Ein besonderer Dank
geht an Bodo Bischof, Hamburg

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Ölgemäldes:
„Der Jäger“ (1891) von Bruno Liljefors (1860–1939)
(Schwedisches Nationalmuseum / Erik Cornelius
http://collection.nationalmuseum.se/
wikimedia.commons.org)

© 2020

Peter Bürger, Otto Höffer,
Wingolf Scherer, Martin Vormberg u.a.:

Heimliche Jagd
Historische Waldkonflikte
im Kreisgebiet Olpe

edition leutekirche sauerland 20

Herausgeber, Redaktion, Satz & Gestaltung: Peter Bürger
Herstellung & Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-5965-6

Inhalt

*

Die Buchreihe über Wilderer und Waldkonflikte:

Peter Bürger (Hg.)
Krieg im Wald.
Forstfrevel, Wilddiebe und tödliche
Konflikte in Südwestfalen
ISBN: 978-3-7460-1911-6

Peter Bürger
Hermann Klostermann.
Der populärste Wilddieb Westfalens
ISBN: 978-3-7448-5055-1

Rudolf Gödde
Wildschütz Klostermann.
Ein westfälischer Wilddieb-Roman
ISBN: 978-3-7528-4262-3

Wo Wild ist, da wird auch gewildert.
Historische Waldkonflikte im
Wittgensteiner Land und Siegerland
ISBN: 978-3-7528-8090-8

P. Bürger, O. Höffer,
W. Scherer, M. Vormberg u.a.
Heimliche Jagd
Historische Waldkonflikte
im Kreisgebiet Olpe
ISBN: 978-3-7504-0903-3

Hans-Dieter Hibbeln, Peter Bürger (Hg.)
Es gab nicht nur den Klostermann.
Quellen und Berichte zur Wilderei in Westfalen
(in Vorbereitung)

edition leutekirche sauerland

Einleitung

zu diesem dokumentarischen
Sammelband

Peter Bürger

„Der Wilderer ist gewissermaßen ein Jäger, dem das Jagen aus verschiedenen Gründen verboten wurde. Wilderei war demnach erst ein Straftatbestand, nachdem das allgemeine Jagdrecht eingeschränkt worden war und sich ein Kreis privilegierter Jäger herausgebildet hatte. Seit dem Spätmittelalter, als sich die landesherrliche Jagdhoheit allmählich durchsetzte, kann man daher von ‚Wilddieberei‘ und ‚Wildbretschützen‘, wie es in den zeitgenössischen Quellen heißt, mit Recht sprechen.“1

WERNER RÖSENER

Mit der ‚Heimat‘-Landschaft verbinden manche Kreise nur wohlige Gefühle, Harmonie und Zusammenhalt. In Wirklichkeit ist aber auch die Geschichte der Kleinräume von Verteilungskämpfen durchzogen. Die ‚Wilddieberei‘, ein beliebtes Motiv der literarischen oder darstellenden ‚Heimatkunst‘, erweist sich in sozialgeschichtlicher Betrachtungsweise keineswegs als eine romantische Sache. Von Fall zu Fall wurde der Verteilungskampf im ‚Heimatkollektiv‘ äußerst blutig ausgetragen. Waldkonflikte, die sich insbesondere aus dem illegalen Jagen und unbefugter Holzbeschaffung ergaben, konnten immer wieder eskalieren. So berichtet beispielsweise das ‚Wormsische Zeitungs- und Intelligenzmanual‘ am 24.11.1792 über eine dramatische Auseinandersetzung zwischen Förstern und Holzfrevlern in der Pfalz, „dass sich die Bauern frühmorgens in Ungstein mit ihren Fuhren trafen und gemeinsam losfuhren. Entgegen einer vorher getroffenen Verabredung werden anstatt Reisern und Leseholz Klafterholz im [Limburg-]Dürkheimer Wald geschlagen. Bei der ausgetragenen Schießerei werden 53 Beteiligte, darunter sechs Untertanen tödlich verwundet.“2 Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Wilderern und Forstbediensteten waren in manchen Phasen der neueren Geschichte ein fast alltäglicher Gegenstand der Berichterstattung (durchaus vergleichbar mit Meldungen über Autounfälle in späterer Zeit). Es erscheint keineswegs übertrieben, von einem „Krieg im Wald“ zu sprechen. So heißt auch der Titel des einführenden Bandes unserer ‚Reihe‘, in dem es vornehmlich um einen Überblick zur Wilderei im ehedem kurkölnischen Sauerland geht.3

Nun erscheinen Anfang des Jahres 2020 etwa zeitgleich eine weiterführende, sehr umfangreiche Dokumentation für den Kreis Siegen-Wittgenstein4 und dieser Spezialband für das Olper Kreisgebiet. Mehrere Autoren und die Schriftleitung der Zeitschrift ‚Südsauerland‘ haben die gebündelte Darbietung bereits vorliegender Arbeiten ermöglicht. Dafür sei ein herzlicher Dank ausgesprochen. Aufgrund weiterer Recherchen können jedoch für das 20. Jahrhundert auch einige unbekannte Quellen und wirklich neue Einblicke vermittelt werden.

Gewalttätige oder gar tödliche Wilderei-Konflikte gehörten lange zu den strikten Tabus der ‚Heimatkunde‘. Namen durften nicht genannt werden. Zum Druck gelangten allenfalls Legendenstoffe. Für dieses Buch gilt, was bereits dem Pendant für Wittgenstein und Siegerland als Wunsch vorangestellt ist: „Möge das hier Vorgelegte nicht zuletzt als nützliche Dienstleistung gelten. Die Zusammenschau soll uns ‚klüger‘ machen, gleichzeitig aber auch aufzeigen, warum das Thema bedeutsam ist, wie fragmentarisch unser Wissen ausfällt (bezeichnende Leerstellen) und wo weitere Forschungen ansetzen könnten.“5

1.
ZEIT DES HERZOGTUMS WESTFALEN

In Konflikten um Wildbret, Holz und mannigfache ‚Waldnutzungen‘ zeigte sich stets ein Ringen um Ressourcen. Noch grundlegender waren ursprünglich allerdings Sicherung und Zurschaustellung von Herrschaftsansprüchen über den Raum. (Die Bestrafung der Walddelikte erfolgte entsprechend symbolträchtig im Forum der Öffentlichkeit und fiel – gemessen am ökonomischen Wert der strittigen Güter und im Vergleich zur Ahndung anderer Vergehen – unverhältnismäßig hart aus.) Seit Festigung des Feudalsystems (Forst- und Wildbann6) reklamierten die vom König belehnten Landesfürsten, sodann Adel, Klöster und andere „Herrschaften“ für sich exklusive Jagdprivilegien. Vom gemeinen Mann, dem sogenannten Untertanen, erwartete man Jagdfrondienste7, aber keine Jagdkünste. Den angeblich ‚Edelblütigen‘ waren die Wildschäden auf den Feldern der Ackerleute keine Sache, die ihnen irgendein Kopfzerbrechen bereitete. Sie klagten stattdessen über Bauern, die sich um die Vorrechte der Ritterschaft nicht scherten und ohne Berechtigung fischten oder jagten. Mit Erlassen gegen Wilderei und brutalen Strafen wollte die Obrigkeit dem Übel des Ungehorsams entgegentreten.

Die politische Geschichte des von Köln aus „geistlich“ regierten Herzogtums Westfalen auf dem Gebiet der heutigen Kreise Olpe, Hochsauerland, Soest (Rüthen, Geseke, Werl, Warstein) und Märkischer Kreis (Balve, Menden) hat mit Kirchengeschichte wenig und mit der Botschaft des Jesus von Nazareth rein gar nichts zu tun.8 Allein an der Sicherung ihrer Machtansprüche über Territorien, notfalls mit Kriegsgewalt, war den sogenannten Erzbischöfen von Köln gelegen. Doch es zeigt sich gerade auf dem Gebiet des Kreises Olpe eine besondere Konstellation hinsichtlich der historischen Waldkonflikte, was in unserem Band der Beitrag von Wingolf Scherer9 erhellt (→I): Während z.B. im benachbarten Wittgensteinischen von vornherein der gräfliche, zuletzt fürstliche Landesherr ein Monopol des Waldbesitzes und der Jagdausübung beanspruchte, gab es hier mannigfache Eigentumsformen und Jagdberechtigungen. (Als Jagdrevier des Kölner Landesherrn kam dem südlichsten Westfalen auch nur eine ganz untergeordnete Bedeutung zu.) 1629 wird im Lagerbuch des Herzogtums Westfalen festgehalten, dass dem ‚gemeinen Mann‘ die hohe und niedere Jagd freisteht. In einer neuen Jurisdiktional- und Polizeiordnung des Kurfürsten Max Heinrich aus dem Jahr 1665 heißt es bekräftigend: „So thun Ihre Churf. Durchlaucht auch die Bürger zu Olpe bei denen ihren löblichen Vorfahren am Erzstift ihnen bewilligten und concedierten Jahr- und Wochenmärkten freie Fischereien und Jagden belassen, mit der Bedingung jedoch, daß von jedem fangenden Hirsch, Schwein und Rehe der hintere Lauf, wie von alters bräuchlich, ans Amtshaus Bilstein geliefert werden soll.“10 1579, 1648 und zuletzt 1708 stellen sich Attendorn und Drolshagen gegen grenzüberschreitende Jagdansprüche der Märkischen, die sich auf ‚uraltes Wildbannrecht‘ berufen. Hierbei, ebenso aber auch z.B. in einem Jagdkonflikt zwischen Attendorn und dem hohen Herrn auf Burg Waldenburg im Jahr 164911 (→II), zeigen sich die selbstbewussten Bürger gewaltbereit. Man würde im Äußersten sogar über Leichen gehen, um das Jagdrefugium zu verteidigen.

Weltliche und sogenannte „geistliche“ Fürsten festigten über die Jagd ihren Selbstanbetungskult, wobei sie sich hinsichtlich der Nichtachtung der Menschenwürde ihrer ‚Untertanen‘ keineswegs unterschieden (→V.1). Am 27. Februar 1659 verfügte z.B. der kölnische Kurfürst als Landesherr über den Umgang mit Wilderern: „Wir halten dafür, dass solcher Frevler auf einen von Holz gemachten Hirsch mit an den Füßen gehenkten Gewichten etliche Tage nacheinander Stunden lang gesetzt, demnächst des Landes verwiesen und falls er wieder (beim Wilddieben) ertappt, mit mehr Schärfe, ja nach Befinden gar an dem Leben gestraft werde.“12 Der prachtliebende und jagdbesessene13 Kurfürst Clemens August, von 1723 bis 1761 ‚Bischof‘ von Köln und mehreren anderen ‚geistlich‘ regierten Diözesangebieten, verfügte sogar sehr bald nach seinem Amtsantritt am 4. Dezember 1723: „Da die Wilddiebereien durch Abstrafung mittels Eselreitens, spanischen Mantels nicht vermindert, sondern durch so milde [!] Strafen eher verstärkt würden: so solle der Jägermeister die ertappten Wilderer durch 100, 200, 300 Bauern Spießruten laufen lassen.“14 Dieser Landesfürst mit Mitra, aus einem die Macht vergötzenden Adelsclan in Bayern importiert, drohte 1724 seinen Jägern die Amtsenthebung an, falls sie auf Wilddiebe, die auf einen ersten Anruf hin trotzdem weitergehen, nicht sogleich ihre Waffe abfeuern würden.15 Er konnte sein angeblich bischöfliches ‚Priestertum‘ mit einem ihm gemäßen Sexualleben und leider ebenso mit grausamen Maßnahmen gegen die ihm gemäß Herrschaftsdoktrin anvertrauten „Landeskinder“ vereinbaren.

Otto Höffer hat für das 16. bis 18. Jahrhundert einige Chronikmitteilungen zu Vorkommnissen mit Bezug zu Jagd- und Forstrecht, Wilderei und Fischfrevel aus dem Archiv des Freiherrn von Fürstenberg-Herdringen zusammengetragen (→III): Zu den Strafinstrumenten auf Burg Schnellenberg gehört z.B. der „Spanische Mantel“ (25.2.1709). Die Bauernschaften Wenden, Schönau und Hünsborn protestieren gegen Übergriffe der Jäger des Adels in ihr freies Jagdgebiet, wobei sie sich auf ‚uraltes Jagd- und Fischereirecht in den Gerichten Olpe, Drolshagen und Wenden‘ berufen (7.10.1722). Zwei Wilddiebe auf der Adolfsburg sind bei Wasser und Brot eingekerkert; ein „gehöriges Verhör“ (Folter?) ist vorgesehen (30.6.1738). Ein Wilddieb im Kerker zu Bilstein soll den kurkölnischen Soldaten übergeben, also mit Militärdienst bestraft werden (20.4.1755). Noch 1808 bestätigt man der Attendorner Schützenbruderschaft das Recht, zwischen dem 28. Dezember und 20. Januar zu jagen.

Der Rahrbacher Pfarrer Heinrich Spiekermann ist im frühen 18. Jahrhundert hervorgetreten im Streit um Fischereirechte mit der adeligen Maria Rosina von Holdinghausen (nassauisch) und in einer Auseinandersetzung der Heinsberger mit dem Freiherrn von Fürstenberg wegen strittiger Waldrechte (1706-1710); der Kölner Kurfürst ließ dem streitbaren Kleriker 1715-1720 fern der Heimat in Neuss „Schutzhaft“ angedeihen.16 – Ein Beitrag von Fritz Wiemers zeigt, dass grenzüberschreitende Holzfrevler um 1727 von den Heckenschützen des Fürstentums Nassau-Siegen tödliche Schüsse zu erwarten hatten17 (→IV). – Insgesamt gut belegt werden für die kurkölnischen Jahrhunderte Auseinandersetzungen um die Jagdberechtigung auf dem Olper Kreisgebiet18; offenbar nicht dokumentiert sind bislang tödliche Konflikte in diesem Zeitraum.

Früheste ‚Vita‘ des berühmten bayerischen Wilderers Matthias Klostermayr (1736-1771)

2.
NACH ENDE DER DER KURKÖLNISCHEN
TERRITORIALHERRSCHAFT

Gegen Ende des feudalistischen Äons halten einige aufgeklärte Zeitgenossen Jagdprivilegien des Adels nicht mehr für zeitgemäß. Die Bauern, die bis dahin bei Wildschäden (d.h. Ernteverlusten) immer das Nachsehen gehabt hatten, stoßen mit ihren Forderungen jetzt manchmal auf offene Ohren in den Amtsstuben. Am Beispiel Oberhundem zeigt Martin Vormberg auf, dass in der Umbruchszeit die überkommenen Konflikte aus dem 18. und früheren Jahrhunderten noch lange nicht abgehandelt sind und die ‚Edelherren‘ angesichts ihrer Entzauberung eher noch hartnäckiger ihre vermeintlich ewigen Vorrechte verteidigen; Ermittlungen zum ‚Gewohnheitsrecht‘ führen um 1800 zu Ergebnissen, die indirekt von einem gemeinschaftlichen Beraten in der Bevölkerung zeugen19 (→V.2-3; VI). 1840 klagt das Freiherrliche Haus von Fürstenberg gegen die örtlichen Kirchspiele, weil diese seine vermeintlich verbrieften Rechte nicht anerkennen und „unbefugt“ die Jagd ausüben würden; die Gemeinde Oberhundem ist zum Nachgeben nicht gewillt und lässt sich auf den Rechtsstreit ein (→VI.4).

In den Revolutionsjahren 1848/49 setzen sich dann Juristen – darunter der keineswegs demokratisch gesonnene Kirchhundemer „Bauernadvokat“ Johann Friedrich Joseph Sommer20 (1793-1856) – für eine Aufhebung des feudalen Jagdrechtes und die Belange nichtadeliger Landbesitzer ein.21 Die kleinen Leute können auf überkommene Rechte bezüglich Brennholzbesorgung, Vieh-Hude (Weidemöglichkeit) und diverse Waldnutzungen nicht verzichten und wollen außerdem – wie es aus Sicht der Besitzenden scheint – die Möglichkeit bekommen, ab und an legal einen Hasen für den Sonntagstisch zu schießen. Im Gebiet der heutigen Kommune Kirchhundem spielt dieser ganze Komplex im ersten Revolutionsjahr eine durchaus bedeutsame Rolle, wie Dieter Pfau zusammenfasst: „Auslösendes Ereignis für die Aufregung, die sich im östlichen Teil des Amts Kirchhundem verbreitet hatte, war die wohl am 26. März [1848] in Heinsberg gegenüber [Adam Engelbert] Sommer ausgesprochene Drohung eines Peter Reich, ihn als Amtmann absetzen zu wollen. Das hatte Sommer einen solchen Schrecken eingejagt, dass er gleich am folgenden Tag sein Schreiben nach Arnsberg aufsetzte. Peter Reich galt als einer von mehreren berüchtigten Wilddieben aus Heinsberg und Rinsecke, die ‚öffentlich und ohne Scheu ihre bösen Absichten laut werden lassen, das Publikum in Angst und Schrecken setzen‘, wie es der in Bilstein stationierte Fußgendarm Weber in seinem Bericht vom 1. April darstellte. Diese Männer, die er dem ‚sogenannten Pöbel‘ zurechnete, würden sich öffentlich gegen die Obrigkeit auflehnen, ‚Recht und Ordnung mit Füßen treten‘. Dem ‚Gerede im hiesigen Publikum‘ zufolge hatten sie angedroht, ‚die Polizeiverwaltung u. Kommunalkasse in Kirchhundem, dann die Adolphsburg zu Oberhundem zu stürmen und zu berauben‘.“22 Landrat Adolf Freusberg, der hier keinen Anlass zu Alarmismus oder gar Militär-Entsendung erkennen mochte, bewertete die Wilderei-affinen Kräfte eher als unpolitisch: „Bei den Demonstranten in Attendorn […] sah er die Beteiligung von Angehörigen der ärmeren städtischen und ländlichen Schichten in einem ursächlichen Zusammenhang mit vermeintlicher oder tatsächlich erlebter, jedenfalls von ihnen so empfundener sozialer Zurücksetzung. Die Wilddiebe im Kirchhundemer Raum dagegen waren für ihn schlicht Kleinkriminelle, denen mit geeigneten polizeilichen Maßnahmen zu begegnen war.“23 In Kenntnis der ortsbezogenen Geschichte (→V; VI.4) und der lang anhaltenden symbolischen Bedeutung des Jagdrechts für den Machtkult des Adels empfiehlt es sich heute, diese Betrachtungsweise nicht leichtfertig zu übernehmen.24 – Die Einsassen von Selbecke, so klagte weiterhin der Rentmeister von der Adolphsburg seinem Arbeitgeber Graf von Fürstenberg, „seien ‚unter Vortragung einer Fahne mit ihrem Rindvieh und Schafen in die Felder und Weiden eingedrungen‘ und hätten damit widerrechtlich das nur dem Grundherrn zustehende Weiderecht ausgeübt. Außerdem sei in Oberhundem am 10. April öffentlich ein Plakat angeschlagen worden“; der Rentmeister sollte den Grafen nach seiner Bereitschaft befragen, „den Bauern ‚wie früherhin […] 1. das Laub und Fallholz, 2. die Weide, 3. die Jagd und 4. das Grasmähen in der Rüspe‘ zu gestatten.“25 Für den Fall, dass man den Forderungen nicht nachkomme, wurden „die Berliner Mittel“ angedroht. Auch hier konnte der Landrat keine große Dramatik erkennen. Die Bauern hätten lediglich „ihre Rechtsposition bei den bevorstehenden Rezessverhandlungen um das Huderecht auf den gräflichen Besitzungen“ [→VI] stärken gewollt.26 Doch wie anders denn politisch wären die demonstrativen Handlungen der Bewohner, in denen es um ökonomische Lebensgrundlagen ging, zu verstehen und benennen gewesen?

Viele Angehörige der unteren Klassen hungerten im 19. Jahrhundert weiter und schauten sehnsüchtig nach Übersee, wo ihre Verwandten als Armutsmigranten manchmal ein ungleich besseres Leben gefunden hatten. Das gehobene Bürgertum schickte sich derweil an, das Jagen in großem Stil für sich zu erobern. Im Rahmen eines fiktiven Briefwechsels, abgedruckt zur Kulturkampfzeit im Kreis Olpe, ermahnt der ‚Oihme‘, ein hochmoralischer katholischer Akademiker, seinen bäuerlichen ‚Vetter‘ Hannespeter folgendermaßen: „Auf den Rehbock verzichte ich. Ich will doch nicht hoffen, daß du wilddiebst? Sage auch Franzjoseph, er solle sich nicht unterstehen, Stricke zu stellen, um Hasen, Feldhühner und Birkhühner zu fangen, das wäre Unrecht, ja Sünde; denn man bringe dadurch den Jagdpächter um sein Vergnügen und um sein Geld“ (Olper Intelligenz-Blatt, 7.8.1875).27 In einer weiteren Folge des ‚Olper Intelligenz-Blattes‘ wird dann am 14.8.1875 vermeldet, die Jäger hätten sich ganz unbändig über den – veröffentlichten – Brief des Oheims gefreut, weil er das Wildern und Stricke-Setzen verurteilt, und sie hätten ihm zwei Rehböcke auf einmal gebracht und unter sich ausgemacht, jeder solle ihm reihum einen Hasen bringen und auch Feldhühner und Krammetsvögel.28 Es ist schwer vorstellbar, dass die Zeitung die Ermahnung an ihre katholische Leserschaft ohne Anknüpfung an das Zeitgeschehen veröffentlicht hat. Für die 1870er Jahre ist davon auszugehen, dass bäuerliche und unterbäuerliche Schichten im Kreisgebiet in Teilen der Wilderei nachgehen. (Die offenbar allseits bekannte Jagdleidenschaft der Bewohner von Oberhundem schlägt sich u.a. in zwei Mundarttexten von 1884 nieder.29)

Große Aufmerksamkeit fand im Olper Kreisgebiet 1881 die Nachricht von der Ermordung des Hilfsförsters Fr. Trembour im Burgholdinghauser Forst30 (→V.4). Der Mord-Prozess gegen den Weidenauer Wilderer Johannes Wagebach31 vor dem Königlichen Schwurgericht in Arnsberg im Jahr 1892 betraf ebenfalls die direkte Nachbarschaft. Bezogen auf das Wilderei-Geschehen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kreis Olpe selbst liegen bislang keine Forschungserkenntnisse vor. Es gab vielleicht an ‚berüchtigten Orten‘ auch gemeinschaftliche ‚Wilderer-Szenen‘, aber offenkundig keine prominente ‚Heldengestalt‘ unter den illegal Jagenden mit anhaltendem ‚Nachruhm‘.

3.
IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT

Für den Beginn des 20. Jahrhunderts kann in unserem Band bereits aufgrund selektiver Zeitungsrecherchen ein erstaunlicher Ausschnitt der ‚Wilderei-Geschichte‘ skizziert werden (→VII). Allein im Januar 1902 vermeldet das in Olpe erscheinende ‚Sauerländische Volksblatt‘ vier blutige Waldkonflikte – mit einem getöteten Jagdhüter (außerhalb der größeren Region: in Kevelaer), zwei von Forstbediensteten erschossenen mutmaßlichen Wilderern (Heinrich Stenger aus Langenzaun bei Berleburg, Arbeiter Kißmer bei Menden) und einem verwundeten Mitglied der Arnsberger ‚Wilderer-Szene‘.32 (→S. 188190) Im März des gleichen Jahres kommt es in Oberhundem beim Zusammenstoß von sechs, sieben oder acht illegal jagenden Bewohnern mit dem Jagdaufseher Jagemann aus Selbecke zu einem Schusswechsel ohne Verletzungen; drei Beteiligte werden wegen Jagdvergehen zu sechs Monaten Haft verurteilt, aber von der Anklage des Angriffs freigesprochen (→S. 185-160, 190-191). Im August 1902 eskaliert ein Konflikt um das Sammeln von Preiselbeeren (!) zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Bewohnern von Oberhundem und Vertretern der Nachbarorte Nieder- und Oberfleckenberg an der Seite des Försters (→S. 185-188). Im März 1903 meldet das ‚Sauerländische Volksblatt‘ aus dem Amt Drolshagen: „Gegen sechs Personen aus Büren und Dumicke schwebt gegenwärtig ein gerichtliches Verfahren wegen Jagdvergehens, das gestern in Siegen vor der Strafkammer zur Verhandlung kam. Die Sache ist sehr umfangreich ...“33 (→S. 191).

Wenige Jahre später, am 17. Juli 1909, wird der Oberhundemer Tagelöhner Anton Dörrenbach von dem bereits genannten Jagdaufseher Jagemann als mutmaßlicher Wilderer angetroffen und tödlich verwundet. Die Stimmung in der Bevölkerung ist aufgeheizt und zeugt von einer Solidarisierung mit den illegal Jagenden. Ein Racheakt mit Sprengkörpern ist wohl einer lokalen ‚Wilderer-Szene‘ zuzuordnen. Unsere Dokumentation zu diesem Fall (→VIII) wirft viele Fragen auf und lässt erahnen, wie lohnenswert eine eingehendere Falluntersuchung sein könnte: Hat Aufseher Jagemann, über dessen Persönlichkeit und Werdegang wir bislang wenig wissen, vor Ort als isolierter Einzelkämpfer – mit Neigung zum Alkohol – jahrelang einen kleinen ‚Krieg‘ ausgefochten? Handelte er wirklich aus Notwehr? Musste er sich unterlassene Hilfeleistung vorwerfen lassen? Deckten die Behörden ihn? Sann die Gegenseite auf Vergeltung und war gar zu einem Mordanschlag bereit? Ergriff das katholische Milieu am Ort schichtenübergreifend Partei für den getöteten Waldarbeiter und dessen mutmaßliche Wilderergefährten? Gab es für die Redaktion der konfessionell ausgerichteten Zeitung im Kreisgebiet bei der Berichterstattung Konflikte zwischen den Polen ‚staatstragende öffentliche Moral‘ und ‚leserfreundliche Milieunähe‘? Was ereignete sich im nachfolgenden Jahrzehnt …?

Auf der Grundlage einer Durchsicht des gesamten Jahrgangs 1919 der in Olpe erschienenen Tageszeitung ‚Sauerländisches Volksblatt‘ kommt in unserem Sammelband wiederum ein sehr gewalthaltiger Zeitabschnitt direkt nach dem 1. Weltkrieg zum Vorschein.34 Die Einleitung zu diesem dokumentarischen Kapitel vermittelt im Gesamtüberblick u.a. folgende Ereignisse (→IX): Ein Fabrikarbeiter aus Langenei wird wegen Schusswaffengebrauch beim gemeinschaftlichen Wildern zu 22 Monaten Zuchthaus verurteilt. Die Polizei kann zwei junge Attendorner der Wilderei überführen. Der aus Attendorn stammende Hegemeister Hermann Schulte von Betzdorf wird in seinem Revier tot aufgefunden. Im Raum Olpe gehen Fischfrevler ihrem Handwerk mit Sprengstoffen nach. In der Rüspe (bei Oberhundem) stoßen im September zwei Förster mit Wilderern zusammen; „G.R.“ aus Marmecke wird von ihnen tödlich getroffen. Die Polizei verhaftet in Meggen einen untergetauchten mutmaßlichen Förstermörder aus Sachsen. Aus Fleckenberg kommt die Nachricht, dass Förster Anton Balzer und sein Sohn durch Wilderer schwer verletzt worden sind; ergriffen wird von Jagdaufseher Gallad ein Wilhelm Otto aus Hilchenbach, der sich als „Treiber“ der mutmaßlichen Wilderer Wächter (Langenei) und Schöttler (Saalhausen) bezeichnet. Der Übermut eines Oberhundemer Wilderers, der via „Leserbrief“ die Jagdpächter verhöhnt, führt zu folgenreichen Ermittlungen vor Ort. Bei insgesamt drei Hausdurchsuchungen in Marmecke werden ein zerlegtes Reh, elf Karabiner und „über 4.000 Infanterieschuß“ aufgefunden!

Bezogen auf die weitere Zeit der Weimarer Republik liegen für unsere Dokumentation nur wenige, nicht repräsentative Stichproben zur Berichterstattung 1931/32 vor (→X). 1929 schreibt Dr. Wacker in einem Beitrag über den „Schwarzen Bruch“ bei Neuenkleusheim: „Die neue Straße wird den Wilddieben ihr Handwerk erschweren.“35 Martin Vormberg, der allerdings mit einer erheblichen Dunkelziffer rechnet, teilt zum „Wilddieberei-Strafregister“ der Amtsverwaltung in Kirchhundem mit: „Von 1921 bis 1947 wurden insgesamt 90 Bestrafungen eingetragen. Die meisten Verurteilungen erfolgten 1922 mit 12, 1927 mit 10 und 1931 mit 15 Fällen. 1932 kam es zu 7 und 1935 zu 5 Bestrafungen. [...] An der Spitze steht dabei Oberhundem mit 19 Bestrafungen, gefolgt von Heinsberg (17), Milchenbach (15) und Saalhausen36 (14). Die anderen Wilddiebe kamen aus den Orten Albaum, Gleierbrück, Herrntrop, Kirchhundem, Langenei, Lenne, Rinsecke, Stelborn, Varste und Würdinghausen“37 (→V.5). Vormbergs Forschungen zum Raum der heutigen Kommune Kirchhundem und die ergänzende Spurensuche in den dokumentarischen Abteilungen unserer Sammlung nähren den Verdacht, dass lokale Konfliktfelder aus der Zeit des Feudalismus auch noch bis ins 20. Jahrhundert hinein nachwirkten.38

Die Nachricht von der Ermordung des am 1. Oktober 1941 in einem Wald bei Langenei tot aufgefundenen Jagdaufsehers Albert Starke gelangte zeitnah in die geheimen Ereignismeldungen aus dem Geheimen Staatspolizeiamt, dem SD-Hauptamt der SS und dem Reichssicherheitshauptamt, weil man direkt nach der Tat entwichene Kriegsgefangene (Zwangsarbeiter) aus dem Gebiet der UdSSR als Täter vermutete – und den Fall wohl unter dem Gesichtspunkt von ‚bolschewistischer Sabotage‘ betrachtete (→XI). Jochen Krause hat 1998 in einer Ortschronik für Würdinghausen versucht, auch die Lebensumstände der beiden jungen Ukrainer, die wegen dieses Mordes zum Tode verurteilt worden sind, nachzuempfinden.39

Im nationalsozialistischen Staat war die Wilderei keineswegs zum Verschwinden gebracht, wie u.a. die oben zitierte kleine Statistik von Martin Vormberg mit fünf Bestrafungen im Jahr 1935 zeigt. Im Bereich der Amtsverwaltung Kirchhundem wurde 1943 u.a. auch ein „französischer Zivilarbeiter“ wegen eines Jagdvergehens zur Rechenschaft gezogen (→V.5).

Zwei weitere tödliche Anschläge auf Förster im Sauerland, die in diesem Band nicht behandelt werden, „hängen mit dem Ende des zweiten Weltkrieges zusammen. Am 15.4.1945 wurde Ernst Mergell, Revierförster am Lattenberg (Oberförsterei Rumbeck) durch Zwangsarbeiter getötet. In der Nacht des 14. Juni 1945 wurde der Revierförster Emil Reinhold Schubert (geb. 4.5.1880) im Forsthaus Einsiedelei (Lennnestadt) durch zwei Schüsse in den Bauch getötet; der Täter stammte – mutmaßlich – aus einem Kreis von ‚Russen‘ (ehemaligen Arbeitssklaven des NS-Staates) in einem Siegener Sammellager, die das Forsthaus schon zuvor wiederholt überfallen haben sollen.“40 Schuberts Nachfolger am Forsthaus Einsiedelei, Förster Haak, verwundete am 3. Juli 1946 im Wald einen von drei ehemaligen Kriegsgefangenen bzw. Zwangsarbeitern mit einem Oberschenkel-Steckschuss.41

Die Zeit ab 1945 war – wie jede Nachkriegszeit – eine ‚heiße Phase‘ der Wilderei.42 Für das Olper Kreisgebiet fehlen konkrete Fallbeschreibungen.43 Deutlich fallen indessen die zahlreichen Chronik-Notizen in der Jubiläumsschrift der Kreisjägerschaft „Kurköln“ Olpe e.V. aus, die hier mitgeteilt seien44: In der Gründungszeit war im Vergleich zum Problem der hohen Schwarzwildpopulation „die Wilderei viel schwieriger in den Griff zu bekommen. Jagdschutz und -aufsicht waren Mitte der [19]40er Jahre praktisch nicht existent und ‚kostenloses Wildbret‘ wurde in Anbetracht der damaligen Versorgungslage von so manchem als verlockende Bereicherung der Küche angesehen. So kann es nicht verwundern, daß dieser kritische Punkt für viele Jahre immer wieder in die Tagesordnung mußte und die immerwährenden Anmahnungen zur äußersten Wachsamkeit auch durch finanzielle Anreize unterstrichen wurden. Bereits auf der ersten Jahreshauptversammlung des Kreisjagdvereins im Mai 1947 beschloß man einstimmig, den Vorstand zu ermächtigen, ‚eine besondere Umlage bis zu 3,00 RM je Mitglied und Jahr zu erheben, die als Prämie für Stellung von Wilderern und Schlingenstellern Verwendung finden soll‘ (so das entsprechende Protokoll): und das bei 6,00 RM Jahresbeitrag! Ebenfalls ohne Gegenstimme wurden 1952 sogar 300,00 DM Prämie für eine Wildereiüberführung ausgesetzt.“ (S. 15) Auf der Gründungsversammlung am 7.10.1946 konstatiert man „untragbare Zustände in der Revieren (keine Jagdaufsicht, Blüte des Wildererunwesens, überhöhte Schwarzwildbestände, Wildseuchen).“ (S. 45) Zur Jahreshauptversammlung am 16.5.1947 wird festgehalten: „Wieder Klagen über das verbrecherische Tun der Wilderer und Schlingensteller. Aufforderung an alle, alles zu tun, ‚um diesen Burschen energisch zu Leibe zu rücken‘. Forderung: Bei der Verfolgung von Wilderern sollten Reviergrenzen überschritten werden dürfen.“ (S. 48) Auf der Jahreshauptversammlung am 1.5.1948 wirbt der Kreisjägermeister: „An erster Stelle müsse die Wildereibekämpfung stehen […] Den Oberförster Ignaz Empting, Olpe, stellt der Kreisjägermeister heraus. Ihm sei es gelungen, 2 Schlingensteller zu überführen, die jetzt ihrer Aburteilung entgegensähen.“ (S. 50) Am 29.6.1950 kann neben dem Ende der „Revierbeschlagnahme durch die Besatzungsmacht“ berichtet werden: „In den letzten Wochen sind 5 Schlingensteller gestellt worden. Ein besonderes Augenmerk soll die Jägerschaft auf die Beerensucher richten.“ (S. 52) Erneut heißt es zur Vorstandssitzung am 8.1.1951: „An die Bekämpfung der Wilddieberei durch Schlingensteller erinnert der Kreisjägermeister“ (S. 54). Am 15.10.1953 vermerkt der Protokollant: „Auf Vorschlag des Kreisjagdberaters Heuel sollen die folgenden Jagdaufseher dem Landesverband zwecks Zuerkennung einer geldlichen Belohnung für erfolgreiche Wildererbekämpfung gemeldet werden: Bernhard Immekus, Papiermühle; Hermann Stumpf, Olpe; Franz Middel, Hillmicke“ (S. 58-59). Am 29.11.1954 wird „wegen der Stellung von 3 Wilderern […] Revierinhaber Herbert Cremer, Kirchhundem, mit einer Buchprämie belohnt“ (S. 62). Am 1.3.1958 soll „für eine erfolgreiche Wildererbekämpfung und Wildererstellung […] der Forstanwärter Gerhard Drexelius aus Heggen mit dem Buch ‚Diezels Niederwildjagd‘ ausgezeichnet werden“ (S. 68). Am 23.6.1964 erfährt die Jahreshauptversammlung: „Im vergangenen Jagdjahr sind 4 Wilddiebsfälle bekannt geworden, die leider noch nicht aufgeklärt werden konnten. Im Kreise Olpe sei daher ein Spezialbeamter der Kriminalpolizei mit der Ermittlung in solchen Fällen eingesetzt worden“ (S. 80). Am 7.7.1967 bittet der Kreisjagdberater darum, „besonderes Augenmerk auf die Autowilderei zu richten. Besonders Feldränder müßten beobachtet werden. Die Autowilderer stellten dort gerne ihre Fahrzeuge ab, um in unterschiedlichen Abständen die Scheinwerfer kurz aufleuchten zu lassen und Wild, soweit es im Schußbereich steht, zu erlegen“ (S. 92). Noch am 1.3.1968 nimmt „die Jagdwilderei […] einen großen Teil der Vorstandssitzung in Anspruch. Es hat sich herausgestellt, daß die Jagdwilderei wieder erheblich zugenommen hat und daß die Gerichte diese Straftaten sehr milde beurteilen“ (S. 93). – Zu den „katastrophalen Zuständen in den Jagdrevieren“ der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte man auch ein „überwiegend wahlloses Abknallen des Wildes sogar mit Maschinengewehren und Sprengkörpern durch jagdlich unkundige Angehörige der Besatzungstruppen als reine Freizeitbeschäftigung“ gezählt (S. 160). Wildmeister Franz Bette klagt in einem erzählenden Beitrag der Chronik: „Es waren schlimme Jahre, jene Jahre nach dem Krieg. Außer den Besatzungsmächten beuteten Landfremde [sic!] und ihre Helfer die Jagden aus. Die Berater der Besatzungsmacht waren oft üble Elemente. […] Eine große Plage in dieser Zeit war die Wilderei mit Schlingen.45 Diesen Kerlen war es ganz egal, wie sie zu Fleisch kamen, auch wenn hilflose Kreaturen durch Erhängen in Schlingen elend umgebracht wurden. Tellereisen und andere Fallen standen oft in Hausgärten und Zaundurchlässen. Trotz häufiger Kontrolle der Pässe und Wechsel waren immer wieder Schlingen aufzufinden“ (S. 171). An das Verstecken der eigenen Jagdwaffen im Erdreich und die Betätigung als „Wilderer im eigenen Revier“ wider das Reglement der Besatzungsmacht erinnert sich Bette hingegen mit Stolz. Das Gehörn seines ersten, illegal erlegten Nachkriegsbocks hatte er mit der stolzen Parole „Trotz Verbot, in den Tod!“ versehen. (S. 171)

Die auf das Olper Kreisgebiet bezogenen Erkenntnisse zu Waldkonflikten und Wilderei im 19. und 20. Jahrhundert bleiben auch nach Vorliegen dieses dokumentarisch angelegten Sammelbandes ganz bruchstückhaft; für die meisten Kommunen liegen nur verstreute ‚Kurznachrichten‘ vor. Unsere Zeitungs-Stichproben legen es nahe, dass eine erste Übersicht über Fallzahlen (im Zeit-Diagramm), Orte, Formen zwischenmenschlicher Gewalt und soziale Hintergründe ohne eine systematische Gesamtauswertung der Regionalpresse kaum zu erlangen ist. (Da mit dem ‚Sauerländischen Volksblatt‘ zumindest ein wichtiges Medium seit kurzem frei im Internet46 über Digitalisate abgerufen werden kann, wäre ein solches Unternehmen von mehreren Forschenden bei arbeitsteiligem Vorgehen sogar in relativ kurzer Zeit zu bewerkstelligen.) Für tiefergehende Fallanalysen im Anschluss daran stünden Archivbestände zur Verfügung. So umreißt Martin Vormberg z.B. einen stattlichen Quellenfundus im Kirchhundemer Gemeindearchiv (s.o.), der noch nicht erschlossen ist. Auch „in den Jagd- und Polizeiakten des Stadtarchivs Attendorn gibt es zahlreiche Fundstellen zum Thema ‚Wilddiebe‘, deren nähere Untersuchung sicherlich weitere Informationen liefern könnten“47. Als Feld der Recherche kommen noch gedruckte Darstellungen zur Ortskunde in Frage, ebenso eine erneute Rundfrage bei den lokalen „Heimatpflegern“ und Chronisten. Der Kreis derjenigen, die zur Regionalgeschichte forschen, ist merklich kleiner geworden. Andererseits fallen heute die Voraussetzungen für ein dialogisches Forschen im Austausch so komfortabel aus wie nie. Zufriedenstellende Studien zur Geschichte der Wilderei in den südwestfälischen Kreisgebieten sind wohl nur dann zu erwarten, wenn sie im Rahmen vernetzter Unternehmungen angegangen werden. Erfreulich wäre es, wenn das hier vorgelegte Buch Impulse für entsprechende Bemühungen vermitteln kann.

(Barranco de Valltorta)

4.
SPUREN IN DER ‚HEIMATDICHTUNG48

Die bereits im Band „Krieg im Wald“ erfolgte Sichtung der fiktiven Heimatliteratur des Olper Kreisgebietes mit Bezug zum Thema ‚Wilderei‘ sei in diese Einleitung noch einmal aufgenommen. Eine in den 1920er Jahren edierte Sage „Der blutige Bach bei Oberhundem“49 macht den Rüsper Wald schon in Vorzeiten zu einem Ort wilder Jagdleidenschaft der Bewohner, die jegliche Regel des waidgerechten Jagens missachten und den nahen Bach mit dem Blut des erlegten Wildes rot einfärben (Textdokumentation →XII). Heute sind wir geneigt, einen solchen Text zivilisationskritisch zu lesen und etwa an das dramatische Artensterben auf unserem Planeten, welches der ‚homo sapiens‘ verursacht, zu erinnern. Vermutlich spiegelt die Oberhundem-Sage jedoch eine aristokratische Sichtweise von oben, wonach die Jagdbegehrlichkeiten der breiten Bevölkerung in ein Blutbad sondergleichen münden. Die Perversion der Jagd in ein blutrünstiges und sadistisches Massaker hat in Wirklichkeit freilich die adelige Klasse im Rahmen ihrer barocken Jagdbespaßungen vorgeführt: „Jagden wurden jetzt generalstabsmäßig organisiert und wie Kriege geplant: hunderte von Tieren mussten aufgeboten und vorgeführt, immer neue Perspektiven und Variationen gezeigt und ausprobiert werden. Das Wild hatte variantenreich und effektvoll zu sterben.“50 (Die Freude höfischer Festgesellschaften am qualvollen – langsamen – Sterben von eingefangenen Kreaturen gehörte zu den Gipfelpunkten dieses Komplexes.)

Unter dem Titel „Die Heiderhofs“ hat Dr. Carlo Travaglini, der in den frühen 1930er Jahren als Redakteur beim „Sauerländischen Volksblatt“ in Olpe arbeitete und von den dortigen Nationalsozialisten angefeindet wurde, einen historischen „Roman aus den sauerländischen Bergen zur Zeit der kurkölnischen Regierung“ geschrieben.51 Darin werden frühneuzeitliche Konflikte um das Jagdrecht behandelt. Nach vorangegangener Veröffentlichung über Zeitungsfolgen 52 (1932) erschien 1935 die Buchausgabe im Franz-Borgmeyer-Verlag Hildesheim – unter dem eingedeutschten Autorennamen „Karl Traulinger“. Wegen einer als „judenfreundlich“ interpretierten Passage ist das Werk in der NS-Zeit dem Zensor zum Opfer gefallen; nach seiner Ausweisung 1937 schloss sich der antifaschistische Autor später in Italien den Partisanen an.53

Der zeitgeschichtliche Rahmen im Roman folgt historischen Forschungen zum 16. Jahrhundert, doch die dargebotene Familiengeschichte ist frei erfunden: Zwei Generationen einer Drolshagener Bürgerfamilie stehen im Mittelpunkt, zunächst Martin Heiderhof (1491-1547) vom Gehöft „Heiderhof“. Bürgerschaft und Stadtrat von Drolshagen, die Konflikte mit der kurkölnischen Verwaltung wegen Holzbesorgung und Abwehr von Wildschaden nicht immer klug austragen, werden von diesem schreibkundigen Handwerker gut beraten. Der zweite Teil des Romans ist seinem Sohn Lukas Heiderhof gewidmet. Von Kindesbeinen an ist Lukas wie ein leiblicher Bruder aufgewachsen mit Hirme Menken, der Tochter des kurfürstlichen Vogtes von Drolshagen (deren Mutter war bei ihrer Geburt gestorben). Als junger Mann wird Lukas dann gewaltsam von auswärtigen Militärwerbern entführt, um später als „Türkenschreck“ im österreichischen Heer bekannt zu werden. Da seine Briefe in die Heimat die von ihm innig geliebte Mutter Ursula nie erreichen, gilt er in den Jahren seiner kaiserlichen Zwangssöldnerschaft lange als verschollen oder tot.

In dieser Zeit entwickeln sich die Verhältnisse in Drolshagen zum Schlechten hin. Die alten Konflikte mit der Landesobrigkeit, besonders das Jagdrecht betreffend, eskalieren. Gegen den großen Wildschaden auf ihren Äckern greifen die Bauer trotzig zur Selbsthilfe: „Hatte das Wild Schaden verursacht, so zogen die Drolshagener hinaus und knallten wild darauf los, angeblich nur in der freien Pürsch, in Wahrheit aber auch über deren Grenze hinaus, zumal wenn ein angeschossenes Wild in den herrschaftlichen Forst sich flüchtete. Manch feistes Stück Wild wurde geschossen, das nicht auf die fürstliche Hoftafel kam und auch keinen Erlös für die herrschaftliche Forstkasse brachte. Vermummt, das Gesicht geschwärzt, zog man hinaus. Manchʼ scharfer Zusammenstoß zwischen den Wilddieben und den Forstleuten gab Zeugnis von der wachsenden Verbitterung. Was immer in der Umgegend von Drolshagen geschah, wurde dessen Bewohnern auf das Kerbholz geschrieben, obwohl schlechtes Gesindel und auch Nachbargemeinden die günstige Gelegenheit benutzten, um im Trüben zu fischen.“

Vor Ort hat im Zuge der Gegenmaßnahmen der Kölner Räte ein neuer kurfürstlicher Förster mit Namen Habicht seinen Dienst aufgenommen. Dieser versucht den ihm gegenüber reservierten Vogt Menken gefügig zu machen, auch weil er dessen Tochter Hirme heiraten möchte. Habicht entdeckt die lange unterdrückte Jagdleidenschaft des Vogtes und verführt diesen schließlich zu ausgiebigen, einträglichen Wilddiebereien.54 Beim Kurfürsten Hermann von Wied (1477-1552) erwecken die beiden Beamten indessen das Bild, dass die Drolshagener Bewohner hinter dem zunehmenden Wildfrevel stecken. Es kommt durch ein verschärftes Jagdverbot zu einer endgültigen Aufhebung der „freien Pürsch“. Sämtliche Bürger sollen ihre Gewehre abliefern. Vor einer drohenden Belagerung durch Soldaten des Landesherrn wandern die Männer – in einem Akt des ‚zivilen Widerstandes‘ – aus und lassen ihre Stadt ‚verwaist‘ zurück.

Inzwischen ist Lukas Heiderhof aus dem unfreiwilligen Söldnerdienst in die Heimat zurückgekehrt. Förster Habicht betrachtet ihn als Nebenbuhler und lockt ihn in eine nächtliche Falle. Beim kurfürstlichen Gericht sieht es später so aus, als sei Lukas der Erzwilderer von Drolshagen und habe deshalb – nicht aus Notwehr – den Förster Habicht im Auerwaldbezirk mit einem Gewehrkolben zum geistigen Krüppel geschlagen. Mit Hilfe seines Taufpaten, des Augustinerpaters Lukas aus Kloster Ewig bei Attendorn, kann der Beschuldigte in Köln jedoch später seine Unschuld beweisen und die Machenschaften der beiden „verbeamteten Wilddiebe“ aufklären. Der Fürst sichert nun auch den zu Unrecht verdächtigten Drolshagener Männern Straffreiheit zu, wenn sie in ihre Stadt zurückkehren. Der irrsinnig gewordene Förster Habicht findet nach nächtlicher Flucht aus der Pflege bei den Zisterzienserinnen „seinen Richter“. Der ehemalige Drolshagener Landvogt Menken wird als Eremit in den Attendorner Waldungen zum Büßer. Der Kurfürst bestellt Lukas zu dessen Nachfolger. Mit der Hochzeit von Lukas Heiderhof und Hirme Menken kommt es im Roman zu einem perfekten ‚Happy End‘.

Der Wilderei im 20. Jahrhundert ist ein Beitrag aus der Feder von Adolf Färber (1892-1980), Schulrektor zu Finnentrop-Heggen, gewidmet. Dieser Autor ist aufgewachsen in einer traditionsreichen Försterfamilie mit elf Kindern, die in einem Seitenflügel der Adolfsburg in Oberhundem wohnte und deren Arbeitsalltag stark bäuerlich geprägt war.55 Im Dezemberheft 1940 der „Heimatblätter für den Kreis Olpe“ veröffentlichte Färber seine Mundarterzählung „Näut“56 (Not), die von einer sozialgeschichtlichen Perspektive zeugt und in diesem Sammelband über eine hochdeutsche Übersetzung vermittelt wird (→XIII). Nach Ausweis des Untertitels liegt dem Text ‚eine wahre Begebenheit aus dunkler deutscher Zeit‘ zugrunde. Vielleicht sollte man in zeitlicher Hinsicht am ehesten an die notvollen Jahre der Weltwirtschaftskrise ab Herbst 1929 denken. (Möglich ist jedoch auch, dass der Autor an die frühen „Zwanziger Jahre“ erinnern möchte, denn Brotsorgen führten im Sauerland noch im Inflationsjahr 1923 sogar zu Auswanderungen.) Es geht um das Schicksal des bereits seit zwei Jahren arbeitslosen Tagelöhners Christian im „Düärep viär dvor