MARIO SCHNEIDER

Die Frau
des schönen
Mannes

ERZÄHLUNGEN

mitteldeutscher verlag

INHALT

Titel

Sebastian

Ich mag dich sogar sehr!

Gespräche mit oben – Olga

Gespräche mit oben – Winnie

Gespräche mit oben – Katharina

Das Krokodil in der Kammer

Buenos dias, Vater!

Die Amsel

Kleine Stadt – alte Menschen

Darf ich jetzt aufstehen?

Tiefsee

Das Grübchen meiner Geliebten

Gegen drei Uhr nachts

Begegnung

Der Geburtstag

White Spot

Die Frau des schönen Mannes

Dank

Weitere Informationen

Impressum

SEBASTIAN

Sie mussten mich damals, ich war zehn Jahre alt, mit einem Seil aus der roten Felswand bergen. Hinaufgekommen in unsere Bärenhöhle war ich wie so oft, doch dieses eine und letzte Mal hatte mich eine Furcht ergriffen, die ich nicht kannte.

Mein Bruder und ich hatten dort oben in unserer Höhle, die nur etwas mehr war als ein Felsvorsprung im Sandstein, viele Stunden und ganze Ferien auf der Lauer liegend verbracht. Wir hatten Wildschweine und Wölfe mit Holzkohle an die Wände gemalt und uns selbst mit Pfeil und Bogen dazu. Dann aßen wir unseren Proviant, tranken das Quellwasser vom Fuße des Felsens und erzählten uns Geschichten vom Wald und den Monstern, die darin hausten. Wie wohl war uns bei dem Gedanken, dort oben sicher zu sein, denn hinauf zu uns würde niemand gelangen.

Doch an diesem Tag kletterte ich allein und ohne meinen Bruder, denn der war gestorben, zwei Tage oder eine Woche zuvor. Und mühelos gelangte ich in unser Versteck, saß dort ohne Proviant und ohne Geschichten, und ich weinte und hörte mein Weinen im Echo des Waldes. Und es war mir, als weinten die Bären und Wölfe und selbst die Monster mit mir. Es wurde Nacht, und ich schlief dort ein und wurde geweckt von Stimmen, die näher kamen im Wald. Ich hörte sie rufen nach mir. Ich sah die zitternden Lichter zwischen den Bäumen, und ich konnte nicht antworten, das weiß ich noch.

Es war damals ungewöhnlich, einen Toten offen aufzubahren, doch meine Eltern und Großeltern wollten es so, denn ihr Junge hatte so schön ausgesehen auf dem weißen Laken. Von da an ging ich jeden ersten Sonntag eines Monats in die Kirche und zündete eine Kerze an. Ich habe nie an Gott geglaubt, nicht mal, als ich zehn war und mein Bruder starb, aber ich dachte trotzdem, er würde uns sehen, die Kerze und mich. Das habe ich drei Jahre getan und dann nie wieder. Eine Kirche sollte ich erst viele Jahre später wieder betreten.

»Da, Papa! Ich will da hoch!«

Paul zeigte auf die Zwillingstürme der Marktkirche. Auf einer kleinen Brücke, die beide Türme in einem leichten Bogen verbindet, liefen einige Touristen entlang.

»Darf ich da hoch?«

Ich erklärte ihm, dass er noch zu klein dafür wäre.

»Ich will da hoch, Papa«, wiederholte er.

Nun war Geschick gefragt, denn meinem Sohn konnte man schwer etwas ausreden.

»Da dürfen keine kleinen Kinder rauf«, sagte ich, und dann schlug ich ihm einen Kompromiss vor: Kirche ja, Türme nein. Er akzeptierte, denn für ihn war die Aussicht, zum ersten Mal eine Kirche von innen zu sehen, Abenteuer genug.

Als wir das kühle Eingangsportal der Marktkirche betraten, spürte ich eine dumpfe Angst in mir. Paul stöberte schon in einem Regal mit Gesangsbüchern herum. Ich nahm eine Kerze aus der hölzernen Kiste und warf einen Euro in die Pappschale. Er hatte es gesehen und fragte mich prompt:

»Was machst du da?«

»Ich habe eine Kerze gekauft«, sagte ich.

»Wozu brauchen wir eine Kerze?«

Ich ging vor ihm her durch einen Rundbogen in die Halle, und er lief mir nach, auf eine Antwort wartend. Ich spürte, wie er mich von hinten ansah.

»Was machen wir denn mit der Kerze?«

Manchmal wird man vom eigenen Kind in Ecken gedrängt, aus denen man nicht herauskommt, und man muss gestehen; und ich wusste ja, dass ich es ihm irgendwann erzählen würde, also warum dann nicht gleich. Ich blieb stehen, drehte mich zu ihm um, kniete mich sogar vor ihn hin und sagte:

»Ich zünde die für meinen toten Bruder an.«

Pauls Augen leuchteten.

»Du hast einen Bruder?«

Ich sah sein verwundertes Gesicht. Ich kenne es sehr gut, immer wenn sich eine Welt vor ihm öffnet, spricht es aus ihm gleichermaßen wie es fragt. Seinen kleinen Mund hat er dann halb geöffnet, ich sehe zwei winzige Zähne, und seine Augenbrauen ziehen sich zusammen.

»Ich hatte einen Bruder, er ist tot.«

»Wie die Dinos?«

Ich lachte kurz und schmerzvoll. Dieses helle Staunen, was gäbe ich für die Leichtigkeit eines derartigen Vergleichs.

»Ist er ausgestorben?«

Ich nahm meinen Sohn fest in den Arm, und es war dieses Gefühl, das beides ist, Trauer um einen Toten und übergroßes Glück, einen solchen Jungen zu haben.

»Ja, er ist gestorben. Nicht direkt wie die Dinos, aber er ist gestorben.«

Paul lief auf den großen Mittelgang zu, blieb dort stehen und deutete nach links unter die Orgelempore auf eine kleine Holztür.

»Darf ich da rein?«, fragte er.

»Nein, da können wir nicht rein«, antwortete ich und war froh, das Thema so schnell beendet zu wissen, doch dann sagte er:

»Vielleicht ist ja dein Bruder da drin.«

»Nein, ist er sicher nicht«, sagte ich, und ich wusste schon, dass wir kurze Zeit später die Klinke nach unten drücken würden.

»Wir können doch mal nachschauen. Wollen wir nicht mal reingehen, ihn suchen? Vielleicht haben sie ihn ausgestellt.«

»Er ist ja nicht drin, Paul. Komm jetzt«, sagte ich.

›Ausgestellt‹, auf was für Ideen Kinder kommen. Wir waren oft im Museum gewesen, und dann hieß es von Paul nur: ›Ich will das Mammut und den Dinoknochen sehen.‹

Er zog mich am Arm und auf die Tür zu.

»Komm, wir wollen reingehen, ihn suchen.« Und ich ließ mich ziehen. Ich weiß nicht, in welcher Sekunde man sich zu etwas entschließt, ob man nachgibt oder streng bleibt, es muss da aber diese Sekunde geben, denn oft stehen die Entscheidungen auf der Kippe und können, scheinbar durch einen Luftzug, ins Eine oder Andere fallen.

Ich hoffte, die Tür wäre verschlossen, doch sie war es nicht.

Paul schob sie vorsichtig und geräuschlos auf. Er zögerte, hineinzugehen, und so blieben wir auf der abgetretenen Schwelle stehen und schauten in ein finsteres Gewölbe, das nach Weihrauch und faulem Holz roch. Der hintere Teil verlor sich im Dunkel. Durch ein kleines rundes Loch in der Decke fiel ein staubiger Lichtstrahl auf eine in den Boden eingelassene, steinerne Grabplatte. Auf der rechten Seite stand eine Holzbank vor einem schweren Samtvorhang. An der Wand gegenüber hing ein großes, fast erblindetes Triptychon. Die Farben waren so stark nachgedunkelt, dass man in dem schummrigen Licht kaum etwas darauf erkennen konnte. Eine Lanze, ein Stück Wolke, ein längliches, schmerzverzerrtes Gesicht.

Unsere Augen hatten sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt, und so konnten wir den hinteren Teil des Raumes sehen. Paul zog vorsichtig an meinem Arm und flüsterte: »Da ist jemand.« Auch er sah den Mann, der dort hinten auf einem Stuhl saß, den Kopf auf den Tisch gelegt hatte und offensichtlich schlief; aber kaum, dass Pauls Stimme verklungen war, wachte er auf, wandte sich zu uns um und fragte mit kräftiger Stimme aus dem Gewölbe heraus:

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die Situation war mir unangenehm, und ich wandte mich leise an meinen Jungen: »Komm, wir stören den Herrn«, und dann lauter nach hinten in den Raum: »Entschuldigen Sie bitte.« Ich drehte mich um und zog Paul am Arm, in Richtung der Tür. Doch er, den Alten immer noch fest im Blick, plapperte mit großer Zuversicht:

»Ist der Bruder hier? Wir suchen Papas Bruder. Er ist gestorben. Ist er hier?«

Ich blieb stehen, drehte mich wieder um. Paul griff mit einer Hand mein Hosenbein und wartete die Antwort ab.

»Entschuldigen Sie, dass wir stören. Die Tür war nicht verschlossen. Entschuldigung.«

»Nicht so schlimm, kommen Sie ruhig herein«, sagte der Pfarrer. »Wie heißt er denn, der Bruder?«

Paul sagte: »Weiß ich nicht.« Dann schaute er mich an und fragte: »Wie heißt er denn, Papa?«

Und ich sagte, obwohl ich es nicht wollte: »Sebastian.«

Ich hatte das Gefühl, dass dieses Wort den Raum anders durchmaß als alle anderen Worte, als dauere es eine Ewigkeit, bis es verklungen war, und mir fiel auf, wie lange ich diesen Namen nicht laut ausgesprochen hatte.

Der Mann stand von seinem Stuhl auf und kam durch das Gewölbe auf uns zu. Ich sah in ihm alle seine Vorgänger, wie sie die Grabsteine unter sich abgenutzt hatten und nur durch das Darüberstreifen ihrer weichen Gewänder. Hier in diesem Raum herrschte die Zeit milder, dachte ich.

Der Pfarrer war bei uns, beugte sich zu Paul hinunter, und es hätte kein Finger zwischen seine Nase und die meines Sohnes gepasst, und sagte:

»Wieso denkst du, dass er hier ist?«

Mein Junge, davon unbeeindruckt, gab ihm direkt ins Gesicht zurück:

»Weiß nicht. Ist er hier?«

»Schon möglich«, sagte der Pfarrer.

Ich fand diese Antwort unerhört, doch fiel es mir schwer, ihm zu widersprechen. Mich interessierte, worauf er so geheimnisvoll hinauswollte. Mein Junge wandte sich von ihm ab und deutete auf eine große hölzerne Truhe mit einem halbrunden Deckel.

»Darf ich da reinschauen?«

Der Pfarrer richtete sich auf. Sein Gesicht wurde von dem Lichtstrahl getroffen, und seine Züge glichen kurze Zeit denen des Leidenden auf dem Triptychon hinter ihm.

»Aber sicher«, sagte er und beobachtete, wie Paul hinüberlief, den Deckel der Truhe anhob und hineinblickte.

»Da ist ja nichts drin.«

Mit diesem Pfarrer stimmte etwas nicht. Während er und mein Sohn die alten Schränke öffneten und auf der Suche nach meinem Bruder die Schubladen aufzogen, stand ich da und hörte immer noch den Namen, und ich hörte ihn aus dem Wald zu mir klingen, das Echo meines verzweifelten Rufes.

Nachdem der Alte und Paul sich niedergekniet und unter der abgestellten Kirchenbank gesucht hatten, dies ging nicht ohne einiges Gelächter ab, stützte sich der Pfarrer auf die Bank und sagte:

»Schau doch mal hinter dem Vorhang hier nach.«

Sofort sprang Paul hoch, lief zum einen Ende des Vorhangs und versuchte, ihn aufzuziehen. Er hatte Mühe, den schweren Samt zu bewegen, aber der Alte war schon bei ihm, packte mit an und gemeinsam zogen sie ihn auf. Dahinter war eine Feldsteinmauer, und an dieser hing ein mannshohes Kreuz und am Kreuz ein von Holzwürmern durchlöcherter, staubig-grauer Jesus.

Paul wich einen Schritt zurück.

»Papa, sieh mal, ist das dein Bruder?«

Der Pfarrer lächelte und beugte sich zu meinem Sohn hinunter. Er nahm den kleinen Kopf zwischen seine Hände und lachte laut auf, als er sagte: »Ja, mein Junge, das ist deines Vaters Bruder, er ist unser aller Bruder.« Paul blickte diesen Priester verblüfft an. »Das ist jemand, der für uns gestorben ist. Verstehst du das? Er hat sich geopfert, für uns alle, auch für dich.«

Mir schien, mein Sohn versuchte, mit dem Kopf zu schütteln, doch der Pfarrer hielt ihn fest. Ich ging auf diesen Alten zu, nahm den Arm meines Jungen und zog ihn fort.

»Wir gehen dann mal wieder«, sagte ich streng, mehr zum Pfarrer als zu meinem Sohn, und fast hätte ich den Alten für seine Unverfrorenheit gerügt, da sagte er:

»Entschuldigen Sie. Das war wohl nicht richtig. Warten Sie! Einen Augenblick noch.« Er ging zu seinem Tisch zurück, öffnete eine kleine Schatulle, nahm etwas heraus und kam wieder zu uns zurück.

Er ergriff Pauls Arm und legte es in seine Hand. Ich konnte nicht gleich erkennen, was es war.

»Hier, nimm das, mein Junge. Es ist ein kleines Geschenk, aber es ist mehr wert als alle Geschenke der Welt.«

Die dreiste Art des Alten machte mich beinahe sprachlos.

»Nein, danke. Das reicht jetzt«, sagte ich, doch bevor ich weitersprechen konnte, unterbrach mich Paul:

»Oh ja, Papa, darf ich es haben? Ach bitte, Papa! Ich möchte es behalten.«

Und dann sah ich, was der Pfarrer ihm gegeben hatte. Es war ein kleiner Jesus am Kreuz, und er war aus Kautschuk, wie die Indianer und Soldaten, mit denen ich als Kind gespielt hatte.

»Na gut, wenn es denn sein muss. Bedank dich bei dem Herrn«, sagte ich zu Paul, und er ganz artig: »Danke.«

Wir waren wieder heraus aus der Kirche. Die Frühjahrssonne schien schräg über den Marktplatz, und wir gingen in Richtung Eisstand, der wohl den ersten Tag geöffnet hatte. Paul griff meine Hand und fragte mich: »Was ist das, geopfert?«

Es war noch recht kühl draußen, und ich steckte die andere Hand in die Jackentasche, da fühlte ich die Kerze. Die hatte ich über diesen Pfarrer ganz vergessen, und ich ärgerte mich darüber.

»Was heißt das, geopfert?«

Ich überlegte. »Das ist eine seltene Eigenschaft des Menschen«, antwortete ich.

»Ja, aber was genau?«

Ich musste etwas länger darüber nachdenken, und Paul wartete geduldig auf meine Antwort.

»Stell dir vor, du möchtest ein Eis und wir wären arm und hätten kein Geld, und da steht ein kleiner Junge vor der Eistruhe und bekommt gerade eine schöne große Tüte von dem Verkäufer. Sagen wir, der Junge hat lange gespart dafür, und nun sieht er dich, wie du gerade von mir hörst, dass ich kein Geld hätte und es deshalb nichts wird mit Schoko und Erdbeer. Da kommt dieser kleine fremde Junge auf dich zu und gibt dir sein Eis. Was sagst du dazu?«

»Toll. Was für ein Junge!«, sagte Paul wie aus der Pistole geschossen.

»Nun, meinst du, es gibt viele von solchen Jungen?«

»Ich glaube nicht.«

»Das nennt man: geopfert.«

»Ach.« Nach einer kleinen Pause sagte er: »Hat sich dein Bruder auch geopfert?«

»Oh nein.«

»Wieso ist er dann tot?«

»Er ist als Kind sehr krank geworden und dann gestorben.«

»Was hat er denn gehabt?«

»Eine seltene Krankheit.«

»Das versteh’ ich nicht«, sagte Paul.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

Normalerweise wäre das mit Paul der Anfang eines langen, eines sehr langen Gespräches gewesen, doch an diesem Tag hatte er wohl gespürt, dass ich die Antwort wirklich nicht wusste und dass mir die Unterhaltung schwerfiel und mich bedrückte. Deshalb nahm er mit seiner kleinen Hand die meine und ging mit mir nach Hause.

In den kommenden Tagen konnte ich Paul dabei beobachten, wie er mit seinen Indianern und Soldaten spielte, und zwischen ihnen tauchte immer dieser Jesus auf. Er ging an seinem Kreuz durch die Reihen der Kämpfer, manchmal schwebte er an ihnen vorüber und sie blickten ihm nach und riefen laut, und ich konnte in der Küche hören, was sie riefen, und ein Schmerz durchlief mich, wenn mein Junge wieder und wieder verkündete:

»Sebastian ist da! Er wird uns helfen, er hat so viel Kraft! Sebastian ist ein Held!«

Dann schlug er mit dem Jesus in die feindlichen Reihen und fegte sie davon.

ICH MAG DICH SOGAR SEHR!

Die ›Queen Mary 2‹ war beim letzten Mal direkt vor meinem Hotelfenster vorbeigefahren. Ich konnte in die tausend beleuchteten Kabinen schauen und die tausend Fernseher hinter den halb durchsichtigen weißen Gardinen flackern sehen.

Dieses Hotel hier hatte nichts dergleichen zu bieten. Das Zimmer war eng, und an den Wänden waren graue, feuchte Flecken. Ich fühlte die Anwesenheit von hunderten dumpfen Gestalten, die dieses Zimmer bewohnt und abgenutzt hatten. Neben dem Bett hatten sie sich die Schuhe ausgezogen und dabei an der Tapete schwarze und braune Kratzer hinterlassen. Die Energiesparlampe an der Decke tauchte den hohen Raum in eine kalte Schäbigkeit. Das war alles so erbärmlich, und ich war es auch. Das wurde mir jetzt klar. ›Ich werde anrufen und das absagen‹, dachte ich. ›Die werden sagen, gebucht ist gebucht. Haben ja auch sicher recht damit. Also gut, dann wird es so sein.‹

Ich schaltete das große Licht aus, ging im Halbdunkel zum Fenster, und warf einen kurzen Blick auf die gegenüberliegende Häuserzeile, an der ein großes Schild »Kino« ab und zu die Farbe wechselte. Ich zog die Gardinen zu und machte die kleine Nachttischlampe an. Ich holte meinen Laptop aus der Tasche, klappte ihn auf und legte ihn aufs Bett. iTunes war noch offen. Ich klickte auf den Ordner ›Easy‹ und dann auf den Titel 1. Ich schaute auf die Uhr. Es war genau zehn. Es klopfte.

›Pünktlich‹, dachte ich ›Das ist absurd.‹

Ich ging zur Tür, drückte die Klinke nach unten und zog schwer, gegen den automatischen Verschluss, die Tür auf.

Da waren fünf Sekunden, in denen ich mich nicht zurechtfand. Sie war die schönste Frau, der ich je die Tür geöffnet hatte. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet. Das Einzige, was ich von ihr sah, war ihr Gesicht, das mich nicht anschaute, sondern an mir vorbei ins Hotelzimmer blickte. Mir war klar, dass sie so eine Absteige nicht gewohnt war, denn sie war keine, die man für fünfzig Euro bekommen konnte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, tat sie es. »Was soll das denn für ein Hotel sein?«

»Ja, entschuldige, das … normalerweise, das Hotel, in dem ich sonst immer bin, war ausgebucht, Zahnarztkongress. Ich wusste nicht, dass das hier so aussieht. Entschuldige.«

Erst jetzt sah sie mich direkt an, und ich konnte in ihrem Blick sehen, dass sie überlegte, ob sie bleibt oder wieder geht. Sie traf ihre Entscheidung sehr schnell. »Naja, machen wir das Beste draus.« Sie trat einen Schritt auf mich zu und lächelte. »Darf ich?«

»Ja natürlich, komm rein.«

Sie ging an mir vorbei ins Zimmer. Sie war einen Kopf kleiner als ich und roch nach einem Parfüm, das mir bekannt war. Eine meiner Ex-Freundinnen hatte es getragen. Ich schloss die Tür. Sie blieb in der Mitte des Zimmers direkt vor dem Doppelbett stehen und drehte sich zu mir um. »Wie ist dein Name?«

»Martin.«

Sie gab mir ihre Hand, und ich berührte sie zum ersten Mal. Es war eine kleine Hand, und sie passte genau in die meine.

»Monique.«

Wir schauten uns direkt in die Augen. Ihre waren schwarz und sanft. Es schien mir, als wäre etwas Ehrliches darin. Ich ließ ihre Hand los und ging zum kleinen Glastisch am Fenster. »Es gibt hier keine Minibar, deswegen war ich vorhin noch etwas einkaufen.«

Sie lachte kurz, als sie den Sekt und die Schokolade sah. »Ist ja süß.«

»Willst du was?«

»Wir sollten erst das mit dem Geld klären«, sagte sie freundlich.

»Ja, entschuldige, natürlich.«

»Ich weiß, viele machen das hinterher. Aber meine Agentur besteht darauf, dass ich es vorher kläre.«

»Na klar, kein Problem«, sagte ich und ging hinüber zur Garderobe, an der meine Jacke hing. Ich gab ihr die 350 Euro. Sie steckte das Geld, nachdem sie es gezählt hatte, in ihre Handtasche und fragte schnell, so, als hätte es diese Übergabe nie gegeben: »Was ohne Alkohol hast du wohl nicht?«

Ich fragte, ob sie Bionade mag.

»Oh ja, das trink’ ich gern.«

Ich bückte mich, holte zwei Flaschen aus der Einkaufstüte, öffnete sie und hielt ihr eine hin. Sie nahm sie, schaute mich kurz an und stieß ihre Flasche gegen die meine. »Prost«, sagte sie und setzte sich auf die Liege an der Wand, gegenüber dem Bett. »Das ist ein bisschen wie in einem Studentenwohnheim hier.«

Ich lächelte und setzte mich zu ihr. »Stimmt.«

Wir schauten uns beide stumm im Zimmer um. Ich dachte, ich müsste etwas sagen, da sie nichts sagte. »Ich mache das hier zum ersten Mal und weiß nicht so richtig, wie das abläuft.« Natürlich, ich war nervös und hatte Angst. Als ich bei ihrer Firma anrief, hatte ich gehofft, sie würde sich einfach nur ausziehen, dann mich und wir würden es miteinander treiben. Nun kam mir diese Vorstellung unangenehm fremd vor.

»Das hängt von dir ab«, sagte sie und als ich nichts erwiderte, »Wir können uns erst etwas unterhalten und dann werden wir weitersehen, oder?«

›Danke, unterhalten, das ist gut, danke‹, dachte ich. »Ja, das ist gut.«

»Warum hast du eigentlich mich verlangt? Ich meine, in der Agentur sind so viele gut aussehende Frauen, warum gerade ich?«

»Du warst mir am sympathischsten«, und das war die Wahrheit. Ich sah mich am Schreibtisch in meiner Wohnung sitzen, meinen aufgeklappten Laptop und die Bilder dieser Frauen vor mir. Aber nur sie konnte es sein. In ihrem Blick stand keine laszive Antwort, sondern eine stille Frage. Unter ihrem Namen blinkte in roter Schrift das Wörtchen »NEU«.

»Und wieso machst du das?«, fragte sie mich.

Das kam mir unpassend vor. Ich zögerte. Mir war nicht klar, warum ich das tat. Doch, es war mir klar. Ich wollte Sex, nur Sex.

»Ich wollte das einfach ausprobieren, und da ich gerade solo bin, dachte ich, jetzt oder nie.«

»Du hast keine Frau?«, fragte sie mich.

»Seit einem Jahr.«

»Ach so, würdest du das hier nicht machen, wenn du eine Frau hättest?«

»Nein, da würde doch etwas nicht stimmen, oder?«

Sie schaute mich einen Augenblick an, dann sagte sie: »Du bist mein erster Kunde«, und klopfte mir dabei vertraulich auf den Oberschenkel, »du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich so nenne, nein, du bist mein erster Kunde, der keine Frau hat.«

Ich war verblüfft. »Das glaub’ ich nicht.«

»Ist aber so, die haben fast alle Frauen.« Sie überlegte. »Und Kinder. Die zeigen mir gleich am ersten Abend die Fotos von den Kindern und ihrer Frau und erzählen dann, wie hübsch sie sind und wie toll sie ist oder wie kompliziert.«

Sie trank einen Schluck. »Ich habe den Glauben verloren, dass es anständige Männer gibt, glaub’ mir. Du bist da wirklich der Erste. Das imponiert mir.«

Ich fühlte mich geschmeichelt, und gleich darauf kam ich mir wieder abartig und schlecht vor, ja, wie jemand, der etwas unsagbar Schlechtes tut. ›Wir könnten uns doch einfach nur unterhalten. Sie behält das Geld, und am Ende bedanke ich mich bei ihr für den schönen Abend.‹ Das war eine gute Idee, und dabei wurde mir ganz wohl. Ich fühlte mich wie ein guter Mensch.

»Wie lange machst du das schon?«, fragte ich so normal wie möglich.

»Vier Monate«, antwortete sie.

»Das ist nicht lange.«

»Das ist sehr lange«, sagte sie. Sie kramte in ihrer Handtasche. »Darf ich rauchen?«, fragte sie in ihre Tasche hinein.

»Ich glaube schon, auf dem Tisch steht ein Aschenbecher.«