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Impressum

1. Auflage 2020

© TESSLOFF VERLAG

Burgschmietstraße 2-4, 90419 Nürnberg

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Ruth Koch

Layout: Annelie Stenzel

Projektleitung: Sabine Schwertführer

www.tessloff.com

ISBN: 978-3-7886-2254-1

eISBN: 978-3-7886-7131-0

Die Verbreitung dieses Buches oder von Teilen daraus durch
Film, Funk oder Fernsehen, der Nachdruck, die
fotomechanische Wiedergabe sowie die Einspeicherung in
elektronische Systeme sind nur mit Genehmigung des Tessloff
Verlages gestattet.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Anna und das geheimnisvolle goldene Ei

Janice L. Zuern

Die drei Geister des Klimawandels

Denise Müller-Dum

Ein kleiner Zweig vom großen Baum

Annika Klee

Eine Top-Idee!

Teresa Hofmann

Emi Ökotante vs. Lotte Klimaschreck

Michaela Schreier

Fünf Dinge

Wolfgang Wörz

Kakao-Krisen-Klamauk

Dorothea Mercedes Kaiser

Oma Honki

Nathalie Bach

Paco

Hans-Martin Große-Oetringhaus

Traumreise

Isabella Stodiek

Weltretten für Faultiere

Judith Allert

Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

„Die Herausforderungen von heute und morgen lassen sich nur mit Optimismus und Tatendrang lösen. Mit einer neuen Generation engagierter Weltveränderer“ –

davon ist das Team des Vereins Zukunftschreiben e.V. überzeugt. Und hat deshalb im Januar 2020 den Schreibwettbewerb „Zukunftschreiben statt Schwarzmalen“ gestartet.

Bis März wurden über 200 Kurzgeschichten für Kinder zum Thema Klimawandel eingereicht. Aus diesen vielen tollen Geschichten hat eine Expertenjury nun die zehn besten für euch ausgesucht: Geschichten, die nicht nur sachliches Wissen zum Thema Klimawandel und ebenso zum Thema Umweltschutz spannend vermitteln, sondern auch Denkanstöße für euch liefern, um daraus positive Zukunftsvisionen zu entwickeln. Und nun findet ihr diese tollen Geschichten aus dem Schreibwettbewerb sowie eine weitere Kurzgeschichte von der bekannten Autorin Judith Allert hier in diesem Buch.

Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen!

Eure

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Katja Meinecke-Meurer

Geschäftsführerin Tessloff Verlag

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Anna und das geheimnisvolle goldene Ei

Janice L. Zuern

Wenn ihr wissen wollt, wie es sich anfühlt, die Enkelin einer Heldin zu sein, fragt mich. Ja, meine Großmutter hat die Welt gerettet. Aber vor fünfzig Jahren gab es ja auch viel zu retten. Heutzutage läuft alles so, wie es sein sollte. Bis auf meine Mathehausaufgaben. Die wollen irgendwie nicht so recht. Und falls ihr euch fragt, ob mich das berühmt gemacht hat, also das mit meiner Oma: Nein, leider nicht.

Ich bin nur ein ganz normales Mädchen, muss in die Schule gehen wie jeder andere und hab einen kleinen Bruder, der manchmal echt nervig sein kann. Meine Oma wohnt neben uns, aber sie ist ständig auf Klimakonferenzen oder hält Vorträge.

Deshalb sehe ich sie nicht so oft. Dafür ist ihr Gesicht auf allen möglichen Fahnen und Werbetafeln in ganz Deutschland abgebildet. Allein auf meinem Schulweg sehe ich ihr Gesicht ganze drei Mal. Es ist immer das gleiche Bild, aufgenommen im Jahr 2031, kurz nachdem das letzte Kohlekraftwerk Deutschlands abgeschaltet wurde. Damals war sie 27, hatte rote Haare und noch keine Falten. Und sie lächelt. Ich frage mich, ob es ihr schwerfiel, für dieses Bild nicht breit zu grinsen. Sie muss damals echt glücklich gewesen sein! Für die Alten ist meine Oma eine Heldin. Oma hat mir erzählt, dass Klimaschutz früher cool war. Als die Leute verstanden hatten, dass die Welt zerstört wird, wenn sie so weitermachen wie bisher.

Da wollte auf einmal niemand mehr Fleisch essen oder Auto fahren! Aber jetzt, im Jahr 2080, ist das Klima ja gerettet und da macht man sich in meiner Klasse keine Freunde, wenn man zu viel darüber redet. Papa sagt, ich soll stolz sein, die Enkelin der Klimaaktivistin Katrina Benner zu sein, aber in der Schule zeige ich das nicht. Ihr wollt ein Beispiel hören? Na gut. Heute Morgen, bevor unsere Mathelehrerin Frau Heuhaufen kam, saßen wir wie immer auf unseren Tischen und quatschten. Da hörte ich Paul mit einem überheblichen Lächeln sagen: „Mein Vater hat echtes Fleisch besorgt. Nicht diesen Mist aus dem Labor. Das ist viel besser.“

Echtes Fleisch und echte Milch sind heutzutage richtig schwer zu kriegen, weil sie dem Klima schaden.

„Schmeckt das denn anders?“, fragte Jana neugierig. „Quatsch“, warf Tim dazwischen, „das schmeckt genau gleich.“

„Na ja“, sagte Paul, „es ist eben echt. Und fünfmal so teuer, das kann sich nicht jeder leisten. Tims Eltern offenbar nicht.“ Ein paar Jungs lachten und Tim lief vor Wut rot an. Er tat mir leid, aber ich wollte mir einen dummen Spruch über meine Oma gern ersparen, also sagte ich nichts.

„Es ist schlecht für das Klima“, beharrte Tim, „und die Tiere müssen dafür leiden. Du solltest dich schämen, Paul.“

Paul zuckte mit den Schultern. „Na und? Die Erde ist doch schon längst gerettet. Solange alle anderen Menschen Laborfleisch essen, kann sich meine Familie was Besseres gönnen.“

„Stell dir vor, alle würden so denken“, sagte Tim verärgert, „dann …“

„Setzt euch auf eure Plätze!“ Frau Heuhaufen hatte das Klassenzimmer betreten und beendete die Diskussion. Den ganzen Matheunterricht über sagte Tim kein Wort mehr. Normalerweise freue ich mich immer, nach der Schule nach Hause zu fahren, aber seit ein paar Tagen ist alles anders. Seit Papa verschwunden ist, fühlt sich unser Haus leer und einsam an. Mama arbeitet von morgens bis abends, sie und andere Wissenschaftler versuchen herauszufinden, was mit Papa passiert ist. Und Oma ist gerade auf einer Klimakonferenz in Paris. Deshalb sind mein Bruder Nils und ich tagsüber allein.

„Aus dem Weg, du lahme Ente!“, höre ich hinter mir eine Jungenstimme. Ich kann gerade noch mein Fahrrad zur Seite lenken, als auch schon ein dünner Junge auf einem knallroten Mountainbike an mir vorbeirauscht. „Du kriegst mich nieeeee!“, ruft Nils über seine Schulter und lacht.

Ich muss lächeln und schaue dem roten Haarschopf hinterher, der auf Stecknadelgröße schrumpft.

Na warte, denke ich und trete kräftig in die Pedale. Nils Fahrrad ist zwar neuer als meins, weil er es zu seinem zehnten Geburtstag vor drei Wochen geschenkt bekommen hat, aber dafür bin ich fast zwei Jahre älter als er.

Aber er ist schnell. Als ich ihn fast eingeholt habe, rufe ich ihm zu: „Hey, warte mal!“ „Was willst du?“, schreit Nils über das Rauschen des Fahrtwinds.

„Bleib doch mal stehen!“

„Ha! Ich lasse mich von dir nicht austricksen!“

„Ich hab das Passwort!“

„Was?“

„Ich hab das Passwort für Papas Arbeitszimmer!“ Nils bremst sofort ab, bis wir gleich schnell fahren. Mit weit aufgerissenen Augen schaut er zu mir. „Wie hast du es rausgefunden?“

„Na ja“, sage ich gedehnt, „ganz sicher weiß ich es nicht. Aber ich habe eine Idee.“

Er lässt enttäuscht die Schultern hängen.

Dann runzelt er die Stirn. „Moment, du hast das nur gesagt, um mich auszubremsen!“ Ich grinse, dann beschleunige ich und rufe über meine Schulter: „Nicht nur!“

Das heutige Wettrennen gewinne ich und Nils ist ein paar Minuten beleidigt. Wir bringen unsere Fahrräder in die Garage und nehmen zwei Treppenstufen auf einmal, bis wir vor der riesigen, schwarzen Haustür stehen. Die Videokamera scannt unsere Iris und die Tür öffnet sich geräuschlos.

„Hallo Anna, hallo Nils“, sagt eine weibliche Stimme, die gleichzeitig von überall und nirgendwo zu kommen scheint. Wir nennen sie Vicky, obwohl sie natürlich nur ein Programm ist. Aber wir reden mit ihr wie mit einem echten Menschen. „Wie war euer Schultag?“, fragt Vicky. „Frau Heuhaufen hat uns viel zu viele Hausaufgaben aufgegeben“, jammere ich.

„Ha! Ich hab fast keine Hausaufgaben“, sagt Nils triumphierend und schleudert seinen Schulranzen quer über den Boden.

„Das freut mich für dich, Nils“, sagt Vicky. „Du schaffst das schon, Anna. Du bist eine gute Schülerin.“ Nils und ich gehen in die Küche. Wir schweigen und Vicky schweigt auch. Die Stille liegt schwer in der Luft und ein beklemmendes Gefühl überkommt mich. Wir sind allein. Ich atme erleichtert auf, als Vicky wieder anfängt zu reden. „Ich habe eine Sprachnachricht von eurer Mutter. Sie lautet: Hallo ihr beiden, heute wird es etwas später bei mir. Es tut mir leid. Aber ihr versteht sicher, dass ich das tun muss. Bis heute Abend. Hab euch lieb.“

Wir nehmen uns Mittagessen aus dem Kühlschrank und ich packe den Laborburger aus der Verpackung. Nils beißt sofort in seinen rein und schmatzt. „Mmh.“ Ich zögere. Auf einmal muss ich an Pauls Worte über echtes Fleisch denken. Was meinte er mit besser? „Meinst du, Mama und Papa kaufen kein echtes Fleisch, weil es ihnen zu teuer ist?“, frage ich Nils.

„Quatsch“, sagt er mampfend. „Mama ifft kein Fleiff, weil ef dem Klima fadet. Hat fie doch gefagt.“ Trotzdem schmeckt der Laborburger nach Pauls Worten nicht mehr ganz so gut.

„Hast du wirklich eine Idee, wie das Passwort lautet?“, fragt Nils, als er aufgegessen hat.

„Ja, aber ich denke, wir sollten da nicht rumschnüffeln.“

„Warum nicht?“

„Weil wir sowieso nichts ändern können. Wenn nicht einmal Mama herausfinden kann, was mit Papa passiert ist, können wir es erst recht nicht.“ „Aber bist du denn kein bisschen neugierig?“ „Doch“, gebe ich zu.

Nils und ich starren uns in die Augen, bis mir Tränen kommen und ich blinzeln muss. „Gewonnen.“ Nils grinst mich an. „Also musst du mir das Passwort verraten.“

„Muss ich überhaupt nicht.“ Ich springe auf und laufe die Treppe nach oben in den ersten Stock. Papas Arbeitszimmer ist das einzige, das mit einem Passwort gesichert ist. Er sagte immer, seine Arbeit sei ein Geheimnis. Dabei lächelte er und schaute bedeutungsvoll zu Mama. Bald würde die Welt davon erfahren. Bald.

Während ich die Zahlenkombination eingebe, pocht mein Herz laut vor Nervosität. Die Tür klickt und öffnet sich einen Spaltbreit.

„Du hattest recht!“, ruft Nils überflüssigerweise. Ich drücke meine Hand gegen die Tür und strecke den Kopf hindurch. Auf den ersten Blick sehe ich nur einen Schreibtisch mit einem Laptop und dahinter ein Regal voller Bücher. Papa liebt Bücher, aber da ist er so ziemlich der Einzige. Niemand heutzutage liest Bücher aus Papier. Vorsichtig treten wir ein und mir fällt sofort auf, dass das Fenster geschlossen ist.

Während ich den Blick über die Wände, das Bücherregal und den Schreibtisch wandern lasse, fühle ich mich wie ein Detektiv auf Spurensuche. Papa war in den letzten Wochen oft in seinem Arbeitszimmer. Er verbrachte Stunden dort, aber er kam immer wieder heraus. Nur letzten Dienstag nicht. Das letzte Mal sah ich ihn an diesem Tag nach der Schule, wir aßen gemeinsam zu Mittag. Danach schloss er sich wie immer in seinem Arbeitszimmer ein. Aber er kam nicht wieder heraus. Die logische Erklärung ist, dass er durch das Fenster verschwunden ist.

Durch die Tür ist er nicht, denn das hätten wir in Vickys Videoaufnahmen gesehen. Aber warum ist das Fenster dann geschlossen? Hat Mama es zugemacht? Und warum sollte er überhaupt durch das Fenster klettern? Immerhin ist sein Arbeitszimmer im ersten Stock – würde er sich bei einem Sprung in den Garten nicht verletzen?

„Guck mal“, sagt Nils und deutet auf ein goldenes Ei, das hinter Papas Schreibtisch im Bücherregal liegt.

Ich nehme es vorsichtig in die Hand und halte es mir vors Gesicht. An der Seite entdecke ich eine kleine Erhebung, wie ein Schalter, und drücke mit dem Zeigefinger darauf. Es klickt und das Ei öffnet sich in zwei Hälften. Auf beiden Seiten sind kreisrund römische Ziffern angebracht, wie bei alten Uhren. Nur dass die Ziffern nicht bei zwölf aufhören, sondern in Schneckenform weiterlaufen, bis ins Zentrum, und dabei immer kleiner werden. Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich, die Zahlen in der Mitte zu lesen, aber ich kann sie nicht erkennen.

Beide Uhren fangen mit null an, aber während die obere Zahlenfolge wie bei einer normalen Uhr weiterzählt, läuft die untere Uhr rückwärts: - I, - II, - III … In der Mitte jeder Uhr gibt es jeweils einen Zeiger. Beide zeigen auf null.

Auf einmal reißt Nils mir das aufgeklappte Ei aus der Hand und dreht an einem der Zeiger.

„He!“, rufe ich verärgert und greife nach seinem Arm. Ein Ruck läuft durch meinen Körper, meine Sicht verschwimmt und ich taumle. Ich klammere mich an Nils fest und reiße ihn mit. Wir fallen, aber anstatt auf dem Boden aufzutreffen, fallen wir immer weiter. Es ist dunkel, bunte Pünktchen tanzen vor meinen Augen und ich kneife sie fest zusammen. Mir wird schwindlig.

Mit einem zweiten Ruck endet alles. Vorsichtig öffne ich die Augen. Saftig grüne Grashalme kitzeln meine Nase. Wo ist der Teppichboden in Papas Arbeitszimmer? Ich höre das Kreischen einer Kettensäge und drehe mich auf den Rücken. Nils liegt neben mir. Über uns wölbt sich der graue Himmel und die Wände des Arbeitszimmers sind verschwunden. „Was ist passiert?“, murmelt Nils.

Ich rapple mich auf und schaue mich um. Wir sind mitten in einem Garten. Ein Apfelbaum streckt seine Zweige über unsere Köpfe. Das Gras grenzt an eine Terrasse mit Steinplatten und dahinter steht ein altmodisches Haus mit Flachdach, wie man es vor 50 Jahren gebaut hat. Ein Gartenzwerg grinst uns von der Terrasse aus an und hat seine linke Hand zum Gruß erhoben. „Komm, lass uns nach Hause gehen.“ Ich greife nach Nils‘ Hand und helfe ihm auf. Ich weiß nicht, wie wir hierhergekommen sind, aber am besten ist es, wenn wir schnell nach Hause finden. Gemeinsam laufen wir am Haus vorbei bis zur Straße. Zum Glück sieht uns keiner. Vereinzelte Häuser kommen mir bekannt vor, andere habe ich noch nie gesehen. An der nächsten Kreuzung sehe ich den Namen dieser Straße: Schmelzwasserstraße.

„Aber das ist ja unsere Straße!“, ruft Nils. Ich runzle die Stirn. „Stimmt, aber:

Wo ist dann unser Haus?“

Darauf hat auch Nils keine Antwort. Wir laufen den gleichen Weg zurück und tatsächlich: Dort, wo unser Haus stehen sollte, ist dieser altmodische Klotz mit Flachdach und Gartenzwerg, neben dem wir aufgewacht sind.

Nils klammert sich an meine Hand. „Anna! Unser Haus ist weg!“ Seine Stimme klingt weinerlich. Und nicht nur unseres. Auch die Häuser der Nachbarn sehen ganz anders aus. Nur Omas Haus ist immer noch dasselbe. Bloß, dass die Wände viel sauberer sind und der Birnbaum im Vorgarten zu einem Sprössling geschrumpft ist.

Auf einmal brummt es laut hinter uns und wir drehen uns um. Ein großes, schwarzes Gefährt rauscht auf uns zu und wir springen erschrocken zur Seite. Ist das ein Auto? Und was für eines! Es ist ein SUV.

Meine Mama hat mir erzählt, dass diese Autos früher in Mode waren und noch schädlicher für das Klima sind als andere Autos. Aber sie sind doch verboten! Mein Blick wandert die Straße entlang und ich sehe weitere SUVs, die am Straßenrand parken. Mein Mund klappt auf. Das darf doch nicht wahr sein! Der SUV parkt ausgerechnet vor Omas Haus und eine Frau mit langen, roten Haaren steigt aus. Sie sieht aus wie … nein. Das kann nicht sein. Sie sieht aus wie Oma! Nur 50 Jahre jünger, wie auf diesen Werbetafeln und Fahnen, die überall in unserer Stadt verteilt sind. Aber wie ist das möglich? Zögerlich nähere ich mich der Frau. Ich kann meinen Blick nicht von ihr lösen. Dann stehe ich auf einmal neben ihr und sie mustert mich fragend.

„Ist irgendwas?“

„Oma? Bist du das?“, frage ich vorsichtig.

Meine Stimme zittert vor Aufregung.

„Wie bitte?“

„Ich meine, wie heißt du?“, verbessere ich mich. „Katrina. Wieso willst du das wissen?“

Ich schüttle fassungslos den Kopf. „Warum fährst du einen SUV?“, frage ich dann, weil mir nichts Besseres einfällt. „SUVs sind verboten!“

Sie dreht sich mit einem Schnauben weg und klimpert mit den Autoschlüsseln. „Was redest du denn für einen Unsinn! Also ich habe wirklich Wichtigeres zu tun.“

„Warte! Welcher Tag ist heute?“

„Na, Mittwoch“, ruft sie, ohne sich umzudrehen.

„Und welches Datum?“

„Der 11. Juli.“

Während sie in ihrem Haus verschwindet, gehe ich zurück zu Nils.

„Wir müssen rausfinden, was hier los ist“, sage ich ihm. „Am besten wir suchen Mama.“

Mama arbeitet auf der anderen Seite von Gülleloch und der schnellste Weg führt durch die Innenstadt. Oma sagt, unsere Stadt heißt so, weil es hier früher oft nach Gülle gestunken hat. In der Nähe gab es nämlich mal eine riesige Mastanlage für Schweine. Ich schnuppere in der Luft und verziehe das Gesicht. Auf einmal habe ich wirklich das Gefühl, dass es nach Gülle riecht.

Am Horizont ragen gewaltige Schornsteine in den Himmel, die gräulichen Rauch in die Luft pusten. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen und sie stehen genau dort, wo Mama arbeitet.

Obwohl der Himmel bewölkt ist, ist es unglaublich heiß und uns läuft der Schweiß in Strömen herunter. Wo sind die ganzen Pflanzen, die normalerweise hier wachsen? Die Farne und Kletterpflanzen an den Hauswänden, die Bäume und Blumen neben den Gehwegen? Unser Geografielehrer hat uns erklärt, dass das die Lufttemperatur abkühlt. Aber hier sind die Hauswände kahl und es gibt nur wenige Bäume. Bis wir in der Innenstadt sind, sind Nils und ich außer Puste und ganz verschwitzt.

„Ich hab so großen Durst“, stöhnt Nils.

Aber wir haben kein Geld dabei.

Ich nähere mich einem kleinen Geschäft, über dem KIOSK steht. An der Scheibe klebt ein Plakat, auf dem ein Glas Cola mit Eiswürfeln und Limettenstückchen zu sehen ist.

Eine Klingel kündigt an, dass ich den Laden betrete. Eine dicke Frau hinter einem Tresen mustert mich finster.

„Mein Bruder hat großen Durst, aber wir haben leider kein Geld dabei“, erkläre ich ihr. „Könnten Sie uns etwas zu trinken geben?“ „Ohne Geld gibt es hier nichts“, antwortet die Frau. „Ihr denkt wohl, ihr könnt mich bestehlen!“ „Ich gebe es Ihnen auch zurück. Versprochen!“, sage ich. Aber die Frau schüttelt den Kopf und vertieft sich in eine Zeitschrift.

Mit hängenden Schultern gehe ich wieder nach draußen und mein Blick fällt auf einen Drehständer mit lauter Kalendern. Manche zeigen Tiere, andere Landschaften oder Menschen. Aber auf allen steht ganz groß: 2029.

„Welches Jahr haben wir?“, frage ich die Frau. „Na, 2029, dummes Kind. Steht doch direkt vor dir.“ Ich stolpere nach draußen und rüttle Nils an den Schultern. „Nils! Wir sind im Jahr 2029!“ „Was?“

„Ich weiß auch nicht wie, aber irgendwie sind wir im Jahr 2029 gelandet!“

“Du meinst … wir sind in die Vergangenheit gereist?“ Ich stocke. „Ja – aber wie ist das möglich?“

Nils Augen weiten sich. „Das ist es, woran Papa gearbeitet hat! Eine Zeitmaschine! Deshalb ist es so geheim!“

Erst will ich Nils widersprechen, aber dann verstehe ich, dass er recht hat. Das goldene Ei ist eine Zeitmaschine!

„Dann ist diese Frau, die vor unserem Haus war, tatsächlich unsere Oma“, sage ich langsam, „im Alter von 25. Aber wie kann sie einen SUV fahren? Sie weiß doch, wie klimaschädlich das ist! Und die großen Klimaschutzdemonstrationen fingen doch am 25. Juli 2029 an – das ist in zwei Wochen!“

Nils guckt sich um. „Hier sieht aber nichts nach Klimarevolution aus.“

Ich nicke nervös. „Stimmt. Hör zu: Wir müssen wieder zurück ins Jahr 2080 reisen, okay?“ Ich krame in meinen Taschen nach dem goldenen Ei, aber ich kann es nicht finden.

„Hast du das goldene Ei, Nils?“

Er stülpt seine Hosentaschen nach außen. „Nee, ich hab’s nicht. Ich dachte, du hast es.“

“Ich hab es aber auch nicht!“

Wir schauen uns an. „Wir müssen zurück zu unserem Haus. Bestimmt haben wir es verloren, als wir angekommen sind.“ Vor dem Haus steht kein Auto; trotzdem schleichen wir geduckt durch den Garten. „Was macht ihr da?“, fragt eine Stimme hinter uns. Ich fahre erschrocken herum. Katrina steht auf der anderen Seite eines Holzzauns in ihrem Garten.

„Wir, äh, wir spielen, dass wir Diebe sind“, stammle ich. „Und wir verstecken uns vor der Polizei.“

Katrina lacht. „Na so was. Ich wusste gar nicht, dass unsere Nachbarn Kinder in dem Alter haben. Ich habe euch noch nie spielen sehen.“ „Tja, wir sind zu Besuch“, behaupte ich mutig. „Das bin ich auch“, sagt Katrina lächelnd, „eigentlich studiere ich. Wollt ihr ein Schinkenbrötchen? Hab ich gerade frisch gebacken.“

Katrina hält uns einen Korb mit Brötchen hin und Nils läuft sofort eifrig darauf zu. Ich zögere. „Ist das echtes oder künstliches Fleisch?“, frage ich sicherheitshalber. Oma hat mir nämlich erzählt, dass es damals, als sie ein Kind war, noch gar kein künstliches Fleisch gab.

Katrina lacht. „Was meinst du damit? Natürlich ist das echtes Fleisch! Du bist mir aber eine.“ Nils lässt traurig seine Hand sinken.

„Dann wollt ihr also nichts?“, fragt Katrina erstaunt und beißt von einem Schinkenbrötchen ab. Wir schütteln die Köpfe. Auf einmal bin ich enttäuscht. Wie kann es sein, dass meine Oma, die Klimaaktivistin und Weltretterin Katrina Benner, Fleisch isst und einen SUV fährt? Dabei fangen die Klimaschutzdemonstrationen in einer Woche an! Wie will sie es denn schaffen, innerhalb so kurzer Zeit ihr ganzes Leben umzustellen und eine Demonstration auf die Beine zu stellen? „Also dann spielt mal schön weiter“, sagt Katrina und geht zurück ins Haus.

Nils und ich machen uns auf die Suche nach dem goldenen Ei. Ich finde es im Gras und drehe den Zeiger der unteren Uhr zurück auf null, während Nils sich an meinem Arm festklammert. Sofort läuft ein Ruck durch unsere Körper, die Farben verschwimmen und verdunkeln sich, bis alles schwarz ist. Ich schließe die Augen und warte, bis mein Kopf aufhört, sich zu drehen. Dann blinzle ich vorsichtig. Ich hatte erwartet, wieder in Papas Arbeitszimmer zu stehen. Stattdessen ist die Luft so rauchig, dass ich fast nichts sehen kann. Meine Augen fangen an zu brennen und ich muss husten. „Wo sind wir?“, fragt Nils verängstigt. „Das ist nicht unsere Welt!“

Er hat recht. Die Erde unter meinen Händen ist ausgetrocknet und rissig. Vor uns steht das Haus aus dem Jahr 2029, aber das Dach ist eingebrochen und die Wände sind schmutzig. Auf der Terrasse liegt der Gartenzwerg mit abgebrochenem Arm. Statt eines blühenden Gartens sind wir umgeben von vertrockneten Pflanzen und staubiger Erde. Ich hebe das goldene Ei vom Boden auf und stecke es mir in die Tasche. Dann nehmen wir uns an den Händen und laufen durch die menschenleeren Straßen, bis wir die Stadt verlassen. Am Ortsausgang steht das orangefarbene Schild mit der Aufschrift Gülleloch. Wir sind dort, wo wir sein sollten. Ich werfe einen Blick auf die Uhren im goldenen Ei. Beide Zeiger stehen auf null. Wir sind in der richtigen Zeit. Aber warum ist alles zerstört? Am Horizont entdecke ich eine Rauchschwade. Sie kommt nicht von einem Schornstein, sondern …

Ich kneife die Augen zusammen. Von einem Wald? Nils und ich kämpfen uns einen Hügel hinauf. Es ist anstrengend. Die Luft ist so heiß und schwül, wie ich es noch nie erlebt habe, nicht einmal im Jahr 2029. Endlich sind wir oben. Ich traue meinen Augen nicht. Vor uns ist nichts als Blau. Sanfte Wellen schwappen zehn Meter unter uns an die Küste. Das Wasser erstreckt sich bis zum Horizont, gespickt mit Mauern und Dächern, die wie kleine Inseln die Wasseroberfläche durchbrechen.

„Seit wann hat Gülleloch einen See?“, fragt Nils fassungslos. „Das ist kein See“, antworte ich mit zitternden Lippen, „das ist das Meer.“

Es ist die Zukunft, vor der meine Oma Angst hatte. „Wenn wir damals nicht rechtzeitig gehandelt hätten“, sagte sie mir vor ein paar Monaten, als wir auf ihrer Terrasse saßen und Kuchen aßen, „dann wäre nichts so, wie ihr es kennt. Dann wären Schnee und Eis in Arktis und Antarktis weggeschmolzen, auch die Gebirgsgletscher wären abgetaut. Der Meeresspiegel wäre dadurch so stark angestiegen, dass die Nordsee bis hier nach Gülleloch fließen würde. Dann wäre die Lufttemperatur drei oder vier Grad höher und die Böden so trocken, dass wir nichts mehr anbauen könnten.“ Nils fängt an zu weinen. „Ich will nach Hause“, schluchzt er, „ich halte das hier nicht mehr aus!“ Ich drücke ihn fest an mich. Ich fühle mich so hilflos. „Eigentlich haben wir all das gar nicht mir zu verdanken“, sagte Oma damals mit einem Lächeln. „Ohne zwei mutige Kinder wäre ich nämlich nie auf die Idee gekommen, mich für das Klima einzusetzen. Es waren zwei Nachbarskinder, ein Junge und ein Mädchen, so wie du und Nils.“

Auf einmal begreife ich es. Mein Herz schlägt schneller. „Nils“, sage ich, „das ist das, was passiert, wenn Oma Katrina nicht die Klimademonstrationen startet! Wir müssen zurück in die Vergangenheit, ins Jahr 2029.“ Er nickt weinend. Ich hole das goldene Ei aus meiner Hosentasche und klappe es auf.

Auf einmal ertönt hinter uns ein Rufen. Überrascht drehen wir uns um. Am Fuße des Hügels steht ein Mann und winkt zu uns hinauf.

„Hilfe!“, ruft er. „Bitte helft mir!“ Seine Stimme ist schwach und krächzend.

Zögerlich gehen Nils und ich näher. Der Mann kann sich kaum auf den Beinen halten. Seine Haut und seine Kleidung sind ganz schmutzig. Er hat kurze, rote Haare und … dann erkenne ich ihn. „Papa?“, frage ich erstaunt. „Papa!“

„Anna? Nils?“

Wir rennen auf ihn zu und er schließt uns in seine Arme.

„Ich bin so froh, euch zu sehen. Auch wenn das bedeutet, dass ihr wohl in meinem Arbeitszimmer wart“, sagt er tadelnd. Aber er lächelt. „Habt ihr die Zeitmaschine?“ Ich nicke und zeige ihm das goldene Ei.

„Sehr gut. Ich habe meins am Meeresgrund verloren. Ich bin nämlich dummerweise mitten im Meer gelandet.“ Er runzelt die Stirn. „Das Problem ist nur: Wie kommen wir zurück in unsere Gegenwart?“ „Ich glaube, ich habe eine Idee“, sage ich und erzähle ihm davon.

Er nickt. „Du könntest recht haben. Dann lass uns ins Jahr 2029 reisen.“

Er verdreht den Zeiger der unteren Uhr und Nils und ich halten uns an ihm fest. Ich schließe die Augen – und als ich sie wenige Sekunden später wieder öffne, liegen wir mitten in einem Maisfeld am Rand von Gülleloch. Zu dritt laufen wir zurück in die Stadt und Papa erzählt uns, was ihm passiert ist. So wie wir ist er ins Jahr 2029 gereist und musste feststellen, dass die Menschen sich gar nicht für den Klimawandel interessieren. Nicht einmal seine Mutter Katrina, die doch die bekannteste Klimaaktivistin der Welt werden sollte! Enttäuscht von ihr reiste er wieder in die Gegenwart. Aber anstatt in unserer Gegenwart zu landen, kam er in eine Parallelwelt, in der die Menschheit die Umwelt zerstört hatte. Und nachdem er seine Zeitmaschine im Wasser verloren hatte, gab es für ihn auch keinen Weg, der zerstörten Welt zu entfliehen. Nils und ich klingeln bei Katrina Benner. Papa wartet auf der Straße.

„Was ist denn mit euch passiert?“, sagt Katrina besorgt, als sie die Tür öffnet. „Oje, kommt erst mal rein. Warum weinst du denn, Kleiner?“

Nils wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Katrina führt uns durch ihr Zuhause und wir setzen uns an den Küchentisch. „Also, was ist los?“, fragt sie und schaut uns auffordernd an.

“Du musst uns bitte gut zuhören“, sage ich und sehe ihr eindringlich in die Augen. „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird es die Welt, wie du sie kennst, bald nicht mehr geben. Es gibt noch Hoffnung, aber wir müssen sofort handeln. Andernfalls können wir den Klimawandel nicht mehr aufhalten.“

Katrina runzelt verwirrt die Stirn. „Aber was hat das denn mit mir zu tun?“

„Katrina, du wirst einmal zwei Enkelkinder haben, einen Jungen und ein Mädchen, so wie wir. Aber wenn du jetzt nicht handelst, werden sie in einer schrecklichen Welt ohne Zukunft aufwachsen. Sie werden keinen Schnee kennen und keine wilden Tiere. Sie werden keinen Regenwald kennen und die Nordseeküste wird bis nach Gülleloch reichen. Die Erde wird zu trocken und ausgelaugt sein, um etwas anpflanzen zu können.“ Katrina öffnet den Mund, dann schließt sie ihn wieder. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagt sie schließlich. „Ihr seid zwei sehr außergewöhnliche Kinder, aber ein bisschen Angst habt ihr mir schon gemacht. Also, was sollte ich eurer Meinung nach tun?“

„Ein Vorbild für andere sein“, sage ich leise.

Ich nehme Nils bei der Hand und stehe auf. Es ist Zeit zu gehen. Ich weiß, dass Katrina einen Moment mit sich und ihren Gedanken braucht.

Wir gehen zurück zu Papa und er umarmt uns fest.

„Dann lasst uns mal sehen, ob eure Worte überzeugend waren“, sagt er und nimmt das goldene Ei heraus. Nils und ich halten uns an ihm fest und ich schließe die Augen. Als es vorbei ist, habe ich Angst, sie zu öffnen. Dann höre ich neben mir ein Jubeln.

„Wir haben’s geschafft, Anna!“ Nils greift nach meinen Händen und zerrt daran. Ich stehe lachend auf, dann fallen Papa, Nils und ich uns in die Arme.

„Was für ein Abenteuer“, sagt Papa und wischt sich über die Stirn. „Jetzt sollte ich schleunigst Mama anrufen und ihr erzählen, was passiert ist. Sieht so aus, als hätten wir zwei kleine Weltretter in unserem Haus.“ Er zwinkert uns zu. Am nächsten Tag im Klassenzimmer sitzt Paul wieder auf einem Tisch. Die halbe Klasse hat sich um ihn versammelt. „Ist das wirklich echtes Fleisch?“, höre ich jemanden fragen. „Wo hast du das her?“

Paul hat ein Brötchen in der Hand und zeigt es stolz den anderen.

Ich drängle mich durch die Gruppe hindurch, bis ich direkt vor Paul stehe.

„Auch wenn das Klima im Moment gerettet ist, kann sich das jederzeit ändern“, sage ich ihm.