EWALD KÖNIG

MENSCHEN |
MAUER |
MYTHEN |

Deutsch-deutsche Notizen
eines Wiener Korrespondenten

mitteldeutscher verlag

2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954622603

INHALT

Title

Impressum

KORRESPONDENT IN BONN UND BERLIN

Schaut auf diese Stadt!

Korrespondent aus wo?

„Die Mauer, wie Sie das nennen“

Logenplatz der Zeitgeschichte

Scheue Nachbarn, schillernde Figuren

Bonn: Doppelleben im Doppelhaus

Umweg per DDR-Interflug

MANGELWIRTSCHAFT

Walter Ulbrichts blühende Landschaften

Hinz und Kunz statt Marx und Engels

DDR-Telefon: Fasse dich kurz!

Witz als Waffe und Ventil

DEMONSTRATIONEN

Die Montagsdemos in Leipzig

Stasi-Kellner zur Mustermesse

Pfarrer Führer und das Wunder vom 9. Oktober

40 Jahre: Wer zu spät kommt

Gummiknüppel zum Geburtstag

Die Wendehälse vom 4. November 1989

FLÜCHTLINGE

13. August 1961: Wut und Schweigen

Conrad Schumann – die Flucht, das Foto, die Fragen

„Willkommen in Deutschland“

Hier sagt man Servus

Diplomatische und andere Kanäle

Massenexodus in Schirnding

PRESSEKONFERENZ

Der Zettel des Günter Schabowski

Die Mythen des Riccardo Ehrman

ADN: Die stillste Nacht der DDR-Nachrichtenagentur

MAUERFALL

Der 9. November: Berlin, ick spinne!

Schämen für die Zonis

Widerstand per Taxameter

Mondlandschaft und Mauerspechte

Bräute beiderseits der Mauer

Warmer Winter, Kalter Krieg:

Die Rolle des Wetters zur Wende

KORRESPONDENT
IN BONN UND BERLIN

SCHAUT AUF DIESE STADT!

Schon alles über Mauerfall und Wiedervereinigung gelesen? Aber noch nicht von mir!

„Ihr Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!“, appellierte Berlins Bürgermeister Ernst Reuter am 9. September 1948, lange vor dem Bau der Mauer und kurz vor den Staatsgründungen von BRD und DDR, inmitten von Berlin-Blockade und Luftbrücke.

Schaut auf diese Stadt! Genau das tun die Korrespondenten, die in Berlin akkreditiert sind. Der Verein der Ausländischen Presse (VAP), gegründet 1906, ist die älteste Journalistenorganisation Deutschlands und eine der ältesten der Welt. Mehr als ein Jahrhundert lang schauen wir Korrespondenten auf diese Stadt, die uns überreichlich Material für unsere Berichte in alle Welt bietet.

Als Deutschland-Korrespondent der Wiener Zeitung „Die Presse“ habe ich die österreichischen Leser über die Wendezeit und Wiedervereinigung auf dem Laufenden gehalten. Ich habe in Bonn und in Ostberlin gearbeitet, bin über Jahre hinweg zwischen beiden Welten gependelt und verfolgte die Entwicklung in West und Ost synchron. Die meisten Journalisten waren nur für eine Perspektive zuständig, für die Bonner, die Westberliner oder die Ostberliner Sicht. Korrespondenten, die sowohl in der BRD als auch in der DDR akkreditiert waren, waren ganz seltene Ausnahmen. Als Korrespondent aus einem neutralen Land war ich eine solche Ausnahme.

Ich entführe Sie in diesem Buch auf meinen damaligen Logenplatz der Zeitgeschichte – in die Leipziger Straße in Berlin-Mitte mit Blick über die ganze Stadt, die gar keine ganze Stadt war. Ich stelle Ihnen meine Bonner und meine Berliner Nachbarn vor, die Spione und Waffenhändler waren, lasse Sie an den Montagsdemonstrationen, an Prügelszenen und Flüchtlingstragödien teilhaben, nehme Sie mit auf den ersten deutsch-deutschen Direktflug, zeige Ihnen die Wendehälse, schildere, wie ich als einziger Österreicher Günter Schabowskis Grenzöffnung auf der Pressekonferenz erlebt habe und welche Legenden vom 9. November 1989 nicht auszurotten sind. Ich lasse Sie die Wahnsinnsnacht des Mauerfalls und die nicht minder unglaubliche Nacht des DDR-Nachrichtendienstes ADN miterleben, erkläre Ihnen, warum der Fall der Mauer nicht nur für Taxifahrer, sondern auch für viele Familienväter ein Problem war, und richte nicht zuletzt Ihren Blick aufs Wetter, das zur Wendezeit eine wichtige politische Rolle gespielt hat. Dass die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur meine Berichte in ihr Zeitzeugenportal aufgenommen hat, ist mir eine große Ehre.

Ein Vierteljahrhundert ist die Wende alt. Ich bin in Berlin geblieben und längst nicht mehr für „Die Presse“ tätig, sondern Herausgeber und Chefredakteur des europapolitischen Online-Mediums www.EurActiv.de. Im Haus der Bundespressekonferenz in Berlins Regierungsviertel sehe ich täglich den Mauerstreifen, der zwischen den vier Olivenbäumen in den Atrium-Boden eingelassen ist; mitten in der Hauptstadt eines Landes, das heute kaum noch in Wessis und Ossis geteilt ist, sondern in Aldi Süd und Aldi Nord, und in dem junge Deutsche den Eisernen Vorhang für ein Ikea-Produkt halten mögen.

KORRESPONDENT AUS WO?

Der Frankreich-Korrespondent sitzt in Paris und berichtet über Frankreich. Der Italien-Korrespondent sitzt in Rom und berichtet über Italien. Der USA-Korrespondent sitzt in Washington und berichtet über die USA. Das war von Anfang an so. Aber der Deutschland-Korrespondent?

Es hat verdammt lang gedauert, bis man ganz einfach sagen konnte: Der Deutschland-Korrespondent sitzt in Berlin und berichtet über Deutschland.

Unbefangene ausländische Beobachter mussten sich erst an begriffliche Feinheiten gewöhnen. 1985 kam ich als 29-jähriger Journalist nach Bonn, wohin mich „Die Presse“ als ihren Deutschland-Korrespondenten entsandt hatte. Welche sprachlichen Fallen im Lauf der Jahre auf einen nichtdeutschen Journalisten warteten, war mir nicht sofort klar. Allein schon das Wort: Deutschland-Korrespondent.

Zum Beispiel Bonn: Bonn, früher Synonym für die Bundesregierung, war all die Jahre nur provisorische Hauptstadt und hieß trotzdem Bundeshauptstadt. Als Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin zogen, ließen sie das „Bundes“ zurück. Bonn darf sich seither offiziell Bundesstadt nennen. Bis dahin war es als Bundesdorf verspottet worden.

In Berlin kamen sie ohne dieses „Bundes“ an. Kein Mensch spricht von Berlin als Bundeshauptstadt. Berlin ist: Hauptstadt.

Aber längst nicht für alle. Aufschlussreich war, was der frühere Chef der Berlin-Tourismus-Marketinggesellschaft (BTM), Hanns Peter Nerger, einmal ausplauderte. Nur im Ausland werbe die BTM offensiv mit Berlins Hauptstadtfunktion, und das sehr erfolgreich. Aber in Deutschland selbst, wo sie den Inlandstourismus nach Berlin lenken wollte, vermied die BTM die Erwähnung Hauptstadt. Denn bei den Deutschen sei das Hauptstadtthema lange Jahre gar nicht gut angekommen. Das BTM-Problem ist mittlerweile entschärft, auch wenn immer noch manche Deutsche aus voller Überzeugung nicht nach Berlin fahren. Aber wundern darf sich ein ausländischer Beobachter schon ein bisschen.

Zum Beispiel ehemalige DDR: Ein bemerkenswerter Reflex: Immer wenn von der DDR die Rede ist, heißt es automatisch „ehemalige DDR“. Es würde doch genügen, einfach von der DDR zu sprechen. Die DDR ist genau definiert: Es gab nur die eine von 1949 bis 1990. Es gibt ja keine Nachfolge-DDR, was eine solche Differenzierung nötig machen würde.

Man sagt ja auch nicht „ehemalige Weimarer Republik“, und niemand spricht von der „ehemaligen D-Mark“. Es scheint, als wolle man mit dem Zusatz „ehemalige“ den Ostdeutschen ständig in Erinnerung rufen, dass sie von gestern sind, vorbei und vergangen. Es klingt, als wolle man gegen den Beigetretenen nochmals nachtreten. Genau genommen müsste man von der „ehemaligen Bundesrepublik“ sprechen. Das wäre sinnvoll, um die alte Bundesrepublik mit den elf von der neuen mit den 16 Bundesländern zu unterscheiden. Aber „ehemalige Bundesrepublik“? Natürlich sagt das niemand.

Zum Beispiel neue Länder: Nach der Wende hatten manche Ostdeutsche ihre Probleme mit den neuen Bezeichnungen. Als ich den DDR-Jazzmusiker Ernst-Ludwig Petrowsky interviewte, verwechselte er konsequent die Begriffe alte und neue Länder. Es war keine Absicht. Er erklärte mir, warum er sich so oft irrte: Im DDR-Erbe sei doch alles alt und verrottet gewesen, und trotzdem müsse man dazu neue Länder sagen. Und den Westen, wo für Ossis alles neu glänzte, müsse man alte Länder nennen. „Da komme ich gefühlsmäßig immer durcheinander.“

Mein Mazda 929 in der DDR. Das Kennzeichen QA 43-01 lässt sich leicht entschlüsseln: QA = akkreditierter ausländischer Korrespondent, 43 = Österreich, 01 = Bürochef. Als einziger österreichischer Korrespondent mit Akkreditierung und Autokennzeichen hatte ich selbstverständlich „01“. Der Aufkleber „Die Presse“ zeigt meinen damaligen Arbeitgeber. Meine Söhne Maximilian, Florian und Sebastian (v. l.) aus Bonn sind nach dem Mauerfall zu Besuch in Berlin. (Foto: Ewald König)

Irritierend ist das mit den „alten Ländern“ außerdem, weil die Alterspyramide die neuen Länder zu den eigentlich alten macht. Die Ex-DDR hat einen Bevölkerungsschwund wie zu Zeiten der Pest. Die Jungen gehen in die alten Länder im Westen, die Alten bleiben in den neuen Ländern.

Zum Beispiel Ostdeutschland: Auch „Ostdeutschland“ ist nicht optimal und kann verletzend wirken: „Jetzt gehören wir endlich zum Westen, was wir doch immer wollten“, meinte Burghard Mooshammer, einst Regisseur im „Palast der Republik“. „Wir wollen nichts mehr hören, was mit ‚Ost‘ beginnt!“

Und „Mitteldeutschland“? Kann, aber muss nicht revanchistisch gemeint sein. Teils steht es für die ganze Ex-DDR als Synonym für Ostdeutschland, teils nur für die drei Bundesländer Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Dass der Begriff im Mitteldeutschen Rundfunk, in der „Mitteldeutschen Zeitung“ und im Mitteldeutschen Verlag fortlebt, regt niemanden auf. Die Bevölkerung weiß, dass ihr Territorium in Mitteldeutschland liegt, würde sich selbst aber nie als Mitteldeutsche bezeichnen lassen.

Zum Beispiel Beitrittsgebiet: Besonders Eilige sprachen lange Zeit von den „FNL“, den „fünf neuen Ländern“. Oder von Neufünfland. Oder immer noch von der „Zone“. Viele Funktionäre aus Politik und Wirtschaft glaubten, sich mit „Beitrittsgebiet“ elegant aus der Verlegenheit zu stehlen. Auch auf amtlichen Formularen wurde der Begriff gern verwendet. Wie erniedrigend es für manche Betroffene gewesen sein mag, aus einem „Beitrittsgebiet“ zu kommen, hat Wessis wenig gekümmert.

Originell fand ich einen Lokalpolitiker aus Brandenburg. Er sprach in einer Pressekonferenz über die westlichen Bundesländer und sagte: „Na, Sie wissen schon, die RICHTIGEN Bundesländer …“

Zum Beispiel Bundesrepublik: Aber auch vor der Wiedervereinigung war es schon schwierig, sich politisch korrekt auszudrücken. Da war Westdeutschland meist nur „die Bundesrepublik“. Obwohl das wenig sympathisch klingt, drückt es doch nur die Staatsform aus. Und dauernd „Bundesrepublik Deutschland“ zu sagen, ist etwas mühsam. Das passte ja auch in keine Zeitungsüberschrift.

Zum Beispiel BRD: Doch wehe, man sagte BRD. Das provozierte viele, weil es von der DDR-Nomenklatur übernommen schien, obwohl dem Kürzel überhaupt nichts Ehrenrühriges anhaftet. Sehr wohl dagegen dem DDR-Kürzel aus westlicher Sicht, weshalb die Springer-Journalisten die DDR stets in Gänsefüßchen setzen mussten, bis knapp vor dem Zusammenbruch des Staates.

In der DDR wiederum sprach man über den Klassenfeind nur von BRD und nie von Bundesrepublik.

Zum Beispiel DDR: Umgekehrt bezeichnete Erich Honecker selbst sein Land nicht als DDR, sondern konsequent als Deutsche Demokratische Republik. Wobei er das Kunststück fertigbrachte, das Wortungetüm in einer einzigen Silbe zu nuscheln.

Zum Beispiel Berlin: Die Teilung Berlins strapazierte nicht nur die Bewohner, sondern auch die Bezeichnung der Stadt. Ob West-Berlin oder Westberlin oder Berlin (West): Allein schon an der Art der Ortsangabe ließ sich ablesen, a) woher einer kommt und b) wo er politisch steht.

Was man im Westen Ostberlin beziehungsweise Berlin (Ost) nannte, hieß im Arbeiter- und Bauernstaat offiziell zunächst „Berlin, Hauptstadt der DDR“. Später hatte man zu schreiben: „Berlin (Hauptstadt der DDR)“. Das Wort Ostberlin war in der DDR tabu. Als ich in Bonn in der Ständigen Vertretung der DDR mein erstes Reisevisum beantragte und als Ziel nichtsahnend „Ostberlin“ schrieb, zerriss der Beamte mein Formular.

Wollte man geografisch in den Berliner Norden, musste man politisch in den Osten; wollte man geografisch in den Berliner Süden, ging’s politisch in den Berliner Westen.

Zum Beispiel Westdeutschland: Auch heute noch, lange nach der Wiedervereinigung, sagen viele Berliner, sie fahren nach Westdeutschland (und meinen es anders, als wenn sie Süddeutschland sagen würden).

Westberliner sagen immer noch, sie fahren in den Osten, selbst wenn sie in westlicher Richtung nach Brandenburg oder Magdeburg fahren. Ganz abgesehen davon, dass Westberliner fast nie in den Osten fahren. Und umgekehrt Ostberliner nicht in den Wannsee baden gehen würden. Aber die Himmelsrichtung ist ohnehin egal. Eigentlich ist rund um Berlin immer Osten. Und genau genommen ist Berlin es selber auch.

Zum Beispiel Wiedervereinigung: All die Namenshürden gehören sicherlich zu den kleineren Problemen der deutschen – ja, was eigentlich? Wiedervereinigung ist zwar am gebräuchlichsten, doch verweisen Puristen darauf, dass es ganz korrekt nur Vereinigung heißen müsste.

Wie auch immer ‑ es geschieht nicht so häufig, dass sich das Revier eines Korrespondenten von 60 auf 80 Millionen Menschen vergrößert und von elf auf 16 Bundesländer erweitert. So etwas passiert in der Regel nur Kriegsberichterstattern. Das blieb mir gottlob erspart.

Zum Beispiel Deutschland: Wie unkompliziert ist das heute, einfach BERLIN und DEUTSCHLAND sagen zu können. So kann ein Korrespondent, analog zu den Kollegen in Paris, Rom oder Washington, ganz normal behaupten: „Ich bin Deutschland-Korrespondent und berichte aus Berlin.“

DIE MAUER, WIE SIE DAS NENNEN“

Natürlich spielen bei der 750-Jahr-Feier Berlins im Jahr 1987 die Mauer, die Teilung und der Schießbefehl eine zentrale Rolle. Im selben Jahr beeinflussen auch Ronald Reagan und ungarische Feldhasen die Geschichte der Grenzanlagen. Ohne es zu wollen, sprenge ich eine Pressekonferenz im Roten Rathaus.

Es ist im Mai 1987, mehr als zwei Jahre vor dem Fall der Mauer. Die ganze Stadt feiert ihren 750. Geburtstag. Nicht gemeinsam, dafür doppelt. Einmal hüben, einmal drüben. Zu gemeinsamen Feierlichkeiten haben sich Ost und West nicht durchringen können. Gegenseitige Einladungen wurden jeweils abgesagt.

Die Atmosphäre in der geteilten Stadt ist aggressiv aufgeladen, als ich mit einer Gruppe internationaler Korrespondenten aus Bonn Berlin (West) und Berlin (Ost) besuche.

Der Ostteil hat sich für das Jubiläum herausgeputzt. Rechtzeitig sind die Dome am Platz der Akademie (heute Gendarmenmarkt) und die Restaurierung des Nikolaiviertels fertig geworden, die schmucke Simulation eines historischen Stadtkerns aus Plattenbauelementen. Rechtzeitig konnte auch das Ephraim-Palais eröffnet werden. Speziell bei der Renovierung dieses Rokoko-Palazzo am Spreeufer hat der Westen die Wirkung politischer Gesten verschenkt. Denn Originalteile des Palastes waren seit Kriegsende in Westberlin gelagert und wurden zur Renovierung an Ostberlin rückerstattet. So selbstverständlich war diese Kooperation ja nicht. Im Jubiläumsjahr 1987 hätte man politisch etwas daraus machen können.

300.000 HOSEN ZUSÄTZLICH

Unser Journalistenbus fährt auf Ostberlins Straßen an Plakaten und Transparenten wie diesen vorbei:

– „Wir produzieren 1987 300.000 Hosen zusätzlich für die Bevölkerung“

– „Mit Tatkraft und Initiative – Begeisterung zu Dauerleistungen“

– „All unser Können für die Erreichung des Titels: „Betrieb der gehobenen Qualität“„

– „Mein Arbeitsplatz – Kampfplatz für den Frieden!“

– „Mit Berliner Tempo aufgedeckt, was in uns steckt“

– „Jugend, vereinige dich im Kampf, Frieden ist unser 1. Menschenrecht“

Am VEB Backwarenkombinat Berlin verrät eine rote Tafel mit weißer Schrift: „Je stärker der Sozialismus, desto stärker der Frieden!“

In der „Berliner Zeitung“ heißt es an dem Tag im Bericht über Parteiwahlen in den SED-Grundorganisationen mit sechsspaltigem Titel: „Alle die Werktätigen bewegenden Fragen wurden schöpferisch beraten.“ Das „Neue Deutschland“ schreibt über dieselbe Veranstaltung ebenfalls über alle sechs Spalten: „Parteiwahlen Angelegenheit des ganzen Volkes.“

Bevor wir durchs VEB Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober“ geschleust werden, empfängt uns Oberbürgermeister Erhard Krack zum Pressegespräch im Wappensaal des Roten Rathauses.

Das ehedem gesamtberlinerische Rathaus diente zu DDR-Zeiten natürlich nur dem Ostberliner Magistrat als Sitz. Westberlin hatte seine Stadtregierung und den Senat im geräumigen Rathaus Schöneberg unterbringen müssen. Ostberlin hatte den Oberbürgermeister, Westberlin den Regierenden Bürgermeister. Erst seit 1991 ist das Rote Rathaus wieder gemeinsamer Regierungssitz.

Rotes Rathaus heißt es weder wegen der damaligen SED-Funktionäre unter Erhard Krack noch wegen der späteren rot-roten Koalition (SPD, Linke) unter Klaus Wowereit. Der Name geht schlicht auf die Fassadengestaltung mit roten Ziegelsteinen zurück.

Der Oberbürgermeister stellt uns Hannelore Mensch und Wolfgang Schmahl als seine Stellvertreter vor. Die haben freilich kein Wort zu sagen.

Krack lässt ein zwölfseitiges Redemanuskript an die Korrespondenten verteilen, bevor er es Wort für Wort vorträgt. Zeit genug, um sich den Fußboden und die Portale aus rotem Marmor und die Fenster mit den Wappen der Berliner Bezirke anzusehen. Bemerkenswert, dass auch die Wappen der Westberliner Bezirke eingearbeitet sind. Indiz dafür, dass der DDR-Magistrat einmal ganz Berlin hatte vertreten wollen.

Dass Krack ein paar Tage vor dem Pressegespräch als Wahlleiter für Ostberlin an der Fälschung der Kommunalwahl beteiligt war und die SED-Ergebnisse hatte schönrechnen lassen, findet sich in seinem Vortrag nicht wieder. Der Anfang des Journalistengespräches verläuft sehr freundlich. Das Ende weniger. Dafür fühle ich mich verantwortlich – wenn auch nicht schuldig.

Vor mir fragt ein Kollege vorsichtig, wie Krack zur Mauer stehe. Kracks Antwort: „Die Mauer, wie Sie das nennen, ist ja die Staatsgrenze der DDR zu Berlin (West).“ Sie sei, belehrt er uns, aufgrund bestimmter Bedingungen entstanden. „Denn wir mussten verzeichnen, dass wir ausverkauft werden.“ Gemeint sind der Verlust junger Arbeitskräfte, die in den Westen gehen, und der Ausverkauf von Kunstwerken und subventionierten Gütern.

Die Staatsgrenze der DDR zu Westberlin werde sich erst dann in ihrem Charakter verändern, wenn sich die Bedingungen dafür verändernt hätten, sagt Krack. „Und wie schwer das ist, das hat ja wieder die Feier vom 30. April bewiesen. Alles andere wäre Fantasterei und Illusion.“ Damit spielt Krack auf die Besuchsabsage des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (vom Westteil der Stadt) zur 750-Jahr-Feier an.

Meine erste Nachfrage dazu – sie betrifft die Todesschüsse an der Mauer – ignoriert der Oberbürgermeister, als habe er sie gar nicht gehört. An meinem dezenten österreichischen Akzent dürfte es nicht gelegen haben. Ich mache einen erneuten Versuch zum Thema Schießbefehl und frage hartnäckig nach. Das reicht Krack. Statt zu antworten, erklärt er das Pressegespräch mit den Korrespondenten abrupt für beendet.

Das kommt etwas überraschend, auch für den damaligen Vorsitzenden der Auslandspresse, den Luxemburger Marcel Linden, der unsere Gruppe anführt. Der Krack’sche Abbruch ist aber ehrlicher als das hohle Gerede, das es sonst zu Fragen der Mauer zu hören gibt. Diplomaten beispielsweise, die damals nach der Zukunft der Mauer fragen, ärgern sich über diesen „permanenten Dialog für Taube“ und die „ausgeleierten Grammofonplatten“, wie sich später ein niederländischer Botschafter äußert. Das hat man uns Korrespondenten immerhin erspart.

„NIEMAND HAT DIE ABSICHT …“

Ein kurzer Rückblick. „Die Mauer, wie Sie das nennen“: Hier ist Krack zu korrigieren. Denn das Wort „Mauer“ hatten nicht feindselige Journalisten aufgebracht, sondern Walter Ulbricht höchstpersönlich. Bis dahin war der Begriff öffentlich nie gefallen. Weder vor dem 13. August 1961 noch die Monate danach fand man das Wort, schon gar nicht in offiziellen Dokumenten. Einer der westdeutschen Korrespondenten merkte rückblickend an: „Kein noch so emsiger Historiker fand bisher im Vorfeld des Mauerbaus einen Hinweis oder einen Beschluss eines SED- oder eines KPdSU-Gremiums mit dem Wort ‚Mauer‘.“

Erhard Krack, Oberbürgermeister Ostberlins, im Jubeljahr 1987 (Foto: Bundesarchiv)

Das Wort war also Ulbricht selbst entfleucht. Das war übrigens ebenfalls auf einer Pressekonferenz. Annamarie Doherr von der „Frankfurter Rundschau“ hatte den SED-Chef am 15. Juni 1961 nicht nach Mauerplänen gefragt, sondern wollte nur wissen, wie er den Flüchtlingsstrom von Ost- nach Westberlin unterbinden wolle. Ulbricht damals, es war im Haus der Ministerien an der Leipziger Straße: „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer zu errichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht.“ Und dann der berühmte Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

Das war nur zwei Monate, bevor mit dem Bau der Mauer begonnen wurde. Der Rest ist bekannt: In den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 wurden Ostberlin und die DDR provisorisch mit Stacheldraht und Spanischen Reitern, aufgerissenen Straßen und Pflastersteinbarrikaden abgeriegelt, später durch den „antifaschistischen Schutzwall“, eine feste Mauer aus vier Meter hohen Betonplattenwänden, Todesstreifen, beleuchtete Kontrollstreifen, Wachtürme. Auf Flüchtlinge schossen die jungen Grenzsoldaten ohne Vorwarnung. Der 18-jährige Peter Fechter aus Ostberlin war das erste Todesopfer. Er wurde im August 1962 angeschossen und verblutete. Das letzte Opfer war Chris Gueffroy im Februar 1989.

Meine Frage nach dem Schießbefehl auf der Pressekonferenz im Wappensaal war also durchaus legitim. Oberbürgermeister Erhard Krack war ihr nicht gewachsen.

Wenige Tage nach unserer Jubiläumsreise übrigens brachte US-Präsident Ronald Reagan ein klassisches Zitat nach Berlin. „Mister Gorbatschow, tear down this wall!“ – Reißen Sie diese Mauer ein! Ein Zitat, von dem ihm seine eigenen Redenschreiber abgeraten hatten und das auch in Deutschland kritisch aufgenommen wurde. Es hätte den Kalten Krieg verschärfen und einen Atomschlag auslösen können 

Sogar noch 2008 stieß der Plan von Michael Reagan, dem Adoptivsohn des Präsidenten, zur Erinnerung an die Rede eine Gedenktafel in Berlin zu montieren, auf keinerlei Resonanz. Der US-Korrespondent Don Jordan (Bonn) war mit Alexandra Hildebrandt, der Leiterin des Berliner Mauermuseums, bei Michael Reagan in Los Angeles, bei der Ronald Reagan Stiftung mit der alten Air Force One und auf Reagans bescheidener Ranch. „Leider wird Ronald Reagan in Deutschland und Berlin keineswegs entsprechend gewürdigt“, findet Jordan.

FEHLALARME DURCH FELDHASEN UND EIN BESCHLUSS IN UNGARN

Ungefähr zur gleichen Zeit in diesem Jahr 1987 fiel in Ungarn eine politische Grundsatzentscheidung, die sich später für die DDR als letal erweisen sollte. Ungarn hatte kein Geld, um die verrotteten Überwachungsanlagen an der Grenze zu Österreich zu renovieren. Jede Nacht Dutzende Fehlalarme, ausgelöst durch Feldhasen und Vögel, das nervte die Grenztruppen.

Ohnehin diente der Eiserne Vorhang weniger dazu, die Ungarn im Land zu halten, die ja mit einem „Weltpass“ ausreisen durften, sondern die DDR-Bürger und Rumänen am Ausreißen ins Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW) zu hindern. Die 2.000 Fluchtversuche pro Jahr an der 270 Kilometer langen Grenze betrafen nicht Ungarn, sondern zumeist DDR-Bürger. Für eine aufwendige Generalüberholung fehlten in Ungarn die Akzeptanz und die Mittel. Die Entscheidung von 1987 – Erhard Krack im Roten Rathaus und Erich Honecker im Staatsratsgebäude hatten davon noch keine Ahnung – führte zum Abbau 1989 und zum Ausbluten der DDR via Ungarn.

Nach dem Fall der Mauer und zur Öffnung des Brandenburger Tores übrigens ließ sich Krack zusammen mit Walter Momper feiern, dem Regierenden Bürgermeister aus Westberlin mit dem roten Schal. Wenigstens übernahm Krack dann die Mitverantwortung für die Wahlfälschungen von 1987, weshalb seine Haftstrafe auf Bewährung ausgesetzt wurde. Er starb 2000 mit 69 Jahren.

LOGENPLATZ DER ZEITGESCHICHTE

Wie politisch konfrontativ die Plattenbauten in der Leipziger Straße von Berlin-Mitte waren, ahnt heute kaum einer der Durchrasenden. Wohnen zwischen zwei Welten, hart an der Grenze zweier Machtblöcke – mehr Mitte geht nicht. Die Leipziger Straße als Logenplatz der Zeitgeschichte. Ein Lokalaugenschein.

„Nie wieder will ich hier zu tun haben!“ Das schwöre ich mir auf dem Betonmittelstreifen der Leipziger Straße in Berlin, Hauptstadt der DDR, ein paar Jahre vor der Wende.

Mitternacht ist längst vorbei, als ich den Checkpoint Charlie, den Ausländer-Grenzübergang, hinter mir habe und in der Hoffnung auf ein Taxi in die belebtere Leipziger Straße trotte. Novembernebel hängt zwischen den Plattenbauten. Kalte Nässe frisst die Schuhsohlen auf. Die Trabi-Luft ist zum Beißen dick. Kein Taxi, das mich samt Gepäck ins Interhotel bringt. Bei diesem Wetter interessiert sich nicht einmal die Staatssicherheit für mich, deren Hauptverwaltung II/13 ich sonst ein paar Eintragungen in der Karteikarte wert bin. Heute offenbar nicht. Ich schleppe den Koffer zu Fuß ins Devisenhotel Metropol (heute Maritim proArte) in der Friedrichstraße.

Und genau an dieser Stelle der Leipziger Straße – exakt in dem Haus, vor dem ich damals geflucht hatte – zog ich später in meine Bürowohnung ein, die mir das DDR-Dienstleistungsamt für ausländische Vertretungen (DAV) zu meiner Akkreditierung als Korrespondent zugewiesen hatte. Als einer der ganz wenigen, die trotz des Bonner Wohnsitzes zeitgleich in der DDR zugelassen wurden. Strategisch gut gelegen, das Internationale Pressezentrum und der Checkpoint Charlie ganz nahe. In welch konfrontativen Wohnbau ich da eingezogen war, bekomme ich erst im Lauf der Zeit mit.

Lokalaugenschein: Die Plattenbauriegel auf der einen Seite der Leipziger Straße, Stahlbetonskelettmonstren auf der anderen. Bollwerke auch heute noch. Warum sie „Springerdecker“ genannt wurden, sei später verraten.

Mitte heißt der Bezirk, er liegt zwischen Kreuzberg und Prenzlauer Berg. Berg! Ortsunkundige könnten meinen, Mitte liege in einem Tal. Dabei überragt meine Wohnung im elften Stock (nach DDR-Zählung war es der zwölfte) vermutlich die höchsten Erhebungen dieser „Berge“.

DIE TUGEND VON GEGENÜBER

Meine Gegenübernachbarin auf der Nordseite ist die Tugend in Person. Wortwörtlich gemeint. Die „Siegende Tugend“ ist eine sieben Meter große Allegorie, komplett vergoldet. Sie ziert die Kuppel des 70 Meter hohen Deutschen Doms und wacht protestantisch-sinnenfeindlich über dem Gendarmenmarkt. Sie sollte die Berliner im Auftrag von Friedrich II. stets an die preußischen Tugenden erinnern. Aber niemand beachtet sie da oben. Außer mir.

Abgesehen von meiner Tugend habe ich alles im Blick, dessentwegen Touristen nach Berlin kommen: Berliner Dom, Synagoge, Bode-Museum, Hedwigs-Kathedrale, die Türme von Marienkirche und Rotem Rathaus und natürlich den Fernsehturm, später auch die Spitze des Sony-Centers und die Reichstagskuppel. Zum Greifen nah stehen der Deutsche und der Französische Dom (beide waren freilich nie Dome) auf dem Gendarmenmarkt, der Nobelbühne von Mitte, der als einer der schönsten Plätze gilt. Nach Süden fällt der Blick auf den in der Abendsonne goldglänzenden Axel-Springer-Bau.

Mein Plattenbau in der Leipziger Straße stand damals hart an der Grenze zweier Machtblöcke. Heute steht er genau dort, wo auf dem Berlin-Stadtplan ein Zirkel seinen Einstich hätte. Mehr Mitte geht nicht.

Abgesehen davon, dass Berlin eigentlich gar keine Mitte hat, liegt sie hier in der Leipziger Straße. Die Kartografen messen von hier aus alle Entfernungen von und nach Berlin. Die Kilometerangaben auf den Autobahntafeln Richtung Berlin beziehen sich allesamt fast punktgenau auf den Standort meines Plattenbaus. Auch die U-Bahn-Station um die Ecke heißt „Stadtmitte“.

Zentral zu wohnen, heißt aber auch: 80.000 Autos pro Tag brausen hier vorüber. Als wollten alle 2,1 Millionen Westberliner und die 1,3 Millionen Ostberliner tagtäglich an uns vorbei die Stadthälfte wechseln. Kräne, Bagger, Presslufthämmer, alles, was Lärm, Abwechslung und Straßensperren bringt. Typisch für Berlin: nie fertig, ständig im Werden, alles hektisch und immer lautstark.

Einsatzfahrzeuge, Baukranmonster, Staatsbesuche, gelegentlich gleich drei am Tag, Marathonläufe, Demonstrationen, einst „Wir sind das Volk!“, dann Hartz IV, Wahlkampfkundgebungen, zwischendurch Filmaufnahmen legen das Alltagsleben lahm. Allmählich müsste jeder Fernsehkrimi und jeder Werbespot den Gendarmenmarkt oder die Leipziger Straße als Kulisse gehabt haben.

Den Rest besorgen die Umzugswagen. Mitte ist der mit Abstand umzugsfreudigste Bezirk Berlins, beweisen die Mobilitätsstudien der Stadtentwicklungsforscher. An die 10.000 Menschen wohnen in der Leipziger Straße allein zwischen Spittelmarkt und Leipziger Platz. Die Bevölkerungsstruktur von Mitte zeigt die meisten Singlehaushalte ganz Deutschlands. Hier leben fast nur Menschen unter 45. Kinder sind eine Rarität.

Die autobahnähnliche Leipziger Straße (vor der Wende) in Berlin-Mitte mit den „Springer-Deckern“ und dem folgenreichen Betonmittelstreifen (Foto: dpa)

Mitte ist der am meisten ost-west-durchmischte Bezirk Berlins. Seit der Wende fand hier der größte Bevölkerungsaustausch ganz Berlins statt. Mehr als 85 Prozent der Mitte-Bewohner sind seit dem Fall der Mauer ausgewechselt. Zugezogene Westberliner wird man unter ihnen keine finden. Keiner berlinert hier. Und auf den Radwegen in Mitte liegen nicht ganz so viele Scherben von Bierflaschen wie in anderen Bezirken.

Vor dem Krieg war die Leipziger Straße pulsierende Einkaufsmeile, Wertheim das größte Kaufhaus Europas. Zu DDR-Zeiten galten die Plattenbauriegel als beliebte Bummel- und Shoppingstraße. Doch seit der Wende stehen fast alle Geschäftslokale leer. So weit der heutige Zustand.

AXEL SPRINGER LÄSST GRÜSSEN

Der Zustand zu DDR-Zeiten: Kaum wo auf der Welt – von der israelischen Siedlungspolitik am Gazastreifen vielleicht abgesehen – findet man solche geopolitisch angelegten Wohnbauten wie in der Leipziger Straße: In Beton gegossene Konfrontation zwischen Kommunismus und Kapitalismus über den Mauerstreifen hinweg.

Die Hochhäuser in der Leipziger Straße gehen indirekt auf Axel Springer zurück. So lautet eine unausrottbare Legende. Oder stimmt es etwa doch?

Als Nikita Chruschtschow, Regierungschef der UdSSR, 1958 mit seinem Berlin-Ultimatum die westlichen Alliierten in die Knie zwingen wollte, zogen viele Firmen ihre Zentrale aus Berlin ab. Axel Springer jedoch ging in die Offensive. Zwei Tage vor Ablauf des Ultimatums, das den Abzug der westalliierten Truppen aus Westberlin forderte und Berlin zur „Freien Stadt“ (Drei-Staaten-Theorie) machen wollte, legte er den Grundstein für sein Verlagshaus. Er baute es massiven Warnungen zum Trotz in die Kochstraße im einstigen Medienviertel direkt an die Zonengrenze. Nach seinem ersten Bauabschnitt platzierte die DDR Mauer und Todesstreifen unmittelbar neben die Springer-Baustelle. Heute zeigt eine Linie aus Pflastersteinen auf der Fahrbahn an, wie knapp die Mauer neben dem Hochhaus verlief.

Das Verlagszentrum war eine 19-stöckige Provokation für den Osten. Die DDR reagierte, so die gängige Darstellung, auf diese Provokation des Axel-Springer-Hochhauses, indem sie auf der Südseite der Leipziger Straße vier Plattenbauten mit 1.376 Wohnungen in jeweils 25 Stockwerken aufzog. Sie sollten mit ihren 80 Metern Höhe die Sicht auf den 68 Meter hohen Springer-Bau verstellen. Daher der Beiname „Springerdecker“.

Der Architekt dieser Bauten und des Straßenzuges bestreitet dies vehement. Ich treffe Professor Joachim Näther, als er achtzig Jahre alt ist, in seinem Lieblingscafé am Alexanderplatz und frage den ehemaligen Chefarchitekten (1963 bis 1973) der DDR über die Planungsvorgaben, die er in Bezug aufs Axel-Springer-Haus bekommen habe. „Darüber kann ich nur lachen!“, poltert er verbittert. „Das ist eine Westente!“

Sein Auftrag sei gewesen, die Straße mit Wohnungen und gesellschaftlichen Einrichtungen zu bebauen. „Es gab überhaupt keine Vorbedingungen!“ Er räumt ein, dass eventuell Politiker der SED solche Motive gehabt haben könnten. Er selber, so Näther, habe sich immer frei gefühlt.

Dass vom Flachdach des Springer-Baus aus Nachrichtenschlagzeilen aus der freien Welt in Richtung DDR gelaufen sind, ist eine Mär. Die Lichtreklame „Axel Springer Verlag“ wurde schon kurz nach Baufertigstellung montiert, und das Lichtband mit den Nachrichten, das tief nach Ostberlin hinein zu sehen war, stammte vom ebenfalls in der Kochstraße gelegenen GSW-Haus, der Verwaltungszentrale der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft aus den fünfziger Jahren.

Auch die Legende mit den Lautsprechern entspricht nicht den Tatsachen. Es war nicht Springer, der Informationen oder Parolen aus dem Westen über Lautsprecher an die DDR-Bevölkerung richtete, sondern der Berliner Senat. Und die Lautsprecher waren nicht am Springer-Bau angebracht, sondern teils an VW-Bussen, teils an festen Stellen entlang der Mauer.

DIE LEGENDE VON DEN ROLLING STONES

In einer anderen Legende spielen die Rolling Stones die Hauptrolle. Der Moderator eines Westberliner Rundfunksenders hatte sich einen Spaß erlaubt, indem er sagte, es wäre doch toll, wenn zum 20. Geburtstag der DDR (1969) die Rolling Stones auf dem Dach des Springer-Hauses spielen würden. In Ostberlin nahmen das vieleernst. Hunderte Jugendliche versammelten sich in der Leipziger Straße, um sich einen guten Blick aufs Springer-Flachdach zu sichern. Indes, dort gab es keine Rolling Stones. Die Jugendlichen drehten stattdessen ihre Transistorradios auf volle Lautstärke, es gab Tumulte, einige wurden verhaftet.

Eine weitere Legende, die sogar Ostberliner Fremdenführer („Stadtbilderklärer“) kolportierten, betrifft das typische Blau der Balkonverkleidungen in der Leipziger Straße. Es ist exakt die Farbe der einstigen FDJ-Hemden. Aus der ganzen Republik waren Mitglieder der Freien Deutschen Jugend 1976 nach Berlin geholt worden, um am Projekt „FDJ-Initiative Berlin“ teilzunehmen – „zum Aufbau der sozialistischen Hauptstadt“. Wie sie anderswo zum Abdichten von Dächern oder Bauen von Wasserleitungen eingeteilt wurden, engagierten sich die Jugendbrigaden in der Leipziger Straße an den neuen Plattenbauten. Und als Zeugnis durften sie, so heißt es, ihr typisches FDJ-Blau an den Balkonbrüstungen hinterlassen.

Diese Legende ärgert Joachim Näther erst recht: „Auch das sind Wessigerüchte, die zum Himmel stinken!“

LEGENDE ODER NICHT?

Offen bleibt die Frage, warum die SED-Führung eine autobahnähnliche Verkehrsader in Richtung Westen errichten ließ, die kurz vor der Mauer abrupt aufhörte. Näthers Darstellung: Es habe unter den Stadtplanern Ostberlins und Westberlins Kontakte und Treffen gegeben. Dabei habe man unter Kollegen weiter als die Politiker gedacht und den Kreislauf der Stadt auch nach einer möglichen Überwindung der Teilung berücksichtigt. Die andere Version lautet: Diese städtebauliche Planung dokumentiere die Absicht der DDR, Westberlin eines Tages in ihr Territorium zu übernehmen. In diesem Falle wäre die Mauer auch überflüssig geworden und die Leipziger Straße fortgesetzt worden.

Wohnen durften hier nur verlässliche Genossen. Kader, die der Logenplatz mit Blick auf Westberlin und die Nähe zum „reaktionären Springer-Konzern“ nicht zur Republikflucht animierte. Dennoch gibt es in Südrichtung keine Fenster aus den vier Wohnblöcken. Der direkte Blick auf den Todesstreifen und die Grenzbefestigungsanlagen war tabu. Umgekehrt verzichtete auch der Springer-Bau auf Nordfenster in Richtung Ostberlin.