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Gerd H. Meyden (Hg.)

FRIEDRICH
VON GAGERN

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Die besten Erzählungen

Mit 10 Skizzen des Schriftstellers

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Leopold Stocker Verlag

Graz – Stuttgart

Umschlaggestaltung: DSR – Werbeagentur Rypka, A-8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

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Leopold Stocker Verlag GmbH

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ISBN 978-3-7020-1724-8
eISBN 978-3-7020-1854-2

© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2018
Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, A-1010 Wien
Druck: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan im Lavanttal
Printed in Austria

Inhalt

Vorwort

Gagerns Sprache

Auszüge aus: Friedrich von Gagern Birschen und Böcke

1. Aus den Heimatbergen.

2. Adam und ich. – Böcke sind da, bitte. – Trick. – Ich und die Metersekunde.

3. Falco peregrinus. – Andreas Pechbart. – Der große Rjäbotzk.

8. Der echte Demetrius. – Dammbruch. – Letzte Taten und Abschied.

Auszüge aus: Friedrich von Gagern Der Jäger und sein Schatten

Auszüge aus: Friedrich von Gagern Grüne Chronik

Aquarelle. – Ein Uskokenbock.

Vorpaß.

Visionen.

Nur Krähen.

Stunde und Stimmung.

Glossar

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Vorwort

Friedrich Freiherr von Gagern (1882–1947) ist der Inbegriff der klassischen, erzählenden Jagdliteratur. Viele Jagdschriftsteller hat er mit seiner wunderbaren, wortschöpfenden Sprache inspiriert. Beim Lesen ihrer Werke wird Gagerns Geist deutlich erkennbar. Wortwahl und Stil lassen vor dem geistigen Auge des Lesers Bilder von geradezu greifbarer, farbiger Wirklichkeit entstehen und machen uns den Reichtum der deutschen Sprache bewusst. Gagern zu lesen ist ein Genuss im Vergleich mit manchen nüchternen „Berichten“ sich modern gebender Literatur. Was der Jäger neben der Jagdbeute sucht, ist die Stimmung, das Erleben in und mit der Natur. Gagern zaubert Stimmung! Das wird den Leser unendlich bereichern.

Während bei Cramer-Klett – nur um den anderen wahrhaft großen Vertreter der Jagdliteratur zu nennen – Hirsch, Gams, Rehbock, Hahn und Fuchs gleichen Raum einnehmen, steht bei Gagern der Rehbock im Mittelpunkt seiner Erzählungen. Doch, man staunt, auch den Krähen, den verfemten, respektlos Aaskrähen genannten, zollt er im Kapitel „Nur Krähen“ seine Achtung.

Zu meinem achtzehnten Geburtstag bekam ich Gagerns „Der Jäger und sein Schatten“. Seitdem haben mich seine Werke, auch die weniger jagdlichen, begleitet. Selbst beim Ansitz ist – um es mit Gagerns Worten zu sagen – oftmals ein Buch von ihm im „Schnerfer“. Dem Leser wird bei Gagerns Erzählungen bewusst werden, was in unserer hektischen Zeit verloren gegangen ist. Diese Erkenntnis kann helfen, zu sich selber, zu eigenem, tieferem Erleben zu finden.

Seine Ein- und Ansichten sind so aktuell wie eh und je und sind in Manchem sogar unserer Zeit voraus. Sie haben mein jägerisches Handeln beeinflusst. Gagern hat, wie jeder kritische Mensch, Wandlungen in seinem Tun vollzogen. Mit dem Wild, das er bejagte, hat er mitgefühlt und dabei sein Tun prüfend hinterfragt. Dies ist für uns heutige Jäger ein wichtiges Vermächtnis. Gleiches zu tun ist für uns eine Verpflichtung.

Mit den Jahren ist Gagern bewusst geworden, dass die Jagd in der Brunftzeit seiner Auffassung von Weidgerechtigkeit und seinem Respekt vor der Kreatur nicht standhält. In einigen unserer Nachbarländer ruht die Jagd während der Paarungszeit. Es sind nicht die schlechtesten Jäger, die ein solches Gesetz befürwortet haben. Die Abkehr von der Blattjagd hat ihm viel Kritik eingebracht. Man argumentierte gegen ihn, er hätte sich vorher satt geschossen.

Was hindert einen Menschen, seinen Standpunkt zu korrigieren? Auf jeden Fall sollte seine Ansicht zum Nachdenken anregen, nach dem Motto: „Jäger, was tust du da?“ Damit würde seine Botschaft auf fruchtbaren Boden fallen. Denn der Boden der Weidgerechtigkeit ist nichts anderes als Fairness und Respekt gegenüber dem Mitgeschöpf.

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Gerd H. Meyden

Herausgeber

Forstinning, im Jänner 2018

Gagerns Sprache

Die Erzählungen in diesem Buch wurden der „Grünen Trilogie“ entnommen, dem bekanntesten jagdlichen Werk Friedrich von Gagerns, von dem unzählige Auflagen gedruckt und zigtausende Bücher verkauft wurden.

Diese Trilogie besteht aus den Bänden „Birschen & Böcke“, „Der Jäger und sein Schatten“ und „Die Grüne Chronik“, diese wiederum enthält „Stunde und Stimmung“ (Der grünen Chronik erster Teil) und „Tage nach meinem Herzen“ (Der grünen Chronik zweiter Teil).

Gerd H. Meyden, der Herausgeber dieses Sammelbandes, hat Gagerns beste Geschichten aus dessen Heimat, den krainischen Uskoken und seinen Jagderlebnissen in polnischen Revieren ausgewählt.

Die ausgewählten Texte wurden unverändert aus den jeweiligen alten Büchern übernommen. Deshalb möchten wir Ihnen am Ende des Buches ab Seite 175 einige früher gebräuchliche Begriffe, die heute wahrscheinlich vielen nicht mehr geläufig sind, „übersetzen“ bzw. erklären.

Ganz bewusst wurde die alte Rechtschreibung beibehalten. Einige wenige offensichtliche Druckfehler hatten sich in den Büchern, die als Vorlage dienten, eingeschlichen. Diese haben wir korrigiert.

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Friedrich von Gagern lebte bis zu seinem Tod in Geigenberg (Marktgemeinde St. Leonhard am Forst). Dort befindet sich zu Ehren des berühmten Schriftstellers ein Gedenkstein.

Foto: Marktgemeinde St. Leonhard a. Forst/Anton Emsenhuber

Auszüge aus:

Friedrich von Gagern

Birschen und Böcke

(Hubertus-Verlag, Paul Schettlers Erben A.-G., Cöthen-Anhalt, o. J.)

1.

Aus den Heimatbergen.

Als kleiner Junge schon, da ich den Knall der väterlichen und brüderlichen Flinten mehr fürchtete als liebte, hatte ich ein heißes Interesse für die Rehkronen, deren Gruppen erst die schöne steinerne Vorhalle des Speisesaales verzierten, dann aber aus irgendwelchen ästhetischen Gründen nach einer bescheidenen Diele des Obergeschosses verbannt wurden.

Gerade hier, in dieser schmalen, stillen, dämmerigen Diele, abseits vom Spott der Großen, von den Verkehrsstraßen des Schlosses, vom Kommen und Gehen störender Gäste, gerade hier lernte ich das krause Rehgehörn lieben, verstehen, schauen, unterscheiden, lange noch bevor ich einen leibhaftigen toten, und weit, weit länger, bevor ich einen leibhaft lebendigen Bock gesehen.

Es muß im Blute liegen.

Lesen und schreiben, diese beiden gefährlichen Schwarzkünste, waren mir schon von der alten Fanny, dem unvergeßlichen treuen Drachen, mit der ihr eigenen Gründlichkeit früh beigebracht worden. Mit vier Jahren eröffnete ich bereits einen bleistiftnen, vorliniierten Briefwechsel mit meiner eben verreisten Mutter; mit sechs Jahren las ich schon in der schweinsledernen Chronik des Freiherrn von Valvasor1 und in irgendeinem Bande des prachtvollen Spamerschen „Buches der Erfindungen“, das mir die strenge Großmutter aus der Bibliothek meines weiland Großvaters darlieh und das mir schon darum lieb, unvergeßlich und unentbehrlich geblieben ist.

Aber mehr noch als Webstuhl und Austernfischerei, Dampfmaschine und Salzbergbau, mehr noch als die entzückenden Burgerschen Titelholzschnitte jener ehrwürdigen schwarzen Kalikobände2 hatten es mir die Rehkronen in der verschwiegenen Diele angetan.

Da stand ich stundenlang und schaute, verglich und betrachtete, wählte und fabelte mir dazu schöne Jagdgeschichten aus, und Fanny mit fuchtelndem Strickzeug hielt über meinen Privatstudien treue Wacht.

So wenig dienlich die allgemeine Aufklärung dem Weltfrieden und reibungslosen Ablauf der Weltgeschichte, in unserem Falle erwies sich die gewonnene Kunde als wertvoll.

So konnte ich mühelos die Inskriptionen auf den bald spitz, bald halbrund zugeschnittenen Schädelplatten entziffern und daraus meine Schlüsse ziehen.

Das häßliche gelbe Gehörn da unten hatte der verhaßte Onkel August erbeutet; es sah ihm ähnlich und schielte gleich ihm nach außen.

Jenes geringe zierliche Stangenpaar stammte von Papas erstem Bock; wer es verunglimpfte, dem hätte ich die Augen ausgekratzt.

Der starke Gabler dort war von „Vater“ Felkel geschossen worden, dem alten schlesischen Ruhestandshauptmann, der uns pünktlich an jedem Sonntage besuchte und mit seinen starken Brauen und struppigem Pintscherbart genau wie ein Stiefmütterchen aussah.

Hier, der regelmäßige hellbraune Sechser trug den Namen des interessanten „Onkels“ Alfons, der mit Kaiser Max in Mexiko gewesen, eine hawaiische Prinzessin vorübergehend geheiratet, den Popocatepetl3 erstiegen, die prachtvolle Schmetterlingssammlung mitgebracht, dreimal durch Taifune und Monsune die Welt umsegelt und noch viele andere unglaubliche Dinge erlebt.

Aber die weitaus stärksten, von Perlen und Rosenkrausen starrenden Kronen – oder wie man in Österreich so anschaulich sagt „G’wichteln“ oder gar „Krickeln“ – die weitaus anziehendsten Prachtstücke der kleinen Sammlung wiesen auf ihren, sämtlich von Hand meiner Mutter beschriebenen Schädelplatten durchgehends zwei Namen von geradezu magischem Klang: Michael Holzer und Johann Jelinek.

Ich glaube, keine Kinderseele ist je von Chingachgooks4 und Winnetous unsterblichen Taten tiefer erregt worden als die meine durch das fast sagenhafte Dasein jener beiden Recken, die vor Siegfried und Hagen, Old Shatterhand und Firehand den unbestreitbaren Vorzug hatten, daß sie wirklich existierten, wirklich lebten und von Zeit zu Zeit sogar sichtbar wurden.

Von dem einen, von Johann Jelinek, der fern hinter Bergen und Märchenwäldern in entrückter Wildnis wohnte, von ihm hieß es, er habe in seinem Leben weit mehr als hundert Böcke geschossen; der andere, Michael Holzer aus dem steirischen Oberland, ein Weltmeister in der Kunst des Schweigens, versah eigentlich das Amt eines Schloßjägers, tauchte aber nur selten in der menschlichen Gesellschaft der breitwölbigen Küche auf, um dort einen ganz unwahrscheinlichen Kapitalen abzuladen, sich für hundert Stunden satt zu essen und dann wieder auf Tage und Wochen in der Einsamkeit zu verschwinden.

Die kapitalen Holzer-„Krickeln“ wurden sogar bei den Erwachsenen, bei Vater und Mutter, beim Gesinde, bei der Jägerei sprichwörtlich. Man mochte an Zauberei glauben, dieser wortkarge alte Micherl mit seinem struppigen Griffongesicht und seiner nicht einmal gezogenen einläufigen Vorderladerbüchse holte aus dem Revier wahre Urböcke heraus, von deren Dasein kein Förster das geringste ahnte. Und doch war das Verfahren des Meisters sehr einfach. Er setzte sich simpel ins Wurzelgestühl einer unserer riesigen Hochwaldbuchen, ließ die Ewigkeit an sich vorüberstreichen und wartete, bis in ihrem Verlauf ein recht starker Hauptbock in recht geringer Entfernung des Wechsels einherzog. Dem zirkelte er dann schön langsam die dicke Rundkugel aufs Blatt, und wenn er ihn schön langsam nach Hause getragen und sich schön stad auf neue hundert Stunden sattgegessen, fing ers schön gemächlich an anderem Revierort mit gleichem schön ruhigem Weidewerk an.

Auf diese Weise „derhockte“ er sommerüber, von Anfang Mai bis nach Sonnwend, seine drei, vier Kapitalen, lauter richtige buchstäbliche Uriane. Denn darunter tat ers einmal nicht, alles nur „stark jagdbare“ war für ihn schon nur mehr „so a Böckerl“. Trug ja einmal einer der von ihm „derhockten“ Böcke statt perlenstarrender Kronenwucht nur ein schlichtes stockiges Gehörn, so wars sicher ein steinalter, vierzehn- bis fünfzehnjähriger Eingänger, einer von Micherl Holzers eigener Art und Faser.

Später, in den Hundstagen, ruhte die Jagd auf den Rehbock. Mein Großvater, weidgerecht nicht „bis in die Knochen“, sondern bis ins innerste Herz hinein, duldete es nicht, daß das Wild in seiner hohen Zeit durch Schuß und Schlich beunruhigt, daß es in seinen heiligsten und natürlichsten Daseinsrechten gestört, gekränkt, getrogen werde. Die Früchte dieser vornehmen, reinen gesunden Gesinnung, zu der sich im heutigen, auf dem Papier so überaus weidgerechten Deutschland niemand bekehren und bekennen will, liefen damals springlebendig im Walde herum. So war es für den geduldigen Michael Holzer leicht, ohne Feldstecher und Rasanz auf fünfundzwanzig Schritte nie wiederkehrende Kapitalböcke zu schießen.

Als Schatten nur zog die gebeugte Gestalt dieses sagenhaften alten Jägers durch die Dämmerung meiner frühen Kindheit. Eines Tages klagte Micherl meiner Mutter, es sei ihm gar nicht „recht extra“, er habe bloß sieben Knödel essen können statt der sonst üblichen zwölf; den Rest trug er vorsichtig in grünes Papier gewickelt nach seinem Bau, ihn als Zehrung in der Weidtasche zu verwahren. Er kam nicht mehr dazu, sich seiner drauß in maigoldgrüner Waldeinsamkeit zu erfreuen. Am nächsten Tage kränkelte er ernstlich und mit äußerstem Aufgebot verfallender Kräfte zwang er noch drei von seinen fünf letzten Daseinsknödeln. Am dritten Tage war er richtig tot, und die Füchse, denen er mit geheimnisvoller Kirrung und dem Schwanenhals – andere Fallen würdigte er keines Blickes – viel Gram zugefügt, feierten ein großes Fest.

Die urigen Gehörne an der Wand haben sein Gedächtnis der staunenden Nachwelt aufbewahrt. Ich selbst, der ich sie am meisten geliebt und bewundert, besitze ihrer leider kein einziges Stück. Ein Teil der schönen Sammlung wurde das Opfer einer Provinzial-Ausstellung, der Rest erlitt ein noch viel häßlicheres Schicksal. –

Einmal, ein einzigesmal solch einen Knorrenbock selbst erbeuten: das war mein brennendster Wunsch, als ich erst soweit gelangt, eine eigene hübsche Vogelflinte führen und unter den Eichkatern und Eichelhähern des ausgedehnten Parkes, mehr aber noch unter den daselbst verdaulich promenierenden Tanten Schrecken und Schrot verbreiten zu dürfen.

Er wurde mir erfüllt; nicht sobald, denn mit vierzehn und sechzehn Jahren hat man seinen Cäsar und Herodot zu reiten und auf Vokabeln und Mantissen5 eifrig Jagd zu machen, ein mühseliges aber schließlich doch lohnendes Weidewerk, an das man nach überstandener Gefahr gerne zurückdenkt. Aus der Nähe besehen hat es freilich nicht annähernd soviel Reiz wie die freie Birsch auf blutlebendiges Wildgetier, und sei’s auf den balzenden Ringeltauber oder die schlaue Nebelkrähe, an welchen Meistern der Wachsamkeit ich mich zeitig zu künftigen Großtaten vorgeschult.

Aber noch einen anderen nützlichen Kursus hatte ich bereits mit Erfolg absolviert, lange bevor ich in die tiefsten Geheimnisse der Weidkunst eindrang.

Meine Mutter, die eigentliche Herrin über ihr angestammtes, an 8000 Morgen großes Erbgut und das gewaltige, an 25.000 Morgen deckende Doppelrevier, meine Mutter war in allen Dingen eine überragend vernünftige Frau.

Als ich in den Entwicklungsjahren wie ein Spargel aufschoß und über – natürlich höchst willkommenen – Wunsch des Arztes tithemi, histemi6, Binome und Wurzeln, Oratio obliqua und Consecutio temporum7 auf volle zwei Semester gründlich vernachlässigen, dafür aber reichlich freifrische Luft in leichter Bewegung genießen sollte, geriet ich von selbst darauf, meine schon früh angeknüpften Beziehungen zu Pferd und Sattel zu festigen und autodidaktisch auszubilden. Der gewandte und sichere, dafür freilich bisweilen recht schalkhaft launische Türkenpony „Ali“ wurde mein Studientier, wurde mein Freund und Vertrauter; auf seinem harten Rücken wagte ich immer weitere Ritte in unbekannte Waldwildnisse, in Gräben und Täler, in Schluchten und Berge, und so entdeckte ich mit der Zeit Mutters ganzes, für meine geographischen Vorstellungen ungeheuer ausgedehntes Reich.

Allein damit wars nicht getan. Die kluge Frau hatte etwas vom Geiste jener Renaissancefürsten, die ihre Seefahrer nicht etwa auf eitle Abenteuer, sondern auf nützlichen Ländererwerb aussandten. Ich erhielt ehrenvolle Aufträge: hier vom Fortgang der Kulturarbeit, dort vom Wege- und Rießenbau mich zu überzeugen, weltentlegene Kohlenmeiler aufzusuchen und dem schwarzen Einsiedel zu bestellen, er habe an Schmiede- und Plättkohle ehstens je zwölf Sack der Herrschaft bereitzumachen, eine Durchforstung zu beaugenscheinigen, im trockenen Frühling Feuerwacht zu üben, und – die Hauptaufgabe – über alles Gesehene, Berittene, Beobachtete, Entdeckte nicht nur mit Worten, sondern vor allem mit – topographischen Aufnahmen, mit eigengezeichneten Kartenskizzen zu berichten. Noch besitze ich jene denkwürdigen Blätter, die ich als dreizehnjähriger Waldbereiter da und dort auf einsamen Höhen überm Knopf leisknarrenden Sattels buchstäblich aus dem Stegreif entworfen, oberflächliche, ganz rohe, aber in der Hauptsache doch deutliche Croquis8, die zwar einem Generalstäbler nicht zur Ehre gereicht hätten, dafür aber stets das Lob meines höchsten Vorgesetzten und Generalstabschefs, meiner Mutter ernteten. Und das – war wichtiger; diese überragende Frau verstand von den meisten wesentlichen Dingen mehr als eine Armee von Männern.

So lernte ich Gut und Revier, lernte ich die heimischen Waldberge in ihrer verwirrenden Zerklüftung, lernte ich die Landschaft in ihren Umrissen und Einzelzügen gründlich kennen, und als ich später dann nach laudabiliter9 bestandenem Abitur mit eigener ernstlicher Büchse und Mordgelüst im Herzen jene Schluchten und Schläge, Hänge und Halden durchstreifen durfte, waren mir Pfad und Steg, Schlupf und Schlich längst so vertraut, daß ich führender Begleitung leicht und gerne entriet. Wo Böcke standen, das wußte ich im allgemeinen selbst aus früheren Begegnungen und Erzählungen, und rasch gewonnene Erfahrung verengte den Kreis auf jenen Punkt, in dem Jäger, Waffe und Wild sich aller menschlichen Berechnung nach zusammenfinden mußten. Man brauchte schließlich nur offenen Auges durch die Wälder zu gehen und nach frisch angefegten Stämmchen und Schlagmalen zu sehen; gewöhnlich fanden sich diese hochwillkommenen Zeichen an den alten, jahrein jahraus beibehaltenen Hauptwechseln, und machte man’s wie weiland Michael Holzer und setzte sich hier irgendwo ins Wurzelgestühl solch feierlicher grüngoldrauschender Dombuche, und hatte nur ein klein wenig Geduld in Herz und Leder, das Rohr blieb gewiß nicht siebzehn Sommertagsstunden blank.

Die Büchse, die ich damals führte, mein erstes Pürschgewaffen, war ein Geschenk meines nächstälteren Bruders Hans, der das schlichte treue Gewehr zwei Jahre lang geführt und dann gegen ein moderneres vertauscht hatte. Er wußte nicht, was er aus der Hand gegeben; ein Schießeisen, das mit seiner ernsten Verläßlichkeit alle Metersekunden und -kilogramme, alle Stahlmäntel und Hochrasanzen, allen Tod und Teufel der ganzen Ballistik reichlich aufwog. Heute ist diese Art von Waffen, ist die alte Büchsflinte durch den Allerweltsdrilling und die bestechendere, geschmeidigere Bockbüchsflinte verdrängt, im Aussterben begriffen; mit Unrecht, wie ich als leidlich guter Kenner hinzufügen will. Es ist überhaupt ein Zug der deutschen Industrie und ihrer Menschheit, das Gute, Erprobte, Dauerhafte durch das Gefällige aber minder Gediegene zu ersetzen; leider sehr natürlich, denn von zwei Dingen lebt die Industrie vor allem, von starkem Verbrauch und von fortwährender Verführung. Verführerisch sah jene ehrenhafte schwere Büchsflinte freilich nicht aus; das grobe Kaliber – elfkommazwei – der einfache aber unverwüstlich zähe Nußverschluß, die schlichte Ausstattung, die Hahnschlosse, der glückliche Mangel jeglicher Schikanen! … Ja sogar nur ein Standvisier, nicht einmal eine Visierklappe hatte sie, aber über dieses Standvisier und das schmale Stahlkorn schoß der dicke Kapfenberger Stahllauf, nachdem ich erst einmal hinter die ihm zusagende Ladung und sein Paßgeschoß gekommen, über hundertzwanzig Schritte elf vom Dutzend der lötigen Bleistümpfe in das Rund einer Innenhand. Was braucht der Mensch mehr zum Leben, der Bock mehr zum Sterben?

Aber: schießen ist leichter gelernt als treffen, treffen leichter als weidewerken, und weidewerken heißt alles in allem: sich beherrschen.

Die hohe Ballistik, eine schöne, weil gleichnisvolle Wissenschaft, spricht von Zielfehlern und Fehlerquellen. Für Zielfehler sorgt schon der jägerische Alltag mit seinen Dämmerungen und Blendungen, Winkeln und wechselnden Fernen. Der Fehlerquellen aber sprudeln unzählbar viele aus den Tiefen des Lebens, und je jünger und föhniger der Frühling, desto ungestümer pocht das drunten in den Pulsen der eigenen dunklen Unterwelt.

Doch das sind schöne Umschreibungen einer sehr naheliegenden Tatsache. Die Böcke, die ich schoß, waren mitunter ganz andere als die gemeinten, im goldgrünen Bergrevier, in den asphaltnen Städten, in den Hochwäldern der Heimat, in den Urwäldern der Liebe, auf den Höhen, in den Schluchten, in den fieberschwülen Niederungen des Lebens selbst. Tell ist ein reifer Mann, ein Meister; ein zwanzigjähriges Herz aber tritt gar oft in Hand und Auge, und bisweilen treten noch ganz andere Dämonen des inwendigen Geisterreiches ins Herz und durch dieses – leider in den Verstand. Weib und Wild, Werk und Wille, Wunsch und Wahn: das ist der große immerwiederkehrende Stabreim des ewigen Nibelungenliedes der Menschheit.

Allein auch das sind immer noch klingende Umschreibungen jener einen höchst naheliegenden Tatsache. Ich traf nicht immer, ich traf sogar recht selten, ich fehlte zuweilen, ich fehlte sehr oft. In jenen Zeiten war es äußerst unsicher in unserem Revier. Kugeln flogen über Grate und Horizonte, und diese Kugeln waren die meinen. Nur die Böcke selbst waren gegen Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit versichert. Es will schließlich alles gelernt sein, und gerade unsere Waldberge in ihrer steilen Vielzerklüftung stellten Aufgaben, deren Lösung sehr vielen Weidmännern nie, den meisten aber noch wesentlich später gelingen würde. Wem die feigen Gewaltmittel des Zielfernrohrs und der Hochrasanz-Weitschußpatrone nicht zur Verfügung standen, wer sich mit seiner schlichten treuen Büchsflinte auf bürgerliche Entfernungen von siebzig bis allerhöchst hundertfünfzig Schritten einrichten mußte und die philosophische Himmelsgeduld eines Holzer noch nicht besaß, dem blieb nichts anderes übrig als zu birschen, sich anzubirschen – was man in jenem Gelände so birschen und sich anbirschen nennt …

Weit überm Graben im jenseitigen Laubschlage der Bock; kein Steig, der da in sanftem Zuge die schützenden Buchten und Falten des Hanges hinan in Schußbereich führte; nicht die geringste Aussicht, daß der mit den Hörnern dem mit der Büchse zuliebe herabwechselte und sich drüben etwa bei jenen drei Ahornbüschen schön breit als rote Scheibe ins Frühlingsgrün hinstellte. So mußten eben die Beine in die Hand, noch buchstäblicher: die Knie unters Kinn genommen werden, so mußte man’s eben auf gut oberbayrisch „anpacken“.

Aber weiß Gott, solch oberbayrischer Almhirsch oder Hakler ist bei aller absoluten Meereshöhe immer noch weit leichter „anzupacken“ als so ein lausiger Uskokenbock in seinem brombeerversponnenen Bergdschungel. War man glücklich und schweißüberbrüht in einer fünfundvierziggrädigen „Reißen“ hochgeklettert, dann sah man im überhügelnden Strupp von Dorngerank, Fichtenjugend, Altgras und Stocklohden erst recht nichts. Und sah man etwas, so war’s gewiß die Ricke, die einen langhals anstarrte und die ganze Gegend verschmälte; und sah man wirklich den Bock, so war’s sein abspringender Spiegel mit einem Mordsgehörn in der Hintendraufsicht, wo bekanntlich die dicksten Perlen sitzen; und sah man ihn ja einmal wirklich wie man ihn brauchte, dann hatte das weiter auch keine schlimmen Folgen, denn zwei Herzen auf einmal schlugen in den Büchslauf hinein, das hämmernde anatomische und das nicht minder rumpelnde jägerseelische, das Blut sang vielstimmig in den Ohren, Visier und Korn flimmerten im Schweißdunst durcheinander – und das Ergebnis war eine wunderschön ungestörte Flugbahn über sieben Berge ins heiße Morgensommerblau hinaus, und der gänzlich illusorische Vorsatz, es ein nächstes Mal besser zu machen …

In solcher Schule wurde ich aus mir selbst heraus zum Jäger. Ich will nicht hochmütig sein, aber es ist meine Meinung, daß nur das in schwerem Bemühen Eigen-Erfahrene wirklich sitzt und nützt. Ich habe später viele sogenannte Weidgerechte geschaut, die sich mit Futteralen und Riemen sehr hübsch zu behängen wußten und die schöne grüne Sprache tadellos maulhabten, aber selbst im gepflegten bequemen Kulturrevier der Niederung brauchten sie einen Kindermann, der für sie bestätigte, sah, vernahm, roch, alle Sinne und Organe in Bewegung setzte, beinahe auch zielte und schoß. Unsereinem vom Berge – nicht etwa ausgerechnet nur mir allein – wäre es ein Leichtes gewesen, solch bißchen Kiefernwald mit Feld und Heide binnen wenigen Wochen bis auf die letzte Schale auszupowern. –

Hie und da glückte es doch, die Gesetzmäßigkeit jenes Verlaufes zu umgehen, und dann genoß man neben der Beute das Bewußtsein, bei allem hilfreichen Zufall wirklich ein Stück Arbeit geleistet zu haben.

Solch gnädiger Zufall bescherte mir nach vielen mehr oder minder jugendlich wüsten Fehlbirschen zu meinem ersten Bock.

Ich hatte ihn im steilen Hange überstiegen, und als ich mich einmal schweratmend umsah und eben feststellte, wie tief ich das profane Leben der Täler unter mir gelassen, zog er eben einige sechzig Meter weit über einen smaragdgrünen Grasfleck.

Wie ich es fertig bekam, ihn zu treffen, ist mir freilich heute noch, nach vierundzwanzig Jahren, ein Rätsel schlafloser Nächte.

Auf den Schuß blieb er starr stehen; dann fiel er einfach um, während ich mich in einen springenden Puma verwandelte.

So ist der Mensch.

Es war aber nur ein furchterregend schäbiger Gabler, ein elendes Grasböckel mit schwarzen, häßlich ausgedrehten, scharf geperlten Stangen.

Wer mir noch vor einer Stunde gesagt hätte, ich würde mich mit solchem Jämmerling als Opus 1 zufrieden geben, dem hätte ich den Kragen umgedreht. Und jetzt: wer mir diese notdürftig angegabelten Spieße schlecht machte, ich glaube bei Gott, den hätte ich skalpiert. Es gibt keine stärkere Lupe als die der Jugendfreude an erstem Besitz, Beute oder Werk, Bock oder Braut.

Unsere ersten Liebesfreundinnen sind gemeiniglich auch nicht sehr sehenswert. Not und Erlebnis machen aus ganz unglaublichen Abarten des Weibes eine Venus.

Immerhin, es war ein Anfang, und schon der nächste Zufall, wenige Tage später, trieb mir einen schwachen, aber ganz sauberen Sechser vors niemals fehlende Rohr.

Dort trabte er ganz ahnungslos durch den mittagsflimmernden Hochwald, und wie auf Bestellung blieb er in gefährlichster Nähe stutzend stehen, um nach dem Urheber jenes herzdumpf pumpenden Geräusches zu äugen.

Ich kann nicht sagen, daß ich mit meinem Hals voll Dampfhämmern, meiner Hand voll Fieber, meinen Augen voll flirrender Sucht wirklich traf; ich fehlte eigentlich ins Ziel mitten hinein, aber für die unmittelbare Wirkung bleibt das belanglos.

Es gehört zur Psychologie des Erfolges, daß leichte Siege bisweilen zu unerhörten Leistungen befähigen. Ein klein bißchen Lob und Güte, sei’s der Mitmenschen, sei’s der unsichtbaren Majestät, hat manchen Mann schon zum Helden und Meister gemacht.

So schwoll nun auch mir der Busen, ein stolzes Bewußtsein der Sicherheit drängte mich zu neuen Taten, und richtig, keine Woche nach jenem beklagenswerten ersten Todesfall stand ich wahrhaft andächtig vor einem anderen, besseren Ersten, meinem ersten „Kapitalen“.