Die Autorin

Mechthild Venjakob, 1943 in Paderborn geboren, war fünfzehn Jahre als Lehrerin im Schuldienst tätig. Als Ausslandsschullehrerin verbrachte sie zwei Jahre in Quito, der Hauptstadt Ecuadors. Dort fauchte sie in den Ferien mit ihrem VW-Käfer durch die Anden Südamerikas, durch Peru, Bolivien, Chile, Argentinien und Kolumbien. Sie kehrte nach Deutschland zurück, unterrichtete noch fünf Jahre im Ruhrgebiet, kündigte den Schuldienst 1981 und löste ihre Wohnung auf, um sich die nächsten zwanzig Jahre dem Reisen zu widmen.

Sie nahm Züge und Busse, wanderte im Himalaja und in der Rockies und machte große Fahrradtouren durch Indien, Laos, Pakistan, Japan, China, durch Europa und durch die USA. Hilfsarbeiten in Australien, Neuseeland, Alaska, Colorado und England halfen ihr in den ersten zehn Jahren ihres Reiselebens über die Runden. Dann unterrichtete sie Deutsch als Fremdsprache an Instituten in Bremen, Hongkong und in Südkorea.

Im Jahr 2000 kehrte sie über Land von Laos nach Deutschland zurück, davon 12700 Kilometer mit dem Fahrrad. Sie ließ sich in ihrem Geburtsort Paderborn nieder, um über ihr Leben nachzudenken, das fantastischer war als ein Traum, den manch einer träumt.

Bibliogra-ische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiogra-ie; detaillierte bibliogra-ische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrubar.

© 2018– Mechthild Venjakob

(www.asienreise-indien-china.com)

Umschlaggestaltung: Mechthild Venjakob

Text, Fotos und Satz: Mechthild Venjakob

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783752800661

Inhalt

Australien, der fünfte Kontinent unserer Erde auf der Südhalbkugel

Vorwort

An Asien hatte ich mein Herz verloren. Mehr als drei Jahre war ich dort durch die Lande gebummelt und befand mich jetzt, im November 1984, in Hongkong. Gerade war ich zum zweiten Mal aus China zurückgekommen und zum ersten Mal in Tibet gewesen. Der Potala in Lhasa, die Tempel und Klosterstädte im Grasland, die Tibeter mit ihren wettergegerbten Gesichtern, die dünne Luft, das raue Klima: Alles hatte mich tief beeindruckt. Jetzt kaufte ich mir ein Flugticket von Singapur über Australien und Neuseeland nach Los Angeles in den USA und war gespannt auf die westliche Welt. Würde ich Asien vermissen? Die freundlichen, grazilen Menschen, das bunte Treiben auf den Märkten, das Chaos in den Straßen, die überfüllten Busse und Züge, Skooter, Rikschas, streunende Hunde und Kühe, Tempel, Paläste, Klosterstädte, das Fremdartige und darum so Anziehende? Würde das Reisen langweilig werden?

„Lass das Vergleichen“, sagte ich mir, „jedes Land hat seine eigene Schönheit und Faszination!“ Mein Flugticket galt für ein Jahr. In Australien wollte ich sechs Monate bleiben und das Jobben ausprobieren, um die Reisekasse aufzubessern. Das Unterrichten hatte ich gelernt, aber nicht viel mehr. Nach meiner Schulzeit hatte ich studiert und war als Lehrerin wieder in die Schule zurückgekehrt. Im Grunde war ich nie aus der Schule herausgekommen. Vom Leben in der freien Marktwirtschaft hatte ich keine Ahnung. Das würde sich ändern. Welche Arbeiten würde ich finden und wie würde ich sie bewältigen? „Work and Travel“ für junge Leute gab es damals nicht. Jede Lohnarbeit war illegal. Man durfte sich nicht erwischen lassen.

Im Gepäck hatte ich Wanderschuhe, ein Leichtzelt und einen Schlafsack. In einigen der Nationalparks in Neuseeland und den USAwollte ich wandern gehen. Über eine Reise durch Mexiko und Guatemala hatte ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar nicht nachgedacht. Zuallererst würde ich mich in Australien nach Arbeit umsehen.

Uluru (Ayers Rock), der heilige Berg der Aborigines im Zentrum Australiens

Kata Tjuta (die Olgas), im Uluru-Kata-Tjuta-Nationalpark, Northern Territory

Australien:
Jobben und Trampen

16. 11. 1984 – 09. 05. 1985

Land und Leute

Australien, der fünfte Kontinent unserer Erde, ist fast so groß wie Europa. Deutschland passt spielend einundzwanzig Mal hinein. Von Norden nach Süden dehnt es sich etwa dreitausendsiebenhundert Kilometer aus und von Westen nach Osten viertausend. Das Land erstreckt sich über drei Zeitzonen. An der Ostküste in Sydney geht die Sonne drei Stunden und im weiter nördlich gelegenen Brisbane zwei Stunden früher auf als an der Westküste. Die riesige Insel, umspült von den Wellen des Indischen Ozeans im Osten und des Pazifischen Ozeans im Westen, liegt auf der Südhalbkugel. Die Sonne wandert gegen den Uhrzeigersinn über den Himmel und steht mittags im Norden. Das Kreuz des Südens leuchtet inmitten der Milchstraße am Nachthimmel und die Wölbungen des abnehmenden und zunehmenden Mondes sind gegenüber dem Nordhimmel vertauscht: In Australien steht alles Kopf. Im europäischen Sommer herrscht dort Winter und das Weihnachtsfest feiern die Menschen in Sydney in sengender Sonne am Strand. Der nördliche Teil Australiens liegt in den feucht-heißen Tropen, der südliche ist mit gemäßigten Sommern und Wintern gesegnet. Der größte Teil der ausgedehnten Landmassen besteht aus unwirtlichen Savannen und Wüsten. Die meisten der etwa zwanzig Millionen Australier wohnen in den wenigen Küstenstädten.

Spanische, portugiesische, französische und holländische Seefahrer segelten im Mittelalter über die Meere und betraten ab dem 16. Jahrhundert australischen Boden. Der Engländer James Cook kartografierte 1770 die Ostküste. Er nahm das Land unter dem Namen New South Wales in Besitz. Unter britischer Krone entstanden weitere Kolonien. 1829 wurde die Stadt Perth in Western Australia gegründet. Die Briten verbannten ihre Gefangenen in die Strafkolonien fern der Heimat. Freie Siedler kamen ins Land. 1901 vereinten sich die bisher voneinander unabhängigen Kolonien zum Commonwealth of Australia. Heute leben ungefähr vierundzwanzig Millionen Menschen in Australien. Viele sind europäischer, überwiegend englischer und irischer Abstammung.

Die Ureinwohner, die Aborigines, die seit mehr als vierzigtausend Jahren das Land bewohnten, wurden von den britischen Siedlern schnell und rücksichtslos zur Seite gedrängt. Von Natur aus Nomaden, mussten sie ihren Lebensstil aufgeben. Nur wenigen gelang es, sich zu assimilieren. Zum großen Teil leben sie in Reservaten, die die australische Regierung ihnen zugewiesen hat. Erst seit 1960 dürfen sie wählen und Land und Häuser erwerben.

Sydney und die Blue Mountains

Bei strahlendem Sonnenschein landet die Maschine in Sydney, der Hauptstadt des Bundesstaates New South Wales. Mit dem Flughafenbus fahre ich in die Stadt hinein. Viktorianische Terrassenhäuser mit Rundbogenfenstern und verschnörkelten Balkongittern säumen die Straßen. In der Beethoven Lodge im Zentrum finde ich Unterkunft.

Mein Weg führt mich zum 1973 eröffneten Opernhaus, das von dem dänischen Architekten Jørn Utzon geplant wurde. Beim Entwurf der Dächer soll er an eine in Blütenform geschälte Orange gedacht haben. Spitz zulaufend und nach innen gewölbt richten sich die hintereinander aufragenden Schalen in den Himmel und überschatten die Halbinsel, die sich ins Hafenbecken schiebt. Die weißen Keramikfliesen des Dachs spiegeln sich in den gekräuselten Wellen des Wassers. – Hinter der Oper überspannt die fünfhundert Meter lange Harbour Bridge das Hafenbecken, die Stahlkonstruktion einer Bogenbrücke aus dem Jahr 1932. Von dort schaue ich hinab auf das Opernhaus, in dem sich Konzertsäle, Theater, Restaurants, Studios, Souvenirläden, Bars und ein Kino befinden. Jährlich finden zweitausendfünfhundert Aufführungen unter den Dächern statt. Der Däne Jørn Utzon hat sein Werk nie gesehen. 1959 begann er mit dem Bau. Nach Streitereien um die explodierenden Kosten verließ er 1966 Australien, weil er keine Kompromisse eingehen wollte. Als er weg war, sparte die Stadt an der Innenausstattung. Die Akustik soll nicht gut sein.

Auf meinen Ausflügen durch die Stadt laufe ich an der Stadthalle und der St. Mary’s Cathedral, einem neugotischen, imposanten Bauwerk, vorbei. Parkanlagen breiten sich neben Hochhäusern aus. Der Hyde Park mit Feigenalleen und Springbrunnen ist eine Oase inmitten des Straßentreibens. Musikbands spielen auf Plätzen und am Pier vor dem Opernhaus. Sydney gefällt mir gut. Die wie eine Freizeitgesellschaft wirkende Nation läuft in Shorts und Sportkleidung herum.

Viele Rucksackreisende, überwiegend Engländer um die zwanzig, wohnen in meiner Herberge. Vom Reisen ist nicht die Rede, sondern vom Jobben. „Hast du eine gut bezahlte Arbeit gefunden?“ Das interessiert. Die Jugendlichen prahlen und einer will mehr als der andere verdienen. Ein junger Däne bekommt für ein paar Tage einen Job. Jetzt ist er wieder arbeitslos. Er träumt vom großen Geld und meint, es käme vom Himmel. Es ist ihm ein Bedürfnis, auszuschlafen und gemütlich zu frühstücken, bevor er zum Jobcenter geht und nach Arbeit fragt.

Im Jobcenter warten kurz nach sechs Uhr die ersten Arbeitssuchenden vor der Tür. Ich stehe dazwischen. Um sechs Uhr dreißig öffnen sich die Pforten. Die Leute schubsen und drängeln ins Haus. Jeder will oben auf der Warteliste stehen, um einen der Jobs, die ausgerufen werden, zu ergattern. Der Bedienstete, ein beleibter Mann, bietet die für heute anfallenden Arbeiten an. Einige eignen sich für Männer, andere für Frauen. Man sucht Männer für einen Umzug und für Maurerarbeiten, einen Lkw-Fahrer und Frauen, die kellnern, kochen oder auf Kinder aufpassen. Alle Arbeiten, die angeboten werden, liegen mir nicht. Obwohl ich oben auf der Liste stehe, sitze und warte ich bis zum frühen Nachmittag. Nichts Passendes ist für mich dabei, ich habe kein Glück. Erst am dritten Tag bekomme ich morgens die Adresse von Data Mail, einer Packfabrik in Sydenham, und das Fahrgeld für die U-Bahn. Für drei Tage würden Aushilfskräfte gebraucht, sagt der beleibte Mann. Drei Tage? Ich behalte den Job für vier Wochen. Bald ist Weihnachten, die vielen Geschenkpakete sollen pünktlich ankommen, Aushilfskräfte sind willkommen.

Unsere Arbeitsgruppe steht rund um einen großen, quadratischen Tisch. In Windeseile füllen wir Pakete, Stunde um Stunde. Ledertaschen, Kochtöpfe, Zeitschriften wie Women’s Weekly und Bücher wandern hinein. Mit einem breiten Klebeband schließen wir die Kartons und adressieren sie unter Aufsicht von Mary, unserer Vorarbeiterin, einer freundlichen und pragmatischen Frau. Sie gibt jedem eine Teilaufgabe. Wir Neulinge, Elisabeth aus Schweden, Christine aus Neuseeland, Angie aus Australien und ich, arbeiten uns schnell ein. Über die langen Stunden des Tages verrichten wir wie Roboter die gleichbleibenden Handgriffe. Je schneller ich arbeite, desto schneller vergeht die Zeit

Um zehn Uhr gibt es eine zehnminütige Pause, eine halbstündige um zwölf, und wenn nach acht Stunden Überstunden anfallen, gibt es noch einmal eine zehnminütige Pause am Nachmittag. Wir stehen. Sobald es zur Pause schellt, lassen alle Frauen an meinem Tisch blitzschnell ihre Arbeit fallen und hasten zu ihrem Butterbrot. Wenn der Gong das Ende der Pause verkündet, springt jede an ihren Platz zurück. Zum Abschluss des Arbeitstages ist die Halle in Sekundenschnelle wie leer gefegt. Alle rennen zum Ausgang. Ich nicht. Ich gehe gemütlich durch die still gewordenen Hallen der Freizeit entgegen. In den ersten vierzehn Tagen machen wir viele Überstunden, die um fünfzig Prozent besser bezahlt werden als die regulären Arbeitsstunden. Am Samstag erhalten wir den doppelten Lohn. „Another day, another dollar“, sagt der Australier, das ist seine Philosophie. Kurz vor Weihnachten gibt es weniger zu tun. Elisabeth, Christine, Angie und ich werden früher nach Hause geschickt. Einmal haben wir einen Tag frei. Trotzdem habe ich nach vier Wochen tausendeinhundert australische Dollar verdient. Ein guter Anfang!

Zur Weihnachtsparty sind auch wir Aushilfskräfte eingeladen. Wir feiern mit den Angestellten der Zwillingsfabrik zusammen in einem feudalen Klub. Die Einheimischen haben sich aufs Feinste herausgeputzt, einige Damen tragen Cocktailkleider oder lange Röcke, die Herren erscheinen im Smoking und in dunklen Anzügen mit Krawatte. Elisabeth und ich können als Langzeitreisende nicht mithalten, was uns nicht stört. Wir genießen das Buffet und probieren den australischen Wein. Es gibt Lachs in Dillsauce, geräuchertes Forellenfilet in Meerrettichsahnesauce, Schweinemedaillons, Hähnchenbrust, Rohkostplatten, Salate, Kartoffelgratin, gebratenen Reis, Käseplatten, Baguette und viele andere Leckereien. Wir trinken aus Kristallgläsern und essen mit silbernem Besteck von edlem Geschirr. Zu fortgeschrittener Stunde sind viele Männer stark betrunken. Einige fallen vom Stuhl, was weder zum Stil, zur Ausstattung der Räumlichkeiten noch zur Festtagskleidung passt. Niemanden stört es. Für viele australische Männer gehört ein Besäufnis zu einer gelungenen Feier, es ist nichts Außergewöhnliches. Leicht angeheitert fahren Elisabeth und ich kurz nach Mitternacht mit dem Zug zurück nach Sydney. Am letzten Arbeitstag findet eine Weihnachtsparty in ungezwungenem Rahmen in einem Pub statt. Wir trinken Bier und verabschieden uns zum Schluss von der netten Mannschaft.

Heiligabend unterhalte ich mich mit Karl, einem Bremer. Alle anderen Mitbewohner der Herberge gehen in den Pub und kommen spät abends tüchtig betrunken zurück. – Am ersten Weihnachtstag mache ich mich auf den Weg in die Blue Mountains, denn mit Arbeitsangeboten dürfte bis zum neuen Jahr nicht mehr zu rechnen sein. Der Zug fährt zwei Stunden bis Blackheath, einem gut tausend Meter hoch gelegenen Bergort, und dort gehe ich auf den Campingplatz. Nebenan gibt es ein Schwimmbecken. Langsam erhole ich mich vom langen Stehen in der Packfabrik.– Die mit Eukalyptuswäldern bedeckten Blue Mountains sind ein Teil der Great Dividing Range, die parallel zur Ostküste des Landes verläuft. Siebenhundert Flüsse durchziehen ein knapp tausendzweihundert Meter hohes Sandsteinplateau. Sie haben tiefe Schluchten ins Gelände gefressen. Die steilen Berghänge schimmern durch den bläulichen Dunst, der sie einhüllt, ihnen jede Schroffheit nimmt und ein weiches Aussehen verleiht. Die ätherischen Öle des Eukalyptus bewirken eine Streuung des Lichts, die die bläuliche Färbung verursacht.

In den Blue Ridge Mountains, New South Wales, Australien

An einem der Tage steige ich in den Canyon ab. Zehn Stunden bin ich mutterseelenallein unterwegs und genieße die Eukalyptuswälder, ihren Duft und die bunten Vögel in den Bäumen. Als es auf den Abend zugeht, bin ich gespannt, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Nach einigem Suchen finde ich die Aufstiegsroute und mühe mich tüchtig ab. Kurz vor Sonnenuntergang erreiche ich den Campingplatz.

Das Wetter ist launisch. Bei bedecktem Himmel wird es empfindlich kühl. Auf einen weiteren, diesmal sechsstündigen Wandertag folgt ein schlimmer Regentag. Im nächsten kleinen Ort besuche ich ein Museum und begucke mir Bauernmöbel, geflochtene Körbe, antike Bücher und alten Silberschmuck. Ein kleiner Buchladen nebenan lädt zum Stöbern ein. Blackheath besteht aus Holzhäusern und Villen inmitten der Natur fernab vom Weltgetriebe. Am Neujahrstag kehre ich nach Sydney zurück.

Ich hocke im Jobcenter und warte auf Jobangebote. Den ganzen Tag über sitze ich herum. Zweimal rufe ich in der Packfabrik an, doch Data Mail kann keine Aushilfskräfte mehr gebrauchen. Die Herbergsdecke fällt mir auf den Kopf. Es gibt nur eine Lösung, ich muss hier weg! Wie mir ein Engländer in der Herberge erzählt, beginnt in Shepparton, einhundertachtzig Kilometer nördlich von Melbourne gelegen, in der zweiten Januarhälfte die Erntesaison.

Ich packe den Rucksack, fahre mit dem Zug aus Sydney hinaus und laufe zur Autobahnauffahrt. Der Fahrer des ersten Wagens bringt mich zu einem besseren Standort an einer Tankstelle. Neben ihm steht eine halb geleerte Flasche Bier. Darf man in Australien am Steuer trinken, ist das hier üblich? Ich bin entsetzt. Die nächsten Fahrer kommen ohne Alkohol über die Runden und am Nachmittag erreiche ich Canberra, die Hauptstadt Australiens.

Als Pflückerin in Shepparton, Victoria, Australien

Über Canberra nach Shepparton

Canberra ist eine junge Stadt. Erst 1908 wurde sie geplant. 1913 fing man mit den Bauarbeiten an. Grünanlagen breiten sich zwischen eintönig wirkenden Einkaufszentren in der Nähe eines Sees aus. Die Wohnviertel liegen weit außerhalb des Zentrums. Am Reißbrett entworfen, wirkt die Stadt steril und wenig dynamisch.

Der Stadtplan mit seinen blau gezeichneten Gewässern sah vielversprechend aus, die Wirklichkeit überzeugt mich nicht. Auf der einen Seite des zentral gelegenen Sees befindet sich das Geschäftsviertel, auf der anderen das noch im Bau befindliche Regierungszentrum. Das Museum gefällt mir. Dort sehe ich mir mexikanische Altertümer an, die Werke australischer Maler und die Malereien der Aborigines auf Baumrinde. Von einem Hügel in der Nähe blicke ich über die Stadt und die Umgebung. Die weite Ebene ist grün und baumbestanden, durchbrochen von Flüssen, Seen und Wasserbecken. In der Ferne ziehen sich bläulich schimmernde Berge hin, die sich mit dem Dunst am Horizont vermischen. Ich bleibe zwei Tage in Canberra und trampe weiter nach Shepparton, um mich nach Arbeit umzugucken.

Shepparton ist von Birnen- und Apfelplantagen umgeben. Außerdem ernten die Farmer Pfirsiche, Nektarinen, Kirschen und Aprikosen. Die Pflücker arbeiten im Akkord. Für das Füllen einer palettengroßen Kiste gibt es in diesem Jahr zwölf australische Dollar und siebzig Cent. Das entspricht gut zehn Euro. Mit einem Gabelstapler lädt der Farmer die Kisten auf die Anhänger, die hinter den knatternden Traktoren schaukeln.

Nach den langen Wochen in der Herberge in Sydney genieße ich mein kleines Zelt auf dem Campingplatz. Als ich ankomme, herrschen zweiundvierzig Grad Celsius. Es ist Hochsommer. Weil sich das trockene Gras leicht entzündet, drohen Buschfeuer in den Wäldern und Savannen auszubrechen. Jedes Jahr haben die Australier damit zu kämpfen.

Ich klappere ein paar Farmen ab und darf nächste Woche bei Toni Birnen pflücken. Bei einem bulgarischen Farmer namens Boris kann ich die Zeit überbrücken. Um sechs Uhr morgens stehe ich in der Unterkunft für Erntearbeiter und komme mit Harry, einem alten Australier, und David, seinem jungen Freund, ins Gespräch. Sie laden mich ein, mit ihnen zusammenzuarbeiten. – Wir dürfen nur die dicken Birnen pflücken. Alles, was durch einen Ring rutscht, muss hängen bleiben. Die meisten Birnen flutschen durch den Ring. David hat keine Lust zu arbeiten, Harry lädt mich alle naselang zum Rauchen und Quatschen ein. Zu dritt bekommen wir mit Mühe und Not zwei Kisten voll, trotzdem bin ich abends vom Tragen der schweren Taschen und vom Versetzen der Eisenleiter halb tot. Auf diese Art und Weise ist kein Geld zu verdienen, aber der Job fängt wenigstens nicht so tierisch ernst an.

Boris, der Farmer, ein grobschlächtiger Typ, nimmt auf seine Arbeiter keine Rücksicht. Die Kisten stehen morgens nicht bereit und wir verlieren fünfzehn Minuten oder eine halbe Stunde, am fünften Morgen eine geschlagene Stunde. Um sieben Uhr hat Boris seinen Rausch ausgeschlafen, kommt missmutig aus dem Haus und lädt die Kisten auf die Anhänger. Alle Pflücker hören an diesem Tag mit der Arbeit gegen zehn Uhr auf. Wir haben uns abgesprochen. Wir gehen und kommen nie wieder. Soll Boris seine Birnen selber pflücken! Gerade sechzig australische Dollar habe ich bis jetzt verdient, ein Trinkgeld. Es ist lächerlich!

Ich fange bei Toni an. Auch hier dürfen wir nur die großen Birnen pflücken. Ich arbeite mit Simon, einem Australier, und zwei Dänen zusammen. Wir haben einen Traktor mit drei Kisten im Schlepptau. Jeder versucht im Eiltempo, seine Kiste zu füllen, klettert die Leiter hinauf, füllt die Bauchtasche, hetzt zum Traktor, entleert die Tasche, versetzt die Leiter und pflückt erneut. Wir dürfen die Stiele nicht abbrechen und jede Birne muss vorsichtig behandelt werden, damit sie keine weichen Stellen kriegt. Hin und wieder kommt Toni vorbei und begutachtet seine Früchte.

Einer der Dänen fährt den Traktor grundsätzlich unter seinen Baum, damit er seine Bauchtasche schnell entleeren kann. Ich muss manchmal sieben Meter zu meiner Kiste rennen. Am Abend gibt es nur eins, sich ausstrecken und die todmüden Glieder entspannen. Abends treffen sich alle Pflücker in der Gemeinschaftsküche, die mit mehreren Kochplatten ausgestattet ist, und bereiten sich ihre Mahlzeiten zu. Wir setzen uns an den großen Tisch und löffeln unser Essen direkt aus dem Topf oder aus der Pfanne, um möglichst wenig abwaschen zu müssen. Das Kochen, das Essen, alles wird mir fast zu viel. Zudem geht mir der alte Harry, der auch bei Toni Arbeit gefunden hat, auf den Geist. Jeden Abend setzt er sich neben mich und redet auf mich ein. Er hofft, dass ich seine Freundin werde.

„Wir wären doch ein schönes Paar!“, sagt er und rückt seinen Stuhl näher an meinen. Er ist mindestens zwanzig Jahre älter als ich. Was denkt er sich eigentlich? –

Karl, den ich Silvester in Sydney traf, ist ebenfalls zum Pflücken eingetroffen. Er findet eine Farm, wo alle Birnen gepflückt werden und keine Auswahl nötig ist. Ich kündige bei Toni und gehe hinüber zu Mr. Guppy. Karl hat noch keine Kiste gepflückt, als er schon über die Sklavenarbeit und den niedrigen Lohn stöhnt. Immer wieder mache ich meinen Benzinkocher an und koche Tee. Wir schaffen jeder nur zwei Kisten am Tag. Der Lohn reicht weder zum Leben noch zum Sterben. Es sind noch keine anderthalb Wochen herum, als Karl aufgibt. Die Arbeit ist ihm zu mühselig. Jetzt habe ich den Traktor für mich allein und kann ungestört in meinem Rhythmus arbeiten. Niemand lenkt mich ab, niemand möchte sich unterhalten und niemand verführt mich zum Teetrinken. In dieser Woche schaffe ich dreimal fünf und dreimal vier Kisten, insgesamt siebenundzwanzig Kisten. Damit habe ich dreihundertdreißig Dollar verdient. Ich bin zwar unendlich müde, aber zufrieden.

Am 12. Februar herrscht helle Aufregung auf dem Campingplatz. Beamte von der Ausländerbehörde stürmen morgens um vier Uhr zu den Zelten, um nach Pflückern zu suchen, die illegal arbeiten. Bernie, ein Deutscher, den ich wie immer um fünf Uhr wecke, erzählt mir von der Gefahr und schickt mich zurück zu meinem Zelt. Er hat den Beamten erzählt, er mache Ferien in Shepparton. Ha, ha! Bei mir klopft niemand an, denn ich hatte mein Zelt nach einem Regenguss weit nach hinten versetzt. Die Dänen und zwei Israelis hat die Polizei geschnappt. Sie dürfen nicht weiterpflücken.

Um sechs Uhr inspiziere ich die Lage. Die Luft scheint rein zu sein, die Beamten sind verschwunden. Ich gehe zur Straße, wo Mr. Guppy, mein Arbeitgeber, auf mich wartet. Er holt mich jeden Morgen in seinem Wagen ab. Ich erzähle ihm von den Ereignissen in den frühen Morgenstunden und er meint, ich könne auf seiner Farm wohnen. Ich baue schnell mein Zelt ab, packe und wir fahren los. Im Arbeiterhaus bekomme ich ein eigenes einfaches Zimmer mit Kühlschrank und Kochplatte. Mrs. Guppy kauft für mich ein: Brot, Butter, Käse, Gemüse, Kartoffeln, Reis, Eier. Aus meinem Rucksack hole ich ein paar Postkarten mit Kunstdrucken und hefte sie an die Wand. Und schon ist es gemütlich. Spitzwegs „Armer Poet“ und Lyonel Feiningers Segelboote begleiten mich in den Schlaf. Ich habe meinen eigenen Traktor und meine eigenen Baumreihen und darf mit der Arbeit beginnen und aufhören, wann ich will. Normalerweise bin ich die Erste, die aufsteht, und die Letzte, die aufhört. „Auf in den Kampf, Torero!“, singe ich morgens, wenn ich den Traktor durch die noch kühle Luft zu den Baumreihen fahre, und ich strenge mich an, den Motorenlärm zu übertönen. Tagsüber brennt die Sonne, der Schweiß kitzelt im Gesicht und vermischt sich mit den chemischen Stoffen, die die Birnen makellos haben wachsen lassen. Abends rede ich mit niemandem mehr und am Sonntag, dem einzigen freien Tag, liege ich in der Ecke, um mich zu erholen. Komplett schachmatt! Ich gehe einer Knochenarbeit nach, die viel zu schwer ist für eine Frau. Die Männer mit ihren kräftigen Muskeln und großen Händen, die fünf Birnen auf einmal greifen können, haben es wesentlich leichter.

Am 21. März 1986 haben wir auf Guppys Plantage alles abgeerntet, Birnen, Pfirsiche und Aprikosen.

Mit Austie, einem australischen Pflücker, der jedes Jahr mit seinem Sohn für Guppy arbeitet, gehe ich auf einer anderen Farm Äpfel pflücken. Wir werden registriert, füllen Papiere aus und müssen Steuern bezahlen. Der Arbeitstag beginnt um halb acht und endet um siebzehn Uhr. Da ich gut eingearbeitet bin, schaffe ich fünf Kisten am Tag. Wir dürfen weiterhin auf Guppys Plantage wohnen.

Am 12. April haben wir alle Äpfel auf der Farm abgepflückt. Das Pflücken hat mir insgesamt 2828,70 A$ in die Kasse gespült. Zusammen mit dem Fabriklohn von Sydney hat sich mein Budget wie das Gefieder einer Gans aufgeplustert und die Reise kann weitergehen. Für die nächsten zehn Monate bin ich frei wie ein Vogel und fliege davon. Glücklich!

Familie Guppy gibt zum Abschied eine Grillparty. Wir verbringen einen gemütlichen Abend am Feuer. Austie und sein Sohn fahren am nächsten Morgen heim, ich bleibe, weil es regnet. Ich bin allein und es ist einsam im Haus. Nachmittags trampe ich in die Stadt. Ein Farmer bietet mir einen Pflückjob an. Nein, vielen Dank! Am nächsten Tag stelle ich mich an die Straße und trampe nach Melbourne, der Hauptstadt des Bundesstaates Victoria.

Die große Rundreise

Melbourne – Adelaide – Ayers Rock
– Alice Springs – Brisbane

Mein australisches Visum läuft in knapp fünf Wochen ab. Leider ist die Zeit zu kurz, um alle Winkel des riesigen Landes zu erkunden, die Städte an der Ostküste, Darwin im tropischen Norden oder Westaustralien. Ayers Rock, das Wahrzeichen Australiens, liegt in der geografischen Mitte des Kontinents und steht auf meiner Reiseliste an erster Stelle.

In Melbourne komme ich in der Jugendherberge unter. Es ist kalt und regnerisch, zu ungemütlich, um durch die Straßen zu schlendern. Ich vertreibe mir die Zeit in einer Kunstgalerie und gehe anschließend in ein Café. Die Stadt ist klein und ruhig, ein schwacher Abglanz Sydneys. Auf dem Weg zurück zur Jugendherberge komme ich mit Peter, einem Deutschen, und seiner australischen Frau Pat ins Gespräch. Die beiden laden mich zu sich nach Hause ein. In ihrem Auto holen sie mich von der Jugendherberge ab. Wir unterhalten uns den Abend über bei einem Glas Wein. Peter war katholischer Priester in Münster, als er Pat auf ihrer Europareise kennenlernte. Sie verliebten sich und Peter gab sein Amt auf, um Pat zu heiraten. Zunächst fuhr er Taxi, um sich finanziell über Wasser zu halten, studierte Informatik und arbeitet heute als Assistent an einer Uni in Melbourne.

Peter und Pat gehen anderntags arbeiten, eine Freundin Pats, Susan, hat Zeit für mich. Wir fahren in ein Naherholungsgebiet von Melbourne, in die etwa siebenhundert Meter hohen Dandenong Ranges. Regenwälder bedecken die Hänge, hohe Eukalyptusbäume und Baumfarne ragen aus dem Unterholz. Wanderwege führen durch den Park. Beliebt ist eine Fahrt mit der Schmalspurbahn „Puffing Billy Railway“ aus dem 19. Jahrhundert, deren Dampflok durch die Berge faucht. Wildbäche gurgeln durch tief eingeschnittene Täler und stürzen Steilhänge und Felsen hinunter. Moosüberzogene Steine säumen die Ufer. Bunte Papageien sitzen in den Bäumen. Der australische Graurückenleierschwanz ist hier zu Hause. Er imitiert alle Arten von Geräuschen, Vogelstimmen, Motorbrummen, Lieder. Während der Balz tanzt er rhythmisch zu seiner eigenen Musik. Er spreizt seine langen Schwanzfedern, biegt sie nach vorn und verschwindet unter den silbrig glänzenden Federn, die wie ein Gewebe aus Batist wirken. Der Honigfresser, ein Singvogel, ist wie der Leierschwanz in den Dandenong Ranges heimisch. Mit seinem gebogenen Schnabel saugt er den Nektar aus den Blüten.

Der Himmel ist grau verhangen, es regnet viel. Wir sitzen im Auto und fahren durch den Forst. Während einer Regenpause steigen wir aus und spazieren durch den Eukalyptuswald. Die Vögel haben sich verkrochen. Sie haben keine Lust zu singen und der Leierschwanz wird mit seiner Balz auf schönes Wetter warten. Koalas sehen wir auch nicht.

Peter und Pat bringen mich frühmorgens zur Stadt hinaus und setzen mich an der Straße nach Adelaide ab. Kaum stehe ich an der Straße, hält ein Auto. „Steig ein!“, ruft der Fahrer. Er heißt Pete und ist in seinem neuen Jeep auf dem Weg nach Perth im fernen Westen Australiens. Welche Chance! Perth! Die Entfernung beträgt rund dreitausend Kilometer. „Ich fahre mit“, denke ich im ersten Augenblick, „ich bleibe einfach im Auto sitzen!“ Perth! Wollte ich nicht schon immer nach Perth? Nach kurzem Überlegen komme ich zu dem Schluss: „Es hat keinen Zweck! Perth ist zu weit weg. Ich darf mich nicht verzetteln!“

Adelaide liegt gut siebenhundert Kilometer entfernt. Wir folgen dem Princes Highway und nicht der berühmten, knapp zweihundertfünfzig Kilometer langen Great Ocean Road, die zu Nationalparks führt, zu den „Zwölf Aposteln“, bizarren Felsen im Meer, Grotten und Klippen, zu Surfparadiesen und durch Regenwälder. Bis auf eine kurze Rast sind wir den ganzen Tag unterwegs. Gegen neunzehn Uhr kommen wir in Adelaide an. Ich gehe in die Jugendherberge und treffe mich abends mit Pete zum Essen.

Pete verbrachte geschäftlich gerade acht Monate in Europa. In einem gemütlichen italienischen Restaurant unterhalten wir uns über Gott und die Welt. In poetischen Worten preist er Farbe, Gestalt und Größe der Eukalyptusbäume, die sich im Laufe der Jahre ändern: „Keep looking at them, they will change in colour, shape and size, but will always maintain their individual character. They can tell a story that no man can explain. They have seen this hard worn continent grow since time began and have been through more hell than you can possibly imagine. Each one tells a story that will keep you amused if you have no one to talk to“.– Pete bleibt noch einen Tag. Wir fahren ins Barossa-Tal und genießen die Weinproben in den Gaststätten. Barossa ist das größte Weinanbaugebiet in Australien. Mitte des 19. Jahrhunderts kultivierte ein Winzer aus Schlesien die ersten Reben im Tal. Andere Winzer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz siedelten sich im Laufe der Jahre an. Sie brachten die einheimische Küche mit, Sauerbraten, Schweinerippen, Knödel, Wiener Schnitzel, Mettwurst und Apfelstrudel, die deutsche Sprache und Kultur. Einer der Winzerorte heißt Hahndorf. Wir beschließen den Tag in einem spanischen Restaurant in Adelaide und gucken feurigen Flamencotänzen zu.

Lisa, eine Schweizerin aus der Jugendherberge, und ich schwingen uns am nächsten Morgen in Peters Jeep. Wir fahren dreihundert Kilometer mit bis Port Augusta. Hier startet unsere lange Reise ins Hinterland Australiens, das aus menschenleeren, sonnendurchglühten Wüsten besteht. Das Outback, auch Down Under genannt, nimmt drei Viertel des Landes ein.

Die Lastwagenfahrer an den Lastwagenstopps erzählen Schauermärchen über den Stuart Highway, auf dem wir nach Alice Springs gelangen wollen. Er sei unpassierbar. Die Fahrer würden ihre Lkws in Port Augusta auf den Zug verladen. Pete erweist uns einen letzten Dienst und fährt zur Polizeistation, um sich zu erkundigen. Er kommt zurück und beruhigt uns: „Der Stuart Highway ist offen, auf der Strecke gibt es keine Probleme!” Unsere Wege trennen sich und wir verabschieden uns. Peter verliert sich schnell am westlichen Horizont und wir warten auf ein Transportmittel.

Der 2843 Kilometer lange Stuart Highway führt von Port Augusta nach Darwin. Er ist nach dem schottischen Entdecker John McDouall Stuart benannt, der als erster Europäer 1862 Australien von Süden nach Norden durchquerte. Für den Hinweg brauchte er neun Monate und für den Rückweg fünf. Obwohl man heute wesentlich schneller vorwärtskommt, ist die Reise immer noch ein Abenteuer. Nur etwa alle zweihundert Kilometer gibt es Siedlungen, Tankstellen und Restaurants. Alice Springs im Herzen Australiens ist mit weniger als dreißigtausend Einwohnern die größte Stadt auf dem Weg in den Norden.

Wir stehen nicht lange an der Straße, als ein Pkw anhält. Der junge Fahrer sagt, er führe schnurstracks durch bis Ayers Rock. Das ist unglaublich! Wie problemlos das Trampen in Australien ist! Es scheint normal zu sein, als Anhalter Hunderte von Kilometern in einem Wagen zu sitzen.

Auf dem Rücksitz liegt viel Gepäck. Ich wäre bereit, mich daneben zu quetschen, aber Lisa möchte lieber auf einen Lkw warten. „Warum denn? Wir haben einen durchgehenden Wagen! Solch eine Gelegenheit sollten wir uns nicht entgehen lassen”, sage ich, „ich fahre auf jeden Fall mit dem jungen Mann!” Lisa fühlt sich in einem Lkw sicherer und lässt sich nicht umstimmen. Sie geht und ich nehme neben Jack, dem Fahrer, Platz. Die Reise in die Tiefe des Landes beginnt.

Nach vierhundert Kilometern ist die Teerdecke zu Ende und eine Schotterpiste beginnt. Sie ist in gutem Zustand und Jack stiebt durch die Wüste. Die Räder wirbeln Staub auf, der als Wolke hinter uns herzieht und sich auf Piste und Gräser senkt.

Wir durchfahren Coober Pedy, der Welt größtes Abbaugebiet von Opal. Wegen der Hitze wohnen die Bergleute in Dugouts, in unterirdischen Wohnungen. „Die Luft da unten ist bei angenehmen Temperaturen von fünfundzwanzig Grad Celsius das ganze Jahr über trocken und es ist still”, sagt Jack. Leider gucken wir uns nicht um. Jack hat keine Zeit. Er möchte so schnell wie möglich Alice Springs erreichen. Die Sonne geht unter und hinter Coober Pedy halten wir an für die Nacht. Ich schlafe im Zelt am Straßenrand und Jack im Wagen.

Bei Sonnenaufgang erhitze ich auf meinem Benzinkocher Wasser. Nach einer Tasse Kaffee brechen wir auf. Wir fahren weiter durch dieses helle Land, das mir uralt, unergründlich und trotzdem zeitlos erscheint. Nur wenige Pflanzen quälen sich durch den trockenen, festen Boden ans Licht. Manchmal sehen wir Kängurus, Adler und dicke Krähen. An einer der wenigen Tankstellen am Wege tanken wir und bestellen im kleinen Restaurant nebenan Sandwiches und Mineralwasser. Nach dieser kurzen Rast steigen wir wieder in den Wagen und fahren weiter auf den Horizont zu. Für Hunderte von Kilometern ist die rötliche Wüste flach. Gräser und dornige Büsche schimmern grün. Die Straße zieht sich schnurgerade durch eine gleichförmige Landschaft, aus der die ganze Welt zu bestehen scheint. Mir wird es trotzdem nicht langweilig. Ich halte Ausschau nach Besonderheiten. Einmal zeigen sich Dingos, die wilden Hunde der Wüste, in der Ferne, dann stolzieren Emus durchs Gelände. Das immense Ausmaß der Ebene fasziniert mich. Tagelang könnte ich weiterfahren.

Am frühen Nachmittag erreichen wir das Yulara-Resort, achtzehn Kilometer von Ayers Rock entfernt. Laut Reiseführer soll man hier in Hotels, Gästehäusern, in der Jugendherberge oder auf dem Campingplatz übernachten können. Den Campingplatz und die Jugendherberge direkt unterhalb des berühmten Felsens gibt es nicht mehr. Ich bin tief enttäuscht. Dort hatte ich zelten wollen, um nachts den Sternenglanz mit dem Kreuz des Südens über Ayers Rock zu bewundern und morgens bei einer Tasse Kaffee das Felsmassiv und die Wüste rundum.

Ich bedanke mich bei Jack, steige aus dem Wagen, verabschiede mich und suche die Jugendherberge im Yulara Resort auf. Zum Sonnenuntergang nehme ich einen der Busse zum Felsen. Wie ein feuriges Walross liegt er unter einem unendlichen Himmel, glüht unter den Strahlen der untergehenden Sonne auf, bis die Dunkelheit nur noch seine Konturen freigibt, ein schwarzer Koloss in der Nacht, umflossen vom silbrigen Licht des Mondes und der Sterne. Mit dem letzten Bus kehre ich ins Yulara-Resort zurück.

Um acht Uhr am Morgen ist es windig und kühl. Mit einem Bus fahre ich wieder zum Felsen. Ich steige auf zum Gipfel und halte mich unterwegs an einem Kettengeländer fest, das über die Schräge nach oben führt. Ins Rutschen darf der Kletterer nicht kommen. Unaufhaltsam würde er in die Tiefe purzeln. Oben angekommen, blicke ich über die rotbraune Ebene, auf der grünliche und braune Gräser sprießen. Kniehohe Büsche durchsetzen das Terrain. In der Ferne ragen die Olgas auf, bizarre Felsen. Ich steige ab.

Als Neuling in Australien weiß ich über die Aborigines nur, was ich gelesen habe. Mir wird nicht bewusst, dass ich ihre Gefühle verletze, wenn ich auf ihrem Heiligtum herumtrampele. Heute ist der Aufstieg verboten. – Andere Besucher treffen ein. Ein Ranger führt uns zu den dreißigtausend Jahre alten Malereien. Eidechsen sind eingeritzt, Jagdszenen, stilisierte Emus, Federn, Schlangen und Kreise.

Die Aborigines teilen sich in viele Stämme auf. Jeder Stamm spricht seine eigene Sprache. Ihrem Glauben nach entstand die Welt in der Traumzeit. Die mystische Regenbogenschlange kam aus dem Meer und formte die Landschaften Australiens. Sie, die Hüterin des kostbaren Wassers in der Wüste, drückte den Felsen empor, den Uluru, wie die Aborigines Ayers Rock nennen, und lebte hier.

Eine andere Geschichte erzählt vom Kampf eines bösartigen Hundes mit den Menschen, den Kunia und den Mala. In einer blutigen Schlacht bebte die Erde und der Geist der Kunia und der Mala wurde zu Stein. Diese Geschichte ist in den Höhlenmalereien verewigt.

Das Tal des Windes, Kata Tjuta, Northern Territory, Australien

Die Aborigines zogen durch die Wüste mit ihren Songlines, die ihnen den Weg wiesen. Sie sangen Lieder mit siebenhundert und mehr Strophen und maßen damit die Zeit und die Länge der Strecken. Die Ahnen erschufen die Elemente und hinterließen an einigen Plätzen ihre spirituellen Kräfte. Die Songlines führten dahin, zu heiligen Wasserstellen, Nahrungs- und Zeremonialplätzen. – Vor zwanzigtausend Jahren ließ sich der Stamm der Anangu am Uluru nieder. In Zeremonien beschwören sie heute noch die spirituellen Kräfte der Traumzeit, die allgegenwärtig ist. Alle Dinge dieser Welt sind Teil von ihr.

Am Uluru kreuzen sich die Traumpfade der Ureinwohner. Bis in die Neuzeit waren sie Sammler und Jäger. Besitzdenken war ihnen fremd. Sie teilten die Jagdbeute und die Mahlzeiten und bewahrten die Gesetze der Ahnen. Sie verehrten die Natur und beschädigten sie nicht. Sie bauten keine Häuser, sondern schliefen auf Fellen im Freien. Hütten benutzten sie als Vorratskammern. Im warmen Klima brauchten sie keine Kleidung, sie gingen nackt. Es gab keine Kriege zwischen den einzelnen Stämmen. Sie besaßen nichts, kein Land, keine Häuser, keine Paläste, keine Burgen. Worum hätten sie streiten sollen?

Am Mittag will ich zu den sechzig Kilometer entfernten Felsgruppen der Olgas trampen. Die Aborigines nennen sie Kata Tjuta. Ich stehe in der Hitze und versuche mich der aufdringlichen Bremsen zu erwehren. Sie gehören zu den blutsaugenden Insekten und stechen zu, sobald sie sich auf den Armen oder im Nacken niedergelassen haben. Endlich hält ein Wagen an und erlöst mich. Der Fahrer setzt mich an den Olgas ab. Sie bestehen aus sechsunddreißig Gipfeln. Die Natur hat das „Tal des Windes“ erschaffen. Mit anderen Besuchern wandere ich durch diese grandiose Schlucht. Wir zwängen uns eine Weile durch die enger werdende Klamm und kehren der Hitze wegen um. – Die Region Kata Tjuta, was übersetzt „viele Köpfe“ heißt, ist den Anangu heilig. Zu ihren Ritualplätzen haben Fremde keinen Zugang.

Anderntags warte ich am Straßenrand eineinhalb Stunden auf ein Transportmittel, bis ein Wagen anhält. Er fährt vierhundertfünfzig Kilometer durch bis Alice Springs, wo sollte er auch sonst hinfahren?

In Alice Springs setzt mich der Fahrer vor der Jugendherberge ab. Sie macht einen freundlichen Eindruck, ist jedoch belegt. Mit einer Japanerin, die ebenfalls gerade eingetroffen ist, komme ich ins Gespräch. Zusammen mieten wir ein Zimmer in einer kleinen Pension jenseits der Brücke. Hier treffe ich Lisa wieder. Sie erzählt, sie sei mit einem Güterzug nach Alice Springs getrampt. Lkw-Fahrer, die in Port Augusta ihre Lkws verluden, hätten ihr diese Fahrt vermittelt. „Das ist ja toll“,sage ich, „mit einem Zug bin ich noch nie getrampt!“ Mit Lkw-Fahrern habe sie vorn im Zug in einem Personenabteil gesessen, erzählt sie: „Die haben ihre Butterbrote mit mir geteilt. Nette Leute!“

Alice Springs liegt am Fuße der MacDonnell-Gebirgskette, die sich von Osten nach Westen durch die Wüste zieht. Fünfundzwanzigtausend Einwohner leben in der kleinen Stadt. 1872 verlegte man Telegrafenleitungen quer durchs Land. Am Rande einer Wasserstelle errichteten die Arbeiter eine Telegrafenstation und legten damit den Grundstein für Alice Springs. Goldschürfer kamen und belebten die Siedlung. 1929 erreichte die Eisenbahnlinie den Ort. Vorher versorgten Kamelkarawanen die Siedlungen im Landesinnern.

Hier sehe ich zum ersten Mal schwarzhäutige Aborigines. Zwanzig Prozent der Einwohner von Alice Springs gehören ihrer Gruppe an. Sie tauchen in Gruppen auf, gehen die Straßen entlang und gucken nicht rechts und nicht links. Viele haben halblanges, lockiges Haar, sowohl Männer als auch Frauen. Ihre Gesichter und Nasen sind breit. Sie sehen gutmütig aus. Auf mich machen sie einen verlorenen Eindruck. Sie passen nicht in die moderne Konsumgesellschaft, sie strahlen Hoffnungslosigkeit aus. Sie kommen mir vor wie von einem anderen Stern. Wenn man von einer Traumzeit träumt, passt man vielleicht nirgendwohin. In den heute fast vergessenen Ritualen und Tänzen gaben sie ihre Einsichten und Erfahrungen an Söhne und Töchter weiter. Die Missionare glaubten, sie bekehren zu müssen, kleideten sie ein und steckten sie in die stickigen Räume der Häuser.

Von ungefähr 1910 bis in die späten Neunzehnhundertsechziger Jahre wurden Tausende Kinder, vor allen Dingen Mischlinge, den Eltern gewaltsam weggenommen und von Weißen adoptiert oder in Heimen großgezogen. Die australische Regierung hoffte, diese Kinder assimilieren zu können. Seit 1997 gibt es den National Sorry Day, einen Gedenktag, der an das Unrecht, das man der „Generation der gestohlenen Kinder“ zugefügt hat, erinnern soll. 2008 entschuldigte sich zum ersten Mal ein australischer Premierminister für das Leid, das den Ureinwohnern im Laufe der Jahrhunderte zugefügt wurde. Neben ihrer Identität verloren sie ihre Muttersprache. Einst gab es über zweihundert Sprachen, von denen nur noch einige wenige gesprochen werden. Ethnologen versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie fragen nach Überlieferungen und traditionellen Ritualen.

Ihren kulturellen Verlust betäuben viele mit Alkohol. Sie halten sich nicht an die Gesetze, stehlen, sind aggressiv und gewalttätig, wie mir die Besitzerin der Pension erzählt. Kein Wunder, dass viele der weißen Bürger auf die Ureinwohner nicht gut zu sprechen sind. Programme zur Integration liefen oftmals ins Leere, sagt meine Hauswirtin.

Bis heute sind die Probleme nicht gelöst. Die Zahl der inhaftierten Aborigines ist proportional höher als die der Weißen, die Selbstmordrate ist überdurchschnittlich hoch. Das belegt eine Studie, über die die Frankfurter Allgemeine Zeitung in November 2016 berichtet. (http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/studie-aborigines-geht-es-schlechter-als-vor-15-jahren-14532341.html).

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird die Kunst der Aborigines anerkannt. Der Kunstlehrer Geoffrey Bardon ermutigte sie in den Siebzigerjahren, ihre Traumzeitgeschichten zu malen. Er machte sie mit den modernen Materialien bekannt und brachte ihnen Maltechniken bei. Seine Schüler malten auf Mauern, Holzbretter und Leinwände. Charakteristisch ist ihre Punktemalerei. Clifford Possum Tjapaltjarri und Johnny Warangkula Jupurrula sind berühmt gewordene Vertreter der Punktemalerei. In einigen der Siedlungen der Aborigenes entstanden Kunstzentren. In Warburtun, einer früheren Missionsstation mitten in der Wüste, herrscht absolutes Alkoholverbot. Dort gibt es Schulen, Ausbildungszentren, ein Krankenhaus und eine Kunstgalerie mit ihren Werken. Gesang und Tanz werden gefördert und die Ureinwohner führen Touristen ihre Zeremonien vor.

Aiko, die Japanerin, und ich mieten uns Fahrräder. Wir radeln zu zwei Durchbrüchen im Gebirge. Am späten Nachmittag besichtigen wir einen Park, in dem viele Gebrauchsgegenstände der Pioniere ausgestellt sind. Wir haben keine Zeit, um zu den Schluchten der McDonnell Range zu fahren. Ich muss mich sputen, nach Sydney zurückzukehren, denn in zehn Tagen läuft mein Visum ab und ich will nach Neuseeland fliegen.

Lang ist der Weg zur Stadt hinaus. Ich stelle mich an den Straßenrand und warte. Schon bald hält ein Pkw an und der Fahrer nimmt mich stolze fünfhundertvierzig Kilometer mit. Three Ways heißt die Kreuzung, an der er mich absetzt. Hier mündet der von Osten nach Westen verlaufende, in Queensland beginnende Barkly Highway in den Stuart Highway. Und hier stecken ein Engländer und ich fest. Manche Anhalter mussten an dieser Kreuzung drei Tage auf ein Transportmittel warten, hatte man mir in der Jugenherberge im Yulara-Resort erzählt. Wir haben Glück und warten nur eine Stunde und zehn Minuten, bis der Fahrer eines Pkws anhält. Er ist auf dem Wege nach Cairns, das hoch oben an der Küste in Queensland vor dem Great Barrier Reef liegt.

Der Engländer will nach Cairns und freut sich. Ich sitze bis Gloncurry für sechshundertfünfzig Kilometer mit im Wagen. Stunde um Stunde fahren wir durch Niemandsland. Die Sonne leuchtet hinter uns am Horizont. Es wird dunkel. Kängurus sind die Gefahren der Nacht. Plötzlich hoppelt eins auf die Straße und streift den Wagen. Der rechte Scheinwerfer zersplittert. Wir steigen aus und tragen das tote Tier an den Straßenrand.

Hinter Mount Isa halten wir um zwei Uhr dreißig an für ein Nickerchen. Joe, der Fahrer, und Paul, der Engländer, schlafen im Wagen, ich lege mich draußen auf meine Matte und gucke in den Sternenhimmel über mir. Ein bisschen bin ich besorgt, wenn ich an die vielen gefährlichen Tiere denke, die es in Australien gibt. Hoffentlich sucht eine der giftigen Schlangen nicht die Wärme meines Schlafsacks. Hoffentlich sticht mich kein Skorpion und hoffentlich krabbelt keine Tarantel oder Giftspinne über mein Gesicht! Am Morgen stehe ich unversehrt auf.