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REGULA BRÜHWILER-GIACOMETTI

PLÖTZLICH   

      FAMILIE

Meine Adoptionsgeschichte brachte mir sieben neue Geschwister

CAMEO

 

Für alle Adoptiv-, Pflege- und Heimkinder

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Plötzlich Geschwister

Der Adler ist plötzlich wieder da

Ich, das Seitensprungkind

Fabienne sei Dank!

Gabriela

Regina

Bettina

Mathias

Angelina

Hans und Peter

Familienbande

Identitätsfindung

Meine Suche nach den Wurzeln geht weiter

Ratgeber Herkunftssuche

Kein Zufall

Schlussgedanken

Mein Dank

Vorwort

Das Leben schreibt die besten Geschichten … Diese Redensart stimmt im Falle von Regula Brühwiler-Giacometti wirklich zu hundert Prozent.

Im Spätherbst 2017 stellte Regula in einer Aarauer Buchhandlung ihr Erstlingswerk «Seitensprungkind» vor. Ihre persönliche Geschichte als Adoptivkind war mir, obwohl ich Regula seit einigen Jahren flüchtig kannte, nicht bekannt, und die Lesung während der Vernissage hat mich sehr bewegt. Regula hat nebst einigen anderen Passagen aus ihrem Buch auch jene gelesen, in denen erwähnt wurde, dass ihre leibliche Mutter noch andere Kinder gehabt hat – also Halbgeschwister von Regula. Im Anschluss an die Buchvorstellung war die Gelegenheit, der Autorin Fragen zu stellen. Mich interessierte brennend, ob sie denn ihre Halbgeschwister auch einmal kennen gelernt habe. Dass sie sich mit der leiblichen Mutter getroffen hatte, hat sie in ihrem Buch erwähnt. Lange zögerte ich, die Hand zu heben, um meine Frage anzumelden, aber meine Neugier siegte. «Hast du nebst deiner leiblichen Mutter deine Halbgeschwister auch einmal kennen gelernt?», wollte ich ganz direkt wissen. Regulas Reaktion war ehrlich bestürzt – sie antwortete ausweichend so in etwa: «Ja … also, nein. Ich kann dazu noch nichts sagen. Nein, ich habe sie nicht kennen gelernt!» Ich fühlte mich elend, dass ich die liebenswerte Autorin so aus dem Konzept gebracht hatte.

Einige Wochen später erzählte mir Regula dann, was es war, das sie damals an meiner Frage so irritiert hatte. Eine Woche vor der Buchvernissage hatte sie ein Schreiben von einem ihrer Geschwister erhalten – absolut unerwartet. An diesem Tag sei sie noch völlig aufgelöst gewesen. Sie habe Gabriel Palacios, der sie an diesem Abend so wunderbar durch die Buchvernissage begleitet hat, gebeten, dieses Thema ja nicht anzurühren. Und nun war ich es gewesen, die diese Frage gestellt hatte. Ich entschuldigte mich bei Regula für meine Neugier.

Regula und ich sind beide Mitglied bei den Gemeinnützigen Frauen in unserem Dorf und sie hatte sich bereit erklärt, für den Verein im Rahmen des Jahresprogrammes 2018 eine Lesung aus ihrem Buch zu halten. Diese fand im April statt und es war ein in vielerlei Hinsicht spezieller Abend. Regula Brühwiler-Giacometti hatte mich vorgängig angefragt, ob ich sie bei der Lesung begleiten sowie mit ihr den Dialog führen möchte, und so den Abend mit ihr zu gestalten. Genau wie die Anfrage zum Schreiben dieses Vorwortes war dies eine große Ehre und Freude für mich, die ich gerne, aber mit viel Respekt vor der Aufgabe angenommen hatte. Vor der Lesung erzählte mir Regula ganz aufgeregt, dass zwei ihrer Schwestern – inzwischen waren nämlich noch mehr Geschwister «aufgetaucht» – auch anwesend seien. Sie sei so unglaublich nervös, aber überglücklich. Eine Schwester wohnt nur wenige Kilometer von unserem Dorf entfernt. Es ist also gut möglich, dass sich die beiden Frauen zuvor bereits einmal über den Weg gelaufen sind, ohne von der besonderen Verbindung zueinander zu wissen. Eine unglaubliche Vorstellung! Später die Begegnung und Interaktion zwischen den drei Schwestern beobachten zu dürfen, hat mich sehr berührt.

Regula und ich sahen uns regelmäßig, da sie ebenfalls im Vorstand der «Gemeinnützigen» aktiv war. Sie erzählte ab und an etwas vom Verlauf ihrer Recherchen und dem fantastischen Wachstum ihrer Familie. Als sie im Laufe des Jahres einen runden Geburtstag feiern konnte, wurde der nicht, wie ursprünglich geplant, im kleinen Kreis im Tessin gefeiert, sondern sie hatte ein Lokal gemietet, denn: «Weißt du, ich habe jetzt eine ganz große Familie und wir feiern alle zusammen!»

Ende Oktober 2018 durfte ich Regula nochmals zu einer Lesung nach Hombrechtikon begleiten. Ihr Bruder hatte diese Veranstaltung organisiert und es war wirklich herzerwärmend, diese beiden Geschwister, die sich erst seit Kurzem kannten, zusammen zu erleben. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass hier zwei Menschen zusammen sind, die noch vor wenigen Wochen Fremde waren. Die Herzlichkeit und die Verbundenheit zwischen diesen zwei «Neo-Geschwistern» war unübersehbar und hat mich ganz tief beeindruckt. Die beiden sehen sich sogar äußerlich ähnlich!

Ich freue mich so für Regula, dass sie nun nebst ihrer wunderbaren eigenen kleinen Familie mit ihrem Mann und Sohn auch noch eine neue, große Familie mit ihren sieben Geschwistern hat und ich wünsche ihr und all ihren Schwestern und Brüdern von Herzen das Allerbeste und viele, viele glückliche gemeinsame Erlebnisse.

Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, wünsche ich viel Freude beim Lesen dieser Lebensgeschichte, die alles ist, außer gewöhnlich!

von Barbara Ducceschi-Küng, Februar 2019

Einleitung

«Wow, Regula, das berührt mich zutiefst! Das schreit regelrecht nach einem Band 2!», sagte mein Verleger Gabriel Palacios zu mir, als ich ihm die unglaublichen Neuigkeiten vom «Auftauchen» meiner Geschwister anvertraute. Das war eine Woche vor der Buchvernissage meines Erstlingswerks «Seitensprungkind» (2017).

Unglaublich! Das ist ja der Wahnsinn! Das kann doch nicht wahr sein? Und du wusstest wirklich nichts? Hattest keine Ahnung? Du hast nun plötzlich so viele Geschwister? Wie habt ihr euch denn gefunden?

Das Erstaunen ist jedes Mal immens, wenn ich von meinen neuen Geschwistern erzähle. Alle sind völlig baff und hören ganz gespannt zu, sobald ich anfange, von meinen unglaublichen Erlebnissen zu berichten. Immer wieder muss ich die Geschichte von meiner neu gefundenen Familie erzählen und jedes Mal schüttelt es mich gewaltig durch, denn ich kann es selber auch noch nicht richtig fassen.

Das musst du unbedingt festhalten! Da drängt sich eine Fortsetzung deiner Biografie auf, heißt es dann immer. So wuchs mit der Zeit der Gedanke an ein Nachfolgebuch immer mehr. Ich hatte mir zwar geschworen, nie wieder ein Buch zu verfassen, und bis dahin hätte ich auch nicht gewusst, worüber ich überhaupt noch schreiben könnte. Meine Biografie hatte ich fertig aufgearbeitet und für mich abgeschlossen. Und es hatte mich auch sehr viel Substanz gekostet, mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Also, mein Leben war erzählt, und eine Romanschriftstellerin bin ich nicht.

«Und dann kam das Unerwartete.»

Doch mein Leben sollte ab dem Erscheinen des «Seitensprungkinds» eine überraschende Wende nehmen. Eine Woche vor meiner Buchvernissage bekomme ich einen Brief von der PACH (Pflege- und Adoptivkinder Schweiz), der alles, was ich bisher auf Papier festgehalten hatte, auf den Kopf stellte. Bis ich dieses Schreiben erhalten hatte, wusste ich nicht, dass es in meinem Leben noch sieben Halbgeschwister gab. Was das alles bei mir ausgelöst hat, versuche ich in diesem Buch zu erzählen.

Die Geschichte mit meinen neuen Geschwistern wurde immer spannender, je mehr ich aus ihrem Leben erfuhr. Jedes von ihnen trägt als Adoptiv-, Pflege- oder Heimkind eine unglaublich einzigartige Biografie in sich. Wir sind nicht zusammen aufgewachsen, jedes wurde von einer anderen Familie oder anderen Umständen geprägt. Trotzdem fühlten wir uns von Anfang an miteinander verbunden. Schließlich hatten wir doch alle die gleiche leibliche Mutter und sind alle während neun Monaten im selben Mutterleib gediehen!

Mehr und mehr ließ mich der Gedanke an ein Nachfolgebuch nicht mehr los. Von den anfänglichen Notizen wurden schon bald größere Texte. Jede Begegnung mit meinen Geschwistern, jede Neuigkeit und alle Ereignisse habe ich von Anfang an für mich tagebuchartig aufgeschrieben. Ich wollte die Gefühle des Momentes für mich festhalten, und sie ohne Verzerrung des Gedächtnisses für mein weiteres Leben «einfrieren». Es tat mir auch gut, all das Berührende, das ich erlebte, schriftlich festzuhalten, um besser mit dieser verrückten Situation klarzukommen. So ist es mir nun möglich, alles so wiederzugeben, wie ich es aus meiner Sicht in diesen Augenblicken wahrhaftig gefühlt und erlebt habe: angefangen von den bewegenden Momenten, als ich zum ersten Mal von meinen Geschwistern erfahren habe, über den Augenblick, wo ich meine neu gefundenen Geschwister in die Arme schließen konnte und sie kennen lernte bis hin zu folgenden Treffen. Ich möchte die Leser mit auf eine Reise voller Spannung und Emotionen mitnehmen, denn jedes Geschwister hat eine einzigartige Lebensgeschichte.

«Wir genießen jede Minute, die wir zusammen verbringen können.»

Bei den Begegnungen mit meinen Geschwistern haben wir uns gegenseitig immer wieder dazu animiert, noch mehr über unsere Herkunft und unsere Wurzeln zu erforschen. Zusammen haben wir uns auch entschieden, nach weiteren Puzzleteilen zu suchen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Dabei haben wir viele Überraschungen erlebt. Was bei unseren Recherchen herausgekommen ist, wie wir vorgegangen sind, erzähle ich in meinem Buch.

Zeitweise haben sich die Ereignisse beinahe überschlagen. Meine Geschwister und ich wurden mit alten Akten, unbekannten Dokumenten, neuen Fakten und erschütternden Informationen konfrontiert. Das war oftmals nicht einfach hinzunehmen und löste bei jedem einen gewaltigen inneren Prozess aus. Ich selber habe auch nach meinem unbekannten leiblichen Vater, dem Seitenspringer, weitergesucht und viel Neues erfahren können.

«Seine leibliche Familie zu finden, das Wissen über seinen Ursprung, ist ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen.»

Als die Idee für ein Nachfolgebuch geboren war und ich das Einverständnis von meinen Geschwistern bekommen habe, auch ihre Biografien dort zu verarbeiten, habe ich ihnen ein kleines Raster für ihre Texte übergeben, mithin ein paar Hinweise, damit sie wussten, wie sie vorgehen und auf welche Fragen sie achten sollten, wenn sie von sich erzählten.

Meine lieben Geschwister haben mir ihre Geschichte aufgeschrieben und mir damit ihre Vergangenheit anvertraut. Ich habe sie selbst erzählen lassen, denn nur mit den von ihnen ausgewählten Worten wirken ihre Lebensgeschichten authentisch. Absichtlich wurden ihre Erzählungen so belassen, wie sie mir übergeben wurden. Der Erzählstil jedes meiner Geschwister kennzeichnet ihre Persönlichkeit. Hätte ich Hand angelegt, wäre das Bild von ihnen verfälscht; es wären keine originalen Geschichten mehr gewesen. Jedes der Geschwister hat andere Schwerpunkte aus seinem Leben aufgezeichnet sowie Aspekte, die für es wichtig war, ausgewählt. So ist es möglich, sich ein wahrhaftes Bild von jedem zu machen, denn jedes von ihnen ist eine eigenständige Persönlichkeit und wusste mit seinem Schicksal anders umzugehen.

Die Geschichten erscheinen in der Reihenfolge, in der ich meine Geschwister kennenlernen durfte. Nach jeder Begegnung kam mindestens ein neues Puzzlestück dazu, das die Geschichte unserer Familie vervollständigte.

Das Schreiben dieses Buches war eine überaus freudige Angelegenheit. Es war sicher auch eine intensive Zeit, denn das Schreiben füllte meine ganze Freizeit aus. Ich musste alles koordinieren und schlussendlich in einem Buch zusammentragen. Aber für mich war es nicht mehr der schmerzhafte Prozess, den ich beim Schreiben meines Erstlingswerks durchgemacht hatte, wo ständig alte Wunden aufrissen. Ich habe meine biologische Familie gefunden und freue mich unendlich darüber. Endlich bin ich in meinem Leben angekommen.

Das Buch «Seitensprungkind» hat mein Leben mit vielen tollen Begegnungen bereichert. Das war für mich das Wertvollste, was ich erleben durfte. Wie oft habe ich seitdem mit mir unbekannten Menschen tiefe Gespräche geführt, in denen sie mir ihre Geschichte anvertraut haben. Mein Buch habe ihnen weitergeholfen, hieß es oft. Ich kam das erste Mal mit vielen Adoptierten, aber auch mit zahlreichen Adoptiveltern in Kontakt. Das hat mich auch ein großes Stück weitergebracht und meinen Horizont erweitert, meine Persönlichkeit gestärkt. Ich musste mich exponieren, bei Fernsehauftritten, vor großem Publikum aus meinem Buch vorlesen, viele Details aus meinem Leben mit anderen teilen und Fragen beantworten. Als eher zurückhaltendes Wesen habe ich dabei meine Ängste überwunden und mit jedem neuen Auftritt immer mehr Spaß daran gefunden.

Eine weitere Motivation, die mich dazu getrieben hat, dieses Buch erst recht zu schreiben, waren die sich in den letzten Jahren häufenden negativen Berichte über Zwangsadoptionen, Adoptionsbetrüge, Heimkinder, Verdingkinder und Zwangsversorgte. Mit diesem Buch, welches die Geschichten meiner Geschwister und mir aufzeichnet, möchte ich nun eine positive Botschaft vermitteln. Auch wenn unsere Biografien zum Teil von negativen Erfahrungen wie Liebesentzug und Härte geprägt waren, ist es doch mehr oder weniger allen von uns gelungen, das eigene Leben bestens zu meistern. Wir stehen mit beiden Beinen auf dem Boden, haben gute Ausbildungen abgeschlossen und die meisten von uns haben schließlich eine eigene Familie gegründet.

Gegen Ende des Buches folgt noch ein Kapitel, welches ganz aktuelle Informationen vermittelt, die behilflich sein können, falls man sich auf die Suche nach seinen Wurzeln machen möchte. Ich hatte das Glück, Sandro Körber kennen lernen zu dürfen, der zum Thema Adoption und zu den rechtlichen Fragen rund um diesen Komplex ungemein viel Erfahrung aufweist und uns somit sehr viele hilfreiche und professionelle Informationen vermitteln konnte. In seiner Funktion bei der Zentralen Behörde Adoption des Kantons Thurgau begleitet und unterstützt Sandro mit viel Engagement die Suchenden in ihrem Prozess. Als ich Sandro Körber gefragt habe, ob er bereit wäre, das Kapitel zum Thema Herkunftssuche für mich zu schreiben, hat er sofort spontan zugesagt. Das hat mich riesig gefreut, denn ich wusste, niemand könnte dieses Kapitel besser schreiben als er, der er selbst Betroffener ist.

Im Schlusskapitel habe ich mich auch mit der Thematik des Zufalls und der Synchronität befasst – ein Thema, dem ich zuvor keine große Beachtung geschenkt habe. Was ich in diesem Jahr erlebt habe, konnte einfach jedoch nicht alles nur Zufall sein, sondern hatte bestimmt mir etwas Größerem zu tun.

Nun wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine unterhaltsame Lektüre. Geschichten, die das Leben schreibt, sind ja bekanntlich die spannendsten. Freuen Sie sich mit mir über das Happy End!

Abb

Plötzlich Geschwister

«Die Liebe, die du in diesem Buch hinausträgst, ist überwältigend schön. Dieses Buch wird vieles bewegen! Die tolle Energie wird im und rund um das Buch spürbar sein! Das Buch hat so viel Tiefe und ist mit einer derart positiven Energie geschrieben, dieses Buch hinterlässt Spuren. Spuren der Liebe. Die positive Energie wird vieles bewegen.»

– Gabriel Palacios

Immer wieder prophezeite mir mein Verleger Gabriel Palacios, dass mein Buch «Seitensprungkind» ganz viel Schönes und Großes bewirken würde. Seine Worte taten meiner Seele unendlich gut und ich dachte mir, mein Buch könnte vielleicht einigen, die ein ähnliches Schicksal wie ich erlebt hatten, eine Hilfe sein. Vielleicht würde es den Lesern, die sich noch nie mit dem Thema Adoption konfrontiert sahen, zeigen, was es bedeutet, nicht bei seinen leiblichen Eltern aufgewachsen zu sein. Dass die positive Energie so unglaublich Großes bewegen, sich so weit ausbreiten und ich mit meinen unbekannten Verwandten Geschwistern in Berührung kommen würde, das hätte ich mir nie erträumt. Ahnte oder spürte Gabriel, dass etwas Außerordentliches auf mich zukommen würde?

Zur gleichen Zeit, wie ich meine Biografie aufgeschrieben habe, beschäftigten sich meine mir damals noch unbekannte Schwester auch mit der Vergangenheitsgeschichte der Familie wie mein mir ebenso noch unbekannter Bruder, der seinerseits seine Lebensgeschichte aufschrieb. Simultan haben wir uns mit der Bewältigung unserer Vergangenheit auseinandergesetzt. Es war ein Zusammentreffen von geballten Energien, die schlussendlich unser Zusammenfinden auslösen sollte.

«Begonnen hat alles, als ich eigentlich dachte, alles sei abgeschlossen.»

Mein erstes Buch «Seitensprungkind» war erst gerade erschienen und meine Buchvernissage in Aarau stand kurz bevor. In dieser Zeit war ich ziemlich aus dem Häuschen. Viel Neues kam auf mich zu: Zeitungsinterviews, Fernsehauftritte, Lesungen. Doch neben der Nervosität fühlte ich auch eine tiefe, erfüllende Freude. Dazu kam, dass ich ziemlich genau eine Woche vor der Vernissage einen Brief von der PACH (Pflege- und Adoptivkinder Schweiz) erhalten habe. «Was wollen die den von mir?», fragte ich mich. Noch nie zuvor hatte ich ein Schreiben von dieser Stelle erhalten, auch wenn diese Organisation in meinem Buch mehrmals eine Rolle gespielt hat, weil ich von dieser Stelle viele Informationen über meine Adoption erhalten habe. Jetzt war das Buch fertig, das Thema abgeschlossen, meine Lebensgeschichte aufgeschrieben und verarbeitet. Ich hatte meinen inneren Frieden gefunden. Bedächtig öffnete ich das Couvert. Es enthielt einen längeren Brief. Ich musste mich hinsetzen, denn ich wusste nicht, was da auf mich zukommen würde. «Sicher sind Sie erstaunt, Post von der Adoptionsstelle zu erhalten», hieß es als Erstes. Ja, das war ich allerdings! Und noch erstaunter war ich, als ich weiterlas. Eine Frau namens Gabriela, die wie ich zur Adoption freigegeben wurde, hätte sich demnach auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter gemacht. Und diese ihre Mutter habe auch mich zur Welt gebracht. Wir waren also Halbgeschwister! Gemäß den ihr vorliegenden Unterlagen gäbe es noch weitere Halbgeschwister. Dem Schreiben war zudem zu entnehmen, dass Gabriela mich gerne kennen lernen möchte.

Nur gut, dass ich mich vorher hingesetzt habe.

«Was? Ich habe eine Halbschwester, welche Gabriela heißt und die zwei Jahre jünger ist als ich? Das gibt es ja nicht!»

Ich las den Brief mehrmals sorgfältig durch, um sicher zu gehen, dass mir kein einziges Detail entging. Ich wusste zwar, dass meine leibliche Mutter während ihrer kurzen Ehe drei Kinder geboren hatte, bevor ich damals als außereheliches Kind zur Welt gekommen bin. Und nun soll es noch eine Gabriela geben? Kaum zu fassen!

Falls ich meine Halbschwester kennen lernen möchte, solle ich mich mit der Adoptionsstelle in Kontakt setzen. Diese würde dann die Vermittlung organisieren. Ja sicher möchte ich sie kennen lernen. Doch was nun? Ich war doch gerade der Meinung, nach dem Niederschreiben des Buches hätte ich meine Biografie abgeschlossen! Mein Buch wurde soeben publiziert, und jetzt kam diese Neuigkeit! Meine Emotionen waren immens und ich war außer mir vor Freude. Es ist einfach unglaublich, welche Überraschungen das Leben manchmal bereithält!

Schnell tauchten auch viele Fragen auf. Haben wir Gemeinsamkeiten? Würde sie mir ähnlich sehen? Wie verlief ihr Leben bis heute? Wo ist sie aufgewachsen? Wo wohnt sie jetzt? Was hat sie alles unternommen und erlebt? Hat sie die gleichen Vorlieben wie ich? Ich wollte vorerst darüber schlafen, soweit ich überhaupt schlafen konnte, und rief am nächsten Morgen die Adoptionsstelle an. «Ja, ich bin bereit meine neue Schwester kennen zu lernen», sagte ich und erkundigte mich bei der Fachfrau, wie ich am besten vorgehen solle. Sie empfahl mir, meine E-Mail-Adresse der PACH bekannt zu geben, da unter Geschwistern eine erste Kontaktaufnahme formlos erfolgen könne. Sie würden sie dann an meine Schwester weiterleiten. Auf Wunsch gäbe es auch die Möglichkeit, einen anonymen Briefkontakt herzustellen.

Bevor wir uns verabschiedeten, wollte die Fachfrau der PACH mir aber unbedingt noch etwas schier Unglaubliches, was ihr widerfahren ist, erzählen. Schon wieder etwas Aufregendes, dachte ich mir. Hört das denn nie auf! Ich spürte, wie in ihrer Stimme etwas Aufregung mitschwang. «Es war so», begann sie, «am Tag, als ich Ihren Brief schrieb, habe ich einen Anruf von einer Frau erhalten, die mir mitteilte, dass sie gerade in der Migros-Zeitung einen spannenden Artikel über die Geschichte einer Adoptierten gelesen hätte. Sie sagte, dass es sich um eine gewisse Regula Brühwiler-Giacometti, die ein Buch über ihre Adoption geschrieben habe, handle, und fragte mich, ob ich diese Frau kennen würde. Ich fiel fast vom Stuhl. Ich hatte Sie noch nie kontaktiert, und gerade jetzt, als ich einen Brief an Sie schreibe, spricht diese Frau über Sie am Telefon! Das ging mir total unter die Haut.»

Ich entschied mich, der Fachfrau von der PACH meine E-Mail-Adresse bekannt zu geben und wartete ganz gespannt auf die ersten Zeilen meiner mir bis dahin unbekannten neuen Schwester. Es verging ein ganzer, für mich extrem langer Monat, bis Gabriela sich bei mir meldete.

Damit nahm die Geschichte um meine Geschwistersuche ihren Lauf.

«Einen Monat später telefonierte ich zum ersten Mal mit meiner neuen Schwester Gabriela.»

Meine Schwester hatte mir zuvor eine kurze E-Mail geschrieben und darin den Wunsch geäußert, dass wir uns doch besser per Telefon austauschen könnten. Es war der Wahnsinn: Bald würde ich mit meiner Schwester sprechen, von deren Existenz ich bis vor ein paar Wochen noch nichts gewusst hatte! Als wir zum ersten Mal unsere Stimmen hörten, waren wir beide ziemlich aufgeregt. Gabriela erzählte mir dann, dass sie ihre leibliche Mutter nie wirklich kennen lernen wollte. Es war ihre Tochter Fabienne, die sie dazu gebracht hatte, nach ihrer leiblichen Familie zu suchen. Als sie mit der Adoptionsstelle Kontakt aufgenommen habe, hätte sie schon quasi damit gerechnet, dass die Mutter bereits nicht mehr lebte. Und tatsächlich hatte sie recht: Unsere Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits seit acht Jahren tot. Aber bei diesem Anruf hat sie schließlich erfahren, dass es noch viele Halbgeschwister gäbe.

Sie erzählte mir von sich, aber auch von den vielen anderen Geschwistern, die wir beide bis dahin noch nicht kannten. Zum ersten Mal hörte ich ihre Namen: Regina, Mathias und Angelina. Ich war verwirrt. Bis dahin wusste ich nur von Bettina, Hans und Peter, welche vor mir zur Welt gekommen sind. Wieder einmal musste ich mich setzen, zuhören und staunen. «Unsere Mutter hat somit acht Kinder geboren», sagte Gabriela zu mir. Sie habe mit allen Geschwistern durch die Vermittlung der PACH Kontakt aufgenommen und die meisten von ihnen wollten sie treffen.

Im Laufe des Gesprächs erzählte ich ihr, dass ich unsere leibliche Mutter vor Jahren getroffen hätte. Meine Schwester wollte wissen, was für einen Eindruck sie bei mir hinterlassen hat. Sie war gespannt zu erfahren, was das für eine Frau gewesen sei, die acht Kinder zur Welt gebracht und sie alle weggegeben hat. Gabriela war entsetzt darüber. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie man es übers Herz bringen kann, all seine Kinder zur Adoption freizugeben.

Meine Schwester machte einen sehr netten Eindruck auf mich. Sie erzählte mir noch von ihrer Familie, von ihren drei Kindern. Eine Tochter hatte den gleichen Jahrgang wie mein Sohn. Von ihrem leiblichen Vater wisse Gabriela nur, dass er ein Italiener war. Seinen Namen jedoch kannte sie nicht. Bevor wir uns verabschiedeten, habe ich zu ihr gesagt, dass ich sie und die anderen Geschwister sehr gerne treffen möchte. Alsdann gab sie mir noch die Kontaktdaten der anderen Geschwister, welche sie von der PACH erhalten hatte, durch.

Anmerkung: Die Möglichkeit, dass auch leibliche Geschwister sich suchen können, ist erst möglich aufgrund des neuen Adoptionsrechts, das im Januar 2018 in Kraft trat. Ob schließlich eine Kontaktaufnahme zustande kommt, hängt aber von der jeweiligen Zustimmung der betroffenen gesuchten Person ab.

Warum habe ich das alles nicht gewusst und nie erfahren? Ich war schockiert! Unsere gemeinsame Mutter hatte so viele Kinder geboren, und alle wurden fremdplatziert? Nie hätte ich an etwas gedacht, nicht einmal geahnt. Niemals! Keinen einzigen Gedanken habe ich daran verloren, dass meine leibliche Mutter, nachdem sie mich als uneheliches Kind geboren und weggegeben hatte, noch weitere Kinder zur Welt gebracht hätte. Ich hatte doch unsere Mutter getroffen und sie hat mir damals nichts, aber auch gar nichts davon erzählt! Das musste erst einmal verdaut werden.

Auch meine Familie musste mit dieser neuen Situation erst zurechtkommen. Als ich von meiner unbekannten Schwester erzählte, wurden sie neugierig und waren gespannt, wie es wohl weiterginge. Als ich dann von den vielen Geschwistern berichtete, wurden sie eher nachdenklich. Mein Mann fand das Ganze zwar sehr spannend und meinte zu mir, ich hätte ein aufregendes Leben mit immer wiederkehrenden Überraschungen, nicht so ein langweiliges Leben wir er! Er sei ein wenig eifersüchtig auf mich.

Gabriela fragte mich, ob sie den anderen Geschwistern auch meine Adresse bekannt geben dürfe. Sicher durfte sie das. Innert einiger Tage kontaktierten wir uns gegenseitig, und schon bald gab es einen regen Mailaustausch. Als Betreff stand jeweils:

«Die Kinder von Bettina»

Als erstes traf ich meine Schwester Regina, gleich eine Woche nachdem ich von ihrer Existenz erfahren habe. Jetzt, wo ich wusste, dass ich Schwestern habe, konnte ich es kaum erwarten, sie zu sehen. Da wir ganz nah beieinander wohnen, haben wir sogleich ein Treffen organisiert. Das war das emotionalste Treffen von allen, denn so etwas hatte ich zuvor noch nie in meinem Leben erlebt!

Schon bald lernte ich auch meine neuen anderen wunderbaren Geschwister kennen. Innert kurzer Zeit vereinbarten Bettina, Gabriela, Regina und ich ein erstes gemeinsames Treffen. Es sollte am 21. Dezember 2017, am mystischen Tag der Sonnenwende, in Aarau stattfinden. Die abgemachte Zeit war für mich nur schwer realisierbar, da ich am Morgen noch arbeiten musste. Da ich aber so aufgeregt war und unbedingt nichts verpassen wollte, beeilte ich mich und schaffte es doch noch pünktlich zum Treffen. Als ich ins Restaurant hineinkam, sah ich verschiedene belegte Tische, fand jedoch meine Schwester Regina nirgends. Ich muss wohl so fragend und suchend geschaut haben, dass mir plötzlich eine mir unbekannte Frau zuwinkte: meine Schwester Bettina! Und da erkannte ich auch erst Regina, die ich gleich darauf zuerst umarmte, da ich sie ja schon kannte. Dann nahm ich Bettina und Gabriela in den Arm. Es fühlte sich sehr emotional an, aber irgendwie auch surreal. Das waren also meine neuen Schwestern! Wir kamen gleich ins Gespräch und sehr schnell macht sich eine familiäre Atmosphäre breit. Jede wollte die Geschichte der anderen erfahren, es wurde kreuz und quer geredet.

Bettina, die älteste von uns Geschwistern, nahm schließlich ein Fotoalbum hervor, und wir drei Schwestern waren voll gespannt, denn sie wollte uns ein paar Fotos unserer gemeinsamen Mutter zeigen. Beim Durchblättern erzählte sie uns aus ihrem Leben und über ihre und unsere Familie. Bei diesem ersten Treffen hatte ich das Gefühl, dass Gabriela und Regina sich äußerlich gleichen. Beide wussten, dass ihr leiblicher Vater ein Italiener war, mehr war ihnen nicht bekannt. Ob sie wohl denselben Vater haben? Es könnte gut sein!

Ich war gespannt zu erfahren, ob auch ich einer meiner Schwestern gleiche. Und tatsächlich konnte ich gewisse Ähnlichkeiten mit Bettina feststellen. Sie ist brünett wie ich und hat auch die gleiche Krümmung der Nase! Auch wenn ich zu Regina und Gabriela keine äußerlichen Ähnlichkeiten feststellen konnte – beide sind eher der blonde Typ mit blauen Augen – musste ich zugeben, dass wir uns doch alle im Inneren und im Fühlen ein bisschen gleichen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, meine Schwestern schon lange zu kennen, obwohl ich sie an diesem Tag zum ersten Mal gesehen hatte.

Wir vier Schwestern haben uns hervorragend verstanden und sofort den Draht zueinander gefunden. Noch stundenlang hätten wir uns unterhalten können. Da saßen wir nun da, die vier Schwestern, die ein Leben lang nichts voneinander gewusst hatten, und plauderten gemütlich miteinander. Ist das nicht verrückt? So haben wir uns doch nach fast vier Stunden verabschiedet, im Wissen, dass wir uns schon bald wiedersehen würden.

So viele Emotionen auf einmal mussten erst einmal verarbeitet werden. Wir betrachteten unser Aufeinandertreffen alle als das schönste Weihnachtsgeschenk überhaupt! So schrieb ich daraufhin in einer Mail an meine Schwestern:

«Es ist wirklich toll, dass wir nun alle vier in Kontakt sind. Es ist für mich immer noch fast unglaublich zu wissen, dass ich nun Schwestern habe (hatte ich doch nur einen Adoptivbruder, der aber nicht mit mir verwandt war!).»

Am Anfang war es wirklich komisch, sie nach fast 60 Jahren als Schwestern anzuschreiben. Zugleich war dies aber auch ein wunderbares Gefühl.

Unseren Bruder Mathias trafen wir zu einem späteren Zeitpunkt. Da auch er interessiert war zu wissen, wer seine neuen großen Schwestern waren, vereinbarten wir ein Treffen auf den 10. Februar 2018 bei einem Mittagessen in Aarau, wo wir das erste Mal zu fünft aufeinandergestoßen sind.

Auch Mathias hat seine eigene, unverwechselbare Biografie. Ganz still und aufmerksam hörten wir ihm zu. Wir fühlten uns alle sehr wohl, es herrschte eine wunderbare Stimmung, eine tolle Energie. Er zeigte uns Fotos, die er vor neun Jahren anlässlich des Leichenmahles unserer Mutter gemacht hatte. Auf diesen Bildern waren auch noch unsere beiden anderen Brüder, Peter und Hans, zu sehen. Es ist wirklich eine schier unglaubliche Geschichte. Nie in meinem Leben hätte ich mir erträumt, so viele tolle Geschwister zu bekommen, niemals! Es ist ein Geschenk des Himmels. Ich fühlte mich von Anfang an total wohl in ihrer Gegenwart. Obwohl wir uns erst kennen lernten, spürte ich eine tiefe Verbundenheit. Wir Schwestern waren entzückt von unserem kleinen Bruder und wünschten uns, ihn bald wiederzusehen. Mathias verabschiedete sich von uns. Kaum ist er um die Ecke verschwunden, sagte Regina voller Enthusiasmus: «Wow, das ist mein neuer Bruder. Ich habe einen Bruder!» Sofort intervenierte ich und korrigierte sie: «Er ist nicht nur dein Bruder, er ist auch mein Bruder!» Und von diesem Moment an haben wir uns immer wieder geneckt und einen Spaß daraus gemacht, wem wohl dieser tolle neue Bruder mehr gehören soll.

In Mathias sahen wir den lieben Bruder, den wir nie hatten, den wir uns immer gewünscht hätten. Beide haben wir zuvor unschöne Erfahrungen gemacht mit unseren Adoptivbrüdern und hatten sie nicht nur in bester Erinnerung. Und nun ist Mathias aufgetaucht, der alles, was wir uns je erträumt hatten, übertraf!

Nach dieser Begegnung übermannten mich unglaubliche Gefühle. Ich hatte den Eindruck, etwas gefunden zu haben, wonach ich schon lange gesucht habe. Dieses Zusammentreffen machte mich total aufgeregt und ich erwachte mehrmals in der Nacht. Meine Gedanken waren sofort wieder bei den Geschwistern.

«Ja, jetzt weiß ich, was Familie ist. Was Verbundenheit bedeutet. Jemanden bei dir zu haben, bei dem du dich wohl fühlst, der gleich tickt wie du. Ich denke den ganzen Tag hindurch an diese wundervolle Begebenheit, ich fühle Schmetterlinge im Bauch. Es ist ein wenig wie verliebt zu sein.»

Wir Geschwister wussten allesamt unser Zusammentreffen zu schätzen. Für uns war es ein riesiges Geschenk, das wir mit Sorgfalt und Achtung entgegennahmen. Wenn man im reifen Alter erfährt, dass man noch Geschwister hat, dann trägt man Sorge zu dieser Verbindung. Ich möchte auf jeden Fall diese Beziehungen feinfühlig angehen und hoffe sehr, dass daraus die von mir ersehnte tiefe Verbundenheit entsteht.

Eine Schwester jedoch fehlte in unserer Runde. Was war mit Angelina, fragten wir uns. Warum hat sie sich nicht gemeldet? Will sie nichts mit uns zu tun haben? Die fünfte Schwester im Bunde hatte nichts von sich hören lassen. Das müssen wir wohl akzeptieren, dachte ich mir. Nicht alle sind gleich interessiert, neue Verwandte kennen zu lernen. Da Angelina ja nicht adoptiert war, sondern bei Pflegeeltern aufgewachsen ist, ist sie damals über den Tod der leiblichen Mutter informiert worden. Bettina hatte deshalb ihre Adresse und erzählte uns, dass Angelina als Leiterin eines Sprachdienstes und als Übersetzerin für Italienisch tätig ist. Das fand ich unglaublich spannend: Sie hatte den gleichen Beruf wie ich! Ich wollte es unbedingt doch noch versuchen, mit ihr in Kontakt zu treten. So schrieb ich ihr einen Brief und erzählte ihr aus meinem Leben. Zu meinem Erstaunen hat sie mir am gleichen Tag mit einer Mail geantwortet und mitgeteilt, dass sie mich gerne treffen würde. Sie hatte den Anfragebrief der PACH tatsächlich nicht erhalten. Den Grund dafür wissen wir bis heute nicht.

Ich habe mich mit ihr schließlich an Ostern 2018 bei einem Mittagessen in Rheinfelden getroffen. Wir hatten uns viel zu erzählen und erlebten eine gute Zeit miteinander. Ich berichtete von den anderen Geschwistern und dass wir es gut miteinander hätten. Angelina wünschte sich, die anderen Geschwister auch zu treffen, jedoch eines nach dem anderen statt alle gleichzeitig bei einem gemeinsamen Treffen. So konnte ich zwischen meinen Geschwistern vermitteln und Angelina lernte sie alle kennen.

Die ersten Begegnungen mit meinen Geschwistern haben unglaublich starke Emotionen und Glücksgefühle ausgelöst – ganz anders als im Vergleich zum Treffen mit der leiblichen Mutter, welches doch eher etwas distanziert war.

«Es flossen Freudentränen und von Anfang spürte ich eine tiefe Verbundenheit zu meinen Geschwistern.»

Wir teilten alle dasselbe Schicksal, dass wir früh von unserer leiblichen Mutter getrennt wurden. Das hat uns verbunden. Wir wussten, wovon wir redeten, und verstanden uns sofort.

Als ich meine Geschwister zum ersten Mal sah, schenkte ich jedem mein Buch «Seitensprungkind». Ich wollte, dass sie meine Lebensgeschichte gleich erfahren würden. Alle waren erstaunt und sehr erfreut darüber, dass ihre Schwester erst gerade ein Buch über ihre Adoption geschrieben hatte. Sie drückten ihre Freude darüber aus und meinten, dass sie stolz auf mich seien. Das rührte mich unheimlich.

Wir tauschten fortwährend fleißig Mails aus. Alle freuten sich, nun plötzlich Geschwister zu haben! Ein unbeschreibliches, beglückendes Gefühl. Man sucht wie verrückt nach Ähnlichkeiten – und findet sie tatsächlich auch. Auch du spielst Gitarre? Du liebst wie ich Rosen und Katzen? Du bist so einfühlsam wie ich? Und dein Herz schlägt auch für Tiere und die Natur? Zum ersten Mal erlebe ich, was es heißt, blutsverwandt zu sein.

Es fehlten aber immer noch zwei Geschwister. Mathias fand keine Ruhe, dass sich die zwei älteren Brüder nicht auf den Brief der PACH gemeldet hatten. Er steckte mich damit an, und mit meiner Zustimmung organisierte er ein Treffen mit Hans und Peter. Da Mathias diese beiden anlässlich des Hinschiedes unserer leiblichen Mutter schon einmal gesehen hatte, fragte er nach, ob sie interessiert wären, mich kennen zu lernen. Wir waren eigentlich der Meinung, dass auch sie von der PACH angeschrieben worden seien, jedoch kein Interesse daran hatten, uns zu treffen. Dem war nicht so! Auch sie hatten wie Angelina keinen Brief erhalten und somit auch keine Kenntnis von den weiteren vier Halbgeschwistern. Von meiner Existenz erfuhren sie erst eine Woche vor unserem Treffen und waren ebenso überrascht.

Es war für mich sehr wichtig und es hat mich sehr gefreut, dass ich, kurz bevor ich dieses Buch fertig geschrieben hatte, auch Hans und Peter kennen lernen durfte. Sie hatten beide kein einfaches Leben, wuchsen in Heimen auf, ohne in ihrer Kindheit je großen Kontakt zur leiblichen Mutter gehabt zu haben.

Jedes meiner Geschwister hat eine spannende Lebensgeschichte durchlebt und jede dieser einzigartigen Biografien könnte ein eigenes Buch füllen. Von Anfang haben wir uns gesagt: Wir machen keine halben Sachen. Wir nennen uns Geschwister und nicht bloß Halbgeschwister! In diesem Sinne möchten wir auch unsere vielfältigen Geschichten nun als eine in diesem Buch veröffentlichen, denn wir sind ja nun eine Familie!

«Das Buch ‹Seitensprungkind› hinterlässt Spuren der Liebe», hatte Gabriel Palacios zu mir gesagt. Für uns war nun klar: Es konnte nur die Liebe sein, die uns zusammengeführt hat!

Der Adler ist plötzlich wieder da

Mein Leben schien auf einmal vom Wort «Plötzlich» gesteuert zu sein. Es nahm Einzug in mein Leben, als ich mich im Dezember 2016 für das Seminar «Plötzlich Sachbuchautorin» angemeldet habe. Unter anderem wurde das Seminar von Gabriel Palacios geleitet, der dann mein Verleger wurde. Kurz darauf verfasste ich das Exposé für mein erstes Buch und es wurde «plötzlich» ausgewählt. Kaum war mein Buch erschienen, kamen «plötzlich» viele neue Geschwister zum Vorschein. Und so musste ich mich auch «plötzlich» wieder mit dem Gedanken auseinandersetzen, ob ich doch noch ein Folgebuch schreiben würde. Die Zusage kam sehr «plötzlich» und der Termin für die Ausgabe noch «plötzlicher».

Ich hatte wirklich keine Absicht, ein zweites Buch zu schreiben, hätte auch nicht gewusst, worüber ich noch berichten sollte. Doch «plötzlich» war auch der «Schreib-Adler» wiederaufgetaucht. Ja, der Adler mit dem Füllfederhalter war meine Vision gewesen, die mich das erste Buch hat schreiben lassen. Er erschien mir wieder in Arosa. Das jährliche Seminar für autogenes Training fand in einer neuen Location statt. Am ersten Morgen suchte ich mir einen Platz im neuen Seminarraum aus, setzte mich hin, und als ich den Blick hob, war er da, der Adler. Sein Blick war auf mich gerichtet. Ein wunderschönes Gemälde mit einem bunten Adler. Nein, nicht schon wieder, war mein erster Gedanke. Muss es wirklich sein? Ist das ein Zeichen? Muss ich doch noch ein zweites Buch schreiben?

Die ganze Woche spürte ich seinen auffordernden Blick. Am Ende der Woche wusste ich es. Ja, ich werde es nochmals wagen, ich lass mich ein zweites Mal auf die Schreiberei ein. Die Idee einer Fortsetzung meines Erstlingswerks schwebte schon seit einiger Zeit in meinem Kopf. Jetzt wusste ich: Ich muss meine Biografie vervollständigen. Eine so unglaublich spannende Geschichte muss auf Papier!

«Und schon bald befand ich mich wieder im Schreibmodus.»

Als die Idee dieses zweiten Buches reif war, habe ich meine Geschwister über mein Projekt eingeweiht. Ich wollte wissen, was sie dazu meinten. Zudem musste ich ihr Einverständnis haben, um auch ihre Lebensgeschichten erzählen zu dürfen. Nicht alle waren gleichermaßen begeistert, doch alle stimmten meinem Vorhaben zu. Meine Schwester Regina hatte selbst Jahre zuvor den Gedanken, ein Buch zu verfassen, als sie gerade eine Lebenskrise durchgemacht hatte. Sie entschied sich letztendlich dagegen, ihr Leben durch das Schreiben aufzuarbeiten, sondern machte stattdessen eine Clown-Ausbildung, um die Vergangenheit auf diese Weise hinter sich zu lassen. Von der Idee eines Buches war sie sofort hingerissen. Auch mein jüngerer Bruder Mathias, der zeitgleich wie ich seine Biografie aufgeschrieben hatte, war begeistert vom Projekt. Er war es auch, der mich dazu motiviert hat, wirkte sozusagen als die treibende Kraft. Schon bevor ich mein Projekt vorgestellt habe, meinte Mathias, dass wir unsere verrückte Geschichte unbedingt in einem Buch verpacken müssten. Eine andere Schwester war auch bereit, mir ihre Geschichte zur Verfügung zu stellen, wünschte aber von Beginn weg, dass sie dies anonym tun könne. Es war für sie wichtig, ihre Privatsphäre bewahren zu können, da sie ihre wahre Geschichte nur ganz wenigen anvertraut hatte. Ich habe ihr versprochen, dass niemand ihren Namen erfahren würde. Man muss sich stets vor Augen halten, dass jedes adoptierte und jedes Pflegekind eine spezielle Biografie mit sich trägt. Es ist nach wie vor ein heikles Thema und es gibt verschiedenste Gründe, dass man nicht alles mit jedermann teilen möchte, dass man sich lieber nicht outen möchte. Dafür habe ich volles Verständnis. Bis vor der Veröffentlichung meines Buches «Seitensprungkind» war ich auch sehr zurückhaltend und erzählte nur engen Freunden von meiner Adoptionsgeschichte. Mit dem Gang an die Öffentlichkeit war ich folglich gezwungen, immer und immer wieder über mein Leben als Adoptivkind zu sprechen und lernte so einen lockeren Umgang mit diesem Thema. Ich empfand es als Befreiung. Doch jeder Mensch ist unterschiedlich und der Zeitpunkt des Outings ebenfalls. Es gibt auch Adoptierte, die nie offen darüber reden werden, sei es aus Angst vor Häme oder auch aus rein persönlichen sensitiven Gründen.

Im Nachhinein verstehe ich selbst nicht ganz, weshalb ich früher aus meiner Adoption so ein Geheimnis gemacht habe. Am Ende konnte ich doch durch mein Outing nur positive Erfahrungen sammeln und ich spürte oft auch eine gewisse Bewunderung, dass ich trotz der frühkindlichen Verletzungen meinen Weg gemacht habe.

Der Schreibprozess war nicht für alle ganz einfach. Es hat doch auch meine Geschwister viel Substanz gekostet und ihnen ein paar schlaflose Nächte beschert, sich intensiv mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das gemeinsame Schreiben dieses Buches hat uns Geschwister bestimmt schneller nähergebracht und auch ein Stück mehr zusammengeschweißt.

Abb

Ich, das Seitensprungkind

Regula, geboren als Helga Oertli am 6. Oktober 1958 in St.