Der Autor Lothar Deeg stammt aus Bad Mergentheim und studierte in München Diplom-Journalistik. 1991 besuchte er als einer der ersten Ausländer das wieder zugänglich gewordene Wladiwostok. Seit 1994 arbeitet er als Korrespondent für deutschsprachige Medien, Autor und Übersetzer in St. Petersburg. (Kontaktadresse: lothardeeg@gmail.com)

Dieses Buch erschien erstmals 1996 im Klartext Verlag (Essen) unter dem Titel „Kunst & Albers Wladiwostok. Die Geschichte eines deutschen Handelshauses im russischen Fernen Osten 1864-1924“. 2012 wurde es unter dem Titel „Kunst & Albers. Die Kaufhauskönige von Wladiwostok. Aufstieg und Untergang eines deutschen Handelshauses jenseits von Sibirien“ in einer überarbeiteten und ergänzten Neuauflage erneut beim Klartext Verlag aufgelegt. Das vorliegende Buch ist eine vom Autor selbst erstellte, aktualisierte Neuausgabe dieses Titels. Das Buch wurde zudem 1996, 2012 und 2020 in Wladiwostok in russischer Übersetzung veröffentlicht sowie 2013 in Deutschland in englischer Übersetzung.

Die Abbildungen stammen aus dem Bildarchiv des Autors und ursprünglich größtenteils aus dem Privatbesitz von Dr. Jan Albers und Dr. Dietrich Bernecker sowie weiterer Dattan-Nachkommen. Auch Traute Lauer, Georg Hildebrand, Jürgen Newig und Ortrun Ruschmeyer haben historische Aufnahmen zur Verfügung gestellt, wofür Ihnen ebenfalls der Dank des Autors gebührt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Lothar Deeg

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7504-5910-6

Inhalt

  1. Die Tepluschka
  2. Pioniere im wilden Osten (1864 - 1873)
  3. Der dritte Mann (1874 - 1884)
  4. Expansion und Eisenbahn (1884 - 1894)
  5. Über die Grenze nach China (1895 - 1903)
  6. Stürmische Zeiten (1904 - 1914)
  7. Krieg um die Firma (1914 - 1924)
  8. Die Troika

Einleitung

Im Jahre 1864 eröffnen zwei junge Hamburger in einem trostlosen Nest, scheinbar am Ende der Welt, eine einfache Gemischtwarenhandlung. Der Ort an der nordasiatischen Pazifikküste besteht nur aus Militärbaracken und 40 Holzhäusern. Doch diese Pioniersiedlung liegt an einem der besten Naturhäfen der Welt - und schon der Name sagt, dass das Russische Reich damit Großes vorhat: Wladiwostok - "Beherrsche den Osten!"

Das weite und unwegsame Hinterland ist kaum besiedelt. Kleine, versprengte Gemeinschaften von Russen, Chinesen, Koreanern und Ureinwohnern konkurrieren im Ussuri-Gebiet und im Sichote-Alin-Gebirge um die Schätze dieses Landes – Gold, Pelze und Ginseng. Der wahre Herrscher in diesem Land ist noch der Sibirische Tiger.

Wladiwostok blüht auf. 1891 beginnt hier der Bau der Sibirischen Eisenbahn. Schneller noch als die Stadt wächst das "Magazin" von Gustav Kunst und Gustav Albers: Ihr 1884 dort neu errichtetes Kaufhaus ist das erste deutsche Kaufhaus überhaupt. Kunst & Albers verkaufen Landmaschinen aus Mannheim, Bier aus München, französischen Champagner und die letzte Pariser Mode, handeln aber auch en gros mit amerikanischem Mehl und Sachalin-Kohle. Die Firma ist zugleich Bank, Reederei, Wodkafabrik, Schifffahrts- und Versicherungsagentur. In ihrem Häuserblock brennt das erste elektrische Licht östlich des Urals. Kunst & Albers gründen über 30 Kaufhäuser und kleine Filialen in Städten und Dörfern von Russisch-Fernost und in der Mandschurei – sowie Vertretungen in Europa, Japan und den USA.

Die Niederlassung in Port Arthur wird im Krieg mit Japan zerstört, ein plündernder Mob brandschatzt 1905 das Haupthaus in Wladiwostok. Doch Kunst & Albers überstehen auch dies und errichten einen noch prächtigeren Bau am Boulevard der Hafenstadt. Hinter den Kulissen ringen jedoch die Eigentümer verbissen über Jahre um die Vorherrschaft im Unternehmen. Aber nicht die internen Konflikte – der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird 1914 zur Katastrophe für die Firma. Obwohl ihre Inhaber inzwischen russische Staatsbürger sind: Sie gelten als Deutsche und Deutschland ist der Feind. Neider und Konkurrenten beginnen eine Verleumdungskampagne. Es erscheint sogar ein Roman, in dem finstere Machenschaften deutscher Geheimagenten unter dem Deckmantel einer Firma namens „Artig & Weiß“ dargestellt werden. Autor ist der windige Journalist und Naturwissenschaftler Anton Ferdinand Ossendowski. Er schreckt bei seiner Kampagne gegen Kunst & Albers selbst vor Erpressung und einer historischen Fälschung nicht zurück, die sogar die US-Regierung hinters Licht führt.

Adolph Dattan, Mitinhaber und Seniorchef in Wladiwostok, trifft Ossendowskis Intrige am schwersten: Unter Spionageverdacht wird er 1915 ins Innere Sibiriens verbannt. Den Juniorchef Alfred Albers steckt man ins Militär. Noch bis Ende der 1920er Jahre können sich Kunst & Albers in Wladiwostok halten, doch dann drücken die Sowjets dem Unternehmen die Luft ab. Die Firma verlagert ihre Geschäfte nach China und Ostasien – wo sie dann im Zweiten Weltkrieg faktisch untergeht.

Wladiwostok, der Schauplatz dieser dramatischen Erfolgsgeschichte einiger tüchtiger deutscher Kaufleute ist heute – anders als vor über einem Jahrhundert! – aus europäischer Perspektive ein fremder, unbekannter Ort. Es liegt außerhalb unserer kognitiven Karten, jenseits von Sibirien, irgendwo sehr weit im Osten. Die Stadt ist sogar ein gern zitiertes Synonym für den östlichen Rand der Gemeinschaft europäischer Nationen – sofern Russland da nicht von vornherein ausgeschlossen wird: Gelegentlich taucht ihr Name in der Formulierung „von Lissabon bis Wladiwostok" auf.

Nur wenige Mitteleuropäer dürften eine Vorstellung davon haben, wie es in Wladiwostok aussieht, welches Klima dort herrscht und sogar davon, welcher ethnischer Menschenschlag dort lebt. Allenfalls Eisenbahn-Enthusiasten heben spontan den Finger: "Endstation der Transsibirischen Eisenbahn!". Das Vertrautheitsdefizit kommt nicht von ungefähr: Wladiwostok war in der Sowjetzeit wegen seiner Militärbasen für den Besuch von Ausländern gesperrt. Über Jahrzehnte war die isolierte Stadt für den Rest der Welt kaum mehr als das nebelverhangene Gespenst einer atomwaffenschwangeren U-Boot-Basis. 1991, im letzten Jahr der Sowjetunion, wurden die Stadt und ihr Hafen wieder zugänglich.

Doch auch in den seither vergangenen drei Jahrzehnten ist das pittoresk auf steilen Hügeln über dem Meer thronende Wladiwostok mit seiner durchaus europäisch anmutenden Innenstadt nicht mehr mental nach Europa zurückgekehrt. Es ist dazu einfach zu weit weg: Mit der Eisenbahn sind es von Moskau sechs Tage Fahrt, genau 9288 Kilometer, ostwärts. Oder von Berlin elf Flugstunden.

Trotz seiner geografischen Schlüssellage als Russlands – und damit Europas – Hinterausgang zum Pazifikraum und der räumlichen Nähe zu China, Korea und Japan (nach Peking, Seoul und Tokio sind es nur je zwei Flugstunden) ist Wladiwostok vergleichsweise klein geblieben. Was bedeuten schon gut 600.000 Einwohner angesichts der Mega-Metropolen Asiens in der Nachbarschaft?

In den 1990er Jahren war Wladiwostok selbst für damalige russische Maßstäbe eine Stadt am Rande des Zusammenbruchs, geplagt von kommunalem Missmanagement und beherrscht von der lokalen Mafia. Strom und Wasser waren oft rationiert, die Zentralheizungen in den Wohnblöcken bestenfalls lau. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei und so gut wie vergessen: Wladiwostoks Stadtbild ist aufpoliert, die Skyline um zahlreiche moderne Hochhäuser reicher geworden. Wie viele andere Regionalmetropolen Russlands profitierte die Hafenstadt sichtlich vom Wirtschaftsboom der Jahre 1999 bis 2008.

2012 wurde Russlands lange vernagelte Hintertür zum pazifischen Wirtschaftsraum dann mit einem Schlag weit aufgerissen: Ein Gipfeltreffen der 21 APEC-Staaten (Asiatisch-Pazifische Wirtschaftliche Zusammenarbeit) wurde vom Kreml zum Anlass genommen, mit Milliarden-Investitionen der städtischen Infrastruktur eine Frischzellenkur zu verpassen. Auf der weitläufigen Insel Russki, früher ein Militärsperrgebiet, wurde ein Kongresszentrum aus dem Boden gestampft, das danach zum neuen Campus der neu formierten „Fernöstlichen Föderalen Universität“ (DVFU) wurde. Es entstanden zwei eindrucksvolle, gewaltige Hängebrücken: Eine führt mitten in der Stadt über die fjordartige Hafenbucht, das „Goldene Horn“, die andere über den „Östlichen Bosporus“ hinüber auf die Insel Russki. „Russlands San Francisco“ (mit seinen aus Konstantinopel entliehenen topografischen Benennungen) erhielt damit nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf ein Gegenstück zur Golden-Gate-Bridge – und dies sogar gleich zweifach.

Die bis zu 320 Meter hohen Pylonen sollten nicht nur eine Straße tragen, sondern auch ein Zeichen setzen: Russland ist am Pazifik nicht mehr nur militärisch, sondern auch ökonomisch, technologisch und wissenschaftlich präsent – und diese lange vernachlässigte und geradezu versteckte Hafenstadt soll der Dreh- und Angelpunkt dieses Aufbruchs sein. Dies nicht ganz zu Unrecht, denn Wladiwostok hätte, eine freie wirtschaftliche Entwicklung seit den Zeiten von Kunst & Albers vorausgesetzt, wohl ebenbürtige Bedeutung erlangen können wie die damals in Größe und Struktur vergleichbaren Pionierstädte Vancouver und Seattle auf der gegenüberliegenden Küste des Pazifiks.

2015 bekamen die Stadt und ihr Umland dann einen Freihafen-Status mit besonderen Investitionsanreizen. Sichtlich belebt hat sich seither der zuvor kaum präsente internationale Tourismus: Vor allem junge Leute aus Südkorea, Japan und China zieht es in Scharen nach Wladiwostok – weil sie es als ein Stück authentisches Europa vor der eigenen Haustüre empfinden!

Nun aber zum vorliegenden Buch: Es ist in acht Kapitel gegliedert. Die Kapitel 2 bis 7 schildern, grob in Zehn-Jahres-Abschnitten, die Geschichte der Firma von 1864 bis 1924. Dieser chronologische Teil wird von zwei Kapiteln eingerahmt: Kapitel 1 besteht nach einer kurzen Einführung aus einem (redigierten) Abschnitt des Tagebuchs von Adolph Dattan, der darin seine abenteuerliche Rückkehr aus der Verbannung quer durch den sibirischen Bürgerkrieg im Jahre 1919 schildert. Kapitel 8 macht einen Zeitsprung: Alfred Albers bittet 1939 aufgrund des 75. Firmenjubiläums ehemalige Mitarbeiter um schriftliche Erinnerungen. Unter dem eingehenden Material befinden sich auch die Erzählungen des Angestellten Karl Bähr. Drei dieser sprachlich ebenfalls leicht aufbereiteten Geschichten aus dem abenteuerlichen Firmenalltag im Gebiet von Blagoweschtschensk lassen die Firmengeschichte unterhaltsam ausklingen.

Als die so konzipierte „historische Reportage“ 1996 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, sollte sie, meinem damaligen Vorwort zufolge, „den in Deutschland wie Europa verloren gegangenen Faden zu Russisch-Fernost wieder aufzunehmen“. Denn an aussagekräftiger Literatur über den russischen Fernen Osten fehlte es damals wie heute – zumindest in deutscher Sprache. Wer sich für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, die Eigenarten und Chancen dieses Gebietes interessiert, wird nach wie vor nur bescheiden bedient. Deshalb wird dieses Buch 24 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe nun nochmals aufgelegt. Denn die außergewöhnliche Geschichte des von zwei Hamburgern, einem Thüringer, ihren Nachfolgern und zahlreichen Mitarbeitern zu beeindruckender Blüte geführten Handelshauses Kunst & Albers beweist am besten, welches Potential in dieser Region steckt.

Auch angesichts des vom Kreml massiv geförderten aktuellen „Neustarts“ der Stadt ist der Blick zurück lehrreich: Denn vor der sowjetischen Isolations-Epoche war Wladiwostok eine gleichermaßen russisch, europäisch und asiatisch geprägte Stadt mit entsprechenden globalen Beziehungen. Eine Stadt, in der russisches Militär in einträchtiger Symbiose mit ausländischem "Business" zusammenlebte. Die Präsenz deutscher und amerikanischer Kaufleute, dänischer Telegrafisten, französischer Gastronomen und Schweizer Landwirte gehörte damals zum Wladiwostoker Alltag – genauso wie die vielen chinesischen und koreanischen Händler, Bauern und Arbeiter.

Als dieses Buch 2002 erstmal auf Russisch erschien, stieß es bei Historikern und Heimatforschern im Russischen Fernen Osten auf unerwartet hohes Interesse. Denn wie sich zeigte, füllte es vor Ort eine ganz andere Lücke als das deutsche Original: Über die europäisch-internationale Vergangenheit der Fernost-Region hatte die sowjetische Geschichtsschreibung geradezu eine Nachrichtensperre verhängt. Man kannte zwar die Namen der Hauptakteure Kunst, Albers und Dattan, auch viele offizielle Archivdokumente waren erhalten – ebenso wie auch fast alle von der Firma errichteten massiven Gebäude. Doch wer diese Menschen waren, woher und warum sie nach Wladiwostok kamen, wie sie lebten, litten, dachten, interagierten und ihr Unternehmen führten – darüber konnte man nur spekulieren.

Die persönlichen und firmeninternen Quellen, die dies offenbaren, lagen für dortige Geschichtsinteressierte unerreichbar in Deutschland – und auch dort nicht in Bibliotheken, sondern in den Familienarchiven der Nachkommen. Doch auf diesem Material basiert dieses Buch in erster Linie, angereichert durch Studien der bis in die 1920er Jahre in weitaus größerer Zahl als danach publizierten deutschen und englischen Literatur über Russisch-Fernost.

Einen Mangel hat das vorliegende Buch, er soll nicht verschwiegen werden: Bei seiner Erstellung wurden russische Quellen nur aufgrund von Sekundärliteratur oder Übersetzungen verwandt. Dies hat den schlichten Grund, dass ich damals der russischen Sprache schlichtweg noch nicht mächtig war. Inzwischen habe ich dieses Defizit aufgeholt.

Ich bin aber (wie auch viele der bisherigen russischen Leser) der Meinung, dass dieser Umstand dem Buch nicht schadet, ganz im Gegenteil. Denn in erster Linie erzählt es ja die Geschichte einiger ebenso abenteuerlustiger wie geschäftstüchtiger Menschen und ihres einzigartigen Unternehmens an einem ungewöhnlichen Ort. Und es öffnet, nicht zuletzt aufgrund des durch den Sprach-Filter zugespitzten Quellen-Spektrums, aus ihrer Perspektive, also jener von zeitgenössischen westlichen Ausländern, den Blick auf diese faszinierende Region Russlands.

Seit der Erstausgabe gemachte neue Erkenntnisse wurden in diese Neuausgabe eingearbeitet oder in den Anhang des Buches aufgenommen. So stellte sich beispielsweise heraus, dass der vermeintlich kinderlos gebliebene Unternehmens-Mitgründer Gustav Kunst durchaus Nachkommen hat – und zwar unter in Russland und Kasachstan lebenden Koreanern!

Im Anhang gibt es auch einen umfangreichen Aufsatz von Dr. Dietrich Bernecker, einem Enkel Adolph Dattans, über das Leben seines Großvaters. Denn Dattan hatte sich – auch dieser Aspekt kam in der ursprünglichen Ausgabe noch zu kurz – in Wladiwostok einen großen Namen als Förderer der dortigen ersten Hochschule, des „Orientalischen Instituts“ gemacht. Parallel betätigte sich der Kunst & Albers-Teilhaber international als Mäzen und Wissenschafts-Sponsor, in dem er Museen in aller Welt umfangreiche zoologische und ethnografische Schenkungen machte. Bernecker hat diese Aktivitäten seines Großvaters erforscht, auch seine Motive geklärt und dabei den Lebenslauf dieses initiativkräftigen Mannes mit vielen bis dato unbekannten Details angereichert. Selbst der theoretisch gegebenen Möglichkeit, Dattan könne tatsächlich ein deutscher Spion gewesen sein, ging er in Archivrecherchen gründlich nach.

Als Koordinator der Erbengemeinschaft Adolph Dattan war Dietrich Bernecker Initiator und treibende Kraft, als es darum ging, die Geschichte der Firma Kunst & Albers der Vergessenheit zu entreißen und in Form eines Buches aufzuarbeiten. Bernecker stellte bereits 1991 den über mehrere Jahrzehnte abgebrochenen Kontakt zur Familie Albers wieder her. Ihr letzter Nachkomme, der leider 2006 verstorbene Dr. Jan Albers, überließ mir seinerzeit eine umfangreiche, aber völlig unstrukturierte Firmen- und Familiengeschichte aus der Feder seines Vaters Alfred Albers – eine wahre Schatzkiste an Insider-Informationen über Kunst & Albers. Dafür gebührt Dr. Albers mein Dank und Andenken.

Wie ungewöhnlich und spannend die Geschichte von Adolph Dattan bzw. Kunst & Albers ist, beweisen zudem zwei Projekte, in denen sie zwischenzeitlich in ganz anderer medialer Form ein Echo gefunden hat:

2016 erschien „Dattans Erbe“, ein Roman von Nancy Aris. Ihr Buch, in dem eine Historikerin namens Anna Stehr mit dem Auftrag, das verschollene komplette Tagebuch von Adolph Dattan zu finden, nach Wladiwostok fährt, spielt in der Jetzt-Zeit und schildert plastisch die von Aris selbst erlebten Wirren des dortigen Alltags. Zugleich rückt er jedoch im historischen Rückblick einen Personenkreis in den Mittelpunkt des – partiell erdachten – Geschehens, der in meiner Darstellung der Kunst&-Albers-Geschichte nur am Rande, geradezu stiefmütterlich behandelt, Erwähnung findet: Die Frauen. Schon allein dieser Paradigmenwechsel macht den Roman trotz seiner fiktiven Elemente zu einer erfreulichen Ergänzung dieses Buches.

Und wer sich bei der Lektüre sagt, dass dieser Stoff doch einer Verfilmung würdig wäre, kann zumindest eine Art Appetithappen zu sich nehmen: Ende 2012 präsentierte das ZDF in der Sendereihe „Terra X“ einen Zweiteiler von Kay Siering unter dem Titel „Abenteuer Sibirien“. Im zweiten Teil wird in einigen Spielszenen Adolph Dattans schneller Aufstieg und tiefer Fall im Fernen Osten Russlands nachgezeichnet.

Dietrich Bernecker aus München, aber auch all den anderen heute in Deutschland, Schweden, Dänemark, Großbritannien, Frankreich und den USA lebenden Dattan-Nachkommen sei an dieser Stelle herzlichst dafür gedankt, dass sie seit nun schon über drei Jahrzehnten meine Arbeit an diesem Thema auf vielfältige Weise unterstützen.

Dazu gehörte auch die einmalige Möglichkeit, mit zwölf Urenkeln und Ururenkeln von Adolph Dattan im September 2019 eine spannende Reise zu den fernöstlichen Wirkungsstädten ihres Vorfahrens unternehmen zu können. Wir besuchten die Städte Blagoweschtschensk, Chabarowsk und Wladiwostok, besichtigten dort die gut erhaltenen ehemaligen Kaufhäuser von Kunst & Albers und genossen einen überaus herzlichen Empfang durch die Leitungen der Regionalmuseen in Blagoweschtschensk und Wladiwostok – wo wir zahlreiche Exponate zur Geschichte der Firma, ihrer Mitarbeiter und Inhaber bewundern konnten. Ein Bildbericht über diese Reise wurde deshalb diesem Buch angefügt.

St. Petersburg, Februar 2020

Lothar Deeg

Zitat Rudolf Zabel (1902)

Prolog

"Wer als Deutscher nach Wladiwostok kommt, kann unmöglich das große Handelshaus von Kunst & Albers umgehen. Es ist das ein Institut, dessen Bedeutung weit über diejenige selbst des größten chinesischen Importhauses hinausgeht. Die Firma wurde bald nach der Entstehung von Wladiwostok durch zwei Hamburger Kaufleute begründet, deren Namen sie führt, und die Firma ist heute ein Welthaus ersten Ranges, dessen Filialen fast in jedem bedeutenderen Orte Sibiriens zu finden sind. Die Zentrale liegt in Wladiwostok, wo die Firma über eine Anzahl prachtvoller Steinhäuser und großer Warenlager verfügt.

Sie vereinigt eigentlich alle Geschäftszweige in sich. Schifffahrt, Import im größten Maßstabe, Wiederverkauf en gros und en detail in palaisartigen Magazinen durch eine Schar deutscher und russischer Beamter, denen man allen samt und sonders das Bewusstsein anmerkt, einem großen und vornehmen Handelshause anzugehören, das findet man alles; kurzum, man hat den Eindruck, den man vielleicht beim Lesen von Freitags 'Soll und Haben' von dem großen und vornehmen Handelshause bekommt, das dort beschrieben wird.

Allein in Wladiwostok hat die Firma über 150 Angestellte, das heißt Europäer, die auch alle vom Hause Wohnung und freie Station sowie Beleuchtung neben ihrem für ostasiatische Verhältnisse ziemlich hohen Salair erhalten. Das beste Zeichen für den Geist, der in der Firma herrscht, konnte ich aber darin finden, dass ich von keinem einzigen der Angestellten jemals ein abfälliges Urteil über ihre Behandlung in der Firma und über die Leitung derselben gehört habe, was doch sonst so leicht der Fall ist. Der gegenwärtige Hauptchef der Firma, Herr Dattan, erfreut sich bei Europäern wie Russen des gleichen Ansehens. Übrigens ist er russischer Kommerzienrat.

Kommt man als Deutscher unbekannt nach Wladiwostok, so genügt im Allgemeinen die Legitimation durch die Sprache, um bei Kunst & Albers stets in der liebenswürdigsten Weise Auskunft und Unterstützung zu finden. Kommt man aber mit Empfehlungen, oder hat man persönliche Beziehungen zu dem Hause, so reist man in Sibirien wie in Helios Kutsche."

aus "Durch die Mandschurei und Sibirien"
von Rudolf Zabel, Leipzig 1902

I. Die Tepluschka

"Ich höre von allen Seiten, dass es ganz unmöglich sei, einen Platz in irgendeinem Zuge zu erhalten, auch einen Güterwaggon - eine so genannte Tepluschka - zu bekommen, ist reichlich schwer", notiert Adolph Dattan1 am Abend des 26. November 1919 in seinem Tagebuch. Es ist der gleiche Adolph Dattan, dessen hohes Ansehen bei Europäern und Russen ein 18 Jahre zuvor "als Deutscher nach Wladiwostok" gekommener Reisender so lobte. Inzwischen ist Dattan nicht mehr "russischer Kommerzienrat", er ist sogar "Wirklicher Staatsrat" und auf Anordnung des letzten Zaren sogar in den erblichen Adel Russlands erhoben.

Adolph Dattan (1854 – 1924). Aufnahme aus dem Jahr 1922.

Aber Titel helfen ihm schon längst nicht mehr weiter. Der 65 Jahre alte, aus Deutschland gebürtige Kaufmann sitzt in einer bescheidenen Mietwohnung in der Universitätsstadt Tomsk in Mittelsibirien. Zwar kümmern sich die Haushälterin Olga Grigorjewna und der chinesische Diener Kai-Fu rührig um sein Wohlergehen. Auch bietet die Erdgeschoßwohnung mit ihren vier kleinen möblierten Zimmern, einem Badezimmer und elektrischer Beleuchtung für die damaligen Verhältnisse in Sibirien einen recht angenehmen Aufenthalt. Doch Adolph Dattan empfindet sein Quartier allenfalls als besseres Gefängnis.

Natürlich könnte sich der wohlhabende Geschäftsmann großzügigere Wohnverhältnisse leisten. Doch das will Dattan gar nicht. Er ist nicht freiwillig in Tomsk. Der honorige alte Herr, geboren als zehntes Kind eines Landpfarrers in Thüringen, zu Reichtum, Achtung und Ehre gekommen als Teilhaber und Leiter der in ganz Russland bekannten Handelsfirma Kunst & Albers in Wladiwostok, lebt hier in der Verbannung. Er ist ein Verbannter wie abertausend andere, die wegen angeblicher oder erwiesener finsterer Machenschaften, Verbrechen, Landesverrat oder revolutionärer Umtriebe von den Behörden des Zaren nach Sibirien verschickt worden sind.

Für einen Mann von der Position und Integrität Adolph Dattans bedeutete dieses Schicksal, das ihn fünf Jahre zuvor ereilt hatte, eine doppelte Strafe. Es war das Resultat einer geschickten Verleumdungskampagne, eines Komplotts gegen ihn und sein großes Unternehmen. Schon kurz nach Ausbruch des Weltkrieges – ohnehin schon Katastrophe genug für eine Firma, die in Deutschland und Russland zugleich zuhause war – hatten russische Zeitungen die ersten Schmähartikel veröffentlicht; Berichte, die den Deutschen im russischen Fernen Osten allgemein und der Firma Kunst & Albers im besonderen unterstellten, für den Kriegsgegner Deutschland zu spionieren.

Ihren Höhepunkt erreichte die Kampagne mit dem Erscheinen eines Romans im Februar 1915. In diesem Buch mit dem Titel "Leise Eroberer" wurde mit viel Fantasie das finstere Treiben deutscher Geheimdienstoffiziere unter dem Mantel einer zweideutig-eindeutig "Artig & Weiß" genannten Wladiwostoker Firma geschildert. Der Verfasser dieses Werkes nannte sich "Mark Tschertwan", der Autor der Hetzartikel "A. Msura", doch jeder in der Firma Kunst & Albers kannte inzwischen den richtigen Namen, der sich dahinter verbarg: Anton Martinowitsch Ossendowski, ein Journalist aus St. Petersburg. Ossendowski – schon die Erwähnung des Namens brachte den alten Dattan mit seinen angegriffenen Nerven zur Weißglut.

Begierig auf vorzeigbare Erfolge bei der Spionageabwehr waren die Behörden im russischen Fernen Osten auf den Zug aufgesprungen. Stichhaltige Beweise brauchte es nicht. Ohne Gerichtsverfahren, einfach per Verfügung, hatte der General-Gouverneur des Priamurgebietes den Wirklichen Staatsrat Adolph Dattan am 13. Januar 1915 "in den Narymer Kreis, Gouvernement Tomsk" verbannt.

Kolpaschewo, ein kleines trostloses Nest 250 Kilometer nordwestlich von Tomsk am Ob gelegen, wurde zu seinem Zwangs-Exil bestimmt. Von hier, mehr oder weniger auf halber Strecke zwischen der mittlerweile in Petrograd umbenannten Hauptstadt und seiner zweiten Heimatstadt Wladiwostok, musste Dattan machtlos den Niedergang seines Unternehmens und seines guten Rufs verfolgen. Der Zusammenbruch des zaristischen Regimes in der Februar-Revolution brachte im Frühjahr 1917 die Aufhebung aller Verbannungen. Erfreut reiste Dattan aus Kolpaschewo ab.

Doch in Tomsk war die Freiheit für ihn schon wieder zu Ende: Russland lag noch immer im Krieg mit Deutschland - und auch die neuen Machthaber glaubten den Unschuldsbeteuerungen und Loyalitätsbekundungen des russischen Staatsbürgers Dattan nicht: Nach Wladiwostok durfte er nach wie vor nicht zurückkehren. So blieb Dattan in Tomsk und versuchte von dort aus, seine Rehabilitierung zu erreichen.

Schon bald überstürzten sich die politischen Ereignisse: Im Oktober 1917 rissen in Petrograd die Bolschewiken die Macht an sich. Auch in den sibirischen Städten übernahmen örtliche Arbeiter- und Soldatenräte, die Sowjets, die Verwaltung. Nach dem von der neuen Regierung im März 1918 mit Deutschland geschlossenen Frieden von Brest-Litowsk erschien eine neue Streitmacht in Sibirien: die "tschechische Legion". Während des Krieges war sie in Russland aus kriegsgefangenen Tschechen und Slowaken aufgestellt und gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn eingesetzt worden. Doch der Friedensschluss der Bolschewiken war nicht der Frieden der Tschechen: Sie wollten an der Seite der Alliierten an der Westfront weiterkämpfen.

Doch wie dahin gelangen, ohne sogleich den Deutschen und ihren Verbündeten in die Arme zu laufen? Für die auf 70.000 Soldaten angewachsene tschechische Armee gab es nur einen offenen Weg nach Westeuropa: Er führte nach Osten, quer durch Sibirien bis Wladiwostok und dann weiter per Schiff. Eine 9000 Kilometer lange Reise über die maroden Gleise der sibirischen Eisenbahn lag vor den Tschechen. Jeder ihrer Züge durfte laut Anordnung der Bolschewiken nicht mehr als 168 Gewehre, ein Maschinengewehr und eine genau abgezählte Anzahl Munition mitführen.

Natürlich hatten die Tschechen mehr Waffen dabei, natürlich versuchten die lokalen Sowjets entlang der Strecke, dieses Arsenal an sich zu bringen - die Evakuierung konnte kaum glatt gehen: Die Tschechen beschlossen, sich den Weg nach Osten zur Not mit Waffengewalt frei zu schießen. Trotzki, der Oberbefehlshaber der Roten Armee, konterte mit dem Befehl, sie mit allen Mitteln aufzuhalten und zu entwaffnen. Doch die Tschechen waren in der Übermacht: Am 25. Mai 1918 brachten sie weite Strecken der Eisenbahnlinie und damit die Lebensader Sibiriens in ihre Gewalt.

Das ist das Startsignal zum Bürgerkrieg in Sibirien: In vielen Städten übernahmen antibolschewikische Gruppen die Macht. "In den Straßen von Tomsk marschieren stolz und vergnügt die Besieger der Bolschewiki - die Weißen Gardisten", schrieb Adolph Dattan nach der Kapitulation des Tomsker Sowjets am 29. Mai 1918 erleichtert in sein Tagebuch. Schließlich hatten die "Roten" ihm noch wenige Tage vorher die Erhebung einer Sondersteuer von zwei Millionen Rubel auf sein Vermögen angekündigt. Diese Gefahr war gebannt, aber dafür wurde die Lage in Sibirien immer verworrener:

In Transbaikalien, dem sibirischen Gebiet östlich des Baikalsees, hatte ein selbstherrlicher Kosakenführer, der Ataman Grigori Semjonow, die Macht übernommen. In Wladiwostok landeten seit April 1918 japanische, amerikanische, französische und britische Truppen - die Japaner mit regionalen Großmachtambitionen, die westlichen Alliierten, um den Japanern das Feld nicht allein zu überlassen, und alle zusammen, um den Tschechen und den anti-bolschewistischen Kräften in Sibirien den Rücken zu stärken. So wenigstens lautete die offizielle Begründung der Intervention.

Im September 1918 gründeten die verschiedenen Widerstandsgruppen eine provisorische sibirische Regierung mit Sitz in Omsk. Gemeinsames Ziel war der Kampf gegen Trotzkis Rote Armee, die, von allen Seiten bedrängt, nur noch das russische Kernland westlich der Wolga kontrollierte. Schon im November übernahm der "weiße" General Alexander Koltschak allein die Regierungsgewalt in Sibirien.

Adolph Dattan saß noch immer in Tomsk fest. Erst im Laufe des Jahres 1919 kam trotz vieler Rückschläge langsam Bewegung in seine Sache. Doch die Zeit drängte: Die tschechischen Truppen, die auf der Seite der Weißen in Sibirien kämpften, zogen sich seit Ende September endgültig in Richtung Wladiwostok zurück. Hunger, Chaos und gewaltige Flüchtlingsströme förderten eine Typhus-Epidemie, der im kommenden Winter in Sibirien noch Hunderttausende zum Opfer fallen sollten. Die Rote Armee rückte unaufhaltsam vor: Mitte November nahm sie Omsk, die Hauptstadt des Weißen Sibiriens. Erst danach erhielt Dattan endlich die Ausreisegenehmigung der Tomsker Gouvernements-Verwaltung. Doch dies allein beendete seine Verbannung noch nicht: Er brauchte auch noch eine Erlaubnis der Militärbehörde.

Mittlerweile zählte für Adolph Dattan jeder Tag, den er diese Stadt eher verlassen konnte. Wie, das musste jetzt egal sein. Und so kam es, dass sich der schwerreiche Seniorchef des großen und weit über Sibirien hinaus bekannten Handelshauses Kunst & Albers mit dem Gedanken anfreundete, die Reise nach Wladiwostok in einem notdürftig hergerichteten Güterwaggon anzutreten. Doch, wie Dattan in seinem im weiteren zitierten Tagebuch schrieb:

26. November 1919

"eine so genannte Tepluschka zu bekommen, ist reichlich schwer: Damit wird wirklicher Handel getrieben und es entstand eine regelrechte Schieberei mit Tepluschkis. Bei Wiederverkauf sind die Preise unglaublich hoch geworden. Von den Behörden werden Tepluschkis nur an die Offiziere, ihre Familien, an Kriegsbeschädigte und Beamte der zu evakuierenden Behörden verteilt. Um aber einen Wagen zu bekommen, muss man eine gewisse Anzahl von Mitreisenden angeben können. Jeder, der eine Tepluschka in Aussicht hat, sucht infolgedessen nach passenden Reisegefährten, um nicht etwa andere fremde Leute aufnehmen zu müssen.

28. November

Von Nowizki ist ein Telegramm folgenden Inhalts aus Wladiwostok eingelaufen:

heute sandte das börsenkomitee folgendes telegramm an den vorsitzenden des ministerrates kopie an die minister des handels und industrie und den kriegsminister doppelpunkt anführungsstriche das gebiet steht zur zeit vor einer positiven gefahr des hungers und des größten mangels an gegenständen des täglichen bedarfs punkt die örtlichen behörden und das börsenkomitee sind zu dem schluss gekommen dass es kein anderes mittel gibt dem abzuhelfen als im weitesten sinne den privathandel zur belieferung des gebiets heranzuziehen punkt die hauptrolle spielt hier das seit 50 jahren bestehende handelshaus kunst & albers weshalb es besonders wichtig erscheint gerade jetzt alles aufzubieten um die tätigkeit dieser firma intensiver zu machen zum nutzen des staates und des gebiets punkt dafür ist die anwesenheit des seniorchefs dattan durchaus erforderlich da ohne ihn die vertretenden prokuristen außer stande sind definitive beschlüsse in den im jetzigen augenblicke entstehenden fragen zu fassen punkt 1915 wurde dattan in verbindung mit seiner deutschen abstammung auf administrativen wege aus dem gebiete verschickt punkt zur zeit wohnt er in tomsk punkt in örtlichen kaufmannskreisen ist man von dattans vollkommener unschuld durchaus überzeugt punkt er gilt als eines der geachtetsten mitglieder des hiesigen kaufmannsstandes punkt auf grund des vorstehenden hält es das wladiwostoker börsenkomitee für seine ehrenpflicht um die sofortige erteilung des rechts der rückkehr für dattan nach wladiwostok zu bitten und bemerkt dass seitens des hauptkreis-chefs keine hindernisse zu dieser rückkehr vorliegen punkt der vorsitzende des komitees sinkewitsch anführungsstriche geschlossen nowitzki

Dieses Telegramm hat zweifelsohne zu dem Entschluss Koslows, mir die Erlaubnis zur Ausreise zu erteilen, beigetragen. Morgen oder übermorgen soll ich alle Dokumente erhalten. Mich beunruhigt nur Goris Abwesenheit (Dattans dritter Sohn Georg, genannt Gori, diente als Offizier bei den Weißen Streitkräften). Auch ist mir unbekannt, welcher Meinung er ist, ob man sich mit der Abreise beeilen muss oder nicht. Jedenfalls halten wir, ich und Ol. Gr. (Olga Grigorjewna), unsere Absicht, so schnell wie möglich abzureisen, ganz geheim und bemühen uns, unsere Reisevorbereitungen unauffällig zu machen.

1. Dezember

Ich wurde zum Obersten Koslow gebeten und erhielt die so sehnsüchtig erwartete Erlaubnis, die mir endlich meine Freiheit wiedergab. Ich vermag nicht, das Gefühl in Worte zu fassen, welches mein Innerstes erfüllte, als ich mich mit diesem für mich so viel bedeutenden Dokument von dem Obersten verabschiedete, der übrigens als Mensch einen sehr sympathischen Eindruck machte.

2. Dezember

Gori ist nun endlich mit seiner Kommission zurückgekommen. Gott sei Dank! Er äußerte sich sehr pessimistisch über die Lage der Dinge. Seines Erachtens erscheint große Eile geboten. Die Rote Armee befindet sich auf dem Weg von Omsk nach hier und rückt verhältnismäßig rasch vorwärts. Leider ist der Eisenbahnverkehr von hier aus nach dem Osten ein sehr langsamer geworden. Auf der Strecke von Omsk befinden sich noch viele Menschen, die evakuiert werden wollen. Wir beschlossen, keine Zeit zu verlieren. Ich habe deshalb Gori gebeten, noch heute Abend den Leutnant Karejew aufzusuchen und uns sein endgültiges Einverständnis zur Mitnahme zu sichern. In der Karejewschen Tepluschka fährt unter anderem auch die Familie des Barons Vitinghoff und auch wahrscheinlich der mir betreffs Erlaubnis zur Ausreise behilflich gewesene General Koslow.

4. Dezember

Um 10 Uhr morgens fuhr ich mit Gori zu Karejew und dann zusammen mit ihm auf den Bahnhof, um den Waggon und unsere eventuellen Plätze darin anzusehen, sowie uns auch nach dem Abgang des Zuges zu erkundigen. Ein grausiges Gefühl überkam mich, als ich in den dunklen, engen Waggon trat und man mir die Pritschen zeigte, auf welchen wir drei - ich, Olga und Kai-Fu - Platz finden sollten. Doch was soll man tun! Der Instinkt gebietet, sich zu retten und übertrifft die Angst vor der Fahrt unter derartigen Umständen.

Es erweist sich, dass der Zug schon heute abgeht. Es wurde beschlossen, um 3 Uhr nachmittags einzusteigen. Wir beeilten uns, nach Hause zu fahren und endgültig reisefertig zu machen. Da schon gestern von der Möglichkeit einer solchen schnellen Abreise gesprochen worden war, war Frau Steinberg auf alle Fälle schon früh morgens zu Ol. Gr. gekommen, um ihr beim Packen und dergleichen zu helfen. Sobald ich nach Hause kam und sagte, dass wir in 3 - 4 Stunden fortmüssen, kamen auch alle anderen Bekannten hinzu und jeder half mit. In der Küche wurde schnell gekocht und gebraten, da man unterwegs ja alle Nahrungsmittel bei sich haben musste; in den Zimmern packte und verschnürte man die Sachen. Wir waren bis 3 Uhr nachmittags fertig und fuhren pünktlich auf den Bahnhof.

Unser Waggon - Tepluschka Nr. 688523 - war einer der letzten in dem sehr langen Zuge, so dass wir unser Handgepäck recht weit schleppen mussten. Unser großes Gepäck hatte Gori schon mittags zum Bahnhof gebracht und in der Tepluschka verstaut. Es freute mich sehr, dass wir trotz der unglaublichen Enge alle unsere Sachen mitnehmen und sie neben unseren Pritschen unterbringen konnten. Auf unseren Pritschen haben wir aber nur eben so viel Platz, wie es 3 Menschen zum Schlafen brauchen.

Im ersten Augenblick, als ich gegen 4 Uhr nachmittags in den Waggon trat, überkam mich noch mehr als heute morgen ein schauriges Gefühl. Es war darin vollkommen finster und nur bei jeder Gruppe der Reisenden brannte eine Kerze. Im Ganzen fuhren in unserem Waggon 17 Personen. Mit Mühe lavierten wir zwischen den Menschen und dem glühenden eisernen Ofen zu unseren Plätzen. Die Familie Vitinghoff hatte sich gerade auf dem kleinen Ofen Suppe gekocht und es war ein Hin- und Herklettern und kostete viel Mühe, sich durchzudrängen. Der Platzmangel war so groß und so niederdrückend, dass Gori und das Ehepaar Steinberg sich schnell von uns verabschiedeten und nach Hause fuhren. Es wurde mir unendlich schwer, mich von meinem lieben Gori zu trennen.

Traurig setzte ich mich auf meinen Platz auf der Pritsche. Da sich über unserer noch eine zweite Pritsche befand, konnte ich nicht gerade sitzen, sondern musste mich nach vorn bücken. Als sich meine Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fing ich an, mich eingehender in der Tepluschka umzusehen.

Unsere Tepluschka wurde gut desinfiziert und im Innern eingerichtet. Die Wände sind mit Filz ausgeschlagen; die kleinen unter der Decke angebrachten Fenster sind dicht verklebt. Links und rechts sind Pritschen in zwei übereinander liegenden Reihen angebracht. Die breite Tür, wie sie in Güterwagen üblich ist, ist bis auf einen engen Zwischenraum in der Breite einer gewöhnlichen Zimmertür fest zugeschoben. Daran ist eine einfache, ebenfalls mit Filz beschlagene Brettertür befestigt. Rechts von der Tür ist ein Winkelchen für die Toilette abgeteilt. An ihrer gegen den eisernen Ofen gerichteten Außenwand ist bis zur Decke Brennholz aufgestapelt. Der Ofen musste deshalb weit vorgerückt werden. Allerdings hat man den Ofen und das Holz durch Eisenbleche getrennt.

Die dem Eingang gegenüberliegende Wand wird von einem großen Tisch eingenommen. Derselbe ist Eigentum des Barons Vitinghoff. Über dem Tische ist ein Bord angebracht und der Raum unter dem Tische bildet eine Art Eiskeller für den genannten Herrn. Der Tisch ist eigentlich nichts anderes als die stumme Klaviatur des jungen Barons Anatol Vitinghoff, die mit einer ledernen Jagddecke bekleidet ist. Die Baronin hat für die Reise fast ausschließlich Nahrungsmittel im rohen Zustand mitgenommen und dieselben in dem so aus einigen um die Tischbeine geschlagenen Brettern improvisierten Eiskeller untergebracht. Um die Nahrungsmittel vor dem Verderb zu schützen und sie im gefrorenen Zustand zu erhalten, wurde die Wand, an der sich der Tisch befindet, unten ohne Filzbeschlag gelassen.

Nun sind aber unsere Plätze gerade an der einen Seite dieses Eiskellers. Ich sitze ganz in der Ecke. Das ist das einzige einigermaßen ruhige Plätzchen, von dem man nicht jedes Mal aufstehen braucht, wenn einer der Vitinghoffs von ihrer Pritsche herunter oder auf dieselbe hinaufklettert. Aber es zieht hier furchtbar auf die Füße, so dass ich sehr an denselben friere, besonders da noch von der anderen Seite - von der Toilette - auch starker Zug besteht. Dort wurde nämlich, um den Eimer leeren zu können, ein Loch im Fußboden ausgesägt. Überhaupt ist der Boden schauderhaft kalt. So halten wir unsere Vorräte auf dem Boden unter unserer Pritsche und es ist alles gefroren, so dass wir vor dem Gebrauch erst alles auftauen lassen müssen. Da man sich nicht einmal bewegen kann, sondern zum Stillsitzen verurteilt ist, leidet man sehr darunter.

Der Schornstein unseres Ofens ist einfach durch die Decke des Waggons geleitet. Man hatte dabei einen zu großen Kreis ausgesägt, so dass durch diese Öffnung ein großer Luftstrom in den Raum gelangt und der Schnee Eingang findet. Das ist indessen kein Übel, denn solche Ventilation ist schließlich willkommen, besonders wenn der Ofen erglüht und große Hitze entwickelt. Der Schnee aber trocknet am heißen Ofen sofort wieder zu Dampf.

Unsere Pritsche befindet sich auf der rechten Seite, weit von der Tür, aber neben dem Ofen. Wenn der Ofen glüht, müssen wir fast ersticken. Und doch ergeht es uns, die wir unten sind, noch nicht so schlimm wie der Familie Vitinghoff oben. In dem Glauben, die besten Plätze ausgesucht zu haben, nahmen sie sich die oberen Pritschen an der rechten Seite und schlossen sich noch durch einen Vorhang ab. Beide Eheleute und der Sohn sind recht groß von Wuchs, sodass es schwer für sie sein dürfte, ihre langen Beine auf der Pritsche unterzubringen. Zum Überfluss leidet der alte Baron an starkem Asthma und bei größerer Hitze vom Ofen, die oben naturgemäß empfindlicher ist, stellt sich bei ihm Atemnot ein.

Die Baronin hat sich schon in der ersten halben Stunde unseres Zusammenseins recht unsympathisch gezeigt. Zunächst protestierte sie dagegen, dass ich meinen chinesischen Boy mitgenommen habe. Dann verlangte sie in ziemlich rücksichtsloser Weise, dass wir uns mit dem Heizen ganz nach ihnen richten sollten, da es oben zu warm wäre, während wir unten doch frieren müssen. Ihre Stimme wirkt unangenehm, besonders da sie fast ununterbrochen spricht.

Dazu ereignete sich folgendes: Nach unserem bescheidenen Abendbrot, das mir Ol. Gr. auf der uns überlassenen schmalen Tischecke hergerichtet hatte, ging ich auf die andere Seite des Waggons und brannte mir eine Zigarre an. Der alte Baron bekam in dem Augenblicke einen Atemnotsanfall und die Baronin verlangte, dass ich das Rauchen einstellen sollte. Um keinen unerquicklichen Verhältnissen zwischen uns Raum zu geben, löschte ich meine Zigarre aus. Rauchen nach dem Abendbrot ist meine alte Gewohnheit, so dass die Aufgabe für mich eine Entbehrung bedeutet. Ich bin übrigens überzeugt, dass nicht der Rauch meiner Zigarre den Anfall beim Baron verursachte, da ich erstens recht entfernt von ihm war und der Rauch durch das Ofenloch freien Abzug erhielt. Übrigens wurden von der Familie und den anderen Passagieren beständig Zigaretten geraucht; es erscheint daher merkwürdig, dass deren Rauch unschädlich, während der Rauch meiner einzigen Zigarre schädlich sein sollte. Gegen das Zigarettenrauchen hatte nämlich die Baronin nichts einzuwenden.

Unsere übrigen Reisegefährten, die auf der linken Seite des Waggons ihre Plätze haben, sind sympathische, bescheidene und rücksichtsvolle Menschen: Die oberen Pritschen sind von dem Ehepaar Karejew mit ihrem vierjährigen Sohne Kolja, dem General Koslow und einer alten Dame, Mutter eines jungen Ingenieurs, der nach Wladiwostok abkommandiert ist, Frau E.M. Koslowa, eingenommen. Ihr Sohn Alexander Iwanowitsch hat sein Lager auf der unteren Pritsche. Neben ihm hat noch ein junger Student, Alexej Semjonowitsch Assejew, mit seiner jungen Frau Unterkunft gefunden.

Die Baronin verfügt ohne Rücksicht über die beiden jungen Leute. Sie sollen Holz hacken, das und jenes Gepäckstück vorholen usw. Währenddessen sitzt der junge Baron als großer Herr auf seinem Platze und es wird ihm alles gereicht und gebracht. Besonders viel verlangt aber die ganze Vitinghoffsche Familie von der jungen Nichte, Fräulein Lunskaja. Sie wird unbarmherzig hin und her gestoßen. Das nette junge Mädchen scheint eine arme Verwandte von ihnen zu sein, jetzt fährt sie mit der Familie sichtlich nur deshalb, um sie zu bedienen. Dabei muss sie in dem sehr engen Zwischenraum zwischen dem Tisch und dem Ofen stehen. Eine Familie von 5 verwöhnten Menschen noch unter diesen Umständen zu befriedigen, ist nicht so einfach. Noch weniger angenehm ist es, nachher in der großen Enge und bei aller Unbequemlichkeit das Geschirr zu säubern und aufzuräumen. Tatjana Alexandrowna (das Fräulein Lunskaja - Alexandrowna ist ihr Vatersname, zusammen mit dem Vornamen die übliche russische Anrede) gewann vom ersten Abend an die Sympathie aller Mitreisenden. Sogar diejenige von Kai-Fu, der sich gleich erbot, ihr beim Aufwaschen zu helfen.

Um 10 Uhr legte ich mich auf meiner Pritsche schlafen. Wir nahmen unsere Matratzen, Kopfkissen und Decken mit, schliefen aber in Kleidern und ohne Bettwäsche. Nur die Fußbekleidung wurde abgelegt. Es war mir sehr sonderbar zumute, als ich in gebückter Stellung auf mein in der Mitte der Pritsche für mich abgeteiltes Lager klettern musste. Man muss sich aber damit abfinden und versuchen, sich daran zu gewöhnen.

5. Dezember

Im Schlafe hörte ich, dass sich unser Zug, bald nachdem ich mich legte, in Bewegung setzte. Am Bahnhof Tomsk 1 war dann noch ein dreistündiger Aufenthalt entstanden. Heute Morgen beim Aufstehen war es höchst ungemütlich. Zum Unglück habe ich mir einen Fuß etwas aufgelaufen; er muss verbunden werden und in der Engigkeit und bei dem fortwährenden Klettern der Familie Vitinghoff über unsere Köpfe lässt sich dieses recht unbequem und schwer bewerkstelligen. Waschen konnten wir uns nur ganz mangelhaft. Auf der Fahrt wird unsere Tepluschka sehr gestoßen, sodass wir hin und her balancieren.

(Teigtaschen mit Hackfleischfüllung)