort, wo mein Vater hätte sein sollen. Und ich hatte Angst, dass dieser unberechenbare Mann tot war oder schlimmer noch als tot – dass er ausgehöhlt auf dem Grundstück herumgeisterte. Ich wusste, dass er fortgegangen war, und auf eine besorgte schuldbewusste Art – ich war dreizehn Jahre alt – fühlte ich mich verantwortlich für ihn.

Der Mond schien nicht, aber auch so ließ sich das Haus leicht durchsuchen, da es nirgendwo Schlösser gab. Vater missbilligte verschlossene Türen. Er drohte uns Schläge an, wenn wir uns einschlossen. Jemand hinter einer verschlossenen Tür führt nichts Gutes im Schilde, sagte er. Oft brüllte er vor der Badezimmertür: »Verbarrikadier dich bloß nicht da drinnen!« Er war in einem kleinen Fischerdorf an der Küste von Maine aufgewachsen – er nannte es »Dogtown« –, wo verschlossene Türen unbekannt gewesen waren. In den Jahren, die er in Indien und Afrika verbracht hatte, habe er sich auch an diese Regel gehalten, sagte er. Ich wusste nie genau, ob er wirklich dort gewesen war. Ich wuchs auf in dem Glauben, dass die Welt ihm gehörte und dass alles, was er sagte, der Wahrheit entsprach.

In allem, was er tat, wirkte er groß und kühn. Das einzig Gewöhnliche an ihm war, dass er Zigarren rauchte und den ganzen Tag über eine Baseballmütze trug.

Meine Gummistiefel standen innen direkt neben der Tür. Ich zog sie an und trabte, immer noch im Pyjama, den Pfad entlang, um meinen Alten zu suchen.

Unser Haus war von umgepflügten Feldern umgeben. Die Ränder eines jeden Feldes waren mit Buschwerk besetzt, das als Windschutz zurechtgestutzt war. Mais und Tabak hatten zu sprießen begonnen, und obwohl man zwischen den Furchen leichter vorankam, hielt ich mich an den Pfad, die Arme schützend vor dem Gesicht, um die Zweige abzuwehren. Nicht die Zweige, die Spinnweben hasste ich, die sich quer über den Weg zogen und mir die Augenwimpern verklebten. Diese Wälder steckten voller morastiger Sümpfe, und die Geräusche dieser Nacht stammten von den Frühlingslaubfröschen, den kleinen schlüpfrigen Fröschen, glänzend wie Fischköder, die ein derartiges Getriller erzeugten. Die Bäume waren blau und schwarz, wie hoch aufragende Hexen. Wo war mein Vater?

Eingehüllt und geschützt von der Dunkelheit, so hatte ich das Haus verlassen, aber je weiter ich ging, desto heller schien es zu werden. Jetzt war das Land schlammig gelb. Manche Bäume waren aschfarben, die Spitzen ragten wie Eisendorne in den schweren, grauen Himmel. Ich konnte ein paar Wolken sehen. Eine hatte die Form eines Brotes, und ich vermutete den Mond dahinter, denn sie leuchtete hell und ölig, als verberge sie eine Fabrikstadt im Himmel.

Nach einer Weile wünschte ich mir, ich hätte das Haus nicht in

Der Wald wurde dünner. Ich sah einzelne Bäume vor dem Himmel und eine weitere Reihe vor einem gelblichen Feld. Ein Haufen Felsbrocken verriet, wo ich mich befand. Dieser Hügel war übrig geblieben, weil er sich unmöglich pflügen ließ. Er war schmal und stieg vom Waldrand her steil an; das Ganze wirkte wie ein Schiff. Bei Tageslicht war es, von der Seite gesehen, ein Schoner mit steinernem Bug, einer Fracht auf Deck und dreißig belaubten Masten – gestrandet im Spargelfeld, zwischen den Windbrechern, die wie Inseln aussahen.

Die meisten Felder hier waren Spargelfelder. Es war so weit, die Ernte hatte begonnen. Ein merkwürdiger Anblick, denn der Spargel wächst nicht in Furchen und Reihen. Die Felder sind flach und glatt wie ein Parkplatz. Aus der Entfernung kann man Spargelpflanzen nicht erkennen, erst wenn man nah herankommt, sieht man die Spitzen – keine Blüten, keine Blätter –, einfach nur dicke grüne Kerzen, die überall aus dem Boden hervorbrechen. Von meinem Standort sah ich nichts als die glatte, plattgewalzte Erde und ihr stumpfes Schimmern – es war die Dünung in einem wellenlosen Meer. Und hinter diesen Feldern erstreckte sich das schwarze Band der Nacht; dort, so fürchtete ich, befand sich mein Vater.

Leuchtkäfer flimmerten durch die Nacht. Sie waren winzig und

Aber ein Haufen kleiner Lichter in der Ferne erstarb nicht. Sie schwankten; es waren Fackeln, und als ich sicher war, dass sie von Männern getragen wurden, machte ich mich auf den Weg zu ihnen, quer durch die Spargelfelder, ohne Rücksicht auf die Spitzen, die ich umtrat, wobei meine Stiefel tief in die Erdkruste einsanken.

Als ich näher kam, sah ich, dass die Flammen alle in einer Reihe flackerten – eine Prozession von Leuten, einzeln hintereinander, die Fackeln über ihre Köpfe hielten, deren Flammen wie Fahnen im Wind flatterten. Die breitkrempigen Hüte wurden beleuchtet, aber die Gestalten konnte ich nicht erkennen. Sie strömten aus einem Pinienwäldchen, in dem ein altes Gebäude stand, das wir das Affenhaus nannten.

Männer mit Fackeln, die um Mitternacht durch die Felder des Tales marschierten – nie hatte ich etwas Ähnliches gesehen. Es war wie eine Flammenschlange, und ich glaubte, ein Klappern zu hören, wie Bohnen, die in einer Büchse geschüttelt werden. Meine Neugierde überwog meine Angst, außerdem hatte ich mich so gut versteckt und war immer noch so weit entfernt, dass ich mich nicht bedroht fühlte.

Die Prozession hielt sich jenseits einer Steinmauer, die sich zwischen den Feldern hindurchzog – Spargel hier, junger Mais dort. Ich musste bleiben, wo ich war. Wenn sie mich entdeckten, so stellte ich mir vor, würden sie über mich herfallen und in Brand stecken. Dieser Gedanke und die Gewissheit, dass ich hier in Sicherheit war, ließen mich erschauern. Ich bückte mich, rannte bis zum Graben, legte mich flach hin und hielt Ausschau.

Dann änderten sie die Richtung und kamen auf mich zu. Hatten sie mich rennen sehen? Mein Herz setzte fast aus, als die Fackeln durch ein Tor in der Steinmauer schwankten, und ich dachte: O Gott, sie werden mich verbrennen.

Die Männer kamen immer näher. Sie schnatterten und schwätzten immer noch – es hörte sich froh und glücklich an –, und das Zischen der Fackeln drang an meine Ohren, die Flammen klangen wie Bettlaken, die an der Wäscheleine flatterten – kein Knacken und Knistern, bloß das Schlagen des Feuers. Ich schaute auf. Ich war darauf gefasst, Fackelträger mit wirren Gesichtern zu erblicken, aber was ich sah, ließ mich beinahe einen Schrei ausstoßen. Der Mann ganz vorn trug ein riesiges schwarzes Kreuz.

Das Kreuz war nicht aus Brettern gemacht, sondern rund – zwei kräftige, zusammengebundene Stämme. Die Stellen, wo die Äste abgehackt worden waren, leuchteten schrecklich weiß, wie ovale Wunden auf der Haut. Und hinter dem Mann mit dem Kreuz, noch erschreckender, schleppte ein Mann einen menschlichen Körper, der schlaff über seiner Schulter hing, mit baumelndem Kopf und Füßen und schwingenden Armen. Er trug die Leiche so wie einen Sack mit Saat; groß und weich und schwer. Es war furchtbar, wie die Glieder hin und her pendelten. Im Schein der Fackeln leuchtete das Gesicht des Trägers gelb. Er lächelte.

Ich mochte nicht mehr hinschauen. Ich zitterte vor Kälte. Du kannst aus Feuer Eis machen, sagte Vater. Jetzt glaubte ich ihm. Dieses Feuer ließ meine Eingeweide erstarren.

Ich befreite mich von den Ranken, kroch aus dem Graben und leerte meine Stiefel aus. Dann watete ich den Graben entlang, so weit es ging, und schlich schließlich über das Spargelfeld zum Wald. Mittlerweile befand sich die Prozession hinter den Bäumen. Zurückgeblieben war nur noch der Geruch benzingetränkter Lumpen und verbrannter Blätter. Mein Versteck an dieser Stelle war gut. Hinter einem Felshaufen verborgen, konnte ich alles genau sehen.

Zwei der Männer standen vornübergebeugt. Sie mussten den Toten an das Kreuz gebunden haben, denn kurz darauf sah ich im Schein des Fackelkreises, wie das Kreuz mit einem Mann daran hochgezogen wurde; seine Hände waren gebunden, die Füße hingen hinunter, der Kopf zur Seite weggekippt.

Es sah schlimm aus, und ich erwartete, dass die Männer toben und schreien würden. Aber nein, alles blieb still, fast fröhlich, und das war schlimmer, wie in einem Albtraum, den man durchmacht und den man nicht erklären kann. Bei all dem Hin und Her war meine Angst, entdeckt und bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, so groß gewesen, dass ich ganz vergessen hatte, weshalb ich hier war. Genau in dem Moment, wo ich zu dem erhobenen Kreuz hinsah, fiel mir wieder ein, dass ich meinen Vater suchte. Die Erinnerung und der Anblick kamen im gleichen Augenblick, und ich dachte: Der verkrümmte Tote dort ist mein Vater.

Ich saß da, presste die Hände auf die Augen und versuchte, die Tränen zu stoppen, aber ich schluchzte weiter, bis sich mein ganzer

Außer zusehen und zuhören konnte ich nichts tun. Ich hatte mich an den düsteren Anblick gewöhnt, und je länger ich hinsah, desto mehr fühlte ich mich dafür verantwortlich, so als wäre es meiner Phantasie entsprungen, ein böser Gedanke, der erst in meinem Kopf lebendig geworden war. Und dass ich alles beobachtete, machte mich zum Komplizen.

Für Sorgen blieb keine Zeit. Auf einen Schlag löschten die Männer die Fackeln. Nach dem Flammenschein und den Schatten und dem erleuchteten Kreuz gab es jetzt nur noch Hemden und Hüte zu sehen – skelettweise Lumpen, die sich ohne Körper bewegten –, und Schweigen, als diese in Lumpen gehüllten Männer auf mich zuströmten.

Ich sprang auf und rannte um mein Leben.

 

Ich bin der letzte Mann! Oft genug hatte Vater das gerufen.

Ich lag wieder in meinem Bett, in dem dunklen, unversperrten Haus; es schmerzte, nicht mehr zu träumen, sondern zu denken. Ich kam mir klein und geschrumpft vor. Vater, der glaubte, dass es in Amerika Krieg geben würde, hatte mich auf seinen Tod vorbereitet. Den ganzen Winter über hatte er gesagt: »Es kommt – etwas Schreckliches wird hier geschehen.« Er war ruhelos und redselig. Er sagte, die Zeichen mehrten sich. Die hohen Preise, die Gereiztheit, die Sorgen tief im Bauch. Und die Dummheit und Gier der Leute und ihre Fettleibigkeit – wie die Schweine. Blutige Verbrechen wurden in den Städten begangen, und Verbrecher blieben unbestraft. Es würde kein normaler Krieg sein, sagte er, sondern einer, an dem niemand unschuldig sei.

»Dicke Dummköpfe werden ausgehungerte Verbrecher bekämpfen«, sagte er. »Die einen wirst du hassen und die anderen fürchten. Es wird zu einem nationalen Hirnschaden kommen. Wer bleibt da noch, dem man vertrauen könnte?«

»Wenn es soweit ist, werden sie mich als Ersten töten. Sie bringen immer zuerst die Cleveren um – diejenigen, bei denen sie Angst haben, sie könnten von ihnen überlistet werden. Dann, wenn sie niemand mehr aufhalten kann, werden sie sich gegenseitig in Fetzen reißen. Werden dieses schöne Land in eine Müllgrube verwandeln.«

Aus seinen Worten sprach keine Verzweiflung – er stellte nur eine Tatsache fest. Der Krieg war Gewissheit, aber noch hoffte er. Er sagte, er glaube an sich selbst und an uns. »Ich werd euch fortbringen – wir werden zusammenpacken und verschwinden. Und wir werden hinter all dem die Tür zuschlagen.«

Ihm gefiel der Gedanke, sich aufzumachen, wegzuziehen, irgendwo an einem unberührten Ort neu anzufangen, mit nichts anderem als seinem Verstand und seiner Werkzeugkiste.

»Mich werden sie als Ersten erwischen.«

»Nein.«

»Die Cleveren erwischen sie immer zuerst.«

Das konnte ich nicht leugnen. Er war der klügste Mann, den ich kannte. Es konnte nicht anders sein, er musste als Erster sterben.

Ehe ich die Prozession um Mitternacht und den Toten am Kreuz

Die dunklen Stunden verstrichen. Bald schon würde es Morgen sein, ich musste jedermann ins Gesicht sehen und ihnen sagen, dass Vater es vorausgesagt hatte. Ich lag im Bett und dachte daran, dass Vater gesagt hatte, das Land sei dem Untergang geweiht. Er hatte versprochen, uns zu retten und uns hinauszubringen, ehe es zu spät war. Aber er war nicht mehr da, und ich war zu schwach, die anderen zu retten, und in dem Traum, in den ich mich schließlich im kalten Morgengrauen flüchtete, führte ich Mutter und die Zwillinge und Jerry durch brennende Felder unter einer wunden Sonne und einem blutroten Himmel, und unsere Kleider hingen in Fetzen, und überall war Rauch, und wir hatten nichts zu essen. Sie verließen sich auf mich, und nur ich wusste Bescheid, hatte aber Angst, ihnen zu sagen, dass ich den falschen Weg eingeschlagen hatte, weil es zur Umkehr zu spät war.

An dem zerrissenen rotschwarzen Himmel tauchte das spöttische Gesicht meines Vaters auf, nachdem wir stundenlang gelaufen waren, und sagte: »Wo bist du gewesen, Sonny?«

Ich bedeckte die Augen. Ich träumte immer noch, alles tat mir weh, Mutter und die Kinder hinter mir, vor mir die Katastrophe und kein Ausweg, keine Rettung.

»Wo bist du gewesen?«

Ich erwachte und sah sein Gesicht, sonnenverbrannt und ärgerlich, und setzte mich auf, weil ich damit rechnete, geschlagen zu werden – ich hatte Angst, er sei tot, dann Angst, weil er drohend vor mir stand. Seine Zigarre machte mir klar, dass ich nicht träumte. Ich war zu entsetzt, um in Tränen auszubrechen.

»Ich hatte einen schlimmen Traum.«

»Du musst von Giftsumach geträumt haben«, sagte Vater. »So einen schlimmen Fall hab ich noch nie gesehn.«

Während er noch sprach, spürte ich die Schmerzen. Mein Gesicht fühlte sich körnig und verletzlich an, und meine Arme ebenso.

»Nicht hinlangen. Damit breitest du’s nur aus. Raus aus dem Bett, und zieh dir was an.« Er ging aus dem Zimmer, und während ich meine Kleider anzog, sagte er: »Du hast dich in den Büschen herumgetrieben – das ist’s.«

Das lose Brett an der Schwelle sagte mir, dass alles normal war. Ich roch Kaffee und Schinken und hörte die Zwillinge kreischen; in meinem ganzen Leben war ich noch nie so froh gewesen. Ich ging ins Bad. Mein Gesicht sah im Spiegel wie ein Granatapfel aus, meine Arme und Schultern flammten vom Ausschlag des Giftsumachs. Ich rieb die Stellen mit Zinkspat ein und ging in die Küche.

»Ein Gespenst«, sagte Jerry beim Anblick meines weißen Gesichts.

»Du Ärmster«, sagte Mutter. Sie stellte einen Teller mit Eiern vor mich hin und gab mir einen Kuss auf den Kopf.

Vater sagte: »Ist seine eigene Schuld.«

Aber es war nicht der Rede wert. Nach allem, was ich gesehen hatte, war mein Ausschlag wie eine Erlösung.

»Iss auf«, sagte Vater. »Die Arbeit wartet.«

Ich wollte arbeiten, die Werkzeugkiste tragen und ihm das Ölkännchen reichen und sein Sklave sein und alles tun, was er von mir verlangte. Ich verdiente es, bestraft zu werden. Ich wollte die Fackeln und die Männer vergessen. Ich war wieder dreizehn Jahre alt. Ich hatte mich wie vierzig gefühlt.

Vater sagte: »Komm in die Werkstatt, wenn du fertig bist.«

»Armer Charlie«, sagte Mutter. »Wo hast du dir diesen Ausschlag geholt?«

Sie schüttelte den Kopf und lächelte. Sie wusste, dass es mir leid tat.

»Ma!«, schrie Jerry. »Charlie starrt mich mit seinem weißen Gesicht an.«

Vaters Werkstatt lag hinter dem Haus. Sprüche und Zitate auf Pappkarton waren an Bretter und Regale geheftet; Werkzeug und Rohre und Drahtspulen und verschiedene Geräte lagen herum. Neben allen möglichen Motoren und einer Schmierpresse und seiner Drehbank, die der Werkstatt das Aussehen eines Arsenals gaben, standen hier auch seine Donnerbüchse und ein Allzweckapparat, den er als seinen »Atomzertrümmerer« bezeichnete.

Auf dem Boden, so groß ungefähr wie eine Truhe, stand hochkant eine Holzkiste, an der er fast den ganzen Frühling hindurch gebaut und herumgebastelt hatte. In ihrem Inneren waren keine Drähte und kein Motor. Mit einem Schweißbrenner hatte er alles zusammengeschweißt, lauter Rohre und Gitter und Tanks, darunter Kupferröhren und eine Tür, die zu einer oben angebrachten Blechschachtel führte. Es roch nach Kerosin, und ich hielt es für eine Art Ofen, weil an der Rückwand ein rußiges Ofenrohr angeklammert war. Vater sagte, wir müssten dieses Ding auf den Pick-up-Truck schaffen.

Ich versuchte, die Kiste anzuheben. Sie rührte sich nicht.

»Willst du dir einen Bruch heben?«, sagte Vater.

Er ließ sich Zeit; mit übertriebener Sorgfalt baute er Block und Flaschenzug auf ein Dreibein, und wir schwangen die Kiste mit den eingepassten Rohren auf den Wagen.

»Was ist das?«

»Nenn es eine Kühlanlage. Du wirst’s erfahren, wenn Doktor Polski Bescheid weiß.«

Er nahm den hinteren Weg, fuhr auf den Traktorspuren am Rande der Felder auf Polskis Farmhaus zu. Als wir an dem wie ein Schiff

Was war das da in dem umgepflügten Feld? Ein Kreuz, ein Toter hing daran, schwarze Lumpen und ein schwarzer Hut, ein Knochenschädel und gebrochene Hände und verdrehte Füße.

Ich erstarrte; ich stammelte und zitterte, als ich ihn fragte, was das war.

Vater fuhr noch immer schnell die Wagenspuren entlang. Er wandte nicht den Kopf. Er grinste bloß und sagte: »Erzähl mir nicht, du hättest noch nie eine Vogelscheuche gesehen.«

Er trat aufs Gas.

»Und es muss eine verdammt gute sein.«

Ich blickte zurück und sah sie im leeren Feld hängen, die alten Kleider mit Stroh ausgestopft. Mein Hautausschlag vom Giftsumach juckte vom Schweiß, und am liebsten hätte ich mir das Gesicht zerkratzt.

»Sie hat dich ganz schön erschreckt!« Er lachte.

Die offizielle Version war, dass Tiny Polski, der von Vaters Erfindungen gehört hatte, ihn besuchte und bat, zu ihm nach Hatfield zu kommen. Wir lebten damals in Maine, nicht in Dogtown, sondern in den Wäldern. Vater versuchte es ein Jahr lang mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit: Er zog Gemüse und baute Solarzellen und hielt uns von der Schule fern. Polski versprach Geld und einen Anteil an der Farm. Vater lehnte ab. Polski sagte, er habe ungewöhnliche Probleme zu bewältigen, weil er die Wachstumsperiode mit technischen Mitteln verlängern wolle, er ziele auf zwei Ernten im Jahr ab. Es war eine gute Gegend, um Kinder großzuziehen; ein sicheres, glückliches Tal, Meilen von jeder Stadt entfernt. Also akzeptierte Vater. So lautete die Geschichte, die er mir erzählte. Aber ich wusste es besser. In Maine hatte es nicht gut um uns gestanden. Vater hatte sich geweigert, das Gemüse mit Insektiziden zu besprühen – die Würmer fraßen es, bevor es reifen konnte. Regen und Sturm verwüsteten die Solarzellen. Eine Zeit lang aß Vater nichts und wurde ins Krankenhaus gebracht. Er nannte es den »Klingelpalast«, aber er kam lächelnd wieder heraus und sagte: »Hab überhaupt nichts gespürt.« Er war wieder gesund, außer dass er ab und zu unsere Namen vergaß. Sozusagen mit nichts waren wir nach Hatfield gefahren. Er liebte es, ganz unten anzufangen.

Es war unmöglich, an Polski oder sonst jemanden als Vaters Boss zu denken. Vater nahm keine Befehle entgegen. Er bezeichnete Polski als »den Zwerg«, nannte ihn »Roly« und »Doktor Polski« – »Doktor« war purer Sarkasmus, um irgendwelche freundschaftlichen Gefühle von vornherein zu entmutigen. Er glaubte, dass Polski ihm, genau wie die meisten anderen Männer auch, unterlegen war.

Polski erwartete uns auf seiner Veranda, als wir in den Hof fuhren. Seine Augen waren grau und hart. Er war älter als Vater, klein und rundlich, wie mit Sägemehl ausgestopft. Er trug ein kariertes Hemd; ein Gürtel um die Mitte bauschte seinen lockeren Overall in zwei Säcke. Sein Jeep war blitzblank, seine Stiefel waren nie schlammverkrustet, sein Hut zeigte keine Schweißflecken. Er rauchte nicht. Er war stets für Dreckarbeit gekleidet, machte sich aber nie schmutzig. Wir waren noch nie in seinem Herrenhaus gewesen, aber ob das daran lag, dass Vater sich schlichtweg weigerte einzutreten, oder ob wir nicht eingeladen worden waren, konnte ich nicht sagen. Vielleicht war Polski zu schlau, Vater einzuladen und sich dann eine seiner Ansprachen über den ganzen Dreck und die Cheeseburger anhören zu müssen. Ich hatte durch die Fenster gesehen und den polierten Tisch und die Kristallvase mit den Blumen erblickt, die Teller auf der Anrichte und Ma Polskis emsigen Rücken, als sie sich bückte und sauber machte. Nichts davon wirkte einladend. Und Ma Polski sah wie ein Teil des Zimmers aus.

»Schöner Tag«, sagte Polski.

»Können Sie laut sagen«, meinte Vater.

»Hoffe, am Wochenende ist’s auch so. Hab was vor am Sams tag.«

Er hatte eine komische Aussprache, aber Vater gab keinen Kommentar dazu ab. Er war aufgeregt. Schon während der Fahrt war er ungeduldig gewesen, scharf darauf, Polski das Gerät, das er gebaut hatte, zu zeigen, seine »Kühlanlage«. Er war stolz darauf, was immer es sein mochte. Trotzdem saß er noch im Wagen und kaute auf seiner Zigarre herum.

»Haben Sie ’n Streichholz, Doktor?«

Polski zog die eine Augenbraue hoch und wiegte sich auf seinen Absätzen. Die Frage verblüffte ihn. Er sagte: »Haben Sie die ganze Fahrt wegen einem Streichholz gemacht, Mr Fox?«

»Jawoll.«

Vater studierte meinen Hautausschlag an Gesicht und Armen. Er sagte: »Du hast die Räude. Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt.«

Er sprang hinaus und baute hinter dem Truck Block und Flaschenzug auf. »Das wird ihn aus den Stiefeln kippen«, sagte er. Er schwang die Kühlanlage auf den Fahrweg. »Er wird den Mund nicht mehr zukriegen.«

Polski kam mit einer Schachtel mit großen Küchenstreichhölzern zurück, schaute auf die Kühlanlage und sagte: »Ziemlich klein für ’nen Sarg.«

»Ich frag mich, ob Sie noch was für mich tun könnten«, sagte Vater. »Ich brauch ein Glas Wasser. Bloß ein Glas normales Leitungswasser.«

Polski betrat, »ein Glas normales Leitungswasser« vor sich hin murmelnd, das Haus. An der Art, wie er es sagte und wie die Tür hinter ihm zuknallte, erkannte ich, dass er langsam gereizt wurde. Er kam wieder mit dem Wasser heraus, gab es Vater und sagte: »Sie sind ein geheimnisvoller Mann, Mr Fox. Jetzt aber los.«

»Sie sind ein Gentleman.«

Jetzt sah Polski mich zum ersten Mal richtig an. »Giftsumach. Bist ja ganz voll davon. Wenn das nichts ist.«

Ich trat einen Schritt zurück und berührte beschämt mein Gesicht. Von einer Vogelscheuche hatte ich mich zum Narren halten lassen. Inzwischen war ich dahintergekommen. Es war durchaus vernünftig, die Vogelscheuchen nachts aufzustellen, damit es die Vögel nicht merkten. War das meine Lektion?

»Also gut, was ist es?«, sagte Polski zu Vater.

»Ich erklär Ihnen mal, was es nicht ist«, sagte Vater, öffnete die Holzkiste und enthüllte das Metallfach mit der eingehängten Klappe und dem Gummischlauch, den wir in Northampton gekauft hatten. »Es ist kein Sarg, auch kein Stück verfaultes Fleisch. Ha!« Er zog die

»Nichts.«

»Du bist Zeuge, Charlie.«

Polski lachte. »Ein Zeuge mit zugeschwollenen Augen!«

Vater kippte ein bisschen was von dem Wasser aus dem Glas, schien es an den Spritzern abzumessen, bis das Glas ungefähr noch zweieinhalb Zentimeter hoch gefüllt war. Er stellte das Glas in das Metallfach, schloss die Klappe, schloss die Tür, schloss den Haken und zündete dann ein Streichholz an.

Polski sagte: »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie jetzt das Glas Wasser kochen.«

»Hab Besseres zu tun.«

»Ich auch!«

Polski zog die Lippen hoch. Er kochte.

Vater sagte: »Sie werden nicht enttäuscht sein.«

»Was ist das für ein Gestank? Kerosin?«

»Richtig. Billigster Brennstoff in Amerika.«

»Und der stinkendste.«

Vater sagte: »Geschmackssache.«

Polski begann zu würgen. »Und Sie sagen, Sie werden nichts kochen?«

»Nicht direkt.«

Vater genoss es. Er arbeitete an der Rückseite der Holzkiste, wo sich die Röhren und das Heizelement befanden. Kühlanlage war ein guter Name für diese Kiste aus Rohrverbindungen. Er hatte einen Docht entzündet, der über ein feines Stahlrohr vom Brennstofftank aus befeuchtet und genährt wurde; beim Justieren der Flamme stiegen schmierige Rußwolken aus dem Ofenrohr. Aus dem Inneren drang ein Gluckern, das Geräusch eines hungrigen Magens, aber außer einem Schwall mickriger Spritzer in den Röhren passierte nichts, kein Motorsummen und auch kaum Hitzeentwicklung.

»Rülpst oder furzt sie?«, sagte Vater. »Das ist hier die Frage.«

»Wenn diese Röhren dicht sind, dann fliegt das in die Luft«, sagte er. »Überdruck.«