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Band 17 der image

Wenn der Hahn kräht

Zwölf hellwache Geschichten aus Brasilien

Erzählungen

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wanda Jakob und Luísa Costa Hölzl

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Die Übersetzung wurde im Rahmen der Fundaçao Biblioteca Nacional des brasilianischen Kulturministeriums unterstützt.

Herausgegeben von Luísa Costa Hölzl und Wanda Jakob

© 2013 image

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat Karen Nölle, Sophia Jungmann
Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Berlin

ISBN 978-3-942374-61-3

www.editionfuenf.de

Inhalt

Andréa del Fuego Eine Million Mal

Paula Taitelbaum Schach

Tatiana Salem Levy Vertane Zeit

Ivana Arruda Leite Frau aus dem Volk

Beatriz Bracher Zezé Sussuarana

Tércia Montenegro Auf offener Straße

Cíntia Moscovich Hunger und Esslust

Livia Garcia-Roza Meine Süße

Ana Paula Maia Bazille

Cecilia Giannetti Ana und Letícia

Augusta Faro Gertrudes und ihr Mann

Claudia Lage Wenn der Hahn kräht

Luísa Costa Hölzl, Wanda Jakob Knallhart und beglückend Zwölf Einblicke in brasilianische Lebenswelten

Unsere Autorinnen

Unsere Übersetzerinnen

Unsere Herausgeberinnen

Bisher bei uns erschienen

Andréa del Fuego

Eine Million Mal

Mein Mann ist Clown. Er arbeitet von zwei bis acht, mit Auftrag oder ohne. Mal will ihn ein Einkaufszentrum, mal eine Tankstelle, ein Kindergeburtstag, je nachdem. Er trägt eine Perücke, große Schuhe und ist vertrauenerweckend.

Clown ist kein Beruf, hab ich zu ihm gesagt. Aber ich sollte besser still sein, mein Job taugt auch nichts mehr. Ich schminke Leute, das habe ich im Salon Dafne gelernt, in dem von Vila do Jorge, neben dem großen Markt. Die Besitzerin wollte mich fürs Haare-Wegkehren und Kaffeekochen, und irgendwann hat sie mir gezeigt, wie man Kindern die Spitzen schneidet, so hab ich’s gelernt.

Nach acht Jahren Festanstellung habe ich bei Dafne aufgehört. Jetzt taugt mein Job nichts mehr, weil nicht jede Frau, die ich schminke, auch anständig ist. Wenn der Lidschatten zu dick aufgetragen ist, weiß ich schon, wie der Hase läuft. Samstags mache ich Hochzeiten, unter der Woche eher Haare. Ich hab meinen Job an Joyce verloren, einen Schwulen aus Araçatuba.

Dann hat die Cousine von Conceição von einem Vergnügungspark erzählt, der am Ortsausgang aufgemacht hat, und ich dachte, das wär was. Jetzt arbeite ich da und male Giraffen, Schmetterlinge, Leoparden und Frösche auf Kindergesichter. Mein Mann hangelt sich von Job zu Job, heute ist er auf einer Parkplatzeinweihung und steht mit einem Sack Bonbons auf dem Bürgersteig. Ich verdiene so viel, dass ich jeden Tag mit dem Riesenrad fahren könnte, wenn ich das wollte. Mit seinem Gehalt zahlen wir die Raten für die Mikrowelle ab, mit meinem den Boden für die Küche.

Wie bitte?

Okay, ich rede langsamer. Man will immer alles auf einmal erzählen, und dann kommen die Leute nicht mehr mit. Clown, Mikrowelle und Schminken, das ist ein bisschen viel, das versteht keiner.

Also, ich bin Kosmetikerin. Mein Mann ist Clown. Ich arbeite in einem Vergnügungspark. Er jobbt ab und zu. Ich schminke ihn, richte ihn als Clown her, ehe ich losgehe, er nimmt den Bus, in Jeans und Hemd, aber mit geschminktem Gesicht, die Klamotten kommen in den Rucksack, die Schuhe in die Hand. Ich schminke ihn und warte auf den Kombi vom Vergnügungspark, der die Angestellten abholt: Putzfrauen, Kartenverkäufer, Techniker.

Warum wir das mit dem Preis machen? Mein Mann und ich haben nicht genug zum Leben und auch nicht zum Sterben oder zum Ausspannen. Deshalb brauch ich diese Million. Und drum bitte ich ganz Brasilien: Stimmt für mich, Cleide Alegria.

Das war’s schon? Wann wird es gesendet? Ich werde meinen Leuten Bescheid geben. Ich soll bei der Sendung dabei sein? Live. Klar kann ich das Schminken übernehmen, ich nehme dreißig pro Person. Okay, bei zehn Frauen nehm ich zwanzig für jede. Aber sollte nicht ich auftreten? Ah, verstehe, die Tänzerinnen. Und ihr seid im Fernsehen ganz ungeschminkt? Ja. Das ist wahr. Ich gebe meine Telefonnummer weiter, zeige, was ich kann, super.

Ich hab gesagt, du wärst Clown. Bist du doch auch, oder? Hätte ich vielleicht sagen sollen, du arbeitest im Motel? Es muss was sein, das alle kennen, jemand, bei dem sie ihre Schecks einlösen würden, den sie achten. Dann denken die Leute, du wärst was Ordentliches, und stimmen für uns. Ich hab schön gesprochen, ziemlich elegant. Nein, mein Dummerchen, sie fragen das alles, damit ihre Sendung interessant wird, damit die Leute was zu hören kriegen, Menschen wie du und ich, die glauben, was da im Fernsehen kommt.

Ich habe gesagt, ich würde in einem Vergnügungspark arbeiten, ich hätte auch sagen können, dass er gerade pleitegeht, das wär gut gewesen. Jetzt werde ich lernen müssen, Leute zu schminken. Ich hab versprochen, bei denen zu schminken und meinen Beruf vorzuführen. Lippenstift auftragen. Hätte ich das etwa verweigern sollen? Du meinst, wenn sie Verdacht schöpfen? Keine Sorge, mir fällt schon was ein.

Frag mal im Motel nach, ob Angélica am Freitag die Pforte übernimmt. Die Aufnahme ist um zehn, sie kommen hier vorbei und holen mich ab. Du kannst ja dann am Samstag die Frühschicht machen, Herr Clown! Mit dieser Million werden wir reich und kaufen das Motel Deyse. Es heißt, eine Million ist nichts, weil man investieren muss. Aber du weißt ja, wie’s im Motel läuft, und ich auch.

Es heißt, Putzfrauen kommen oft auf die schiefe Bahn. Ich werd nie vergessen, wie ich ins Deyse gekommen bin und du mich von der Rezeption her angesehen und gesagt hast, du würdest mir einen anderen Eimer besorgen, weil meiner so klein ist. Gerissener Portier. Das Pärchen ist gegangen, wir sind in ihr Zimmer und haben den Rest von dem Stroganoff aufgegessen. Wein schmeckt mir nicht, lieber mag ich Schnaps. Das Wasser in der Badewanne war noch ganz seifig von dem Pärchen, und ich hab sogar meine Haare mit dem Walita-Föhn getrocknet. Das kriegst wirklich nur du hin, so einen Ausflug in die Luxussuite, weil du den Schlüssel hast.

Ich will keine Motelputze sein und Laken von runden Betten abziehen, Sahne von Überdecken kratzen, Seifenreste aufsammeln. Haare feg ich tatsächlich zusammen, das war nicht mal gelogen. Aber bald, mit unserem Plan, mach ich nur noch schmutzig statt sauber. Es reicht mit dem Türöffnen für diese Leute, jetzt gehen wir selber rein und schließen ab. Stroganoff und Schnaps, viele tausendmal. Bis das Geld alle ist, nur fürs Wasser geht ja schon eine halbe Million drauf, ich hab die Badewanne gern voll. Lade deine Verwandtschaft ein, ich hab nichts dagegen, in der Executive Suite haben sie alle Platz. Und wir nehmen das teuerste Zimmer, wie beim ersten Mal.

Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis

Paula Taitelbaum

Schach

Der Küchenboden war wie ein großes Schachbrett, auf dem sich die Bewohner des Hauses verloren und begegneten. Vater, Mutter, die beiden Töchter und Tina. Strenggenommen war es Tinas Küche. Sie hatte hier das Sagen. Wenn ein neuer Topf angeschafft wurde, wählte Tina den Schrankplatz dafür aus. Und was in die Brotzeitdose kam, bestimmte ebenfalls Tina. Genau wie sie entschied, welcher Kuchen am Mittwochnachmittag gebacken wurde. Und wie viele Käsescheiben auf ein Sandwich durften. Am Freitag, jeden Freitag, rief Tina mich zu sich. Pünktlich um halb sechs schallte es aus ihrem Revier: »Manu.« Genau so. Ein kurzer Ruf, halb erstickt, beinahe tonlos, ohne Anrecht auf ein Ausrufezeichen. Ein Rufen, das nicht leugnete, woher es kam. Manchmal tat ich, als hörte ich nichts. Sie rief kein zweites Mal. Und zwar, weil sie wusste, dass ich ohnehin wenig später auf der Küchenbank sitzen würde, einen Ellbogen auf den Tisch gestützt, während die Hand alles aufschrieb, was sie diktierte. Zucker, ein Kilo. Eier, ein Dutzend. Nudeln, zwei Päckchen. Tomatenmark, drei Dosen.

Tina hatte keine Eile. Obwohl sie genau wusste, was in der Speisekammer fehlte, sprach sie jeden Posten der Liste ganz langsam aus. Vermutlich befürchtete sie, ich würde sonst einen Buchstaben verschlucken und so den gesamten Wochenplan durcheinanderbringen. He-fe-wür-fel. Tina betonte die Buchstaben überdeutlich und trennte die Silben voneinander. Mir kam öfters der Gedanke, dass meine Schule sie für das Klassendiktat engagieren könnte. Zwischen zwei Wörtern bliebe genügend Zeit, über das Lieblingsthema eines zwölfjährigen Mädchens nachzudenken: Jungs, die älter waren als zwölf. Damals füllten männliche Wesen, insbesondere solche mit ausgeprägtem Bizeps und Trizeps, meine Gedanken wie Zement, der sich zwischen Backsteine schiebt. Sie waren der wichtigste Stoff für meine Geschichten, meine ganz persönlichen Filme. Meine zuckersüßen Romanzen hätten jeden Diabetiker dahingerafft. Ich brauchte bloß die Augen zu schließen, und schon ging es los. Meine Drehbücher spulten sich ganz automatisch ab, inspiriert von Filmen, für deren bloße Erwähnung ich mich heute schäme. Mit zwölf konnte ich sämtliche Dialoge von Brooke Shields in Die blaue Lagune auswendig. Ganz zu schweigen davon, dass ich die komplette Sammlung von Sabrina-Heftchen besaß. Und außerdem Julia und Bianca. Erwähnenswert ist dabei, dass nur Tina von dieser Sammlung wusste, die ich mir mühsam vom Taschengeld abgespart hatte und die ich sorgfältig in meinem Bett vor den Eltern versteckte. Tina war die Einzige in der Wohnung, die von meinen frühpubertären Phantasien wusste. Und vielleicht war das der Grund, weshalb sie an einem dieser Freitage, zwischen einer Dose eingelegter Pfirsiche und einem Kilo Reis, ein wenig von der wöchentlichen Einkaufsliste abwich.

»Ich muss einen Brief schreiben. Hilfst du mir?«

Tina lebte schon länger bei meinen Eltern als ich selbst. Doch niemand wusste etwas über ihre Lebensgeschichte. Denn, so waren wir uns sicher, da gab es ohnehin nicht viel zu wissen. Es gab lediglich ein paar Verwandte weit weg in der Provinz, die sie einmal im Jahr besuchte und von wo sie mit einem Koffer voller Erdnüsse und Popcornmais zurückkehrte, die sie eigens für ihre Mädchen geerntet hatte, also für meine Schwester und mich.

»Ja, ich helf dir.«

Sie trocknete ihre Hände an der Schürze ab, eine Geste, die sie ständig wiederholte, selbst wenn ihre Hände sauber und trocken waren. Dann zog sie einen Umschlag aus der Schürzentasche.

»Lies vor.«

Wir waren allein zu Haus. Meine Eltern kamen immer erst nach sieben, und meine Schwester, vier Jahre jünger als ich, war bei einer Freundin zum Spielen.

Ich öffnete den Umschlag und zog das gefaltete Blatt heraus. Tinas Brief zu lesen würde genauso sein wie das Schreiben der Einkaufsliste. Eine banale, uninteressante Aufgabe. Der Brief war nur eine Seite lang. Getippt auf einer Schreibmaschine mit abgenutztem Farbband. Ich war gut im Lesen. Ich faltete den Brief auseinander, setzte mich zurecht und fing an. Ich war stolz darauf, dass ich in Dona Veras Portugiesischstunde niemals ins Stottern kam.

»Rio de Janeiro, zwanzigster März neunzehnhundertvierundachtzig. Liebe Justina, wundern Sie sich nicht über diesen Brief. Ich habe Ihre Adresse von Juvenal, dem Pförtner des Hauses. Ihre Chefin hat sie ihm gegeben, für den Fall, dass etwas Wichtiges ankäme und er es weiterschicken müsste. Die Guanabara-Bucht ist nicht mehr dieselbe, seit Sie fortgegangen sind. Ich vermisse Sie, Ihr Lächeln zur Begrüßung, Ihre stets eiligen Schritte. Verzeihen Sie, wenn ich Sie belästige, doch ich bin von ganzem Herzen aufrichtig. Ich würde mich sehr freuen, von Ihnen zu hören. Ob es Ihnen gutgeht, ob Sie glüklich sind. Hier ist alles in Ordnung, vor Kurzem traf ich Lenira, und sie sagte, dass sie Ihren Filterkaffee und die Schwätzchen auf der Dienstbotentreppe vermisst. Ich arbeite nicht mehr in der Metzgerei, ich habe eine bessere Stelle als Bürogehilfe gefunden. Ich bin nicht mehr jung genug, um so lange hinter der Theke zu stehen. Und jetzt verdiene ich besser. Heute war ich allein ein Bier trinken. Dabei habe ich auf das Meer geschaut und an Sie gedacht. Bitte, schreiben Sie mir, wenn Sie Gelegenheit haben. Mit größter Wertschätzung, Bastião.«

Ich las den Brief wie Dona Veras Texte, in einem Atemzug, sorgfältig darauf bedacht, nur ja keine Fehler bei der Aussprache zu machen. Auch wenn in einem Text von Dona Vera niemals »glüklich« mit k stehen würde. Ich sagte Tina nicht, dass Bastião glücklich mit k geschrieben hatte. Das tat nichts zur Sache. Als ich den Kopf hob, merkte ich, dass sie mich anstarrte, aber sie sah mich nicht, sondern blickte durch mich hindurch. Offensichtlich schwelgte sie traumverloren in irgendeiner Ecke von Rio. Ich hatte diesen Gesichtsausdruck schon einmal bei meiner Cousine Luiza gesehen, und ich hatte nie gedacht, dass Tina, die bereits einige Falten im Gesicht hatte, einmal Luiza, die im Jahr zuvor ihren Debütantenball gehabt hatte, so ähnlich sehen könnte. Doch in diesem Augenblick gab es eine große Ähnlichkeit zwischen den beiden. Sie hielt nicht lange an, denn gleich darauf zog Tina eine Schublade unter der Spüle auf, nahm einen Briefblock heraus, so einen, der schon liniert war, und sagte, sie wollte jetzt die Antwort diktieren. Ich wollte sagen, dass ich mich nicht an Bastião erinnerte, und mich näher nach ihm erkundigen. Ich wollte ihr gern sagen, dass die anderthalb Jahre, die unsere Familie in Rio verbracht hatte, sehr schön gewesen waren. Und dass es mir lieber gewesen wäre, mein Vater wäre nicht zurückversetzt worden. Doch Tina ließ mich nicht zu Wort kommen. Sie diktierte gleich los:

»Schreib: Porto Alegre, fünfter Mai neunzehnhundertvierundachtzig.«

An diesem Punkt wurde mir klar, dass Tina den Brief schon über einen Monat in ihrer Schürze herumtrug. Aber ich sagte nichts. »Geschätzter Sebastião …«

In meinen Filmen liefen die Dinge ganz anders.

»Findest du es nicht besser, ›Lieber Sebastião‹ zu schreiben oder ›Hallo Bastião‹ oder einfach bloß ›Bastião‹? ›Geschätzter Sebastião‹ klingt irgendwie ein bisschen, na ja, ein bisschen …« Ich wollte sagen, dass es ein bisschen zu formell klang. Aber mir fiel das Wort nicht ein. Sie überlegte kurz.

»Nein, so ist es besser. Sonst denkt er noch, ich bin nicht anständig.«

Mir wurde meine Rolle in dieser Geschichte klar. Ich war dasselbe wie die Schreibmaschine von Bastião und durfte keinen Mucks von mir geben. Ich war lediglich das Werkzeug, das die Worte zu Papier brachte. Dennoch versuchte ich, die Schrift nicht wie die eines zwölfjährigen Mädchens aussehen zu lassen. Ich fand es besser, dass Bastião glaubte, Tina hätte den Brief selbst geschrieben. Ich mochte Tina, und zwar sehr. Und ich wollte, dass ihre Geschichte wäre wie in meinen Phantasien.

»Geschätzter Sebastião, ich schreibe erst jetzt, weil meine Arbeit mich sehr in Anspruch nimmt. In Porto Alegre lebt es sich gut, und es gefällt mir hier. Die Stelle zu wechseln ist immer schwierig, aber Sie werden bestimmt wissen, was Sie tun. Ich habe große Sehnsucht nach Rio de Janeiro. Sagen Sie Lenira, dass ich nicht mehr so oft Kaffee koche, weil Senhor Gabriel ein bisschen hohen Blutdruck hat, und der Arzt meint, er muss aufpassen. Heute ist das Wetter gut, aber es sieht nach Regen aus. Grêmio hat leider schon wieder verloren, und hier ist es leichter, einen Metzger zu finden, der Hochrippe hat. Viele Grüße, Justina.«

Stille.

»Und sonst nichts?«

»Nein. Und jetzt schreib diese Adresse hier auf den Umschlag. Nachher bring ich ihn zur Post.«

Das war das Signal, zu meinem eigenen Alltag zurückzukehren, weit fort, ein paar Quadratmeter weiter vorn. Ich hatte tatsächlich noch so einiges zu tun. Paola anrufen, meine Matheaufgaben machen, in mein Tagebuch schreiben. Doch ich muss gestehen, dass es mich ein wenig frustrierte fortzugehen, ohne wenigstens »einen Kuss« geschrieben zu haben. Tina war glücklich und merkte es gar nicht. Es gab jemanden, einen Bastião, der sie liebte.

Es muss ein paar Tage später gewesen sein, eine Einkaufsliste weiter in meinem Leben, ungefähr am Dienstag. Gerade als ich vom Fenster aus einen hübschen Kerl beobachtete, der im Park gegenüber joggte, rief Tina nach mir.

Als ich in die Küche kam, hatte sie schon alles auf dem gelben Tisch zurechtgelegt. Das Briefpapier, den Stift, den Umschlag. Und wieder einen Brief von Bastião, den ich vorlesen sollte. Er schrieb, wie sehr er sich über ihre Antwort gefreut hatte und darüber, dass die Dinge so gut liefen und dass er Tinas Lächeln sehr vermisste. Und diesmal schickte er einen Kuss. Ich wusste, dass sie sich über den Brief freute, doch ihre Antwort war genauso förmlich wie die erste.

Im dritten Brief schickte er ein Passfoto mit. Schlank, mit Schnurrbart, und … schwarz. Ich vermutete darin den möglichen Grund für die Kälte Tinas, die von Deutschen abstammte, erzkatholisch und in der Nähe von Rio Grande do Sul auf dem Land geboren war. Ich sagte, ich fände, er sehe gut aus, und sie solle auch ein Foto schicken. Auf den Vorschlag reagierte sie verächtlich.

In den folgenden Monaten las und schrieb ich wer weiß wie viele Briefe. Trotz Tinas Kälte, oder vielleicht gerade deswegen, schien Bastião immer verliebter und fragte jedes Mal, wann sie nach Rio käme. Er erzählte von seinem kleinen Zimmer in einer Familienpension und von Orten, die er gerne mit ihr besuchen würde. Tina kommentierte den Inhalt seiner Briefe nicht. Sie diktierte ihre trockenen Antworten ohne jegliche Vertraulichkeiten. Und sie schickte niemals »einen Kuss«. Um ehrlich zu sein, ich war mir sicher, dass Tina noch nie jemanden geküsst hatte. Jedenfalls nicht auf den Mund.

»Nächste Woche fahre ich weg.«

Es war Anfang Februar. Ich saß in der Küche, aß ein Butterbrot mit Zucker, und Tina putzte den Herd.

»Schreib ihm einen Brief, wenn ich weg bin. Du weißt schon, was zu schreiben ist.«

Ich wusste tatsächlich, was Tina Bastião sagen wollte. Ich war mir sicher, dass die richtigen Worte in ihrem Hals steckengeblieben waren und nur auf eine Gelegenheit warteten, herauszukommen. Und diese Gelegenheit war nun da. Die Sonne schien durch die Maschen der Gardine und ließ die Temperatur in der Wohnung auf ungefähr fünfzig Grad ansteigen. Ich war ganz allein, alles war still, ich saß wie gewohnt auf der Bank, mit einem rosa Kugelschreiber in der Hand, und schaute auf das geblümte Briefpapier, ein Lieblingsstück aus meiner wertvollen Sammlung. Tina fing an zu schreiben, wie gewohnt in großer, wohlgeformter Schrift:

»Lieber Bastião,

ich vermisse Dich sehr. Seit Längerem will ich Dir schreiben, was ich wirklich fühle: Ich denke immerzu an Dich, mein Herz klopft schneller, anders, in einem verliebten Rhythmus. Ich würde sehr gerne nach Rio de Janeiro fahren und Dich treffen, aber ich dachte auch, dass Du mich vielleicht bald einmal in Porto Alegre besuchen kommen könntest. Wir würden Hand in Hand durch die Straßen schlendern und ein paar schöne Plätze der Stadt besuchen. Was meinst Du? Ich bin eine anständige Frau, das weißt Du, aber ich möchte Dich wirklich treffen. Sei Dir gewiss, dass Deine Briefe das Wichtigste sind, was es zurzeit in meinem Leben gibt. Hier ist meine Telefonnummer, damit Du mich irgendwann anrufen kannst und wir unsere Stimmen wieder hören können.

Mit einem dicken Kuss

Deine Tina«