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Frank Schuster

Das Haus hinter dem Spiegel

Roman

Inhalt

1 Großes Durcheinander

2 Links oder rechts?

3 Vor und hinter dem Spiegel

4 Ein belauschtes Gespräch

5 Eine neue Königin muss her

6 Zweieiige Drillinge

7 Gummibärchen oder Schokolade

8 Das Ei auf der Mauer

9 Hallo, Goggelmoggel!

10 In der Bibliothek

11 Kakerlake, Zipferlake

12 Ein paar ernste Worte

13 Teezeit mit Überraschung

14 Geheimschrift und Spiegelschrank

15 Quiekedeis und Quengelweisen

16 Kein Weg zurück

17 Die allerneuste Erfindung

18 Schachmatt auf der Treppe

19 Ein guter Plan

20 Eine Katze muss her

21 Eine schlaflose Nacht

22 Papa muss weg

23 Aus dem Weg!

24 Noch eine schwarze Königin

25 Verwandlung mit Hindernissen

26 Noch eine schwarze Katze

27 Die Dame in Schwarz

28 Wo ist der Spiegel?

ISBN 978-3-944124-47-6

Copyright © 2014 mainbook Verlag

Lektorat: Gerd Fischer

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Das Buch: Wo steckt Kitty? Seitdem das schwarze Kätzchen verschwunden ist, wirkt Eliza wie ausgetauscht. Ihrer Schwester Lorina erzählt sie, sie heiße in Wirklichkeit Alice und sei durch den Wohnzimmerspiegel in die Welt der Menschen gelangt, während die wahre Eliza in das Haus hinter dem Spiegel verschwunden sei. Lorina zweifelt an der Geschichte und vermutet, Eliza habe den ganzen Unsinn aus dem Buch, das sie sich beim kauzigen Mathelehrer Karl-Ludwig Hundsen ausgeliehen haben: „Alice hinter den Spiegeln“. Denn Eliza meint plötzlich, überall den Figuren aus dem Roman zu begegnen: den eineiigen Zwillingen Zwiddeldum und Zwiddeldei, dem lustigen Eiermännchen Goggelmoggel und dem fürchterlichen Drachen Zipferlake. Und was hat es mit Papas Schachspiel auf sich? Seitdem die schwarze Königin fehlt, scheint die Anordnung der Figuren auf dem Brett den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Die beiden Mädchen begeben sich gemeinsam mit Mathelehrer Hundsen sowie dem zerstreuten Erfinder Herrn Ritter auf die Suche nach dem Geheimnis hinter Elizas seltsamer Verwandlung.

Der Autor: Frank Schuster (geb. 1969) lebt in Darmstadt, ist ehemaliger Redakteur der Frankfurter Rundschau und zurzeit Fraktionsreferent. Bisherige literarische Veröffentlichungen: „If 6 Was 9“ (Roman, Oldenburg 2003) sowie Kurzgeschichten in Literaturzeitschriften und Anthologien.

Für Lilith & Stella

„Go ask Alice, I think she’ll know…“

Jefferson Airplane, White Rabbit

~ 1 ~

Großes Durcheinander

Ein Geräusch.

Irgendetwas war im Wohnzimmer umgestürzt.

Lorina lief nachschauen. Als sie die Tür erreichte, huschte Kitty zwischen ihren Beinen hindurch. Das schwarze Kätzchen flitzte durch den Flur ins Badezimmer. Lorina rannte schnell hinterher und konnte gerade noch beobachten, wie es vom Wannenrand auf die Fensterbank sprang und von dort durch das offene Fenster nach draußen entwischte.

Die Katze gehörte jemandem in der Nachbarschaft. Sie kam gelegentlich in die Wohnung der Kleyns, um Milch oder Wurststückchen zu erbetteln.

Lorina ging zurück zum Wohnzimmer und sah die Bescherung: Papas Schachbrett war mitsamt dem kleinen Tischchen, auf dem es gestanden hatte, umgekippt. Die schwarzen und weißen Figuren waren heruntergepurzelt und lagen kreuz und quer über die Dielen und den bunten Perserteppich verstreut. Lorina stellte das Tischchen wieder auf seine Beine und das Schachbrett oben drauf.

Dann sah sie Eliza. Sie saß auf dem Boden und presste eine Schachfigur, die schwarze Königin, die sie sich an den Mund hielt, fest zwischen ihren Fingern, so fest, dass ihre Knöchel leicht gerötet waren. Sie hatte die Augen geschlossen und wiegte den Kopf sachte vor und zurück, ihre Lippen bewegten sich. Es sah aus, als ob sie der Schachfigur etwas zuflüsterte. Plötzlich starrte sie mit weit aufgerissenen Augen in den großen alten Spiegel an der Wand, der mit seinem verzierten Rahmen knapp über dem Boden hing. Er reichte bis fast an die Decke. Lorinas Eltern hatten das schwere, kostbare Stück vor Jahren in einem Möbelantiquariat in England gekauft, als Eliza und Lorina noch gar nicht auf der Welt gewesen waren.

„Was ist mit dir?“, fragte Lorina ihre kleine Schwester. „Hast du etwa noch nie dein Spiegelbild gesehen?“ Sie wollte Eliza aufheitern und lächelte ihr zu. Doch ihr Lächeln gefror. Ihre Schwester wirkte traurig, irgendwie verloren. Irgendetwas schien mit ihr nicht zu stimmen.

„Hört ihr mich, ihr dort, im Haus hinter dem Spiegel?“, zischte Eliza plötzlich. Sie löste ihren Blick wieder von dem Spiegel, ganz langsam, als ob sie gerne noch weiter hineingeschaut hätte. Schließlich schüttelte sie ihren Kopf, so fest, als ob sie ihre verrückten Gedanken loswerden wollte.

Lorina prustete plötzlich vor Lachen los, als sie sah, dass Eliza die schwarze Königin wie eine kleine Puppe an ihre Brust drückte. „Weißt du noch“, fragte sie ihre jüngere Schwester kichernd, „wie wir mit den Schachfiguren Schlachten auf dem Wohnzimmerteppich gefochten haben? Und wie Papa, wenn er nach Hause kam, immer geschimpft hat?“

Eliza reagierte nicht. Ihr Gesicht war reglos, ihr Blick leer. Sie schwieg.

„Die Figuren“, fuhr Lorina etwas verunsichert fort, „sehen ja auch wirklich so aus wie kleine Menschen. Und die schwarzen sind …“, ihre Stimme stockte, „… irgendwie unheimlich“, beendete sie nachdenklich ihren Satz. Ihr Blick fiel auf die dunkle Königin in Elizas Händen.

Oje, Papa!, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Was wird er wohl sagen, wenn er die Figuren auf dem Boden liegen sieht? Er spielte mit einem guten Freund, der weit weg im Ausland wohnte, Briefschach. Sie spielten gegeneinander, ohne dabei zusammen in einem Zimmer sitzen zu müssen. Das ging, weil die Felder des Schachbretts mit Nummern und Buchstaben versehen sind – senkrecht von 1 bis 8 und waagrecht von a bis h. So konnte Papa einfach eine E-Mail an den Freund schicken, in der er zum Beispiel schrieb: „Weißer Bauer auf d2.“ Und sein Freund mailte dann zurück: „Schwarze Königin von e2 auf h5.“ Weil Papas Freund aber sehr viel arbeitete, antwortete er manchmal tagelang nicht und das Schachbrett stand solange unberührt im Wohnzimmer.

Papa wird schimpfen, dachte Lorina, weil er und sein Freund das Spiel so bald nicht fortführen konnten. Sie mussten nun erst einmal herausfinden, in welcher Anordnung die Figuren zuletzt auf dem Brett gestanden hatten. Und dafür mussten sie alle E-Mails noch einmal lesen, die sie geschrieben hatten – falls sie die nicht schon längst gelöscht hatten.

Papa die Wahrheit erzählen, nämlich dass Kitty das Schachbrett umgeworfen hatte, ging auch nicht, überlegte Lorina weiter. Das würde Ärger geben. Denn Mama und Papa wollten nicht, dass das Kätzchen in die Wohnung kam. Sie würden sauer sein, weil Lorina und Eliza Kitty hineingelassen hatten.

Es waren zum Glück nicht viele Figuren heruntergefallen, bemerkte Lorina, als sie sie vom Boden aufsammelte. Zusammen mit der schwarzen Königin, die Eliza immer noch in ihrer Hand hielt, waren es acht, rechnete Lorina im Kopf nach. Die Schachpartie zwischen Papa und seinem Freund musste also schon fortgeschritten sein, weil die meisten Figuren (insgesamt 24 Stück, wie Lorina schnell im Kopf überschlug) geschlagen und vom Feld genommen waren.

Nachdem Lorina die Figuren wieder auf das Brett gestellt hatte – schön über das Spielfeld verteilt, damit nichts auffiel – sagte sie: „So, Eliza, jetzt kannst du auch die Königin wieder draufstellen. Papa merkt so schnell nichts …“ Ihre Stimme stockte, denn als sie mit ihren letzten Worten wieder von dem Schachbrett aufschaute, war Eliza verschwunden. Sie saß nicht mehr vor dem Spiegel. Wo steckte sie?

„Eliza! Eliza!“ Lorina lief durch den Flur und rief ihre Schwester. Sie konnte sie nirgends in der Wohnung finden. Plötzlich sah sie, dass die Terrassentür offenstand. Lorina trat hinaus in den Garten und blickte sich suchend um.

Dort war sie! Eliza saß mit gesenktem Kopf auf dem Rasen. Sie starrte gedankenverloren auf ein Blumenbeet. Die Lilien und Maßliebchen, die ihre Mutter gepflanzt hatte, bewegten sich sachte im Wind. Ihre bunten Blütenköpfe schaukelten auf ihren dünnen Stängeln hin und her. Die grünen Blätter an ihren Stielchen flatterten, als ob sie aufgeregt in die Hände klatschten. Von der Ferne sahen die Blumen fast wie kleine schnatternde Tratschweiber aus.

„Seid doch still!“, zischte Eliza sie an.

Redete sie mit den Blumen?, überlegte Lorina. „Eliza, was ist denn?“, rief sie besorgt. „Komm doch wieder rein und gib mir endlich die schwarze Königin!“

Eliza stierte Lorina staunend, mit weit aufgerissenen Augen, an. „Warum nennst du mich eigentlich die ganze Zeit Eliza?“, fragte sie ihre Schwester. „Ich heiße doch A…“

Weiter kam sie nicht. Denn plötzlich huschte ein dunkler Schatten knapp über ihren Kopf hinweg.

Eine Elster! Der schwarzweiß gefiederte Vogel setzte sich auf den Rasen, direkt vor das Blumenbeet. Dort – auf der Erde – sah Lorina die schwarze Königinfigur liegen. Ihre glatte, polierte Oberfläche blitzte im Sonnenlicht auf. Die Elster legte den Kopf schief, stieß einen keckernden Laut aus, packte dann die Schachfigur zwischen ihre beiden Schnabelhälften und flog mit ihr in die Luft – auf und davon.

„Nein! Halt! Die Königin!“, rief Lorina entsetzt. Sie wollte der Elster hinterherspringen, blieb jedoch stehen, als ihr klar wurde, dass sie sie nicht mehr einfangen konnte.

In dem Moment hörte sie Mama durch die Terrassentür rufen:

„Lorina! Eliza! Kommt ihr bitte! Papa ist da. Es gibt Abendbrot.“

~ 2 ~

Links oder rechts?

Papa hatte lange schweigend zugeschaut. Doch nun konnte er nicht mehr länger mit ansehen, wie Eliza mit dem Besteck am Abendbrottisch herumhantierte.

„Eliza, warum hältst du eigentlich die ganze Zeit das Messer in der linken und die Gabel in der rechten Hand? Wir haben dir doch schon so oft gezeigt, wie man richtig mit Messer und Gabel isst“, sagte er. „Du bist doch Rechtshänderin, also musst du das Messer in der rechten und die Gabel in der linken Hand halten. So!“ Elegant schob Papa mit seinem Messer ein Häufchen Erbsen auf die Gabel. Er führte sie zum Mund, ließ sie mitsamt der Erbsen darin verschwinden, zog sie wieder heraus und kaute dann genüsslich und vornehm mit geschlossenem Mund, ohne das geringste Schmatzen.

Als er fertig gekaut hatte, schaute er Eliza an, die mit einem verlorenen Blick auf ihren Teller herabblickte. Mit strenger Stimme fragte er: „Oder hast du etwa wieder vergessen, welche Hand deine linke und welche deine rechte ist?“

„Nein, hab ich nicht“, antwortete Eliza.

„Wir haben es dir doch schon so oft erklärt“, fuhr Papa fort. „Merke dir einfach: Links ist da …“

„… wo der Daumen rechts ist“, ergänzte Mama und lächelte ihren beiden Töchtern zu.

Papa warf ihr kurz einen funkelnden Blick zu. Dann beendete er seinen Satz mit ernster Stimme: „Links ist da, wo dein Muttermal ist.“ Eliza hatte hinten auf ihrem Schulterblatt ein großes Mal.

„Aber mein Muttermal ist doch auf der Seite, in der ich das Messer halte!“, entgegnete Eliza.

Papa blickte sie überrascht an. Dann sagte er in einem entschiedenen Ton: „Nein, das stimmt nicht.“

„Stimmt wohl!“, entgegnete Eliza schnippisch.

Papa schaute hilfesuchend zu seiner Frau herüber. „Hanna“, sagte er zu ihr, „Elizas Muttermal ist doch links, oder?“ Seine Stimme klang plötzlich ein wenig unsicher.

„Ja, Schatz“, sagte Mama und blickte dabei Eliza mit einem aufmunternden Lächeln an. „Es sitzt genau da, wo dem wackeren und kühnen Ritter Siegfried das Lindenblatt auf das Schulterblatt fiel, als er im Blut des Drachens badete, den er besiegt hatte. Durch das Blut wurde sein Körper unverwundbar, bis auf jene eine Stelle, die das Blatt bedeckt hatte.“ Mamas Blick wurde plötzlich nachdenklich. „Oder fiel ihm das Lindenblatt zwischen die beiden Schulterblätter? Das weiß ich jetzt nicht mehr so genau. Da muss ich wohl noch mal in dem alten Buch nachschauen …“

„Hanna!“, unterbrach Papa sie, „mach es bitte nicht so kompliziert. Ist Elizas Muttermal nun an der linken oder rechten Schulter?“

Statt zu antworten, lächelte Mama erneut Eliza an und sagte zu ihr: „Merke dir doch einfach, wo dein Herz sitzt. Wenn du das einmal vergessen haben solltest, legst du einfach deine Hand auf deine Brust, und du wirst spüren, wo es schlägt.“ Sie schüttelte kurz den Kopf. „Es ist vermutlich gar nicht so leicht für dich zu erkennen, wo sich dein Muttermal befindet, zumal es hinten sitzt. Du müsstest zur Kontrolle also immer erst deinen Pullover hochziehen, um dann über deine Schulter in den Spiegel zu schauen. Mit so einem verdrehten Blick in den Spiegel, der noch dazu alles spiegelverkehrt zeigt, ist das natürlich eine ganz schön komplizierte Sache …“

„Hanna, du machst es kompliziert!“, schimpfte Papa. Kein Wunder, dass Eliza manchmal so verdreht ist und gar nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht.“

Er schaute Mama an, doch sie schaute weg – rüber zu Eliza, die in dem Moment lächelnd zur ganzen am Tisch versammelten Familie sprach: „Mir doch schnuppe, wo mein Muttermal sitzt, ob links oder rechts: Eine Rechtshänderin hält die Gabel rechts, ist doch klar. Alles andere wäre Quatsch.“ Und wie zum Beweis pikste sie gezielt eine Erbse mit der Gabel in ihrer rechten Hand auf und zischte dabei leise: „So ein Unsinn hier bei euch hinter den Spiegeln.“

Lorina zog überrascht die Augenbrauen hoch. Und auch Papa machte große Augen. „Was redest du da eigentlich?“, fragte er und schaute dabei Eliza streng an. „Die Worte schnuppe und Quatsch will ich hier am Abendbrottisch nicht hören, hast du verstanden?“

„Lass sie doch“, mischte sich Mama ein. „Eliza lernt noch früh genug, wie man richtig mit Messer und Gabel isst. Erinnere dich, wie lange es gedauert hat, bis Lorina …“

„… Lorina“, unterbrach Papa sie, „hatte aber auch als Baby eine Haltungs-Asymmetrie, die sich zum Glück wieder ausgewachsen hat.“ Stolz blickte er seine ältere Tochter an. „Schau, wie schön Lorina heute mit Messer und Gabel essen kann.“

Lorina war das peinlich. Sie wollte gerade gar nicht als gutes Beispiel vorgeführt werden, sie machte sich vielmehr Sorgen um Eliza. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Schwester, das wurde ihr immer klarer.

„Vielleicht“, sagte Mama, „hat Eliza ja auch dieses Haltungs-Dingsbums?“

„Ich bin satt“, sagte Eliza plötzlich und rückte mit ihrem Stuhl nach hinten vom Tisch weg, was ein kratzendes Geräusch auf dem Dielenboden verursachte.

„Eliza, bitte!“, ermahnte Papa sie. „Erst aufstehen. Und dann den Stuhl nach hinten!“ Er schaute mit einem leicht verzweifelten Blick in die Runde. „Und eigentlich wollen wir doch das Abendbrot alle gemeinsam beenden, oder?“ Er zuckte ratlos mit den Schultern. „Aber bitteschön, wenn meine Tochter meint. Vergiss aber nicht, dir die Hände und den Mund zu waschen und die Zähne zu putzen“, rief er Eliza hinterher.

Als seine Tochter draußen war, schüttelte er kurz den Kopf und sagte: „Ich weiß nicht, was mit dem Kind in letzter Zeit los ist!“

„Sie ist in ihrer Trotzphase“, meinte Mama.

„Ein Trotzkopf war sie schon immer“, entgegnete Papa. „Weißt du noch, als sie als Baby nie den Schnuller im Mund behalten wollte …“

„Ich bin auch satt“, unterbrach ihn Lorina. Sie stand von ihrem Stuhl auf, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen. „Ich geh rauf, mir die Zähne putzen“, sagte sie. Dann trat sie aus der Küche, ging langsam die Treppe hoch, ihrer Schwester hinterher. Sie hörte, wie ihr Papa unten in der Küche sagte:

„Ich bin jetzt auch fertig mit dem Essen. Ich geh dann mal nach oben ins Arbeitszimmer, meine E-Mails abrufen. Mal sehen, ob Mark mir geschrieben hat.“

Oje, Mark, Papas Freund in Südamerika! Lorina bekam einen Schrecken, als sie hörte, wie Papa noch hinzufügte: „Dann kann unsere Schachpartie endlich weitergehen!“

Lorina trippelte schnell die Treppe hoch. Leise, auf Zehenspitzen, damit ihre Eltern nicht bemerkten, dass sie gelauscht hatte.

~ 3 ~

Vor und hinter dem Spiegel

Lorina leckte sich mit der Zunge über ihre Zähne. Sie war sich nie sicher, ob sie den Geschmack von Zahnpasta lecker oder eklig finden sollte. Heute empfand sie ihn als eklig. Sie trat aus dem Badezimmer, wo sich ihre Schwester schon vor ihr gewaschen und ihre Zähne geputzt hatte. Sie ging über den Flur und klopfte an Elizas Zimmertür.

„Wer ist da?“, hörte sie ihre Schwester von drinnen fragen.

„Ich bin’s, Lorina.“

„Kannst reinkommen.“

Als Lorina ins Zimmer trat, saß Eliza auf ihrem Bett. Sie wirkte nachdenklich und sah irgendwie verloren aus.

„Du, Eliza“, begann Lorina zaghaft.

„Was denn?“, fragte ihre Schwester.

„Irgendwas stimmt heute nicht mit dir.“

„Was soll denn sein?“

„Du wirkst so nachdenklich. Ja … und auch ein wenig verwirrt. Du hast heute gleich mehrmals komische Sachen erzählt – von einem Haus hinter dem Spiegel und so. Was soll das?“

„Glaubst du denn nicht daran, dass es eine Welt hinter den Spiegeln gibt?“

Lorina überlegte kurz. Dann sagte sie entschieden: „Nein“, und fuhr fort: „In der Schule, in Physik, haben wir gelernt: Es handelt sich bei Spiegelbildern einfach nur um Reflexionen, um Abbilder. Die Dinge vor dem Spiegel werden von dem Spiegelglas lediglich zurückgeworfen. Hinter dem Glas ist nichts, auch wenn es manchmal so aussieht, als ob die Bilder ganz weit drinnen im Spiegel sind. Der einzige Unterschied …“

„Ja?“ Elizas Augenbrauen rutschten nach oben.

„Der einzige Unterschied ist“, fuhr Lorina unbeirrt fort, „die Bilder sind spiegelverkehrt.“

„… spiegelverkehrt“, wiederholte Eliza nachdenklich flüsternd.

„Ja“, sagte Lorina und redete sich regelrecht in Schwung: „Das, was hier links ist, ist dort rechts … und umgekehrt.“

„Und umgekehrt? Du meinst also, das, was dort links ist, ist hier rechts?“

Lorina überlegte kurz. „Äh … nein. Von hier und dort kann man eigentlich gar nicht sprechen. Denn die Bilder im Spiegel sind ja, wie gesagt, nur Reflexionen, Abbilder von den Dingen davor. Sie haben kein Eigenleben, sie sind nur eine Reaktion auf das, was vor dem Spiegel passiert.“

„Nein, Lorina, das stimmt nicht.“

„Wie meinst du das?“

„Ich habe das auch immer gedacht. Bis vor kurzem. Da bemerkte ich, dass das Mädchen, das ich immer im Spiegel sehe, wenn ich vor ihn trete, sich manchmal anders bewegt oder verhält als ich. Ich meine damit nicht nur, dass bei ihm links ist, was bei mir rechts ist, und rechts, was bei mir links ist.“

„Was willst du damit sagen?“

„Es fing alles damit an, dass mir das Mädchen vor ein paar Tagen plötzlich zugezwinkert hat. Das war, als ich einmal ganz nahe vor den großen Spiegel in unserem Wohnzimmer trat und immer näher mit dem Gesicht heranrückte. Ich wollte sehen, ob wirklich alles in dem Spiegel drin ist, was auch in dem Raum davor so an Möbeln und anderem Zeug herumsteht und an den Wänden hängt. Also auch die Dinge daneben.“

„Daneben?“

„Ja! Es ist doch so, dass in einem Spiegel manche Dinge, je nachdem wie nahe man gerade davor steht, nicht zu sehen sind. Zum Beispiel kann man in unserem Wohnzimmerspiegel nie die große Standuhr sehen, weil sie ja direkt links daneben steht, mit ihrem Rücken an der Wand. Deshalb trat ich ganz nahe heran. Und kaum hatte ich meinen Kopf zur Seite gedreht, um aus den Augenwinkeln nach links zu blicken, sah ich, dass die Uhr im Spiegel ganz anders aussieht.“

„Wie meinst du das?“

„Sie hatte kein Gesicht.“

„Eliza, was erzählst du da? Unsere Uhr hat doch gar kein Gesicht!“